Digitized by the Internet Archive in 2014 https://archive.org/details/b20442245 Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende Von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin. Erster Teil A. BONN 1921 Marcus & E.Webers Dr. iur. Albert Ahn Verlag Geschlechtliche ntwicklungsstörunge mit besonderer Berücksichtigung der Onanie Von Dr. Magnus Hirschfeld Sanitätsrat in Berlin Mit vierzehn Tafeln, einem Textbild und einer Kurve Zweite, unveränderte Auflage BONN 1921 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. jur. Albert Ahn Nachdruck verboten. Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright 1916 by A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn. WELLCOME INSTITUTE LIBRARY Coli. watMOmec Ctil No. Druck: Otto Wigand'sche Buchdruckerei O. m. b. H., Leipzig. ! in / in •/ Vorwort. Im Jahre 1844 erschien in Leipzig' in lateinischer Sprache die erste Psychopathia sexualis. Ihr Verfasser war der ruthenische Arzt Heinrich Kaan1). Etwa 40 Jahre später — 1886 — gab Krafft -Ebing, der berühmte Psychiater der Grazer Universität, sein epochales Lehrbuch unter gleichem Titel2) heraus. Seither sind wiederum 30 Jahre verflossen, Jahre, in denen das Lehrgebäude der Sexualwissenschaft eine ungleich größere Bereicherung erfahren hat, als in dem längeren Zeitraum, der zwischen Kaan und Krafft-Ebing lag. Die Psychopathia sexualis Kraf f t-Ebings hat mittlerweile allerdings zahlreiche Neuauflagen erlebt. Sie haben den ur- sprünglichen Umfang des trefflichen Werkes sehr erheblich ver- mehrt, es aber nicht vor dem Schicksal des Veraltens bewahren können, das auch dem besten naturwissenschaftlichen Buch be- schieden ist, wenn über es hinweg die allgemeine Natur- forschung rasch voranschreitet. So war, um nur das Wichtigste hervorzuheben, das Gebiet der inneren Sekretion zu Krafft-Ebings Lebzeiten noch so gut wie unbekannt. Immerhin war er noch Zeuge der ersten Veröffent- lichungen Brown Sequards. Und es beweist seinen tiefen und unvoreingenommenen Forschergeist, daß er sogleich (1902, vgl. Seite 111 dieses Buches) die große Bedeutung dieser Arbeiten er- kannte und würdigte, während die Mehrzahl der Fachgenossen noch weidlich über die „senilen" Ideen des Pariser Gelehrten spottete. \ 1) Psychopathia sexualis, auetore Henrico Kaan, medico ruthenico et doctore medi- cinae Vindobonensi, Lipsiae apud Leopoldum Voss 1844. 124 Seiten. 2) Psychopathia sexualis. Eine klinisch - forensische Studie von Dr. R. v. Krafft- Ebing, o. ö. Prof. f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten an der k. und k. Universität Graz. Stuttgart 1886. Verlag Enke. Die erste Auflage war nur 110 Seiten stark, während die vierzehnte (1912) 460 Seiten zählte. VI Die Hauptarbeiten über das Wesen der Hormone, wie sie schließ- lich in den genialen Versuchen Stein achs, der künstlichen Feminierung, Maskulierung und Hermaphrodisierung von Lebewesen, ihren bisherigen Höhepunkt erreichten, lagen frei- lich damals noch in weitem Felde. Im vorliegenden Grundriß bildet die Lehre von der inneren Sekretion sozusagen das Leitmotiv. In fast jedem Kapitel tönt es wieder. Von dem ersten Hauptabschnitt an, dem Geschlechts- dr üsenausf all, der uns schon grundlegende Einblicke in das endokrine Walten verstattet, ist es der innere Chemismus in quantitativer und qualitativer Hinsicht, auf den wir immer aufs neue zurückgreifen müssen, um Grad und Art der sexuellen Störungen zu verstehen. Es tut sich uns hier eine Abhängigkeit des Seelischen vom Stofflichen auf, wie man sie früher nie für möglich ge- halten hätte. Deshalb ist es in der sexuellen Erscheinungswelt auch nahezu unmöglich, scharfe Grenzlinien zwischen psychischem und somatischem Geschehen aufzurichten. Fortwährend stoßen wir auf die innigsten Beziehungen zwischen beiden, und unmerklich geht oft das eine in das andere über. Man denke nur an das Gebiet des Infantilismus, der Frühreife, des Transvestitismus. Aus diesem Grunde habe ich auch als Über- schrift dieses Buches nicht mehr den historischen Titel Psycho- pathia sexualis gewählt, sondern habe es kurzweg Sexual - pathologie genannt. Die Literatur, die seit Krafft - Ebings Hauptwerk auf sexual- wissenschaftlichem Gebiet erschienen ist, ist sehr umfangreich. Teils haben die Verfasser sich einen engeren Rahmen gezogen, indem sie nur Einzelstörungen der sexuellen Psychopathologie behandelten, teils wählten sie ein weiteres Feld, indem sie das gesamte Sexualleben umgriffen. Nur ganz wenige haben die sexualpathologischen Erscheinungen für sich allein be- handelt. Wenn ich die Zahl der letzteren vermehre, so geschieht es vor allem deshalb, weil mir meine Berufstätigkeit in zwanzig- jähriger Praxis ein ganz einzigartiges Material zugeführt hat. Dieses Buch ist nicht in der Schreibstube, sondern im Sprechzimmer entstanden. Die lebendige Erfahrung war d> r Quell, aus dem es mir vergönnt war, mühelos zu schöpfen. Überall konnte ich mich auf selbst gesehene und durchforschte Beispiele stützen, nur selten brauchte ich fremde Kasuistik heranzuziehen. VII Die Methode, der ich mich bei der Bearbeitung der Einzelfälle bedient habe, ist die rein klinische. An erster Stelle steht die Aufnahme einer guten Vorgeschichte, einer vertieften Anamnese, in die nichts hineingelegt und nichts hineingeheimnist werden darf. Sehr nützlich bei dieser Erforschung des Wesens einer Persönlich- keit erwies sich mir mein psychobiologischer Fragebogen1), den trotz seiner 137 Fragen Tausende meiner Patienten gewissenhaft beantwortet haben. Ich habe gefunden, daß es selbst denen, die anfangs vor der stundenlangen Arbeit zurückschrecken, alsbald eine innere Genugtuung und Erleichterung gewährt, sich in der gefor- derten Weise Rechenschaft über sich selbst zu geben. Wertvolle Ergänzungen der direkten Exploration bieten, natürlich nur wenn die Patienten damit einverstanden sind, Unterredungen mit Personen, die ihnen nahe stehen, vor allem mit ihren Eltern oder Ehegatten. Die wesentlichste Vervollständigung der Aussprache ist eine sorgsame körperliche Untersuchung, die in keinem einzigen Falle, auch wenn die Klagen nur das Seelenleben zu betreffen scheinen, unterbleiben darf. An dritter Stelle steht eine recht lange und sorgsame Be- obachtung. Ich kann mich in diesem Buche auf viele Fälle stützen, die ich zehn, fünfzehn Jahre und länger nicht aus den Augen verloren habe. Schwieriger wie die Sammlung und Sichtung der Einzel- beobachtungen ist ihre Durchdringung von einheitlichen Gesichts- punkten und ihre organische Verbindung zu einer höheren Einheit. Krafft-Ebings Lehrbuch läßt in dieser Hinsicht viel zu wünschen übrig. Wohl heben sich einige markante Gruppen wie der Fetischismus, die konträre Sexualempfindung, der Masochismus und Exhibitionismus deutlich ab, im ganzen jedoch handelt es sich um eine lose Aneinanderreihung vieler sexualpathologischer Einzelerscheinungen mit Einzelbetrachtungen ohne strenge Eintei- lung und Übersichtlichkeit. Nicht viel anders ist es bei seinen Nachfolgern. Durch ein systematisches Vorgehen habe ich mich bemüht, hierin Wandel zu schaffen. Ich habe in diesem Bestreben zunächst die geschlechtlichen Entwicklungsstörungen behandelt. Ich beginne mit dem Geschlechtsdrüsenausfall, sowohl dem angeborenen als dem erworbenen (Kapitel I). Dann folgt das l) U. a. veröffentlicht in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Jahrgang 1908. Leipzig. Georg Wigand. Seite 684. Vorwort Stehenbleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe, der Infanti- lismus (Kapitel II). An diesen schließt sich die vorzeitige , Entwicklung von Körper, Geist, Geschlechtsempfinden und Ge- schlechtstrieb, die Frühreife (Kapitel III), an. Der nächste Abschnitt behandelt die Neurosen und Psychosen im Pubertäts- und Rückbildungsalter, den Zeiten genitaler Evo- lution und Involution. Ich habe sie als „Sexualkrisen" zusammengefaßt (Kapitel IV). Darauf komme ich zu der wichtigsten und verbreitetsten sexuellen Begleiterscheinung der Entwicklungs- jahre, der Onanie (Kapitel V), um mit dem Automonosexualis- mus, dem Verliebtsein in die eigene Persönlichkeit (Kapitel VI), den ersten Hauptteil zu beenden. In dem zweiten Hauptteil gedenke ich die Störungen der Geschlechtsdifferenzierung zu erörtern, und zwar werde ich nach der Vierteilung der Geschlechtsunterschiede in Ge- schlechtsorgane, allgemeine körperliche Geschlechtszeichen, Geschlechtstrieb und sonstige seelische Geschlechtscharaktere, zunächst den Hermaphroditismus, dann die Androgynie, darauf die Homosexualität und an vierter Stelle den Transvestitis- m us besprechen. An diese sexuellen Kongruenzstörungen schließen sich im innerlichen Zusammenhang die Aggressionsinversio- nen, der Masochismus des Mannes und der Sadismus des Weibes. Der letzte Hauptteil soll den geschlechtlichen Eindrucks- und Ausdrucksstörungen gewidmet sein. Unter den Ein- drucksstörungen steht obenan der sexuelle Symbolismus oder Fetischismus; die Ausdrucksstörungen zerfallen in Exzeß- und Defektanomalien, unter welch' letzteren die Impotenz das Hauptinteresse beansprucht. Endlich gehören zu den Ausdrucks- störungen allerlei geschlechtliche Angst-, Zwangs- und Hemmungs- anomalien, zwischen denen sich der Exhibitionismus besonders scharf und verhängnisvoll abhebt. In dem Vorwort zur ersten Auflage der Psychopathia sexualis meint Krafft-Ebing: „Pflicht und Recht zu diesen Studien erwächst der medizinischen Wissenschaft aus dem hohen Ziel aller mensch- lichen Forschung und Wahrheit." Er fügt hinzu, daß, wer die Psychopathologie des sexuellen Lebens zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Abhandlung macht, sich einer Nachtseite des menschlichen Lebens gegenübergestellt sieht, daß es aber den Ethiker und Ästhetiker entschädigt, etwas auf krankhafte Be- dingungen zurückführen zu können, was ihren ethischen und ästhetischen Sinn beleidigt. Seit diese Gedankengänge geäußert Vorwort IX wurden, sind drei Jahrzehnte vergangen, ohne daß es gelungen ist, das Pathologische im Sexualleben als solches zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. Immer noch leiden die Menschen, um die es sich hier handelt, doppelt: nicht nur an der Triebabweichung an und für sich, sondern mehr noch unter ihrer Verkennung; immer wieder drängen sich deshalb dem Forscher bei der Vertiefung in diesen Stoff die Goetheschen Worte auf „0, daß die Menschen so unglück- lich sind". Trotzdem wird man in diesem Buche nach Klage und An- klage vergeblich suchen. Ich habe mich befleißigt, alles zu ver- meiden, was als Mangel an kühler Sachlichkeit angesehen werden könnte. Die Tatsachen sprechen für sich. Den Manen Kraf f t-Ebings weihe ich dieses Buch. Wenn meine „Sexualpathologie" für unsere Zeit den gleichen Zweck erfüllt, wie die Psychopathia sexualis für seine, dann ist das Ziel das ich erstrebte, erreicht. In unerhört schwerer Kriegszeit erscheint dieser erste Teil. Möge, wenn der zweite und dritte folgt, wieder in Europa Frieden sein. Mehr wie je wird dann der Arzt Leiden des Leibes und der Seele zu lindern und zu heilen haben. Auch die Leiden, von denen hier die Rede ist, bedürfen eines kundigen Fachmanns. Berlin, den 1. November 1916 In den Zelten 19. Magnus Hirschfeld. Vorwort zur IL Auflage. Kurz vor der Beendigung des Abschlußbandes dieses Lehrbuchs stellt sich die Notwendigkeit heraus, den vergriffenen ersten Teil neu erscheinen zu lassen. Von Veränderungen des Inhaltes konnte dabei abgesehen werden, da allgemeinere Forschungen auf sexual- wissenschaftlichem Gebiet noch unter den Störungen im Sexual- stoffwechsel (Bd. III) genügend Berücksichtigung finden konnten, während speziellere Arbeiten, die der bisher gegebenen Schilderung geschlechtlicher Entwicklungsstörungen eine neue Note hinzugefügt haben würden, nicht vorlagen. Berlin, den 1. Dezember 1920. Institut für Sexualwissenschaft. Magnus Hirschfeld. Inhaltsverzeichnis. Vorwort Erstes Kapitel: Der Greschlechtsdrüsenausfall Perioden der Geschlechtsentwicklung — Vierteilung der Geschlechts- unterschiede — Der extra sekretorische und inner sekretorische Anteil der Geschlechtsdrüsen (Keimsubstanz und Zwischensubstanz) — Die Folgen ausbleibender Geschlechtsdrüsenentwicklung — Schilderung eines Falles von Hodenhypoplasie (Eunuchoidismus) — Der Exzeß- und Defekt typus der Anandriden — Angeborener Eier- stocksmangel — Ursprung und Ursachen der Kastration und Sterilisie- rung — Die soziale, religiöse, kriminalistische, vokale, therapeutische, pro- phylaktische und rassenhygienische Ätiologie — Beschreibung und Ab- bildungen von Kastratensängern — Geschlechtsdrüsenverlust im Kriege — Hodenschüsse — Hoden transplantation — Bericht über einen Spätkastraten — Der Geschlechtstrieb der Anandriden — Kastrations t e c h n i k (Verschnittene, Halbverschnittene, Hämmlinge) — Zu- sammensetzung der erotisierenden Substanz — Erworbener Eier- stocksmangel — Abhängigkeit der Intensität und Extensität der Ausfallserscheinungen vom Zeitpunkt des Keimstockverlustes — Prä- pubischer, pubischer und p o s t pubischer Geschlechtsdrüsenausfall. Zweites Kapitel: Der Infantilismus Stehenbleiben des Organismus auf kindlicher Entwicklungsstufe — Infantiles Gepräge von Riesen (Infantilismus giganticus) — Die vier Grundformen des Infantilismus (der genitale, somatische, psychische und psychosexuelle Infantilismus) — Parallelis- mus zwischen den verschiedenen Infantilismen — Genitaler Infantilismus und Kryptorchismus — Begutachtung eines Falles von Kryptor- chismus mit Schwachsinn und Pädophilie — Pathologische Anatomie und Physiologie von Bauch- und Leistenhoden — Hodenretention und geistiger Infantilismus — Somatische Jugendlichkeit — Zwerg- wuchs — Allgemeiner und partieller Infantilismus — Psychischer Stillstand auf frühkindlicher und spätkindlicher Stufe (i n - f a n t i 1 e und juvenile Form des psychischen Infantilismus) — Diffe- rentialdiagnose zwischen Infantilismus, Imbezillität und Idiotismus — Beschreibung eines Falles von Psychoinfantilismus — Infantilis- mus und pueriler Zisvestitismus — Gutachten über einen p ä d o - philen Zisvestiten — Psychosexueller Infantilismus — Das Kind als sexuelle Reizquelle — Infantile Gerontophilie — Infantilismus und Masochismus — Schuljungen-Empfindungen Er- Inhaltsverzeichnis Seite wachsener — Mammabriefe und „Baby"-Phantasien — Symptomatologie der Pädophilia erotica — Schilderung von pädophilen Infantilen — Be- gutachtung eines juvenil e nlnfantilen — senildemente Kinder- schänder — Infantilismus senilis — Begutachtung eines senilen Infantilen — Psychopathische Kinderschänder — Infantilis- mus alcoholicus — Fall von Alkoholismus und Inzest — Infan- tilismus und Exhibitionismus — Begutachtung eines infan- tilen Exhibitionisten — Notwendigkeit der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen in jedem Kriminalfall aus § 176 RStGB. Drittes Kapitel: Die Frühreife 66 Spätreife und Frühreife — Die vier Grundformen der Frühreife (die genitale, somatische, psychosexuelle und psychische Frühreife) — Fälle geschlechtlicher Frühreife beim weiblichen Geschlecht — Beispiele von Menstruatio praecox — Die frühzeitige Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen als Folge innersekreto- rischer Störungen — Neubildungen an der Keimdrüse, Zirbeldrüse, Neben- nierenrinde und Hypophyse — Diskongruenz in der Entwicklung der Geschlechtscharaktere — Infantilismus und Prämaturität — Prämature Ge- schlechtsentwicklung beim männlichen Geschlecht — Ein v i er- jähr ige r M a n n — uneinheitliche Geschlechtsreifung — Völliges Verschwinden der Frühreife nach Beseitigung eines Hodentumors — Auftreten männlicher Geschlechtscharaktere bei einem vierjährigen Mädchen — Doppelgeschlechtliche Frühreife — Körperliche Frühreifung ohne genitalen Parallelismus — Psychosexuelle Früh- reife — Schwangerschaften und Entbindungen im Kindcsalter — Geschlechtsbetätigung von Kindern — Paradoxia sexualis — Periphere und zerebrale Geschlechtserregungen — Ist der infantile Geschlechtstrieb die Regel oder Ausnahme? — Fall von sexueller Para- doxia auf degenerativer Grundlage — Fall von inzestuösem Geschlechtsverkehr unter jungen Geschwistern — Vorzeitiger Geschlechtstrieb bei Tieren — Die seelische Frühreife — Das Geschlechtsleben der Wunderkinder — Künstlerische Frühreife — Mozart und Dürer — Das Lübecker und das fränkische Wunderkind — Der Braun s-chweiger Wunderknabe — Jugendliche Rechenkünstler — Phänomenale einseitige Begabung bei Geistesschwäche — Weiterentwicklung geistig Frühreifer — Überentwicklung gewisser Hirnteile auf Kosten anderer. Viertes Kapitel: Sexualkrisen 86 Evolutions - und Involutionsperioden — Physiologische und pathologische Wirkung genitaler Vorgänge auf den Organismus — Der nervöse, vegetative, chemische und psychische Zusammenhang zwischen den Geschlechtsdrüsen und dem übrigen Körper — Die spezi- fische Reaktivität auf die Sexualhormone — Sexuelle Rhythmen — Physiologische Pubertätserscheinungen — Neurosen und Psychosen der Reifezeit — Dauer und Prognose pubischer Leiden — Die Nach- reife — Veitstanz, Tiks und Stottern — Das Erröten — Migräne, Absenzen und Epilepsie — Drangzustände Jugendlicher (Dromomanie, Dipsomanie, Pyromanie, Kleptomanie, Exhibitionismus) — Die psycho- pathische Konstitution — Pathologische Phantasten und Schwindler — Jugendliche Exaltierte, Idealisten und Welt- beglücker — Verstandes mäßige und g e f ü h 1 s mäßige Unaus- geglichenheit — „Liebeshaß" — Hysteriker, Selbstmörder und XII Inhaltsverzeichnis Seite Verbrecher im Alter der Pubertät — Begutachtung eines jugendlichen Diebes — Begutachtung eines Deserteurs — Erotisch betonte Degenerationstypen' unter Zuhältern und Prostituierten — Geistes- schwache und geistig hochstehende Psychopathen — G e - schlechtsdrüsensekretion und Dementia praecox — Ver- änderungen im Zentralnervensystem beim Nachlassen und Aufhören der Sexualfunktion — Vasomotorische Störungen der Wechseljahre — Neuralgische Sensationen im Rück bildungsalter — Die Mastodynie — Der genitale Pruritus — Das sogenannte „gefährliche Alter" — Klimakterische Psychosen — Schilderung einer k 1 i m a k t e - rischen Paranoia — Climacteriumvirile — Menstruelle Befindungsstörungen — Toxische und vasomotorische Menstru- ationseinflüsse — Verdrießliches und erregtes Wesen von Menstruierenden — Menstruelle Zwangs - und Drangzustände — Einengung des Geistes zur Zeit der Menstruation — Menstruierende vor Ge- richt — Rudimente menstrueller Störungen bei Männern — Das Drüsen- und Nervenleben schwangerer und gebärender Frauen — Gene- rationspsychosen — Die Wut der Gebärerinnen — Notwendig- keit der Hinzuziehung von Sachverständigen in jedem Fall von Kindes- mord — Psychopathische Wöchnerinnen — Psychosen der Stillzeit — Wirkung unehelicher Schwangerschaften auf ein labiles Nervensystem — Freisprechung eines wegen kriminellen Aborts angeklagten Mädchens. Fünftes Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Iis Name und Begriff — Die deutsche Bezeichnung Selbstbefriedigung — Der unzutreffende Gebrauch des Wortes Masturbation — Entstehung und Verbreitung des Ausdrucks Onanie — „Mutuelle Onani e", ein Widerspruch in sich — Andere Bezeichnungen — Ipsation von i p s e . — selbst — Ipsation m i t und ohne Vorstellungen — Die Ursachen der Ipsation — Zentrale und periphere Veranlassungen — Der i n - s t i n k t i v e Entspannungsdrang — Die Erotisierung des Geschlechts- zentrums — Objektive Bedeutung der Verführung — Die Leichtig- keit der ipsatorischen Lustfindung — Hemmungen durch Willen und Wissen — Taktile Reize — Angaben von Onanistinnen — Reizbar- keit und neuropathische Disposition — Die angebliche Gefährlichkeit der Säuglingspflege — Örtliche Irritamente der Genital- und Analzone — Keibung und Reizung — Lustbetonte „Spielereien" — Haut- und Schleimhautaffektionen beim männlichen und weiblichen Ge- schlecht — Entferntere Reizstellen — Die motorische Unruhe — Ekzessive Onanie der Psychopathen — Schädlichkeit der Schlaf- losigkeit — Die Surrogat onanie — Abstinenz - Onanisten — Notonanie normalsexueller Frauen — Ipsation infolge Ejaculatio praecox des Mannes — Vorstellungsonanie der sexuell Abnormalen — Die geistige Onanie, ein veralteter Begriff — Beispiele unbewußter Ipsation — Pollutionsonanie — Verbreitung und Häufigkeit der Ipsation — Schätzungen und Statistiken — Ergebnis eigener Statistiken — Ver- , , , , breitung der Ipsation in den verschiedenen Lebensaltern — Beginn der Onanie — Unerotische Lusthandlungen im Kindesalter — Extensität und Intensität der Onanie — Onanie kalender — Dauer der Ipsation — Verbreitung der Onanie beim weiblichen Geschlecht — Ipsation bei wilden und zivilisierten Völkern — Bei Tieren — In ältere* und neuerer Zeit — Ipsationsformen - Die manuelle, femorale und kohabitoide Form — Lustverstätkungen und Varianten Inhaltsverzeichnis Seite der manuellen Ipsation - Schilderung eines Appressionsonanisten -Solitäre Koitusimitation — Onanie in scheidenartige Öffnungen — Klitoris- vibration - Phallusersatz - Orale Onanie - Urethrale Ipsation - M a m m a 1 onanie — Larvierte Onanie — Onania prolongata — inter- rupta-incompleta — Einfluß der S e x u a 1 h y p o c h o n d r i e und Sexualneurasthenie auf die Ipsation - Diagnose der Ipsation - Unsicherheit der Indizien — Untersuchung der Samenflecken — Aussehen der Onanisten — Onaniehypochondrie — Eingebildete und trügerische Merkmale der Onanie (Tissots „signes de l'onanisme ) — Gibt es Masturbationscharaktere? — Opfer falscher Dia- gnostik und Dogmatik — Ipsationsfolgen — Übertreibungen, Irrlehren und Massensuggestionen — Onanistenbriefe — Unkenntnis in der Anatomie und Physiologie der Genitalorgane — A b s ch r e ck u n g s Schriften, Tissots großer Einfluß — Gesunde Onanisten — Stoffverlust und Schuldbewußtsein — Körperliche, sexuelle, nervöse und psychische Schilden — Angebliche Umgestaltung des Genitalapparates — Ejaculatio praecox und I m p o t e n z im Gefolge der Onanie — Organische, spinale, ner- vöse und autosuggestive Impotenz — Gegensuggestionen — Wechsel- seitige Onanie und Homosexualität — Onanie als Schutzmittel — Wirkung der Onanie auf das Nervensystem — Funktionelle Störungen — Vasomotorische Neurosen — Urtikaria nach Onanie — Angstneu- rosen _ Viszerale und Blasenneurosen — Beeinflussung des Geisteslebens durch die Ipsation — Depressionen, Hypochondrien, Versündigungs- und Selbstmordideen der Onanisten — Verschlimmern Phantasievorstel- lungen die Nachteile der Onanie? — Es gibt keine spezifischen Onanieschäden — Behandlung der Ipsation — Beseitigung deT Onanie und Onaniefolgen — Psychische, hygienische, medikamentöse, instrumenteile und operative Mittel — Hypnotische Suggestionsbehand- lung — Ärztliche Aufklärungsmethode — Innehaltung der Wahrheit und Fernhaltung von Übertreibungen und Dro- hungen — Die sexuelle Erziehung als Teil der hygienischen Er- ziehung — Geschlechtskunde — Bedenklichkeit der Keuschheitsgelübde — Die sechs Gebiete der hygienischen Therapie: Körperpflege und Körperübung, Bekleidung und Ernährung, seelische und sexuelle Diätetik — Vermeidung von Juckreizen — Hydrotherapie — Gymnastik — Wichtigkeit der künstlichen Körperhüllen: Bett und Kleid — Hosen und Hosentaschen — Menge und Art der Speisen — Das Nachtmahl — Der Alkohol — Pflanzenkost — Diä- tetikderSeele — Wissensschatz und Willensschatz — Überwindung der Willensschwäche — Gewöhnung und Planmäßigkeit — Sexuelle Selbstbeherrschung — Verwerflichkeit des Spür- systems — Gutachten über einen relegierten Schüler — Das geschlecht- liche Dilemma von der Reife bis zur Ehe — Heilkraft einer ideellen Liebe — Einklang zwischen Biologie und Soziologie — Arzneien, Apparate und Operationen zur Bekämpfung der Ipsation — Se- dantien und Roborantien — Infibulation, Klitoridektomie und Kastration. Sechstes Kapitel: Der Automonosexualismus Unterschied zwischen Ipsation und Automonosexualis- mus — Der biblische 0 n a n und der griechische Narzissus — Das Gebiet des Autoerotismus — Blochs sexuelle Äquivalente — Beobachtung eines Automonosexuellen vor dem Spiegel — Spiegel- akte von Frauen — Das Spiegelzimmer des Hostius Quadra — Die Inhaltsverzeichnis. XV photographische Platte an Stelle des Spiegels — Liebe zum eigenen nackten Körper — Fall von sexueller Entspannung durch Muskel- spiel — Erregung durch eigene körperliche Ausschmückung — Be- ziehungen zwischen Automonosexualismus, Eitelkeit und Koketterie — Unterschied zwischen Fetischismus und Automonosexualismus — Partieller Autismus — Fälle von Geschlechtserregung durch Aufsetzen von Perücken, Schminken, Nasenplastik — Monosexuelle Tanz- evolutionen — Tanzende Derwische und Autoflagellanten — Auto- masochismus — Beobachtung sexueller Erregung durch Anlegen von Gürteln und Korsetts (sexuelle Schnürsucht) — Beobachtung eines Falles von Geschlechtserregung durch Anziehen eines Spitzenunterrocks — Zisvestitische und transvestitische Gestaltsveränderung — Schilderung eines automonosexuellen Transvestiten — Soziales Ver- halten automonosexueller Personen — Ist der Narzißmus eine normalsexuelle Durchgangsstufe? — Mangelnde Reaktion auf Außenreize — Ursachen dieses Defekts — Die Identifizierung der gleichen Person als Reizquelle und Lustquelle, als Subjekt und Objekt, als aktiver und passiver Teil — Spaltung der Persönlichkeit — Beziehungen des Automonosexualismus zu anderen Sexualstörungen — Schaulust und Automonosexualismus — Die negative Bedeutung des Automono- sexualismus. Verzeichnis der Abbildungen. Zu Seite Tafel I: Äußere und innere Sekretion der männlichen Geschlechtsdrüse . . 5—6 Tafel II: Angeborener Geschlechtsdrüsenausfall (Eunuchoidismus) .... 8—9 Textbild: Hoden und Nebenhoden eines Eunuchoiden 9 Tafel III: Erworbener Geschlechtsdrüsenausfall (Kastratensänger) 14—15 Tafel IV: Geschlechtsdrüsenverlust im 20. Lebensjahre 16—17 Tafel V: Hodenverlust im Kriege 18 Tafel VI: Spätkastrat 21—23 Tafel VII: Geschlechtsteile eines infantilen Kryptorchisten 31—38 Tafel V1H: Schnitte durch kryptorche Hoden 38—39 Tafel IX: Zisvestitismus eines psychosexuellen Infantilen 45—47 Tafel X: Proben aus der Bildersammlung eines infantilen Masochisten . . 49 Tafel XI: Proben aus der Bildersammlung eines infantilen Fetischisten und Exhibitionisten . 63 Tafel XII: Prämature Gesehlechtsentwicklung bei einem vierjährigen Knaben 70 u. f. Tafel XIU: Doppelgeschlechtliche Frühreife im achten Lebensjahre . . . . 74 u. f. Tafel XIV : Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahre 81 Kurve über den Beginn der Onanie 133 L KAPITEL Der Geschlechtsdrüsenausfall Inhalt: Perioden der Geschlechtsentwicklung — Vierteilung der Geschlechts- unterschiede — Der extra sekretorische und inner sekretorische Anteil der Geschlechts- drüsen (Eeimsubstanz und Zwischensubstanz) — Die Folgen ausblei- bender Geschlechtsdrüsenentwicklung — Schilderung eines Falles von Hodenhypo- plasie (Eunuchoidismus) — Der Exzeß- und Defekt typus der Anandriden — Angeborener Eierstocksmangel — Ursprung und Ursachen der Kastration und Sterilisierung — Die soziale, religiöse, kriminalistische, vokale, therapeutische, pro- phylaktische und rassenhygienische Ätiologie — Beschreibung und Abbildungen von Kastratensängern — Geschlechtsdrüsenverlust im Kriege — Hodenschüsse — Hoden transplantation — Bericht über einen Spätkastraten — Der G e - schlechtstrieb der Anandriden — Kastrations t e c h n i k (Verschnittene, Halb- verschnittene, Hämmlinge) — Zusammensetzung der erotisierenden Substanz — Erworbener Eierstocksmangel — Abhängigkeit der Intensität und E x - tensität der Ausfallserscheinungen vom Zeitpunkt des Keimstockverlustes — Prä pubischer, pubischer und p o s t pubischer Geschlechtsdrüsenausfall. Verzeichnis der Abbildungen: Tafel I. Äußere und innere Se- kretion der männlichen Geschlechtsdrüse. — Tafel II. Angeborener Ge- schlechtsdrüsenausfall (Eunuchoidismus). — Textbild: Hoden und Nebenhoden eines Eunuchoiden. — Tafel III. Erworbener Geschlechtsdrüsenausfall (Kastraten- sänger). — Tafel IV. Geschlechtsdrüsenverlust im 20. Lebensjahre. — Tafel V. Hodenverlust im Kriege. — Tafel VI. Spätkastrat. In ihrer Entwicklung zeigen die Geschlechtsunterschiede ein Bild, das erheblich von dem Verhalten abweicht, wie wir es bei Eigenschaften finden, die beiden Geschlechtern gemeinsam sind. Während der Entwicklungsgang hier nach Form und Zeit ein ziemlich stetiger ist, indem ganz allmählich, meist nur durch gleichmäßige Vergrößerung, aus der Urform ein Zustand empor- wächst, der sich durch Jahrzehnte erhält und schließlich einer langsamen Kückbildung verfällt, beobachten wir an den Geschlechts- unterschieden, die Mann oder Weib als solche kennzeichnen, Zeiten lebhafterer G eschlechtsentwicklung, in denen es zu wichtigen Umgestaltungen und Veränderungen der entsprechenden Geschlechts- charaktere kommt. Diesen bewegten Zeiten folgen lange Pausen, in denen die Entwicklung zwar keineswegs völlig, aber doch ver- hältnismäßig ruht. Die Geburt des Menschen ist beispielsweise für Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 1 Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall n^hlPohtsentwicklung von nur untergeordneter Bedeutung. Im tgenl^"Zl Orglnsystemen bleibt das Genitalsystem von dem e nschneidenden Zeitpunkt, in dem das Kind „das wSt erblickt", nahezu unbeeinflußt; es vergeht noch eine ganze Reihe von Jahren, bis es die ihm zukommende Tätigkeit auf- """vnn den drei wichtigsten Perioden gesteigerter Ge- schlechtsentwicklung liegt die e r s t e zwischen Befruchtung Zd Geburt in der Zeit, welche in der fünf ten Embryonalwoche mit dem ersten Auftreten der Keimstöcke beginnt und anschließend 2 LaSe der folgenden zehn Wochen erst zur Bildung der inneren dann der äußeren Geschlechtsorgane des Mannes und des Weibes " ^ann folgt bei beiden Geschlechtern bis weit über die Geburt hinaus ein langer Zeitraum des K e imschl af s während welchem der Körper so sehr mit dem Aufbau seiner selbst beschäftigt ist, daß es ihm noch nicht gegeben ist, körperlich und scel^ch u l) ersieh hinauszuwachsen. Erst wenn sich die Ausbildung des Korpers ihrem Abschluß nähert, machen sich neue durchgreifende Ver- änderungen bemerkbar. Dieses zweite Hauptstadium der Ge- schlechtsentwicklung beginnt durchschnittlich im dritten Jahrfünft des Lebens und erreicht nach dem zwanzigsten Jahr einen gewissen Höhepunkt, der durch mehrere Jahrzehnte anhält, bis dann nament- lich bei dem weiblichen Geschlecht zwischen dem 40. und 50. Lebens- wahre als dritte Entwicklungsperiode ein Rückbil dun gs Vor- gang einsetzt, das sogenannte Klimakterium, das sich ebenso wie die Geschlechtsreife, primär an den Keimstöcken vollzieht Wie alle Vorgänge in diesem sexuellen Zentralorgan, ist auch seine Involution von weitgehenden Aligemeinerscheinungen im körper- lichen Befund und seelischen Befinden begleitet. Eines der bedeutsamsten sexuellen Entwicklungsgesetze, dessen Kenntnis für das Verhältnis sexueller Störungen unerläßlich ist, besteht nun darin, daß die Geschlechtszeichen des Mannes und Weibes nicht von vornherein und unmittelbar als solche kenntlich sind, son- dern sich aus einer allen Menschen gemeinsamen indifferenzierten Grundlage entwickeln. Die Geschlechtsdifferenzierung ge- schieht dergestalt, daß einige Partien der Uranlage sich zuruck- bilden, ohne jedoch jemals völlig zu verschwinden, andere dagegen stärker wachsen; daß ferner sich Spaltungen und Vertiefungen bilden, die bei dem einen Geschlecht bestehen bleiben, wahrend sie sich bei dem andern wieder schließen. So entsteht aus der gleichen Urform der männliche oder weibliche Geschlechtstypus, womit aller- dings nicht behauptet sein soll, daß dieser nicht, bevor er sicht- lich in die Erscheinung trat, schon vorher präformiert, deter- miniert und endogen fixiert ist, ohne daß wir allerdings bisher in I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 3 der Lage sind, dies nachzuweisen. Dem indifferenzierten und diffe- renzierten Stadium geht noch ein latent-geschlechtliches voraus, in dem an dem Embryo auch von der beiden Geschlechtern gemeinsamen indifferenten Form noch nichts wahrgenommen wer- den kann. Über die Frage, aus welchen Ursachen sich das Ge- schlecht das eine Mal nach männlicher, das andere Mal nach weib- licher Richtung entscheidet und differenziert, sind im Zusammen- hang mit dem Problem der willkürlichen Geschlechtsbestimmung von gelehrten und ungelehrten Leuten allerlei Vermutungen auf- gestellt worden, ohne daß die Frage als gelöst angesehen werden kann. Auf die darüber aufgestellten Theorien einzugehen, können wir uns um so mehr ersparen, als dem Gegenstand für das von uns zu behandelnde Gebiet sexueller Störungen eine praktische Be- deutung kaum zukommt. Nur das sei hervorgehoben, daß die doppeltgeschlechtliche An- lage der Frucht offenbar auf Vererbungsgesetzen beruht, nach denen sich auf sie der väterliche und mütterliche Anteil und damit der männliche und weibliche Charakter gemeinschaftlich überträgt. So kommt es, daß stets von allen männlichen Eigenschaften auch im Weibe, von allen weiblichen auch im Manne zum mindesten Spuren vorhanden sind, ein sehr bedeutsames Naturgesetz, auf das schon die großen Vorläufer der Sexualwissenschaft, ein Dar- win, ein Weißmann und He gar die Aufmerksamkeit lenkten. So sagte Darwin1): „Wir sehen, daß in vielen, wahrscheinlich in allen Fällen die sekundären Charaktere jedes Geschlechts schla- fend oder latent in dem entgegengesetzten Geschlecht ruhen, bereit, sich unter eigentümlichen Zuständen zu ent- wickeln." Und Weißmann2) bemerkt: „Die latente Anwesen- heit der entgegengesetzten Geschlechtseharaktere in jedem geschlechtlich differenzierten Bion muß als allgemeine Ein- richtung aufgefaßt werden." Weim Darwin an der eben angeführten Stelle von den se- kundären Geschlechtscharakteren im Gegensatz zu den pri- mären spricht, so bedient er sich hier einer Einteilung, die sein englischer Landsmann, der bedeutende Naturforscher am Ende des 18. Jahrhunderts John Hunter mit folgenden Worten in die Wissenschaft eingeführt hatte : „Such I call secondary properties, which take place only in parts that are neither essential to life nor generation, and which do not take place tili towards the age of maturity." x) Darwin, Das Variieren der Pflanzen und Tiere im Zustande der Domesti- kation. 2. Aufl. (Stuttgart 1893. Bd. 2, S. 59.) 2) Weißmann, Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung. (Jena 1892, S. 476.) 1* 4 I. Kapitel: Der Gesclilechtsdrüsenausfall Diese Einteilung hat sich während eines vollen Jahrhunderts sowohl für die äußerliche Klassifizierung der Geschlechtsmerk- male als für die Theorien ihres inneren Zusammenhangs als recht nutzbringend bewährt, bis sie sich schließlich doch mit dem immer tieferen Eindringen in die sexuellen Vorgänge als unzu- länglich erwiesen hat. Man hat deshalb allerlei Neueinteilungen vorgeschlagen, unter denen die von P o 1 1 am meisten Anklang gefunden zu haben scheint. Dieser Berliner Zoologe trennt zunächst die essentiellen oder germinalen Geschlechtsdifferenzen, unter denen er ausschließlich die Geschlechtsdrüsen oder Gonaden versteht, von allen übrigen, die er akzidentelle nennt. Diese wiederum teilt er in die genitalen subsidiär enund die extragenitalen. In beiden dieser Haupt- oruppen unterscheidet er dann die inneren und äußeren Ge- schlechtsmerkmale. Zu den inneren genitalen Geschlechts- organen zählt er u. a. die Leitungswege, die Kopulations- und Brut- organe, die akzessorischen Geschlechtsdrüsen, zu den inneren extragenitalen die Stimmorgane und psychischen Eigen- schaften, während er unter denäußerengenitalendie äußeren Geschlechtsorgane und unter den äußeren extragenitalen die zahlreichen Geschlechtsunterschiede in der äußeren Erscheinung begreift. . . . Mir selbst hat sich in zwanzigjähriger Praxis von rem klinischen Gesichtspunkten aus für den Menschen die folgende Vierteilung der Geschlechtsmerkmale als sehr zweckmäßig erwiesen, die ich daher auch diesem Buche zügrunde legen will: I. Die eigentlichen Geschlechtsorgane. XI. Die ü b r i g e n k ö r p e r 1 i c h e n Geschlechtsunterschiede. III. Der Geschlechtstrieb. IV. Die übrigen seelischen Geschlechtsunterschiede. Jede dieser Gruppen läßt zahlreiche weitere Einteilungen zu. So können wir die G e s c h 1 e c h t s o r g a n e zunächst wieder in v i e r Unterabteilungen zerlegen: a) in die Sekr et ions organe (Eierstock und Hoden), b) in die Leitungsorgane (Eileiter und Samenleiter), c) in die Aufbewahrungs organe (Gebärmutter und Samen- bläschen), d) in die Vereinigungs organe (Scheide und Glied). Den Geschlechtstrieb teilen wir ebenfalls am besten in vier verschiedene Phasen und Komponenten ein; es sind dies: a) die zentripetale, von den sensorischen Nerven z u m G e - hirn verlaufende sexuelle Ein drucksbahn (Wahrneh- mungs- und Vorstellungsbahnen), C+-I cd EH CO TS Ö 3 lO CD • i—i Cü Cd -(J> X © EH Qß > := s- cid — = e» -=S .2 s s :ss a a © •pH u M cj 0) - a = *i a s - - CS s Kl 1 , i l I Ii ^> O -g TS * a" .8 CD CD w CO m a « s g S 33 § £ Ol CD P ^ CD :p 'S CO CD CO „O cd J= a 5 © =3 fl . es Ol ö Sh — . «4 _ CB u es • '~ f-i CO cd j_r. TS > C 'S a H CD . ja 3 CD CD 5 -° cS a ja CD O CD co ^ io « ä :cs ,fD :3 B Ii TS -p ,|J » 3 "3 a CD — fl a> ••«« .2 o es 2 — < '5 a a — CD a _5 CD _. _ TS CG fl TS Nj :2 ^ J2 a ; e co c] d 3 a ts 35 * a % 'S d § M o ja CO es es CD JS 5 " ja - . o CO S fl n CD CD ja ts CD CD , 2 TS 3 § .§ cc CO "3, JS . P a — ™ ~ ja - x — CD CD _ CO rt i — i CD »Q a S -a CD 1« CO £ u l> CO E> CD CD K "g, -S J< CD 3 cd ja es CO ^ M CS -r-t 59 J3 o es a a a iE CD X a3 TS CD J= — a a 2 a cd ja CD J3 ü > S © «s fe « a ^ cS es CO c Ä a o > a a _ CD o CO fl to CD CO 0) CD 53 | °0 y., CD CO <q p N TS CD 5 a a CD CS bfiCO S CD £. Ts CD CO :_fl -3 CO 4-» ja o CD tii -4 6C o 3 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 5 b) der von der äußeren Sexualreizung, vor allem aber von der intrasekretorischen Ladung abhängige zentrale Drang, c) die zentrifugale, vom Gehirn zu den motorischen Nerven verlaufende A u s d r uc k s bahn (sexuelle Trieb- und Handlungsbahnen), d) die regulatorischen Hemmungs bahnen. Dem zentripetalen Anteil des Reflexbogens entspricht die Triebrichtung, dem zentralen die Triebstärke, dem zentrifugalen die Triebentspannung, während von der regulatorischen Bahn die Triebhemmung abhängt. Die alte Zwei- bzw. Dreiteilung des Geschlechtstriebs in den Kontrektations-, Tumeszenz- und Detumeszenz-, auf deutsch den An- näherungs-, An- und Abschwellungstrieb haftet zu sehr am äußer- lichen und dringt nicht mit genügender Schärfe in das eigentliche Wesen des Geschlechtstriebs ein. Auf die beträchtliche Anzahl der übrigen körperlichen und seelischen Geschlechtszeichen, die Geschlechtsunter- schiede zweiter und vierter Ordnung, wollen wir des näheren erst in dem Teil dieses Buches eingehen, in welchem von dem Auftreten diskongruenter Geschlechtscharaktere und den sexuellen Vari- anten ausführlicher die Rede sein soll. Nur eine funktionelle Zweiteilung sei hier noch be- rührt, deren Kenntnis für das Verständnis sexueller Entwicklungs- störungen unumgängliche Voraussetzung ist. Sie betrifft das zweifel- los überragendste Organ des ganzen Sexualsystems, die Keim- drüsen. (Tafel I.) An diesen können wir auf Grund sichergestellter Forschungen sowohl physiologisch als anatomisch einen extrasekreto- rischen und intrasekretorischen Anteil unterscheiden. Beim männlichen Geschlecht produziert und sezerniert der extra- sekretorische Geschlechtsdrüsenteil die männlichen Keimzellen, der intrasekretorische einen Stoff, für den wir3) 1912 den Namen A ndrin vorschlugen; beim Weibe gibt der extrasekretorische Teil die Eizellen, der intrasekretorische das G y n ä z i n ab. Während der Sitz der extrasekretorischen Funktion beim Manne die Samenkanäl- chen, beim Weibe die Graafschen Follikel sind, nimmt die innere Se- kretion von den Leydigschen Zwischenzellen ihren Ausgang, so be- nannt nach Franz Leydig, der sie im Jahre 1850 zum ersten Male in einem Aufsatz: „Zur Anatomie der männlichen Ge- schlechtsorgane und Analdrüsen der Säugetiere" geschildert hat. Auch die weibliche Eierstocksdrüse besitzt eine analoge Zwischen- substanz. 3) In den „Naturgesetzen der Liebe" S. 179 ff. 6 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall Die Bedeutung dieser Zwischensubstanz erhellt aus ihrem wechselnden Verhalten; am massenhaftesten sind die Zwischenzellen in der Pubertätszeit vorhanden, so daß St ei nach4), dem wir auf diesem Gebiet die durchschlagendsten Versuche und Forschungen verdanken, vorgeschlagen hat, sie geradezu Pubertätszellen, die Zwischensubstanz als Ganzes Pubertätsdrüse zu benennen. In den Hoden, welche Steinach zwecks Maskulierung auf kastrierte Weibchen überpflanzte, entwickelte sich die innersekretorische Sub- stanz besonders stark, ebenso in den auf kastrierte Männchen trans- plantierten Eierstöcken. Die gewaltige Bedeutung, welche das innere Sekret der Ge- schlechtsdrüsen auf den ganzen Organismus hat, zeigen am deutlich- sten die Ausfallserscheinungen, welche man bei Menschen und Tieren beobachtet, denen die Keimdrüsen fehlen, sei es daß sie überhaupt nicht zur Entwicklung gelangten (wie bei den Eunu- choiden), sei es daß sie später auf operativem Wege entfernt wurden oder im Kriege durch Geschoßwirkung verloren gingen. Daß außer der inneren Absonderung der G eschlechtsdrüsen aucli noch andereDrüsenmitinnererSekretion einen nicht un- wesentlichen Einfluß auf die Ausbildung der Geschlechtscharaktere haben, ist wahrscheinlich, im einzelnen aber noch sehr wenig sicher- gestellt. Angenommen wird es von der S childdrüse, der Thy- musdrüse, der Zirbeldrüse und den Nebennieren, vor allem aber von der Hypophyse5) (Hirnanhang), nach deren Ent- fernung, wie Biedl6) berichtet, bei noch unreifen Tieren die Ge- 4) Vgl. besonders von E. St ein ach, o. ö. Universitätsprofessor: Geschlechtstrieb und echt sekundäre Geschlechtsmerkmale als Folge der innersekretorischen Funktion der Keimdrüsen. I. Präexistente und echt sekundäre Geschlechtsmerkmale. II. Uber die Entstehung des Umklammerungsreflexes bei Fröschen. III. Entwicklung der vollen Männlichkeit in funktioneller und somatischer Beziehung bei Säugern als Sonderwirkung des inneren Hodensekretes. Separatabdruck aus dem „Zentralblatt für Physio- logie", Bd. 24, Nr. 13. Leipzig und Wien 1910. Franz Deuticke. Ferner: E. Steinach, Willkürliche Umwandlung von Säugetiermännchen in Tiere mit ausgeprägt weiblichen Geschlechtscharakteren und weiblicher Psyche. Arch. f. d. ges. Phys. Bd. 144 (1912). Derselbe: Feminierung von Männchen und Maskulierung von Weibchen. Zentralbl. f. Phys. Bd. 27 (1913). Derselbe: Entwicklung der vollen Männlichkeit in funktioneller und somatischer Beziehung als Sonderwirkung des inneren Hodensekretes. Zentralbl. f. Phys. Bd. 24. 5) Vgl. Mitteilungen aus der Biologischen Versuchsanstalt der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Physiologische Abteilung, Vorstand E. S t e i n a c h. „Über die Hypophyse bei feminierten Männchen und maskulierten Weibchen" von Josef Schlei dt (vorgelegt in der Sitzung am 22! Januar 1914). Sonderabdruck aus dem akademischen Anzeiger Nr. 111. Wien 1914. Aus der Kaiserlich-Königlichen Hof- und Staatsdruckerei. In Kommission bei Alfred Holder, K. u. K. Hof- und Universitätsbuch- händler. u) Biedl: Innere Sekretion. Wien. Urban & Schwarzenberg. 2. Aufl. 1913. 2. Teil S. 108 f. 7 schlechtsreife ausbleibt, während es bei älteren zur Atrophie des Genitalapparats kommt. Bei Hypopkysentumoren zeigen die Kran- ken eine Unterentwicklung der Geschlechtsteile mit Überreife des ge- samten Organismus. Hochenegg, der wiederholt in Fällen von Akromegalie die Entfernung eines Hypophysentumors mit Erfolg vornahm, sah in einem solchen Falle, daß bei einer Patientin die Men- struation, welche schon mehrere Jahre verschwunden war, wiederein- trat, in andern Fällen hörte nach der Hypophysenoperation sogleich die Bartbildung, welche sich bei Frauen mit Hypophysenerkrankungen in auffälliger Weise entwickelt, auf. Auch die von T a n d 1 e r und Groß7) bei lebenden Kastraten (Skopzen) im Böntgenbild festge- stellte Vergrößerung der knöchernen Hypophysengrube (sella turcica) ist ein beachtenswertes Zeichen. Scheint nach alledem ein kor relativ er Zusammenhang zwischen der Hypophyse und der Geschlechtsdrüse außer Zweifel zu stehen, so zeigen uns die klinischen Erfahrungen und Beobachtungen an Menschen mit nicht vorhandener oder bis zur Funktionslosigkeit verkümmerter Geschlechtsdrüse, daß in erster Linie doch die gänzlich mangelnde oder nur mangelhaft vorhandene Tätigkeit dieses Organs für die Geschlechtsentwicklung des ganzen menschlichen Organismus von ausschlaggebendster Wichtigkeit ist. Mit der Schilderung des in dieser Hinsicht lehrreichsten Krank- heitsbildes, des Geschlechtsdrüsenausfalls beginne ich da- her die Beschreibung sexueller Entwicklungs Störungen. Die hauptsächlichste Folge ausbleibender Geschlechtsdrüsen- entwicklung — einer nicht gar so seltenen Sexualstörung — ist der Fortfall der äußeren und inneren Sekretion, die normalerweise von den Keimstöcken ihren Ausgang nimmt. Der Wegfall der äußeren Sekretion bedingt Unfruchtbarkeit, die Abwesenheit des inneren Sekrets bewirkt den Ansf all oder die abnorme Gestaltung zahlreicher Geschlechtsmerkmale, deren reguläre Entwicklung offen- bar von dem Vorhandensein einer chemischen Substanz abhängt, die in den Zellen der Geschlechtsdrüsen entsteht und von hier aus dem Blute beigemischt wird. In der Mehrzahl dieser Fälle, in denen beides — Spermatozoen und Andrin — fehlen, ist der Hodenbehälter leer, gelegentlich fühlt man in ihm verkümmerte Testikel, die auch bei dem inhaltlosen Skrotalsack versteckt, und zwar meist in einem Schlupfwinkel oberhalb des Leistenkanals liegen dürften, so daß man dann also nicht berechtigt ist, von Hodenmangel (Anorchie) zu reden, sondern nur von kongeni- taler Hodenatrophie in Verbindung mit Kryptorchismus. Die Grundursache dieser schwerwiegenden Entwicklungsstörung hat sich 7)Dr. JuliusTandler und Dr. S i e g f r i e d G r o s z : Die biologischen Grund- lagen der sekundären Geschlechtscharaktere. Berlin. J. Springer. S. 51. 8 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall bisher nicht ermitteln lassen. Es hat eine gewisse Wahrscheinlich- keit für sich, daß es sich, wie bei fast allen sexuellen Anomalien, die Unfruchtbarkeit zur Folge haben, um eine Degenerations Prophylaxe handelt, indem die Unterentwicklung selbst schon auf dem Boden organischer Belastung entstanden die Weiterentwicklung nicht mehr tauglicher Stämme durch Sterilisierung unterbindet.. Ich will nun unter den von mir beobachteten Fällen von Hoden- hypoplasie einen der typischsten . schildern, wobei ich mich in der Besprechung der erwähnten Vierteilung: Geschlechtsorgane, kör- perliche Geschlechtszeichen, Geschlechtstrieb, seelische Ge- schlechtszeichen bediene. (Tafel II.) A., der im Jahre 1880 geboren ist, hat mich seit sechs Jahren wiederholt zu Rate gezogen. Er ist der jüngste von neun Kindern; seine 8 Geschwister, 6 Männer und 2 Frauen, sind gesund und sämt- lich verheiratet. Auch die Mutter, an der A. sehr hängt, lebt noch im 75. Lebensjahre und ist gesund, während der Vater in seinem 62. Jahre an Arterienverkalkung gestorben ist. Beide Eltern litten an Leistenbruch. Als A. zur Welt kam, war seine Mutter 44, sein Vater 46 Jahre alt. Ans A.s Kindheit ist nichts besonderes zu bemerken, sie war von der seiner Brüder kaum verschieden. Erst im Alter der Reife machte sich der große Unterschied bemerkbar, der allerdings zunächst weder ihm, noch der Umgebung auffiel, daß nämlich kein einziges Zeichen der Geschlechtsreife auftrat. — Als A. mich im Alter von 30 Jahren zum ersten Male aufsuchte, zeigten die Geschlechtsorgane folgenden seitdem unverändert gebliebenen Be- fund. An der Hodensackstelle findet sich nur ein quergerunzelter Hautwulst, der genau in der Medianlinie eine stark hervortretende Raphe (Hodensacknaht) erkennen läßt. Beide Hälften des Wulstes sind leer. Der Leistenkanal ist geschlossen. Auch vom Rektum aus ist kein Hode nachweisbar, dagegen ist eine kleine Prostata deutlich fühlbar. Samenbläschen konnten nicht wahrge- nommen werden. Der Penis gleicht dem eines etwa 4jährigen Knaben; er ist im schlaffen Zustand 2 cm, im erigierten 5 cm lang. Erektion ruft A. durch Onanie hervor, die er seit dem 12. Lebens- jahre, wie er angibt, infolge Verführung durch >andere Kinder betreibt. Dabei ist niemals eine Ejakulation vorgekommen, auch nicht Abgang von Prostatasaft. Es tritt aber trotzdem bei der Masturbation ein starkes Lustgefühl auf, so daß A. bisher von der Selbstbefriedigung nicht ablassen konnte. Hinsichtlich der übrigen körperlichen Eigenschaften A.s ist zu bemerken: er ist mit 182 cm größer als seine Eltern und übrigen Geschwister. Trotzdem ist die Armspannweite mit 190 cm noch größer, wie die Körperlänge. Die Extremitäten sind länger, als es seiner Körperlänge entspricht. Der Becken- I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall g ü r t e 1 zeigt einen Umfang von 10 2 cm, der Schultergürtel einen solchen von 18 2 cm. Dieses Verhältnis entspricht dem femi- ninen Durchschnitte. Der Kopfumfang beträgt 54 cm. Die Körperhaut des A. ist vollkommen haarlos, nur in der Achselhöhle und an der Gliedwurzel findet sich ein kleines Büschelchen Haare. Von Barthaar ist auch nicht der leiseste Anflug vor- handen. Das Haupthaar reicht ziemlich weit in die Stirn hinein, die tiefe Querrunzeln hat. Auch sonst zeigt das Gesicht starke Falten, die ihm etwas Altes geben, während die glatte blasse Haut andrerseits jugendlich wirkt, so daß es ungemein schwierig ist, das Alter des Anandriden zu schätzen. Die Ohren sind ungewöhnlich groß und abstellend. Sehr bezeichnend ist die Fettver- teilung. Starke Fettansammlungen be- finden sich zunächst in der Gegend der Brüste, die dadurch ein weibliches Gepräge tragen (Gynäkomastie), ferner in der Unter- bauchgegend, am Gesäß, an den Hüften und Oberschenkeln; auch das Gesicht ist fett, es finden sich auch die charakte- ristischen Fettwülste in den oberen Augenlidern. Die ganzen Körperlinien sind infolge der Fettansammlungen wei- cher und abgerundeter wie bei den meisten hodentragenden Männern. Die Muskeln sind schwach und schlaff. A. klagt daher wiediemeistenMännerohnenor- inalen Hoden über mangelnde Körper- kraft und leichte Erschöpf barkeit. Die Gefäßerregbarkeit der Haut ist stark. A. errötet sehr leicht. Die Schmerzempfind- lichkeit ist erheblich. Was bei A. zunächst auffällt, ist seine sehr hohe Stimme. Dementsprechend ist der Kehlkopf am Halse äußerlich kaum sicht- bar und die Stimmbänder sind mehr als ein Drittel kürzer, als sie bei einem gleichaltrigen Manne zu sein pflegen. Ein Stimmwechsel bat seit seiner Kindheit nie stattgefunden. Die Schilddrüse ist sehr klein. Pathologisch anatomisch waren in allen bisher zur Sektion ge- langenden Fällen von Eunuchoidismus Testikel nachweisbar; sie waren aber stets in funktionsunfähigem Zustande und sehr klein, so maß der von Tandler und Groß bei der Obduktion eines 28jährigen Mannes gefundene in seiner größten Ausdehnung nur 13 mm; die Nebenhoden sind im Gegensatz zu den Hoden meist Hoden (E) und Nebenhoden (N) eines Eunuchoiden nach Tand- ler und Groß. Der Hoden ist verkümmert, während der Ne- benhoden übermäßig entwik- kelt ist. 10 stark entwickelt. Samenzellen sind nicht, Leydigsche Zwischenzellen entweder gar nicht oder nur spärlich vorhanden. Die Kanalikuli des Hodens stellen sich als bindegewebige Fäden ohne Lumen dar, die der Nebenhoden haben ein feines Lumen zwischen einer binde- gewebig muskulären Wandung. Daher erklärt sich der im Verhält- nis zum Hoden beträchtliche Umfang des Nebenhodens. Höchst beachtenswert ist nun, daß bei A. ein nach Richtung- und Stärke vollkommen normaler Geschlechtstrieb vorhanden ist. Der Hauptanlaß, der ihn zu mir führte, war die Frage, ob er mit seiner Beschaffenheit wohl eine Ehe eingehen könne. Ich riet ihm von diesem Schritte ab, es sei denn, daß er ein älteres Mädchen fände, dem er sich über seine Entwicklungs- hemmung und Zeugungsunfähigkeit vorher vollkommen anver- traute. Auf rein wirtschaftlicher kameradschaftlicher Grundlage sei eine Ehe denkbar, auf sexueller nicht. Auch die Frage nach der Heilbarkeit seines Zustandes konnte ich nicht bejahend beantworten. Kollege Stabel, mit dem ich über die chirurgische Seite des Falles konferierte, machte den Vorschlag, dem Patienten einen gesunden Hoden zu im- plantieren, der frisch dem Skrotum eines Mannes entnommen sei, der sich aus irgendeinem Gründe einen Hoden exstirpieren lassen wolle. Es werden gelegentlich solche Wünsche von Personen ge- äußert, die sich über ihr geschlechtliches Leben unglücklich fühlen. Doch würde es sich natürlich nur um ein Experiment handeln, das nach den Tierversuchen von Steinach, Brandes und anderen immerhin als aussichtsvoll bezeichnet werden kann. Inzwischen ist der Versuch in diesem europäischen Kriege tatsächlich auch bereits am Menschen ausgeführt worden. Am 31. August 1915 hat Dr. Licht enstern in Wien auf Veran- lassung von Prof. Dr. Steinach einem Soldaten, der durch eine Verletzung bei einem Sturmangriff beide Hoden verloren hatte, um den aufgetretenen Ausfallserscheinungen Einhalt zu gebieten und eine Rückkehr der Libido und Potenz zu erzielen, den Leisten- hoden eines 40jährigen Mannes eingesetzt, und zwar! auf eine wundgemachte Muskelstelle des Obliquus externus. Es ergab sich, daß die Transplantation von Hoden tatsächlich eine beim Menschen mit Erfolg ausführbare Operation ist und daß sich die Folgen des Geschlechtsdrüsen Verlustes mit Ausnahme der Unfrucht- barkeit durch die Überpflanzung von Hodengewebe wirklich be- seitigen lassen8). Ich komme noch ausführlicher auf diesen Fall zurück. Das letztemal suchte mich A. in der Frage seiner Kriegsver- wendungsfähigkeit auf. Er selbst hielt sich infolge seiner ») Vgl. Münchn. med. Woch. vom 6. Mai 1916, S. 675. I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 11 Körperbeschaffenheit, namentlich wegen seiner leichten Ermüdbar- keit, dem Felddienst nicht gewachsen, wollte aber gern sich durch Bureau- oder Kammerdienste dem Vaterlande nützlich machen. Ich bescheinigte den objektiven Befund meiner Beobachtungen, ohne über die Frage der Militärtauglichkeit dem Urteil der Musterungs- ärzte vorzugreifen. Später erfuhr ich, daß er aus D.A.Mdf. An- lage 1 D u. E 58 9) als dauernd untauglich ausgemustert worden sei. Einiges noch über die geistigen Fähigkeiten A.s. Er ist ein tüchtiger und fleißiger, selbständiger Kaufmann, der gut für seine Mutter sorgt. Seine Intelligenz muß als gut, Gedächtnis als sehr gut bezeichnet werden. Er hat großes Interesse für Politik und kommunale Angelegenheiten und erfreut sich in der kleinen Stadt, in der er lebt, einer allgemeinen Beliebtheit. Er ist für seine Person sehr anspruchslos und mäßig, ist freundlich und bescheiden. Er ist aber oft sehr herabgestimmt und der Ausdruck seines Gesichts muß, wie auf dem beigefügten Bilde ersichtlich, als recht be- kümmert bezeichnet werden. Auch die anderen Personen mit angeborenem Defekt der Ge- schlechtsdrüsen, welche ich bisher zu beobachten Gelegenheit hatte, zeichneten sich durch gute geistige Befähigung aus, einer war so- gar ein hervorragender Schriftsteller, dagegen war bei allen außer A. der Geschlechtstrieb entweder überhaupt nicht oder nur sehr schwach entwickelt. Erwähnen will ich noch, daß einer dieser „Eunuchoiden" seit seinem 15. Lebensjahre an Hämorrhoidal- blutungen litt, die sich vollkommen regelmäßig nach Verlauf von 28 Tagen wiederholten, mehrere Tage anhielten, sein Allgemein- befinden stark angriffen und ganz den Eindruck von Menstrua- tionsäquivalenten machten. Außer dem hier geschilderten, mehr durch ungehemmte als gehemmte Entwicklung ausgezeichneten Typus gibt es noch einen zweiten Typus des Anandriden, den infantilen. Auch hier kommen bei gleichem äußeren Genitalbefund die sekun- dären Geschlechtsmerkmale nicht zur Entwicklung, es tritt aber an deren Stelle kein exzessiver Höhen- und Fettwuchs auf, sondern der ganze Körper bleibt auf der Stufe stehen, die der normalsexuelle Mensch kurz vor der Pubertät erreicht hat. Ich hatte vor einiger Zeit einen solchen Menschen in Beobachtung, der mit 27 Jahren vollkommen den Eindruck eines zwölfjährigen Knaben machte. Mit 9) Dienstanweisung zur Beurteilung der Militärdienstfähigkeit und zur Ausstellung von militärärztlichen Zeugnissen (D.A.Mdf.) vom 9. Februar 1909. Berlin 1909. Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Kgl. Hofbuchhandllung, Kochstr. 68—71. Seite 159 heißt es unter 58 D: „Verlust oder diesem gleichzuachtender Schwund beider Hoden, letzteres unter der Voraussetzung einer ungünstigen Beeinflussung des allgemeinen Körper- zustandes"; und unter 58 E: „Erhebliche Leiden der Geschlechtsorgane, welche an- dauernd Beschwerden verursachen (Zwitterbildung)." 12 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall der hohen kindlichen Stimme, dem zierlichen Körperhan — Patient wog 80 Pfund — , den kindlichen Bewegungen kontrastierte eigen- artig die Intelligenz und das hedeutende positive Wissen dieser Per- son. Er hatte wegen seines jugendlichen Aussehens Schwierigkeiten, eine seinen Kenntnissen entsprechende Lehensstellung zu finden. Ein Geschlechtstrieb war in diesem und den Fällen ähnlicher Art, die ich sah, nicht vorhanden, doch bestand bis zu einem gewissen Grade die verstandesgemäße kummervolle Empfindung, durch den Ausfall eines von den Normalen hochgeschätzten Lebensgutes be- nachteiligt zu sein. Ich habe zwischen den beiden Typen des Anandriden — dem Exzeß - und Defekttypus — auch Mischformen gesehen, so einen 32jährigen Menschen, einen Musiker, der bei infantilem Genital- und Körperbefund weibliche Brüste aufwies. Beim weiblichen Geschlecht ist bei angeborenem Eierstocksdefekt der infantile Typus der weitaus vor- herrschende. Es handelt sich hier um jene Fälle von genitaler Hypoplasie und Aplasie, über die bereits die alten Gynä- kologen als Ursache weiblicher Unfruchtbarkeit vielfach berichtet haben. Sie hielten sich in ihren Beschreibungen allerdings mehr an die kleine atrophische Gebärmutter, an die oft kaum sichtbare Vaginalportion, die kurze, enge Scheide, die schlaffen, welken, oft sehr wenig oder gar nicht behaarten äußeren Geschlechtsteile und vor allem an den Mangel der Menstruation, als an die wegen ihrer Winzigkeit der digitalen Untersuchung kaum zugänglichen ver- kümmerten Ovarien, von deren Funktionslosigkeit aber offen- bar die Unterentwicklung der übrigen Teile sowie alle übrigen Aus- fälle abhängig sind. Die hauptsächlichsten Ausfallserscheinungen bei nicht vorhan- dener innerer und äußerer Eierstockssekretion sind die Sterilität und die mangelnde Ausbildung der Geschlechtscharaktere. Wie die Geschlechtsorgane selbst, so verharren auch die Brüste auf kindlicher Stufe mit Brustwarzen und Warzenhof von viel geringerem Um- fange, als dem Alter entsprechen würde. Infolge ausbleibender Fett- ausfüllung fehlen am Schulteransatz und an den Hüften die runden Linien; das Becken ist schmal. Exzessive Bildungen, wie Dispro- portion der Gelenke und Atypie in der Behaarung, sind dabei ver- hältnismäßig selten. Gleichwohl ist infolge des Mangels weiblicher Somacharaktere die Differentialdiagnose zwischen einfacher Unterentwicklung und virilem Habitus in derartigen Fällen nicht immer leicht zu ziehen. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist der Geschlechtstrieb, der bei Hypoplasie und Aplasie entweder gar nicht, oder nur sehr I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 13 schwach vorhanden ist, wenn vorhanden sich aher in normaler Rich- tung bewegt, während er bei viriler Beschaffenheit fast niemals fehlt, jedoch von der Norm abzuweichen pflegt. In intellektueller Beziehung zeigen Frauen mit Eierstoeksdefekt kein Manko. Im Anschluß an den angeborenen empfiehlt es sich, noch einiges über den erworbenen Geschlechtsdrüsenausfall zu sagen. Dieser Gegenstand beansprucht unsere volle Aufmerksam- keit in erster Linie aus biologischen, dann auch aus historischen Gründen, weniger allerdings wegen seiner Häufigkeit in unseren Breiten und Zeiten, in denen der als K a s t r a t i o n bezeichnete Ein- griff bei beiden Geschlechtern verhältnismäßig nur noch selten vor- genommen wird. Es handelt sich hier vermutlich um die älteste Operation, die von Menschen an Menschen und Tieren vorgenommen wurde. Der Ursprung der Kastration verliert sich in eine so graue Vorzeit, daß es kaum noch möglich ist, mit einiger Sicherheit anzugeben, wie die primitive Menschheit auf diesen Gedanken ver- fiel. Ich vermute, daß man zunächst die Entmannung als Straf e oder Schändung vorgenommen hat, sei es im Kriege, wo sie sich bei wilden Völkerschaften bis heute erhalten hat, sei es im Frieden, um nach dem naiven Rechtsgrundsatz: „Womit du gesündigt hast, sollst du auch bestraft werden," Notzuchts- und andere Sittlichkeits- verbrechen zu ahnden. Herrschte doch früher allgemein die bei vielen noch jetzt gültige Meinung, daß in den äußeren Ge- schlechtsorganen der Sitz der Geschlechtslust und des Geschlechts- triebes zu suchen sei. Nachdem man nun aber bei den Sträflingen wahrgenommen hatte, welchen tiefgreifenden Einfluß die Kastration auf Körper und Seele im allgemeinen ausübte, lag es nahe, auch aus anderen Motiven, als dem der Bestrafung eine Zerstörung der Geschlechts- drüsen vorzunehmen. Bei Tieren, und zwar bei vielen Arten ge- schah es, um für Haus und Hof Masttiere und Lasttiere zu ge- winnen — erkannte man doch leicht, wie die Tiere nach Verlust der Keimstöcke an Fettreichtum, Schmackhaftigkeit und Geduld zu- nahmen — , bei den Menschen dagegen waren die verschiedensten Wünsche maßgebend. So erschien es bei vielen Völkern den Hausherrn wünschens- wert, in ibren Familien Personen zu besitzen, denen sie, ohne von Eifersucht geplagt zu sein, ihr vollstes Vertrauen entgegenbringen konnten. Dadurch gelangte man namentlich in Asien zu der Ein- richtung der „Haussöhne", sogenannter Eunuchen, die dank ihrer Anhänglichkeit, Schweigsamkeit, Gewissenhaftigkeit und viel- seitigen Brauchbarkeit allmählich zu sehr einflußreichen Stellungen emporstiegen. Sind doch die Obereunuchen, meist Personen von 14 I. Kapitel: Der Geschlechtsclrüsenausfall feiner Bildung und hoher Klugheit, heute noch die ersten Hof- beamten türkischer und persischer Herrscher. Wurde bei den Mohammedanern mehr aus praktischen, so wurde bei den Christen mehr aus i d e a 1 i s t i s c h e n Gesichtspunkten „u m desHimmelreicheswillen" kastriert. Im Zusammenhang mit der asketischen Lebensanschauung von der „sündigen Fleisches- lust" bewirkten einige Bibelstellen, wie Matth. 19, 12; Kol. 3, 5; Jes. 56, 3, daß im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung namentlich im Osten des römischen Reicks zahllose christliche Priester aller Rang- klassen sich kastrieren ließen, für die Kastration Propaganda mach- ten und selbst kastrierten. In der S k o p z e n sekte, den Lipowanern, haben sieh Nachwirkungen dieser religiösen Verschneidung als einer „Gott wohlgefälligen Verstümmelung" bis in unsere Tage erhalten. Ein weiterer Grund, die männlichen Keimtstöcke vor der Reife auszulösen, war die dadurch erzielte Beeinflussung der Stimm- werkzeuge. In meinen „Naturgesetzen der Liebe"10) heißt es hierüber : „Die Sangeskunst der italienischen Verschnittenen war im ganzen Mittelalter weit gerühmt. Noch während des ganzen 18. Jahr- hunderts wurden zu diesem Zweck in den Kirchenstaaten jährlich mehr als 2000 Kinder kastriert. ,La voix des castrats imite celle des cherubins au ciel', lautete ein weitverbreiteter Spruch, und an den Schaufenstern fast jedes. Heilgehilfen und Barbiers in Rom konnte man lesen: ,ici on chätre ä bon niarche' oder ,qui si castrano ragazzi ä buon mercato' (hier wird billig verschnitten). Rossini schrieb 1827 die Oper ,Aureliano in Palmyra' für den Kastraten V e 1 u 1 1 i , und Napoleon soll zu Tränen gerührt gewesen sein (emu jusqu'aux lar- mes), als der Kastrat Cr esc entin i vor ihm in ,Romeo und Julia' sang." Ich hatte selbst noch Gelegenheit, mir in Rom einige Kastratehsänger aus dem berühmten Chor der Peterskirche vor- stellen' zu lassen. Von einem der hervorragendsten, dem ausgezeich- neten Artisten der Sixtinischen Kapelle Prof. Alessandro M o r e c h i bringe ich ein Bild. (Tafel III.) Es zeigt uns an dem in früher Jugend kastrierten Manne, der bereits das fünfzigste Lebensjahr über- schritten hat, das charakteristische glatte und fette Kastratengesicht. Gegenwärtig wird die Kastration in Europa und Amerika fast nur noch zu tb erapeutis ch e n und prophylaktischen Zwecken vorgenommen. Zu Heilzwecken bedient man sich ihrer bei den verschiedenen Neubildungen an den Geschlechtsdrüsen, haupt- sächlich bei Krebs und Tuberkulose der Testikel sowie zystischen Entartungen der Ovarien, außerdem, um eine indirekte Wirkung zu erzielen, bei der. Osteomalazie der Frauen und der Prostata-Hyper- trophie der Männer. Man meinte nämlich wahrgenommen zu haben, daß diöse Leiden sich nach Entfernung der Keimstöcke zurück- 10) Loc. cit. S. 173. Der Altist Professor Alessandro Morechi (vgl. im Text Seite 14). irschfei d, Sexualpathologie. I. A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn. f. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 15 bilden, doch ist dies namentlich bei der Altersvergrößerung der Vorsteberdrüse mehr wie zweifelhaft. Auch bei den psychischen Sexnalstörungen hat man zur Kastration seine Zuflucht genommen, und zwar sowohl bei quanti- tativen als qualitativen Abweichungen von der Norm. So kenne ich verschiedene Fälle, in denen Personen die Entfernving der Hoden an sich haben ausführen lassen, Aveil sie einer ihnen höchst peinlichen Neigung zu exzessiver Onanie nicht Herr werden konnten. Auf die relative Heilwirkung der Kastration bei pathologischer Stärke oder Richtung des Geschlechtstriebs komme ich gelegent- lich zurück. Fällt bei den letztgenannten Leiden die heilende und vor- beugende Wirkung zusammen, so ist der rein prophylaktische Gesichtspunkt dort maßgebend, wo die Kastration zur Unfrueht- barkeitsmachung vorgenommen wird, um Geisteskranke und Verbrecher zu „sterilisiere n". In Amerika bestehen dahin ab- zielende Gesetze, von denen eines, das Gesetz des Staates Indiana vom 9. März 1907, als Beispiel angeführt werden soll. Es lautet: „Da bei der Fortpflanzung die Vererbung des Verbrechens, des Blödsinns und der Geistesschwäche eine höchst wichtige Rolle spielt, wird von der gesetzgebenden Versammlung des Staates Indiana be- schlossen: daß es für eine jede in diesem Staate bestehende Anstalt, die mit der Obhut über unverbesserliche Verbrecher, Blödsinnige, Notzüchtiger und Schwachsinnige betraut ist, zwingende Vorschrift ist, nebst dem gewöhnlichen Anstaltsarzt zwei erfahrene Chirurgen von anerkannter Tüchtigkeit aufzunehmen, deren Pflicht es ist, den geistigen und körperlichen Zustand solcher Insassen zu prüfen, die von dem Anstaltsarzt und dem Verwaltungsrat hierzu bezeichnet werden. Wenn es nach dem Urteile dieses Sachverständigen- kolle giums und des Verwaltungsrats nicht ratsam ist, eine Zeugung zuzulassen, und wenn keine Wahrscheinlichkeit besteht, daß sich der geistige Zustand des betreffenden Insassen bessern werde, dann sollen die Chirurgen berechtigt sein, eine Operation zur Ver- hütung der Zeugung vorzunehmen, die nach ihrer Entschei- dung am sichersten und wirksamsten ist." Die Schlußbemerkungen beziehen sich darauf, daß man statt zu der Entfernung der Testikel vielfach auch nur zur Vasektomie, der Durchschneidung der Samenstränge, geschritten ist. Für die Sterilisation genügt dieser Eingriff, ob auch für die radikale Aus- schaltung des Geschlechtstriebs, ist nach den bisherigen Erfah- rungen unsicher. In Europa hat man sich aus meines Erachtens sehr berechtigten Rücksichten nicht zu ähnlichen Bestimmungen entschließen können, trotzdem einige Sachkenner, wie N ä e k e , dafür eingetreten sind. 16 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall Alle angeführten Formen der Kastration, die krimina- listische, soziale und religiöse sowohl wie die vokale, therapeutische, prophylaktische und rassenhygienische werfen wichtig eSehlag- lichter auf den innigen Zusammenhang, welcher zwischen der Funktion der Geschlechtsdrüsen und allen übrigen körperlichen und seelischen Geschlechtscharakteren vorhanden ist. Die Veranlassungen, aus denen man sich zu Kastrierungen entschlossen hat, sind damit allerdings noch immer nicht erschöpft, so will ich den Fall eines Kastraten anführen, den ich selbst seit längerer Zeit zu beobachten Gelegenheit habe. (Tafel IV.) Es ist der im Jahre 1883 geborene Sopransänger B. Als er 21 Jahre alt war, wurde auf ihn ein Attentat verübt. Ein Ameri- kaner, der von einer heftigen Leidenschaft zu ihm erfaßt wurde, hatte ihn auf eine Eeise nach Italien mitgenommen. Eines Tages, während B. schlief, versetzte ihm dieser Mann wohl aus Eifersucht mehrere heftige Stiche mit einem spitzen Stilett in die Genitalgegend, die den Hodensack durchbohrten und beide Hoden schwer verletzten. Der Attentäter tötete sich dann sogleich selbst; ein Kellner, der das Gastzimmer, in dem der Vorfall sich abspielte, betrat, fand die Leiche des Herrn über dem stark blutenden Körper des bewußt- losen Jünglings. Ein hinzugerufener Chirurg entfernte die beiden zerrissenen Hoden gänzlich. Als ich B. zehn Jahre später zum ersten Male sah, bot er fol- genden Befund: Man sieht in der Genitalgegend 3 große Narben, eine von einem Einstich herrührende, rechts oberhalb der Schambehaarung, eine Ausstichnarbe an der rechten Seite des Hodensacks und eine breite Einschnittnarbe oberhalb der linken Leiste, die von der Eröffnung des infolge der Ver- letzung entzündeten Zellgewebes herrührt. Beide Hoden fehlen völlig. Die Haut des ganzen Körpers ist ungemein dünn und durchsichtig, dabei äußerst spröde, die Nägel sind brüchig. Die Körperbehaarung ist seit der Kastration fast vollkommen geschwunden, die Muskulatur ist schlaff und weich, es fehlt die Elastizität und dementsprechend . auch Ausdauer und Mannes- kraft. Dagegen hat sich seit der Kastration ein reichliches Fett- polster entwickelt; vor allem sind Brüste entstanden, die einen ganz weiblichen Eindruck machen, sich prall anfühlen und beim Abtasten einen deutlichen Brustdrüsenkörper wahrnehmen lassen. Taillenweite ist 70 cm. Achselbehaarung fehlt gänzlich, das rotblonde Haupthaar ist lang, dicht und weich; der bereits vor der Kastration ziemlich stark vorhandene Bartwuchs hat nach dieser fast gänzlich aufgehört. Der Kehlkopf ist klein, von außen nicht sichtbar, die Stimme demzufolge hoch. B. besitzt eine schöne weibliche Ge- sangsstimme, die sich noch ständig erhöht. Er singt jetzt Sopran bis B, während er vor vier Jahren bis Fis kam. Auch in seinen I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 17 graziösen Bewegungen, in Neigungen und Gewohnheiten erscheint er feminin. Er liebt sehr Schmuck, Parfüms, sowie süße Speisen. Bemerkenswert ist eine nachweisliche Periodizität. Ganz regel- mäßig treten Zeiten ein, in denen er sich „unwohl" fühlt; er leidet dann an Schwindel, Mattigkeit, Kopfweh, starker Gereiztheit und see- lischer Verstimmung. Aber auch außerhalb dieser Perioden ist eine starke reizbare Nervenschwäche unverkennbar. Namentlich Angst- zustände machen ihm im Wachen und im Schlaf viel zu schaffen. Sein Geschlechtstrieb ist seit der Kastration völlig er- loschen. Dagegen treten bei ihm eigenartige Muttergefühle auf; er ist außerordentlich kinderlieb und würde am liebsten selbst ein Kind zur Welt bringen können. Endlich besteht, vermutlich im Zu- sammenhang mit der Operation, bei B. eine totale Verstopfung. Ohne Klystiere oder starke Abführmittel ist überhaupt keine Stuhl- entleerung möglich. In intellektueller Hinsicht zeigt sich B. von leichter Auf- fassungsgabe und vielseitigen Interessen. Daß die Intelligenz der Kastraten gelegentlich sogar den Durchschnitt weit überragen kann, zeigen historisch beglaubigte Beispiele, wie die des Feldherrn Narses, des Kirchenvaters Origenes, des Philosophen Abe- lard, des portugiesischen Staatsmanns Carlo Brocchi und an- derer, von denen wir wissen, daß sie dem Geschlecht der Geschlechts- losen angehörten. Was unseren B. betrifft, so spricht und singt er außer deutsch ganz geläufig französisch, italienisch und englisch. Er ist sehr musikalisch. Seine Hauptneigungen sind: Theater. Mode und Blumen. Dabei ist er einem starken Stimmungswechsel unter- worfen, träumerisch, scheu, furchtsam und neigt zum Übersinn- lichen. Er ist einige Jahre nach der Kastration in Pom vom evan- gelischen zum katholischen Glauben übergetreten. — Die häufigsten Fälle von unbeabsichtigtem Geschlechtsdrüsen- verlust ereignen sich wohl im Kriege. Daß namentlich in einem so furchtbaren Kampfe wie es der gegenwärtige Weltkrie«' ist, in dem der Hagel der Geschosse wahllos Millionen Leben vernichtet und keinen Teil des Körpers verschont, auch Genital Ver- letzungen vorkommen, liegt auf der Hand. Ähnlich wie die Hirnschusse haben auch die Hodenschüsse durch die Ausfalls- erscheinungen, die sich ihnen anschließen, in oft überraschender Weise die Zusammhänge bestätigt, die zwischen den oberen und unteren Zentralorganen einerseits und dem übrigen Körper andererseits bestehen. Im Anfang des Krieges, als die übererregten Gemüter der Völker dazu neigten, die wirklichen Schrecknisse des Krieges noch durch erfundene Grausamkeiten zu überbieten, konnte man außer von aus- gestochenen Augen und abgehackten Händen auch mancherlei von ausgeschnittenen Genitalien hören. Ich habe diese Angaben, soweit Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 2 lg i. Kapitel: Der ■ Geschlechtsdrüsenausf all Usk ihnen nachgehen konnte, in keinem einzigen Falle bestätigt ge- funden, trotzdem ja auch wilde Völkerschaften, denen nian solche Akte mit Vorliehe anhängt, genugsam an- diesem Weltkriege be- teiligt, sind. ' • . • : •• . „ .. Daß aber- solche willkürlichen Verstümmelungen m trü- beren Kriegen - tatsächlich vorgekommen sind, . erwähnte ich ^pben bereits flüchtig. Frauen gegenüber ist die analoge Grausamkeits- bandlung,, über die namentlich aus russischen Prodromen Mitteilun- gen vorliegen,, das Abschneiden der Brüste.. Allen derartigem Erzah- lungen, die sieh aus unscheinbaren Vorkommnissen, etwa Stoß gegen die Testikel oder Mammae und infolgedessen geäußerten Schmerzen lawinenartig steigern, ist mit größter Vorsicht zu. begegnen. Als ein. Beispiel von Geschlechtsdrüsenyerlust durch den Feind bringe ich aus meiner Bildersammlung die bereits anderweitig von mir veröffentlichte Photographie eines italienischen Soldaten, der aus- dem -Fernzug, gegen Abessynien ohne äußere Geschlechtsteile zurückkehrte. Angeblich wurde er verstümmelt, es kann sich aber auch um die Wirkung eines Bajonettstiches oder eines Geschosses handeln. Uns interessieren an ihm vor allem die deutlich wahrnehm- baren Veränderungen andrinloser Menschen : die .Fetteinlagerung an den typischen Stellen, die Brustentwieklung, das eigenartig gries- grämige mißmutige Gesicht, daß das Lächeln verlernt zu haben scheint: die facies anorchistica oder castratica, Erschei- nungen, denen man .noch so oft in den Straßen Stambuls oder auf den Kutschböcken in Bukarest begegnet. (Tafel V.) Übrigens war der Zweck des Hodenraubs im Krieg nicht nur die Schändung und die Vernichtung zweier wichtiger Lebens- güter, dei Fortpflanzungs- und Begattungsmöglichkeit, sondern auch der' mehr oder weniger beabsichtigte Zweck, den Verstümmelten kr iegs dienstunfähig zu machen. Von den Kastraten, die ich gesehen habe, zeigte sich keiner den Anforderungen des F eld - dien st es gewachsen. So legte mir erst kürzlich ein ,38jäbriger Kastrat das Gutachten eines Chirurgen vor, der ihm im Jahre 1901 wegen geschlechtlicher Triebstörung auf heftiges Andrängen doppel- seitig kastriert hatte. Auch dieser. Kollege führte aus, daß er infolge der durch die Operation gesetzten Veränderung im Nervenleben die Fähigkeit Militärdienst zu tun bei dem Attestaten für geschwunden erachte. Vor allem sei der Patient „ungewöhnlich schnell und leicht erschöpft". Ich will aus diesem Feldzug noch kurz über den oben bereits ge- streiften Fall von Hodenverlust berichten, über den Lichten- stern in der Münchner medizinischen Wochenschrift, (vom 6. Mai 1916) ausführliche Mitteilungen gemacht hat. Der Fall betrifft einen 29jährigen Gefreiten, der am 13. Juni 1915 bei einem Sturm durch einen Gewehrschuß in den linken Oberschenkel Hodenverlust im Kriege (vgl. Seite 18 im Text) Tafel V. 12 Der verstümmelte Soldat zeigt in typischer Weise die Behaarung, Fettablagerung und facies anorchistica der Anandriden. Hir Schleid, Sexualpathologie. I. A. Marcus <fc E. Webers Verlag, Bonn. I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 19 verletzt wurde. Der Einschuß befand sich 2 cm oberhalb des äußeren Endes der Genitokruralfalte, der Ausschuß an der Innen- seite des linken Oberschenkels unterhalb der Ansatzstelle der Adduktoren. Das Geschoß war ein Explosivgeschoß, das nach Angabe des Mannes nach dem Austritt aus dem Oberschenkel explodierte und den Hodensack, beide Hoden und die Urethra schwer beschädigte. Der Kranke ging in seinen Unter- stand zurück, blieb dort eine Zeit lang liegen, wurde später auf den Hilfsplatz getragen, verbunden und von da in ein Kriegs- lazarett gebracht. Er bemerkte, daß beim Urinieren der größte Teil des Harns sich durch die Wunde im Hodensack entleerte und nur ein geringer Teil auf normalem Wege ausgeschieden wurde. Im Lazarett wurde eine Zertrümmerung und Gangrän beider Hoden und Verletzung der Urethra festgestellt. Am nächsten Tage wurden wegen hohen Fiebers und drohender Allgemeininfektion beide gangränösen Hoden entfernt. Wenige Tage nach Entfernung der Testikel schwand das Fieber und die Eiterung nahm ab, der Kranke urinierte fast den ganzen Harn durch die perineale Wunde. Es bedarf wohl kaum eines Hin- weises, daß seine sexuelle Libido infolge der Verletzung anfangs stark herabgesetzt war, immerhin hatte er in den ersten 2 Wochen bei erotischen Gesprächen seiner Nachbarn zweimal Erektionen. Als er am 7. Juli 1915 in die chirurgische Abteilung des Wiener Lazarettes aufgenommen wurde, ergab sich folgender Befund: »Großer, kraftiger Mann, die inneren Organe sind normal; auffallend ist eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Außenwelt. Am Damm befindet sich eine hand- tellergroße granulierende Wunde, die dem der vorderen Wand beraubten Hodensack entspricht; dieser ist leer, von den Testikeln nirgends ein Rest zu finden; in den beiden oberen seitlichen Winkeln der Wunde sieht man die granulierenden Mumpie der beiden ligierten Samenstränge, in der Mitte liegt die Urethra frei in der vorderen Wand eine 1 cm große Lücke. Die Prostata zeigt per rectum untersucht normale Große und normale Konsistenz; der mittels Katheter entleerte Harn ist klar. Zur Schließung der Urethralwunde wird ein Verweilkatheter eingelegt. Im Laufe der näch- sten 14 Tage reinigt sich die Wunde vollkommen und beginnt sich zu epithelisieren; die Fistelöffnung schließt sich, so daß der Katheter entfernt werden kann. Patient steht auf und uriniert auf normalem Wege. Der Kranke zeigt eine entschiedene Teilnahmslosigkeit gegenüber seinen Kameraden wie auch gegen die Vorgänge im Krankenzimmer; er liest nicht und zeigt auch für die Kriegsereignisse kein Interesse. Auf Anfrage gibt er an, absolut keine Libido und keine Erektion mehr zu haben. Die genaue Beobachtung zeigte, daß bis zum 31. August, also durch fast 6 Wochen eine Erektion sich nicht mehr zeigte und daß trotz verschiedener beabsichtigter A n 1 a s s e j e d e L i b i d o f e h 1 1 e. Der Kranke saß meistens bei seinem Bette oder am üenster, aß sehr reichlich, schlief viel und befaßte sich mit nichts Die physischen Folgen des Verlustes beider Hoden mani- festierten sich in einer auffallenden Zunahme des Fettansatzes besonders ausgeprägt am Halse, der dem Kranken einen merk- würdigen stupiden Eindruck verlieh. Die Barthaare, insbe- sondere der Schnurrbart, fielen ganz aus, die Behaarung nahm 2* 2Q i. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall ab am auffallendsten war dies an der Linea alba, die fast haar- tos wurde, so daß die Schamhaare sich horizontal von der Bauch- haut abgrenzten." In Kenntnis der gelungenen Transplantationen Steinachs bei den Säugetieren beschloß nun der leitende Arzt der chirurgischen Abteilung Dr. Robert Lichtenstern, im Verein mit Stei- n ach den Versuch zu machen, durch Transplantation eines gesunden Hodens von einem andern Manne die Folgen des Hoden- verlustes bei dem Soldaten zu beseitigen. Uber die Vornahme der Operation, ihren Verlauf und Erfolg berichtet der Kollege wie folgt: „Es ergab sich die Gelegenheit, von einem 40 Jahre alten Manne, der eine links- seitige kongenitale Hernie mit Kryptorchismus hatte und wegen häufiger schmerzhafter Einklemmungen des Hodens operiert werden mußte, den Leistenhoden zur Transplan- tation zu erhalten, da ein Herunterziehen des Hodens sich in dem Falle als unmöglich er- wiesen hatte und mit der Entfernung des Hodens ohnehin gerechnet werden mußte. Eine vorher exakt vorgenommene klinische Untersuchung wie Prüfung nach Wassermann und P i r q u e t ergaben ein gesundheitlich intaktes Individuum. Der von S t e i n a c h mikroskopisch untersuchte Leistenhoden, derhauptsach- lich aus interstitieller Substanz bestand, war für den Versuch einer Implantation besonders geeignet. ». :. Zuerst wurde der kryptorchistische Patient narkotisiert, die Hernie in typischer Weise nach B a s s i n i geschlossen und der Testikel im Zusammenhang mit seinen Ge- fäßen so isoliert, daß eine rasche Abtragung möglich war. Inzwischen war der andere Patient narkotisiert und vorbereitet. Nun wurde bei diesem in der rechten Ingumal- gegend ein Hautschnitt wie zu einer Herniotomie gemacht. Bei dem andern Patienten wurde der Hoden abgetragen und in die Hautwunde des zu Implantieren- den gelegt, um die Körpertemperatur zu erhalten, und jetzt wieder rasch die Hernien- operation beendigt. Von dem etwa kleinzwetschengroßen Hoden wurde die Epididymis rese- ziert und dieser in zwei Hälften geschnitten. Nach Freilegung und Spaltung der Faszie des Obliquus externus wurde der Muskel an einer Stelle durch zarte Skarifikationen wund gemacht und die eine Hodenhälfte mit der Wundfläche auf diese Muskelstelle auf- gesetzt. Durch zarte Katgutnähte, die die Albuginea rings an den Muskeln fixierten, und eine Naht, die seitlich den Muskel faßte, dann durch die Kuppe des Hodens ging und wieder einen Teil des Muskels faßte und über der Spitze des Hodens zart ge- knüpft wurde, war ein inniger Kontakt zwischen Hodenwundfläche und dem skarifizierten Muskel hergestellt. Die Faszie wurde nicht genäht, um jeden, die Ernährung des Transplantates störenden Druck auf den Hoden zu vermeiden. Die Hautwunde wurde durch Naht vollkommen geschlossen. Dieselbe Operation wurde auf der andern Seite mitderandern Hodenhälfte ausgeführt. Reaktionsloser Verlauf. In den ersten 24 Stunden wurden fortwährend heiße Tücher auf den Verband gelegt, um eine Hyperämie dieser Partie behufs bestmöglicher Durchblutung zu erzielen. Am 6. September (7 Tage nach der Operation) beobachtete der Kranke in der Frühe vor dem Urinieren eine leichte Erek- tion; in den nächsten Tagen traten die Erektionen mit ver- stärkter Intensität auf, und zwar sowohl bei Tag als auch bei Nacht. 10 Tage nach der Operation stand der Kranke auf. 14 Tage nach dem Eingriff gab der Kranke freudig erregt an, daß eine Libido wieder dasei, daß er sich ungemein frisch und wohl fühlte; er hatte erotische Träume mit kräftigen Erektionen. Das Beisammensein mit weiblichen Individuen löste Libido wie Erektionen aus. Um sich zu überzeugen, ob ein Koitus ausführbar sei, wurde I. Kapitel: Der GeschlechtsdrüseDausfall 21 dem Kranken 4 Wochen nach dem Eingriff ein Urlaub in seine Heimat (er ist Bauer in einem kleinen Orte) gegeben. Nach seiner Rückkehr gab er an, sich geschlecht- lich sehr kräftig zu fühlen, einige Male koitiert zu haben, wobei er eine Ejakulation einer geringen Menge grauen Schleims mit normaler Empfindung gehabt habe. Das Aussehen des Kranken war ein sehr gutes, er zeigte eine auffallende Hebung seiner Intelligenz, sein Gesichtsausdruck war ein frischer, der Fettansatz am Halse im Schwinden, am schütteren Bart eine deutliche Zunahme zu bemerken, Der eingeheilte implantierte kryptorchische Hoden war mittelzwetschengroß. Die histologische Untersuchung ergab Atrophie der Samenkanälchen und völliges Verschwinden der Samenzellen. Die interstitielle Substanz, also die P u b e r t ä t s d r ü s e , war hingegen mächtig ge- wuchert und bestand aus Lagern von aneinandergehäuften Leydigschen Zellen normaler Struktur. Die weitere Beobachtung des Patienten bis heute, also durch fast 9 Monate — von Steinach selbst besitze ich noch briefliche Bestä- tigungen aus späterer Zeit — hat gezeigt, daß alle physischen und psy- chischen Merkmale des H o d e n v e r 1 u s t e s sich z u r ü c k g e b i 1 d e t haben. Seine Intelligenz ist in auffallender Weise gegenüber der Zeit vor der Operation gehoben. Sein geschlechtliches Leben ist normal, er hat die Absicht zu heiraten. Die mikroskopische Untersuchung des Ejakulates, das aus etwa 3 — 4 Tropfen ' glasigen Sekretes besteht, ergab reines Prostatasekre t." Im allgemeinen haben ja die Einpflanzungen von Drüsen mit innerer Sekretion nicht gehalten, was man nach tierexperi- mentellen Versuchen von ihnen erhoffte; gewöhnlich ging ihre Tätigkeit über kurz oder lang durch bindegewebige Veränderungen des Drüsenkörpers zugrunde, doch scheint die Steinachsehe Methode der Überpflanzung vor den bisherigen den Vorzug zu verdienen. Jedenfalls ist ihr Ergebnis schon jetzt von hohem wissenschaft- lichen Wert. Einen ähnlichen Fall wie den eben beschriebenen soll übrigens der amerikanische Arzt Lepinasse in einer amerikanischen Zeit- schrift (dem Journal Am. soc. d. assoc. 1913) veröffentlicht haben. Es war ihm gelungen, bei einem Manne, der durch eine Verletzung beide Hoden verloren hatte, durch Implantation von Hodenstück- chen in die Musculi recti die geschlechtliche Funktion wieder zu erwecken, deren Bestehen er dann durch zwei Jahre beobachten konnte. Ich füge diesen Fällen, die sich auf Geschlechtsdrüsen- ausfall im 2 0. und 3 0. Lebensjahr beziehen, nun noch die lehrreiche Schilderung eines von mir bobachteten Spät- kastraten an (Tafel VI): C. ist 49 Jahre alt, Kaufmann. Vor 3 Jahren veranlaßte er einen Chirurgen, ihm beide Hoden herauszunehmen, indem er kate- gorisch erklärte, er würde, falls der Arzt den erbetenen Eingriff verweigerte, Selbstmord begehen. Der Grund seines Verlangens sei „eine unselige Leidensehaft, die er nicht unterdrücken könne"; es zöge ihn nämlich zu ganz schmutzigen, obdachlosen Leuten hin, 22 I. Kapitel: Der Gescklechtsdrüsenausiail mit denen er in Parks Onanie treibe. Zweimal sei er bereits dabei in Anlagen ertappt worden und wegen Erregung öffentlichen Ärger- nisses mit Gefängnis bestraft worden. C. stammt aus einer frommen Familie und ist selbst sehr religiös, aber „weder Beten, noch Beich- ten, nicht Gelübde und Kasteiungen hätten ihn von der furcht- baren Besessenheit erlösen können"; deshalb bliebe ihm nur dieser Weg „als einzige Hoffnung und letztes Rettungsmittel". Der Chirurg, an den C. sich wandte, setzte ihm auseinander, „daß die Erfolge dieser Operation bei derartigen Störungen noch unsicherer seien, als die der Hypnose," allerdings übe die Kastration selbst auch einen suggestiven Einfluß aus. Trotz dieser Auf- klärung und der wiederholten Abmahnung der Krankenhausärzte ließ C. nicht von seinem Drängen ab, immer aufs neue versichernd, daß, wenn man ihn nicht „aus Erbarmen operiere, er bestimmt in den Tod gehen würde". In 'dem ärztlichen Krankenbericht heißt es: „Eine weitere Verweigerung der , Kastration würde C. bei seiner damaligen; seelischen Gemütsverfassung zum Selbstmord getrieben haben." Darauf wurden, nachdem C. einen Bevers unterschrieben hatte, bei dem körperlich gesunden kräftigen Manne beide Hoden aus dem Skrotum herausgenommen, und zwar in stationärer Behand- lung, aus der C. 12 Tage später nach Heilung der Schnittwunden entlassen wurde. Als C. mich drei Jahre nach diesem Eingriff aufsuchte, weil ich -mich- in Sachen eines noch von früher her gegen ihn schwe- benden Verfahrens gutachtlich über ihn äußern sollte, stellte ich folgenden Befund fest: C. ist' bei mittlerer Größe 186 Pfund schwer. Er gibt an, nach der Kastration viel dicker geworden zu sein. Besonders starke Fett- ;il)lagerungen finden sich in der Unterbauch- und Hüftgegend, so- wie über den Brüsten, ohne daß man indes von Weibbrüstigkeit (Gynäkomastie) sprechen könnte.; Die Haut schimmert gelblich wächsern, ist stellenweise leichenf arben und fast glatt. Haare, die an der Brust reichlich vorhanden waren, sind nach der Operation n a h e z u völlig geschwunden, ebenso ist es am Oberschenkel. Die vor der Operation abrasierten Schamhaare sind nur ganz s p ä r 1 i c h in weißer Farbe wiedergekommen. Auch der Bartwuchs ist bedeutend geringer geworden. Die Stimme ist sehr hoch, soll es aber auchschön vor der Kastration gewesen sein. Das Becken ist sehr breit, war aber ebenfalls schon vor der : Operation so. Muskelkraft ist mäßig; man bemerkt fibrilläres Zucken. Die Reflexe sind ge- steigert. Das Membrüm hat sich nicht verändert; es ist meist in die Skrolalhaut eingezogen. An dieser sieht man auf beiden Seiten die gut verheilten Schnittnarben.. Das leere Skrotum hebt sich wulstartig nur wenig von der Umgebung ab. Das Glied erigiert sich zeitweise, doch ohne geschlechtliche Erregung; beispielsweise I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 23 wacht C. früh durch den Druck der gefüllten Harnblase häufig mit Erektionen auf. Der Geschlechtstrieb, von dem C. früher immer gepeinigt wurde, ist „wie erloschen"; er sei jetzt ganz kalt. An den Personen, bei deren Anblick er früher in eine so heftige sinnliche Erregung ge- raten sei, ginge er jetzt „ganz ruhig" vorüber. Es käme ihm zwar, wenn er ihnen begegne, häufig der Gedanke, was er früher in gleicher Lage ausgestanden haben würde. Doch sei er jetzt voll- kommen beherrscht und ohne Bedürfnis, sich ihnen zu nähern oder gar mit ihnen zu verkehren. Er könne sich nicht glücklich genug preisen, daß er durch die Operation nun endlich „frei" geworden sei. In einem späteren Briefe von C. heißt es: „Raten Sie ruhig, lieber Herr Doktor, denen, die von dem Leid befreit sein wollen, zur Kastration; oft wenn ich durch die Stadt gehe und ich denke an mein früheres Leben, dann werde ich so überwältigt, daß mir die Tränen in die Augen kommen, früher gebunden an einen furcht- baren Bann und jetzt so sicher geborgen." C. zeigt eine erhebliche Affekterregbarkeit; er weint häufig, bricht aber auch leicht in fröhliches Lachen aus; beides, Weinen und Lachen, nimmt nicht selten einen krampfartigen Charakter an. Er ist sehr gutmütig, gefällig, arbeitsam, lebt sehr zurückgezogen und geht täglich in die Kirche. Gedächtnis und Intelligenz sind gut und haben gegen früher keine Abnahme erfahren. C. lebt bei einer älteren Schwester, deren Mann infolge eines Unfalls gelähmt ist. Er ist der Schwester, an der er sehr hängt, in der Wirtschaft und der Pflege des Kranken sehr behilflich. Ich fragte die Schwester, die mit dem Schicksal ihres Bruders vertraut ist, welche Veränderungen sie nach dem Eingriffe an ihm wahr- genommen hätte. Ihre Antwort ist so charakteristisch, daß ich sie im Wortlaut wiedergeben will. „In seinem Aussehen habe ich nur bemerkt, daß er gleich nach der Operation sehr fett wurde, ohne daß er mehr aß; in seinem Wesen hat er sich sehr verändert, er ist nicht mehr so ruppig wie früher, auch nicht so heftig und reiz- bar. Er ist jetzt ganz sanftmütig geworden und immer abends zu Hause, während es ihn früher immer nach draußen trieb. Nur ist er oft so traurig und still. Wenn ich ihn dann frage: ,Fritz, was ist dir?' sagt er nur: ,mir ist so hohl, so leer'. Als neulich ein Soldat aus dem Felde bei uns war und das Lied von Radecke ,Aus der Jugendzeit' sang, warf Fritz sich bei der Stelle: ,o, wie liegt so weit, was mein einst war', auf das Sofa und weinte bitterlich. Wir konnten ihn gar nicht beruhigen." Aus den hier beschriebenen Kastratenfällen erhellt, daß die Entfernung der Geschlechtsdrüsen in der Tat wohl geeignet ist, den Geschlechtstrieb herabzusetzen, ja unter Um- ständen völlig zum Verschwinden zu bringen. Es ist dieser 24 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall früher vielfach bestrittene Erfahrungssatz für die therapeutische Bewertung der Kastration natürlich von hohem Belang. Aller- dings muß sogleich hinzugefügt werden, daß dieser Feststellung eine allgemeine Gültigkeit nicht innewohnt; denn es liegen eine ganze Anzahl verbürgter Mitteilungen vor, nach denen sexuelle Bedürfnisse bei Kastraten verbunden mit potentia coeundi (natürlich nicht generandi11) außer Zweifel gestellt sind. Die Erektionsfähigkeit erleidet überhaupt, wie auch die Fälle B. und C. bestätigt haben, eine verhältnismäßig nur geringe Ein- buße. Über sexuelle Exzesse ist sowohl von Gewährsmännern berichtet worden, die sich mit den Eunuchen in der Türkei, in Ägypten, Persien und China beschäftigt haben, als auch von denen, welche die Skopzensekte studiert haben. Soll man doch sogar in römischen Bordellen früher zur Befriedigung von Frauen, die vor Befruchtung Furcht hatten, Kastraten gehalten haben. Wie erklärt sich wohl dieses verschiedene Verhalten des Geschlechtstriebes nach dem angeborenen oder erworbenen Ausfall der Geschlechtsdrüsen? Türkische Ärzte, mit denen ich einmal in Konstantinopel über den Gegenstand sprach, meinten, daß die ge- schlechtlich erregbaren Eunuchen entweder Kryptorchisten seien, bei denen ein Hoden, als sie verschnitten wurden, noch über dem Leistenring saß bzw. beim Schnitt nach oben auswich, oder soge- nannte Hämmlinge. Es gibt nämlich hinsichtlich der Technik von alters her drei Arten von Kastraten, erstens die Ganzverschnit- tenen, bei denen das Skrotum, samt dem Membrum virile ent- fernt wird (diese Kastraten leiden im Orient vielfach an Zystitis und Nephritis, da trotz peinlicher Sauberkeit nicht selten Infektions- keime in die unverschlossene Harnröhrenmündung eindringen), zweitens die den antiken Spadones entsprechenden Halb ver- schnittenen, denen nur das Skrotum mit den Testikeln ge- nommen wird. Diese werden entweder aus dem geöffneten Hoden- behälter herausgelöst, oder mit diesem zusammen fortgeschnitten. Die dritte Gruppe sind die Thibii oder Hämmlinge, die soge- nannten „Burmisck"-Eunuchen, bei denen die Hoden in frühester Kindheit zwischen Steinen zerquetscht oder zerhämmert werden. Die Erklärung islamitischer Kollegen, daß bei erhaltener sexu- eller Libido noch irgendwo im Körper verstecktes Hoden- parenchym vorhanden sein müsse, hat gewiß manches für sich; doch darf nicht übersehen werden, daß die im Blute krei- 11) Gänzlich ausgeschlossen ist auch diese nicht; so soll nach der Überlieferung die Mutter des Aristoteles die Tochter eines Kastraten gewesen sein. Man muß annehmen, daß in solchen Fällen die Samenbläschen noch lebende Samenzellen beherbergten. I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 25 sende und die Gehirnzellen speisende erotisierende Sub- stanz nicht ausschließlich aus den interstitiellen Hodenzellen stammen dürfte, sondern noch aus zwei anderen Drüsengruppen, die mit der inneren Testikelsekretion in engem Zusammenhang stehen. Die eine Gruppe setzt sich aus den Komponenten des Sperma zusammen, das bekanntlich nicht nur aus den Spermato- zoen, den Keimzellen, besteht, sondern auch aus einer Zwischen- flüssigkeit, die vor allem aus der Prostata, sowie in ge- ringerem Maße aus den Cowperschen Drüsen und den Drüsen der Samenbläschen stammend, den Spermatozoen beigemischt wird. Diese Sekrete sondern sich auch bereits vor der Eeife, wenn schon in sehr winzigen Mengen, ab; sehr viel stärker, wenn Keimzellen produ- ziert werden, am stärksten bei sexueller Erregung, wo sie sich oft ohne Beimengung von Keimzellen nach außen ergießen. Nach Entfernung der Hoden atrophieren alle diese Drü- sen in hohem Grade, sie stellen aber, namentlich wenn sie bereits einmal in Funktion getreten waren, ihre Saftbildung und Ab- sonderung nicht mehr völlig ein. Die zweite hier in Betracht kommende endokrineGruppe enthält die Absonderungen anderer Drüsen des großen poly- glandulären Systems, vor allem Sekrete der Schilddrüse, Thymusdrüse und besonders der Hypophyse, so daß es sich bei der chemischen Substanz, welche die im Sexualzentrum ruhenden Kräfte lebendig macht, um einen recht kompliziert zusammen- gesetzten Stoff handeln dürfte. Ganz ähnlich wie bei dem männlichen Geschlecht zeigt auch bei dem weiblichen der Geschlechtstrieb nach der Entfernung der Keimstöcke kein einheitliches Verhalten. In der Mehrzahl der Fälle geht sowohl die L u s t z u m Verkehr (Libido), als die L u s t i m Verkehr (Orgasmus) sehr stark zurück. Nicht selten aber erhält sich beides auf früherer Höhe, so bei zwei von mir beobachteten Mäd- chen, von denen mich die eine sechs, die andere neun Jahre nach stattgefundener Ovarienexst'irpation konsultierten. Sogar Fälle von gesteigerter Libido nach Eierstocksausfall sind veröffent- licht worden; so zitiert Loewenfeld12) einen Bericht von Barrus, der bei der Sektion einer an periodischer Manie leidenden Frau, die heftig masturbierte und sich auch auf außerehelichen Ver- kehr einließ, vollkommen kongenitalen Mangel von Uterus und Ovarien fand. 12) Hofrat Dr. L. L ö w e n f e 1 d : Die sexuelle Konstitution und andere Sexual- ime. Wiesbaden. Bergmann. 26 Im übrigen geben die Ausfallserscheinungen, welche man nach Entfernung der Ovarien gefunden hat, einer, nachdem He gar sie im Jahre 1872 zum ersten Male vornahm, sehr häufig ausgeführten Operation, ein gutes Bild von der vielseitigen nach innen gerich- teten Wirksamkeit dieser Organe. Vielfach hat man bei den kastrier- ten Frauen nur den Eindruck eines vorzeitigen Klimakteriums, ent- sprechend der dem Klimakterium und der Kastration gemeinsamen Funktionseinstellung der Eierstöcke. Im einzelnen hat man folgende Ausfälle, Rückbildungen und Veränderungen beobachtet, dei deren mit unseren eigenen Beobachtungen übereinstimmender Schilderung wir die übersichtliche Literaturzusammenstellung in dem Werk von T a n d 1 e r und Groß13) zugrunde legen: a) Mit der ausbleibenden Eiabstoßung erlischt die Menstruation, ebenso auch die Menstruationswelle, zu der die Molimina menstrualia, wie Schwankungen in Blutdruck, Puls, Kor- pertemperatur, Muskelkraft gehören. b) Die subsidiären Genitalorgane bilden sich zurück. Martin14) gibt in dem Aufsatz: „Kastration der Frauen" folgende Schilderung: „Der Uterus wird kleiner, hart. Die Portio verwandelt sich in ein kleines Wülstchen, der Muttermund wird eng; das Flimmerepithel des Uterus und der Tuben schwindet. Das Ligamentum latum atrophiert unter Rückbildung seiner Gefäße w i e im physiologischen Klimakterium. Es tritt Fettschwund oder Fettansatz in dem Beckenboden, Schrumpfung der Scheide mit Verklebung ihres Lumens, Colpitis adhaesiva, Klaffen des Introitus, häufig mit Prolaps der eingetrockneten Scheidenwandungen ein." c) DieBeckenmaßeverkürzensich. Keppler15) fand bei den von ihm operierten Frauen regelmäßig eine Verkürzung der Konjugata, die bei den jüngsten 2—3 cm betrug. d) Die Stimme kastrierter Frauen wird meist rauher, tiefer, stärker, „männlicher". Bottermund schreibt in seinem Aufsatz: Über die Beziehungen der weiblichen Sexualorgane zu den oberen Luftwegen10): „Während beim männlichen Geschlechte eine knabenhafte hohe Stimmlage der Entfernung der Hoden folgt, ist beim Weibe ein Tieferwerden der Stimmlage und Annäherung an den männlichen Stimmcharakter beobachtet." e) Die Haut kastrierter Frauen wird im allgemeinen weißer, die Pigmentation des Warzenhof es, der Perineal- und Anal- region schwindet, ebenso hellen sich abnorme Pigmentbildungen und früher vorhandene Chloasmen auf. i3) Loc. cit. S. 52 ff. n) In Eulenburgs Real-Enzyklopädie. i5) Keppler: Das Geschlechtsleben des Weibes. Wien. med. Woch. 1891. i8) Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1896. L Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 27 f) Dagegen kommt es zu unweiblicher Haarbildung; be- sonders häufig ist das Auftreten von Barthaar und Brusthaar (in der Umgebung der Mammae) beobachtet worden 17). g) Der Fettansatz vermehrt sich nach der Kastration viel- fach ganz erheblich. Glaeveeke18) stellte bei den von ihm ope- rierten Personen beträchtliche Zunahme des Körpergewichts in 57,50/0, bedeutende Fettaufspeicherung in 42,5°/0 der Fälle fest. Teil- weise hängt die Fettersparnis mit dem Sinken des Sauerstoffver- brauchs zusammen, der sich nach Entfernung der Eierstöcke bis auf 20°/o gegen früher verringern soll19). h) Fast stets verändern sieh nach der Kastration die Brüste, und zwar entweder dergestalt, daß sie sich verkleinern, flacher und härter werden, wobei der eigentliche Drüsenkörper merklich atro- phiert, oder aber, es findet ein Anschwellen der Brüste mit Milch- sekretion statt. Solche Fälle sind von Theodor Landau20), Grünbaum21) und anderen Gynäkologen ziemlich häufig beob- achtet und beschrieben worden. Grünbaum konnte unter 21 Fällen 14mal nach Entfernung der Eierstöcke eine entweder kolostrum- artige oder milchähnliche Absonderung der Mammae nachweisen. i) Endlich sind auch vielfach nervöseundpsychischeBe- schwerden angeführt worden, die bei Frauen post castrationem auftreten. Im wesentlichen entsprechen diese Erscheinungen denen, die wir in einem der nächsten Kapitel bei den klimakterischen Stö- rungen erwähnen werden. Liesau22) hebt auf Grund von 50 exakt beobachteten Fällen namentlich hervor: „Wallungen, die sich in einem blitzschnell von unten zum Kopf aufsteigenden Hitzegefühl kundgeben, wobei es gleichzeitig zum Erröten der Haut an den be- treffenden Körperteilen, besonders im Gesicht, kommt." Über den Einfluß der Kastration auf den G e s c h 1 e c h t s t r i e b der Frauen war bereits oben die Rede. Sowohl beim weiblichen, wie beim männlichen Geschlecht hängt dielntensitätundExtensitätder Ausfallserscheinungen in hohem Grade von dem Zeitpunkt ab, in dem die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen aussetzte. Je früher es geschah, um so mehr nähern w u Vßgl'c-U'.oa' Herff: Verhandlungen der deutschen gynäkologischen Gesellschaft Wien H. o b. 482. Referat im Jahresbericht über die Fortschritte der Geburtshilfe und Gynäkologie 1895, S. 547. ") Glaeveeke: Körperliche und geistige Veränderungen im Archiv für Gynä- kologie Nr. 35. J 19) L o e w y und R i c h t e r in Du Bois' Archiv Suppl. 1889, S. 174. iqoa xt L0a0ndau: über eini£e Anomalien der Brustdrüsensekretion. D. med. Woch. loau, Nr. 33. 21) Grünbaum: Milchsekretion nach Kastration. D. med. Woch. 1907. 22) L i e s a u : Der Einfluß der Kastration auf den weiblichen Organismus Frei- burg i. B. Inaug.-Diss. 1896. 28 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall sieh die Wirkungen der erworbenen Aplasie den Erscheinungen, die wir hei der angehorenen Unterentwicklung beschrieben haben; in je späterem Lebensalter der Ausfall eintritt, um so un- deutlicher und unbestimmter werden die körperlichen und seelischen Folgen, ohne allerdings jemals völlig auszubleiben. Wir können von diesen Gesichtspunkten den präpubischen, pubischen und postpubisch en Geschlechtsdrüsen- ausfall unterscheiden. II. KAPITEL Der Infantilismus Inhalt: Stehenbleiben des Organismus auf kindlicher Entwicklungsstufe — Infantiles Gepräge von Riesen (Infantilismus giganticus) — Die vier Grundformen des Infantilismus (der genitale, somatische, psy.chische und psychosezueile Infantilismus) — Parallelismus zwischen den verschiedenen Infantilismen — Genitaler Infantilismus und Kryptorchismus — Begutach- tung eines Falles von Kryptorchismus mit Schwachsinn und Pädophiüe — Pathologische Anatomie und Physiologie von Bauch- und Leistenhoden — Hodenreten- t i o n und geistiger Infantilismus — Somatische Jugendlichkeit — Zwergwuchs — Allgemeiner und partieller Infantilismus — Psychischer Stillstand auf frühkindlicher und spätkindlicher Stufe (infantile und juvenile Form des psychischen Infantilismus) — Differentialdiagnose zwischen Infantilismus, Imbezillität und Idiotismus — Beschreibung eines Falles von Psychoinfanti- lismus — Infantilismus und pueriler Zisvestitismus — Gutachten über einen pädophilen Zisvestiten — Psychosezueller Infantilismus — Das Kind als sexuelle Reizquelle — Infantile Gerontophilie — Infantilis- mus und Masochismus — Schuljungen-Empfindungen Erwachsener — Mammabriefe und „Baby"-Phantasien — Symptomatologie derPädophiliaerotica — Schilderung von pädophilen Infantilen — Begutachtung eines juvenilen Infantilen — senildemente Kinderschänder — Infantilismus senilis — Begutachtung eines senilen Infantilen — Psychopathische Kinderschänder — Infantilis- mus alcoholicus — Fall von Alkoholismus und Inzest — Infantilismus und Exhibitionismus — Begutachtung eines infantilen Exhibitio- nisten — Notwendigkeit der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen in jedem Kriminalfall aus § 176 RStGB. Verzeichnis der Abbildungen: Tafel VII. Geschlechtsteile eines infantilen Kryptorchisten, der wegen Vergehens an einem Schulmädchen 4 Jahre Zuchthaus erhielt. — Tafel VIII. Schnitte durch kryptorche Hoden. — Tafel IX. Zisvestitismus eines psychosexuellen Infantilen. — Tafel X. Probe aus der Bildersammlung eines infantilen Masochisten (psychischer und psycho- sexueller Infantilismus). — Tafel XI. Probe aus der Bildersammlung eines infan- tilen Fetisch isten und Exhibitionisten (psychischer und psychosexueller In- fantilismus). Bereits im vorigen Kapitel war im Zusamnimenhang mit dem Geschlechtsdrüsenausfall vom Infantilismus die Eede. Wir er- wähnten dort, daß sowohl beim männlichen, als weiblichen Ge- schlecht nicht selten mit der Aplasie und Hypoplasie der Testikel oder Ovarien ein Stehenbleiben des Organismus auf 30 II. Kapitel: Der Infantilismus kindlicher Entwicklungsstufe verbunden ist. Es wurde auch be- merkt, daß der Intellekt in solchen Fällen keineswegs immer eine Schwächung, sondern ebenso oft eine dem Lebensalter ent- sprechende, ja nicht selten eine darüber hinausgehende, wenn auch häufig nur einseitige Stärke aufweist. Hinsichtlich des Geschlechtstriebes ist bei diesen Zu- ständen ein dreifaches Verhalten beobachtet worden. Entweder er fehlt völlig, oder er ist in mäßigem Grade auf die Kohabitation gerichtet, die aber dann oft wegen organischer Fehler (hauptsächlich wegen Gliedkleinheit und Aspermie) nicht oder nur mangelhaft ausgeführt werden kann. Die dritte Möglichkeit ist, daß der Ge- schlechtstrieb überhaupt nicht nach dem Koitus mit erwachsenen Personen verlangt, sondern andere, und zwar vielfach spiele- rische Sexualhandlungen mit geschlechtsunreifen Personen anstrebt. Auch in körperlicher Beziehung ist keineswegs immer ein Parallelismus zwischen infantiler Beschaffenheit der Genital- organe und dem übrigen Organismus vorhanden. Es findet sich so- gar bei genitaler Verkümmerung nicht selten Kiesenwuchs vor, so daß man von einem Infantilismus giganticus oder auch von einem Gigantismus inf antilis gesprochen hat. Brissaud meint sogar, daß jeder Riese ein infantiles Gepräge hat und auch Anton stellt Riesenwuchs mit geringer Entwicklung des Genitales und kind- licher Geistesverfassung als eine Trias zusammen. Die gemeinsame Ursache dieses Symptomenkomplexes dürfte in einer durch Erkran- kung der Hypophyse bewirkten inneren Sekretionsanomalie zu suchen sein. Ich selbst fand bei zwei der größten Riesen, die sich im Berliner Panoptikum zur Schau stellten und die ich persönlich zu untersuchen Gelegenheit hatte, einem russischen und schottischen, den ganzen Genitalapparat von präpubischer Be- schaffenheit. Umgekehrt findet man übrigens bei kleinen Men- schen, namentlich Kretins, nicht selten auffallend große Genitalien. Legen wir die Definition von L a s e g u e zugrunde, welcher den Infantilismus als eine Hemmungsbildung bezeichnete, die durch die Fortdauer der physischen und seelischen Merkmale der Kindheit über die Reifezeit hinaus charakterisiert ist, so können wir entsprechend unserer Einteilung der Geschlechtsunter- schiede vier Grundformen unterscheiden, die einzeln für sich oder auch verbunden miteinander vorkommen, es sind I. Der genitale Infantilismus, II. Der somatische Infantilismus, III. Der psychische Infantilismus, IV. Der psychosexuelle Infantilismus. II. Kapitel: Der Infantilismus 31 Der genitale Infantilismus ist gekennzeichnet durch ein mehr oder weniger starkes Zurückbleiben der Genitalien auf kind- licher Stufe. Der Penis gleicht dem eines geschlechtsunreifen Kna- ben, nicht selten dem eines Neugeborenen. Der Hodenbehälter ist in einigen Fällen überhaupt nicht vorhanden, in anderen klein, er enthält entweder zwei kindliche Hoden, oder nur einen (Monor- chismus) oder auch keinen, indem das normale Herabsteigen des Hodens durch den Leistenkanal aus der Leibeshöhle in das Skrotum auf einer oder auf beiden Seiten unterblieben ist. In dieser Störung, dem Kryptorchismus, haben wir eine der wichtigsten infantilen Genitalerscheinungen zu erblicken. Dabei ist zu bemerken, daß auch die infantilen Hemmungsbildungen an den Genitalorganen keineswegs immer parallel laufen. Es kann beispielsweise das männliche Glied recht groß sein und dabei dochdoppelseitigerKryptorchismus mit völliger Samen- losigkeit bestehen (Tafel VII). Ich hebe dies besonders hervor, weil in einem Falle, den ich zum Zwecke eines Wiederaufnahmeverfahrens zu begutachten hatte, der Vorgutachter gemeint hatte: „Ein Mann, dessen Geschlechtsglied so gut entwickelt sei, müsse geschlechtlich als völlig normal angesehen werden." Daß doppelseitiger Kryptorchismus bestand, war von dem Herrn Kollegen nicht beachtet oder bemerkt worden. Eine mikroskopische Untersuchung des Samens, die, als wir sie vornahmen, vollkommene Azoospermie ergab, hatte über- haupt nicht stattgefunden. Der Angeklagte, ein Dorfschullehrer, der kleinen Mädchen, Schülerinnen, an den Genitalien „gespielt" hatte, wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, die er auch zum größten Teile verbüßte. Trotzdem mehrere Psychiater bei D. nach seiner Entl assung neben genitalem Infantilismus, psychischen und psycho- sexuellen Infantilismus feststellten, war ein Wiederaufnahmever- fahren bisher nicht zu erwirken. Mit Kücksicht auf die prinzipielle Bedeutung des sehr typischen Falles von pädophilem Infan- tilismus seien aus dem von mir und Dr. Burchard abge- gebenen Gutachten die hauptsächlichsten Stellen hier wiedergegebea: Von den Angehörigen des früheren Lehrers D., geboren den 1. Oktober 1855 zu , sind wir ersucht, ein sachverständiges Gutachten darüber abzugeben, inwieweit bei demselben zur Zeit krankhafte Störungen der Geistestätigkeit vorliegen, ferner, inwieweit diese bereits zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlungen bestanden haben, welche im Jahre 1908 zu seiner Verurteilung führten, und ob, beziehungsweise in welchem Grade infolge dieser krankhaften Störungen der Geistestätigkeit seine freie Willensbestimmung damals im Sinne des § 51 StGB, ausgeschlossen war. Wir haben Herrn D. dieserhalb mehrere Monate hindurch gemeinsam beobachtet, wiederholt eingehend untersucht und exploriert und bei seinen Angehörigen und Be- kannten Erkundigungen über sein Verhalten, seine Eigenarten und sein Vorleben ein- gezogen. Nachdem wir uns auf Grund dieser Unterlagen ein klares, eindeutiges Urteil über den Geisteszustand des Herrn D. gebildet haben, geben wir unser Gutachten im folgenden ab: 32 Vorgeschichte: Die Eltern des Herrn D. entstammten sehr verschiedenen Gesellschaftsschichten, der Vater, Dorfschullehrer, einer Bauernfamilie, die Mutter, Tochter eines adligen Majors, aristokratischen Kreisen. Nach dem Tode des Groß- vaters mütterlicherseits hatte sich die Großmutter nicht mehr um ihre Kinder ge- kümmert und sie der Pflege fremder Leute überlassen. Der Vater des D. soll ein eigentümlicher, ungewöhnlich jähzorniger Mann ge- wesen sein. Er wurde einmal wegen Mißhandlung eines Schulkindes bestraft; es ging von ihm auch das Gerücht, daß er sich mit Kindern geschlechtlich zu schaffen machte. Doch fehlen positive Anhaltspunkte für diese Annahme. Von den acht Geschwistern D.s zeigen zwei Brüder Eigentümlichkeiten in psy- chischer Hinsicht, der eine soll ungewöhnlich schwach beanlagt sein, so daß er in der ganzen Gegend als „Trottel" gilt, der andere ist wegen seines geradezu krankhaften Geizes bekannt, der sich in der unsinnigsten und absonderlichsten Weise äußert. Ein dritter Bruder leidet — ebenso wie D. selbst — an einer Mißbildung der Genitalien. D. war ein schwächliches, aber nicht gerade krankes Kind, das eine Reihe neuro- pathischer Züge zeigte, unter denen am bemerkenswertesten ist, daß er bis zum vierzehnten Lebensjahre das Bett näßte. Er lernte in der Schule leidlich, versagte nur damals schon völlig im Rechnen. In seinem dreizehnten Jahre warf ihm sein jäh- zorniger Vater einen faustgroßen Feldstein an den Kopf, so daß er schwerverletzt be- sinnungslos zu Boden sank. Seither leidet er häufig an Schwindelanfällen und Kopf- schmerzen. Mit 19 Jahren kam er, nachdem er schon seit seiner Konfirmation unter Aufsicht des Vaters in der Dorfschule unterrichtet hatte, auf die Präparandenanstalt, versagte hier aber so völlig im Rechnen und in der Mathematik, daß ihm der Rat erteilt wurde, die Anstalt zu verlassen, da er die Aufnahmeprüfung für das Seminar doch nicht bestehen würde. Er ging deshalb nach Hause, wurde aber von seinem Vater, der darauf bestand, daß er Lehrer werden sollte, gezwungen, eine andere Präparanden- anstalt zu besuchen, und wurde denn auch, nach einjährigem Aufenthalt in dieser, mit 20^2 Jahren probeweise ins Seminar aufgenommen. Seine Leistungen in demselben waren nach seinen eigenen Angaben und nach Ausweis seiner Zeugnisse kaum mittel- mäßig. Es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren, seine Gedanken verließen ihn häufig, sein Gedächtnis versagte, so daß er oft nicht wußte, was er eben gelesen hatte. Nur durch eisernen Fleiß erreichte er es, daß er nach vierjährigem (anstatt dreijährigem) Besuch des Seminars die . Abgangsprüfung notdürftig bestand. Nachdem er an zwei Stellen kürzere Zeit (5 Monate bzw. l1/^ Jahre) unterrichtet hatte, wurde er Nach- folger des Lehrers in Z., dessen Tochter er geheiratet hatte. In dieser Stellung blieb' er 21 Jahre bis zu seiner Dienstenthebung Ostern 1908. Bezüglich des Geschlechtslebens des D. ermittelten wir, daß er seit dem 15. Jahre onaniert hat, worauf er durch Reibungen des Gliedes beim Trabreiten kam, und im Alter von 24 Jahren zum ersten Male mit einer Prostituierten den Beischlaf ausübte. Er hat gelegentlich vor der Verheiratung und in der Ehe regelmäßig, wenn auch in Zwischenräumen von einigen Wochen, mit seiner Frau koitiert, bis im Alter von etwa 40 Jahren sich ein merkliches Nachlassen der sexuellen Potenz bei ihm bemerkbar machte, so daß er den Beischlaf nur selten auf Verlangen seiner Frau mit immer größerer Mühe vollziehen konnte. In späteren Jahren trat dann, namentlich nach größerer geistiger Anstrengung, schlaflosen Nächten oder irgendwelchen Aul- regungen, ein sehr heftiger Drang bei ihm auf, kleinen Mädchen an den Geschlechtsteilen zu spielen, der zu den Handlungen führte, die seiner Verurteilung zugrunde lagen. Seiner Angabe nach geriet er, wenn die Versuchung im Zusammensein mit den Kindern während des Unterrichts an ihn herantrat, in einen Zustand völliger Benommenheit und handelte, während Denken und Überlegen schwanden, unter dem Einflüsse eines ihm selbst unklaren unwiderstehlichen Zwanges. Seiner Angabe nach hat D. in diesen Jahren außerdem an periodisch, etwa alle vier Wochen, auftretenden, einige Tage anhaltenden ängstlichen Beklemmungen gelitten. Äußere Genitalien eines infantilen Kryptorchisten Tafel VII. Dieses Bild ist die Photographie eines Wachsabdrucks (Moulage), der von den Geschlechtsorganen des wegen Kinderschändung zu vier Jahren Zuchthaus verurteilten kryptorchen Infantilen genommen wurde, der eingehend im Text Seite 31 bis 38 beschrieben ist. Hirschfcld, Sexualpathologie. I. A. Marcus & E. "Webers Verlag, Bonn. II. Kapitel: Der Infantilismus 33 Das sonstige Verhalten des D. vor und während dieser Zeit glauben wir nicht charakteristischer schildern zu können als dadurch, daß wir die diesbezüglichen Angaben der Ehefrau im Wortlaut folgen lassen. Wir tragen keinerlei Bedenken, denselben unbedingten Glauben zu schenken, weil wir uns von dem schlichten, peinlich wahrheits- liebenden und absolut offenen Charakter der Frau hinlänglich durch eigene Beobachtung überzeugen konnten, weil ihre Mitteilungen sich ferner mit den Angaben anderer Personen, die D. kannten, völlig decken und weil die Schilderungen endlich so unverkennbar den Stempel innerer Wahrscheinlichkeit und guter Beobachtung tragen, daß wir aus sachverständiger Überzeugung mit absoluter Bestimmtheit versichern können, daß es für die Frau absolut unmöglich wäre, derart charakteristische, in allen Einzelheiten harmonisch zusammenstimmende Erscheinungen eines pathologischen Zustandsbildes im ganzen oder im einzelnen zu erfinden, oder auch nur auszuschmücken. Die Frau berichtet folgendes: „Während unseres Zusammenlebens ist mir an meinem Mann immer große Zer- streutheit und Gedankenlosigkeit aufgefallen. Ferner war er in seinen Ent- schlüssen ganz unberechenbar, was er heute für richtig hielt, fand er am nächsten Tage ganz falsch und änderte am kommenden Tag seine Meinung schon wieder. Oft blieb er auch fest bei einem Entschluß und im entscheidenden Augenblick tat er doch anders, wie er sich vorgenommen hatte, worüber er sich stets sehr ärgerte. Mitteilungen, die ich ihm zu machen hatte, hörte er oft an, ohne ihren Sinn gefaßt zu haben, so daß er am nächsten Tag fest davon überzeugt war, ich hätte ihm nichts gesagt. So habe ich den Vorwurf hören müssen, ich handle bei wirtschaftlichen Angelegenheiten eigenmächtig, ohne es mit meinem Mann besprochen zu haben, während er in Wirklichkeit nur ver- gessen hatte, daß es so zwischen uns verabredet war. 'Für den Unterricht in der Schule bereitete sich mein Mann immer sehr gewissen- haft vor, hat mir aber oft geklagt, wie nutzlos er oft arbeiten müsse, wenn er ein paar Stunden für eine Lektion präpariert habe, dann wisse er nachher nicht, was er getan, und die ganze Arbeit sei vergeblich gewesen. Er ließ sich dann am Morgen früh wecken, denn er sagte, dann sei sein Geist frischer und er könne mit mehr Erfolg arbeiten. Schriftliche Arbeiten anzufertigen wurde ihm besonders schwer. Bei Kon- ferenzarbeiten ließ er sich von seinen Kollegen helfen, aber auch Briefe einfachen Inhalts machten ihm Mühe, da er immer nicht den rechten Ausdruck finden konnte. Damit er nun nicht so viel Zeit darauf verwenden sollte, habe ich ihm dies ganz abgenommen, oder wenn dies nicht ging, dabei geholfen, ebenso beim Ver- fassen der Aufsätze für die Schule, wo es darauf ankam, einfache Ausdrücke zu be- nutzen. Die Hefte der Schüler mußte er, trotzdem er sehr viel Zeit darauf verwandte, meistens zweimal nachsehen, weil sonst immer Fehler stehen blieben. Oft verließen ihn die Gedanken in der Schule auch ganz, so daß er z. B. beim Rechenunterricht zu mir kommen mußte, um sich wieder zurecht helfen zu lassen, was ich sehr unnatürlich fand, da er doch mehr gelernt hat wie ich. Viel schuld an all diesem war wohl, daß er es im Amt ziemlich schwer hatte. Viele Jahre hat er g e g e n 150 K i n d e r allein unter- richten müssen. Da dies alles sehr anstrengend war, wurden seine Nerven immer schlechter. Er klagte viel über Druck im Kopf, so manchmal, wenn er so sehr abgespannt aus der Schule kam, hat er zu mir die Befürchtung ausgesprochen, er würde einmal wahn- sinnig werden. Viele Jahre litt er auch schon an S c h 1 a f 1 o s i g k e i t , hat hiergegen verschiedene Mittel angewandt, die wohl für eine Zeit etwas halfen, nachher war's doch wieder das Alte. Viel hatte er auch mit Schwindelanfällen zu tun, ebenso mit Kreuz- schmerzen. Der Arzt erklärte dies alles für Zufälle nervöser Art, hielt es für dringend notwendig, daß mein Mann längere Zeit Urlaub nehme, weil sonst Schlimmes zu be- turchten sei. Es ist vom Urlaubnehmen aber nicht viel geworden. In unserm persönlichen Verhältnis war mein Mann recht oft sehr verletzend- wenn ich ihm deshalb Vorstellungen machte, sagte er mir immer, ich dürfte ihm das nicht übelnehmen, ich wisse doch, daß er manchmal nicht anders könne, und er meine das nicht so. Ich habe auch wirklich Beweise gehabt dafür, daß er mich wirklich Hirschfeld, Seiualpathologie. I. 3 g4 II. Kapitel: Der Infantilismus lieb hatte, und doch konnte er das rauhe Wesen nicht ablegen. Einmal fand er mich außerordentlich fleißig und sparsam und ein andermal war ich verschwenderisch und unpraktisch. Viel Grund zu Zerwürfnissen gab auch die Neigung meines Mannes allerlei Sachen auszuplaudern, die niemand zu wissen brauchte. Wenn er mit Menschen zu- sammenkam, habe ich vorher ihm immer vorgerechnet, was er alles nicht sagen durfte, für eine kurze Zeit hielt das vor, ich konnte aber nicht immer vorher wissen, was er wohl sagen könnte, nachher sah er dann ganz gut ein, daß er dieses oder jenes nicht hätte sien müssen. In der Schule hat er auch oft erzählt, was nicht dahin gehörte sogar Sachen erzählt, die er wirklich geheim hielt und wo er es sogar mir zur Pflicht gemacht hatte, nicht darüber zu sprechen. So wollte er z. B. nicht, daß wir über unsere Vermögensverhältnisse sprechen sollten, in der Schule aber hat er erzahlt, wie- viel wir hätten und auch wo wir's angelegt hätten. Er hat sich durch das was er in der Schule gesprochen und was nicht dahin gehörte, viele Feinde gemacht. Wenn ich ihn hierauf aufmerksam machte, tat es ihm auch leid, und wünschte er, es lassen zu können. Er sagte dann: Ich kann nicht anders, so war schon mein Vater und so bin ich auch. Wenn ich ihm dann vorhielt, man müsse doch den festen Willen haben, dann jammerte er wieder: Ich habe doch keinen festen Willen, der fehlt mir ja eben. Über unser eheliches Verhältnis kann ich mir eigentlich gar kein Urteil erlauben, weil ich darin keine Erfahrung habe, wie es eigentlich sein soll. Kinderblieben uns versagt. Nach Aussagen zweier Ärzte lag die Schuld an meinem Mann. In letzter Zeit hat er mich vernachlässigt. Ich nahm aber an, dies brächte das zunehmende Alter auch wohl der Gesundheitszustand meines Mannes so mit sich. Ich habe auch gefunden, daß sich mein Mann nur aus Pflichtgefühl mir näherte, er glaubte auch, sich mir gegenüber deshalb entschuldigen zu müssen, er könne doch nicht dafür. Von den Verfehlungen meines Mannes habe ich nicht früher eine Ahnung gehabt, als wie er angezeigt war. Er sagte dann hierüber zu mir, daß er viel in schlaflosen Nächten gekämpft °habe und sich selbst verachtet nm seines Tuns, er habe auch so oft den festen Entschluß gefaßt, es sollte nicht mehr vorkommen, in der Schule nach einigen Unter- richtsstunden sei es dann doch wieder geschehen, und zwar ganz gedankenlos und ohne das Bewußtsein, etwas U n e r 1 a u b t e s zu tun. Ich habe ihn in der Zeit oft des Nachts stöhnen gehört, auf meine Frage, was ihm fehle, erhielt ich aber immer nur die Ant- wort: Ich kann nicht schlafen. Nachdem hat mir mein Mann gesagt, daß es der Ab- scheu vor sich selber gewesen sei, der ihn gequält. Er habe auch manchmal den Vor- satz gefaßt, sich mir anzuvertrauen, damit ich ihm helfe, doch hat er wieder nicht den Mut dazu gehabt, da er fürchtete, er könne mich verlieren, und das schien ihm doch das Schlimmste. Nachdem ich nun dies alles erfahren hatte und mein Mann schon angezeigt war, schien es mir immer, als wenn er noch nicht auf Strafe rechnete, er schien es nicht zu glauben, wenn es ihm gesagt wurde; erst nachdem er verhaftet war, kam es ihm so recht zum Bewußtsein, daß ihn Strafe erwartete. Da ist mir der Gedanke an eine Geistesgestörtheit bei meinem Mann gekommen und habe ich es eigentlich nicht recht begreifen können, wie mir der Gedanke nicht früher gekommen ist, wenn ich an so manche kleine Begebenheit dachte. Es fällt mir noch ein, daß, wenn ich ihm irgend- eine Sache klarmachen wollte, er immer sagte: Nicht so schnell, so schnell kann ich nicht folgen, du mußt es mir klarmachen wie einem kleinen Kinde. Ein andermal haben wir lange Zeit über eine Sache gesprochen, die so leicht verständlich war, kamen aber zu keinem anderen Resultat, als daß mein Mann sagte: ,Ich glaube es dir, weil du's sagst, einsehen kann ich es nicht'." Ergänzend möchten wir noch aus den mündlichen Mitteilungen der Ehefrau an- führen, daß es ihr häufig aufgefallen ist, daß D. an gewissen, bisweilen ganz belang- losen Sachen mit eigensinniger Zähigkeit haften blieb, sie sich absolut nicht aus dem Sinn schlagen konnte und immer wieder darauf zu sprechen kam; daß er ferner viel- fach eine gewisse Neigung zeigte, sich selbst herabzusetzen, kleine Versehen tragisch II. Kapitel: Der Infantilismus 35 zu nehmen und in übertriebenen Selbstbeschuldigungen aufzubauschen. Die Frau hatte oft den Eindruck, als ob er einen förmlichen Genuß jn solchen Selbstvorwürfen fände. Nach den Angaben seiner Kollegen bzw. Vorgesetzten, des Pastors 0., der Ober- lehrer B. und ML, der Lehrer P. und R., soll D. auf sie schon seit 12 Jahren den Eindruck der Geistesschwäche gemacht haben. Sie haben bei ihm wahrgenommen, daß er nicht logisch zu denken vermag, daß er völlig willenlos und unselbständig ist, daß er keine Konferenzarbeit allein, sondern stets nur mit Hilfe der anderen Lehrer machen und eben Gelesenes nicht behalten und wiedergeben konnte. Befund: D. ist ein grazil gebauter, mittelgroßer Mann von schlaffer Muskulatur und zarter, welker Haut, für seine Jahre stark gealtert. Der Gesichtsausdruck ist schüchtern, hilflos und verträumt, der Blick fragend und ausdruckslos. Es besteht hochgradige Kurzsichtigkeit auf beiden Augen. Das Gesicht ist asymmetrisch gebaut. Die Ohrmuscheln sind klein und wenig differenziert, die Ohrläppchen ange- wachsen. Das Haupthaar ist dünn und weich, die Körperbehaarung sehr spärlich. D i e Stimme ist zart und hoch; es besteht ausgesprochene Neigung, in Fisteltönen zu sprechen und zu singen. Der Befund der Brustorgane bietet nichts Besonderes. Der Penis ist normal entwickelt. Beide Hoden sind dagegen in hohem Grade verkümmert oder vielmehr in der Entwicklung zurückgeblieben. Sie liegen auch nicht den normalen Verhältnissen entsprechend im Hodensack, sondern sind in den Leistenkanälen verborgen. Die mikroskopische Untersuchung des Samens ergab das völlige Fehlen von Samenfäden (Azoo- spermie). Reflexe und Gefäßerregbarkeit sind lebhaft; D. errötet leicht. Hände und Füße sind sehr klein. In dem psychischen Bilde fällt zunächst das Affektleben sowohl durch seinen leichten und raschen Wechsel wie durch seine matte Färbung eigenartig auf. Im allgemeinen herrscht eine verzagte, deprimierte Stimmung vor, die aber deutlich die Merkmale einer stumpfenApathieund Teilnahmslosigkeit zeigt. D. kann stunden- lang träumend vor sich hinbrüten und fährt, wenn man ihn anspricht, wie aus tiefem Schlafe auf. Die gewöhnlich bestehende Depression macht bisweilen einer ebenso apa- thischen, man möchte fast sagen blöden Euphorie Platz, die ihm selbst nicht recht klar und kaum bewußt zu sein scheint. Dauernd macht D. den Eindruck, als ob es ihm am liebsten ist, wenn man ihn völlig in Ruhe läßt. Sein Wesen zeigt eine ängst- liche, devote Dienstwilligkeit und erinnert lebhaft an das Verhalten eines braven Schulkindes. Seine Intelligenz steht auf äußerst niedriger Stufe. Zwar verfügt er über eine ganze Reihe auswendig gelernter Begriffe und Kenntnisse, weiß aber mit den- selben nichts Rechtes anzufangen. Für Zeitfragen und wissenschaftliche Betrachtungen fehlt ihm jedes Interesse; was er in der Zeitung liest, kann er nicht behalten. Ein- fache Denk- und Rechenoperationen machen ihm die größten Schwierigkeiten. Die Auf- gabe 12 X 13 beispielsweise beantwortet er nach einer Minute mit 146 und muß auf die richtige Lösung erst gebracht werden. Sein Assoziatipnsvermögen ist äußerst gering. Selbst auf Begriffe aus dem Landleben, die ihm nahe liegen und geläufig sein müßten, findet er nur spärliche und seltsam sprunghafte Assoziationen, so knüpft er an das Wort „Acker" in langen Pausen Sämann . . . Buch . . . Tisch . . . Stock . . . Krücke Die Ergänzung einfacher Gedanken, das Lösen leichtester Rätsel macht ihm die größten Schwierigkeiten. Bei der leichtesten geistigen Anstrengung macht sich nach kurzer Zeit eine hochgradige Abspannung und Ermüdung auch physisch deutlich be- merkbar. Er wird rot im Gesicht, zeigt deutliche Pulsbeschleunigung und gerät in Iranspiration. TVie wir bereits erwähnten, ist seine Merkfähigkeit äußerst gering. Den Inhalt einfachster Lesestücke kann er nur lückenhaft und ohne Hervorhebung des Wesentlichen reproduzieren. Ab§eseheii ™n einer gewissen, in seiner geringen geistigen Regsamkeit wurzelnden Zähigkeit des Willens fehlt ihm jede Energie. Er ist leicht bestimmbar, fügt sich jedem fremden Willen und bekundet in seinem ganzen Handeln die denkbar größte Unselbständigkeit und Hilflosigkeit. Zur Zeit ist er in einer Pianofortefabrik beschäftigt, kann aber nur die leichtesten, rein mechanischen Arbeiten verrichten. 3* 36 Gutachten: D. zeigt gegenwärtig unverkennbar und zweifellos das Bild ho eh- er ad i-en Schwachsinns. Affektleben, Intelligenz und WiUenstatigkeit stehen auf gleich niedrigem Niveau. Es fragt sich nun, wann und wie dieser Zustand entstanden ist, inwieweit er zur Zeit der strafbaren Handlungen bestanden hat und bei der Beurtei- lung derselben in Betracht zu ziehen ist. Es ist nicht ganz auszuschließen, daß gewisse eigenartige Tone und Färbungen des Zustandsbildes durch die langjährige Haft hervorgerufen sind. Das apathische Wesen, das übertrieben devote Verhalten mögen zum Teil darauf zurückzuführen sein. Die wesentlichen und für den Gesamtzustand charakteristischen Erscheinungen sind in- dessen hierdurch nicht zu erklären. Sie wurzeln zweifellos tief in der von Hause aus krankhaften psychischen Persönlichkeit des D., wie sie uns in seltener Übereinstimmung in der Vorgeschichte und dem objektiven Befunde entgegentritt. Die psychischen Erscheinungen lassen in Verbindung mit den charakteristischen körperlichen Merkmalen keinen Zweifel darüber, daß wir es mit einem schwer be- lasteten und degenerierten Menschen zu tun haben. D. ist m seiner psy- chischen Entwicklung niemals über die Kindheit hinausge- kommen. Es besteht bei ihm ein ausgesprochener Infantilismus. Sicher steht dieser im Zusammenhang mit der Entwicklungs- hemmung seiner Geschlechtsorgane. Gegenüber der gutachtlichen Auße- runo- des Herrn Dr. S., der sich dahin geäußert hat, daß „D. mit diesem Geschlechts- glied nicht impotent sein könne" und „daß er geschlechtlich völlig normal sei", müssen wir folgendes feststellen: Größe und Beschaffenheit des Gesehlechtsgliedes sind für die Potenz eines Mannes in keiner Weise ausschlaggebend. Seine ganze geschlechtliche Entwicklung und Individualität ist in erster Linie abhängig von den Keimdrüsen (Hoden), welche durch innere Sekretion dem Körper Säfte zuführen, die das Sexualzentrum _ im Gehirn erst zu seiner Tätigkeit anregen und die körperliche und geistige Geschlechtsreife bedingen. Gerade diese ausschlaggebenden Geschlechtsorgane aber sind bei D. in hohem Maße verkümmert und niemals zu normaler Entwicklung gelangt. Sie sind in den Leistenkanälen zurückgeblieben, abnorm klein (wie bei einem etwa zehnjährigen Knaben) und enthalten in ihren Sekretionsprodukten auch keine Andeutung der wichtigsten Bestandteile, dermännlichen Fortpflan- zungszellen, der Samenfäden. Im Einklang damit sind auch die sekundären Geschlechtscharak- tere, Körperbehaarung und Stimme, deren Entwicklung bzw. Umbildung gleichfalls von der inneren Sekretion dieser Keimdrüsen abhängt, nur sehr unvollkommen im Sinne des männlichen Geschlechtstypus entwickelt. Der psychische Infantilismus steht somit, da auch das Reif- werden der sexuellen und geistigen Individualität durch eine normale innere Sekretion der Keimdrüsen bedingt ist, im Ein- klänge mit diesen körperlichen Hemmungserscheinungen. Als weiteres schädigendes Moment kommt dann noch die schwere Kopfverletzung, die D. im dreizehnten Lebensjahre erlitten hat, in Betracht. Auf die durch diese be- dingten Veränderungen ist unserer Uberzeugung nach die Neigung zu Schwindelanfällen, zur Benommenheit, die sich bis zu Dämmerzuständen steigert, zu gelegentlichen impul- siven Aufwallungen und zu triebartigen Handlungen im wesentlichen zurückzuführen. Als geistiger Schwächling trat D. demnach ins Leben, kam in einen Beruf, dem er nicht gewachsen war, und dessen Anforderungen er nur mit fremder Nachhilfe und größter Anspannung seiner geringen geistigen Kräfte erfüllen, richtiger gesagt, den Anschein, sie zu erfüllen, wahren konnte. Er hielt sich in einem auf der Grenze des Zusammenbruchs balancierenden psychischen Gleichgewicht, bis das beginnende Rückbildungsalter seine ganze Persönlichkeit wieder in den Zustand des vollen seelischen Infantilismus versetzte. Die geistige Liebe zu seiner Frau, in der er Halt und Stütze seiner gefährdeten, hilflosen Existenz II. Kapitel: Der Infantilismus 37 sah, blieb natur- und gewohnheitsgemäß bestehen, seine sexuellen Neigungen aber wurden wieder die unklar tastenden eines Kindes, denen die zwingenden Impulse einer psycho- pathischen, durch ein Kopftrauma und übermäßige geistige Anstrengungen aus jedem Gleichgewicht gebrachten Konstitution zeitweise jede Hemmung nahmen. So waren seine strafbaren Handlungen im Grunde und psychologisch richtig bewertet sexuelle Spielereien eines Kindes mit Kin- dern, aber — und das ist für uns von ausschlaggebender Bedeutung — es waren die gefährlichen Spielereien eines Schwerkranken, dem bei seiner durch den Infantilis- mus bedingten geistigen Schwäche in Verbindung mit seiner hochgradigen Neuropathie alle psychischen Widerstände fehlten, die krankhaften Antriebe zu unterdrücken. Unser Gutachten geht demnach dahin: 1. Es liegt bei D. gegenwärtig ein Zustand auf dem Boden der Degeneration ent- standener, durch einen hochgradigen Infantilismus der gesamten Per- sönlichkeit charakterisierter geistiger Schwäche und eine schwere, teils kon- stitutionelle, teils erworbene Neuropathie vor. 2. Dieser Zustand bestand zweifellos auch zur Zeit der Begehung der strafbaren Hand- lungen, welche zur Verurteilung des D. führten und bedingt eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, welche die freie Willensbestimmung im Sinne § 51 StGB, ausschloß. Da das Königliche Oberlandesgericht das mit diesem Gutachten begründete Wiederaufnahmeverfahren zurückwies mit dem Bemer- ken, daß „aus unserem gemeinsamen Gutachten nicht zur Genüge hervorgehe, daß der gegenwärtig bei D. bestehende krankhafte Zu- stand auch bereits zur Zeit der Delikte, die zu seiner Ver- urteilung geführt haben, vorgelegen habe, und daß ferner unser Gutachten keine Rücksicht auf die begleitenden Nebenumstände nehme, aus denen hervorgehe, daß D. bei seinen Handlungen Über- legung und Vorsicht beobachtet habe, mithin sich der Strafbarkeit derselben bewußt gewesen sei," brachten wir noch folgende er- gänzenden Gesichtspunkte besonders zum Ausdruck: „Unsere persönlichen Wahrnehmungen stützen sich allerdings auf den gegenwärtig bei D. vorliegenden Befund, bei dem die lange Freiheitsstrafe, die materiellen Sorgen und die seelischen Leiden zweifellos in hohem Maße zu berücksichtigen sind. In unserer gutachtlichen Beurteilung des Falles haben wir diesem Umstände aber nach Möglich- keit Rechnung getragen, und das Zustandsbild in der Weise rekonstruiert, wie es unserer Überzeugung nach zur Zeit der Delikte bestanden hat, wegen deren D. seinerzeit ver- urteilt worden ist. Es liegen bei ihm nicht nur Zeichen einer erworbenen geistigen Schwäche vor, auf die wir das teilnahmslose Verhalten, die geminderte Merk- und Erinnerungsfähigkeit, sowie die Energielosigkeit zurückführen können, sondern es be- stehen zweifellos auch sehr charakteristische Zeichen einer ausgesprochenen geistigen Minderwertigkeit, ein Mangel an Urteilsfähigkeit und Einsicht, wie er zweifellos als Symptom des Infantilismus aufzufassen ist, einer Erscheinung, die der Persön- lichkeit des D. sicher dauernd eigen gewesen ist und seine geistige Entwick- lung in mancher Hinsicht auf kindlicher Stufe hat stehen bleiben lassen. Es kommt noch hinzu, daß dieser Zustand in der auch i n körperlicher Beziehung i n f a n t i 1 i s t i s c h e n S e x u al e n t w i ck 1 u n g eine ausreichende Begründung findet, und daß der ganze Lebensgang des D. und alle uns über ihn gemachten Schilderungen diesem Bilde voll und ganz entsprechen. Wir haben kein Bedenken getragen, in diesem Zusammenhange auch den An- gaben der Ehefrau eine erhebliche Bedeutung beizumessen, weil sie uns eine so an- II. Kapitel: Der Infantilismus schauliche und innerlich in jeder Beziehung wahrscheinliche Schilderung von einem -wissenschaftlich fest umschriebenen Zustandsbilde geben, daß es gänzlich auszuschließen ist, daß ein Laie, und sei er noch so intelligent, es in seinen wesentlichen Zügen in dieser durchaus charakteristischen Weise frei erfinden könnte. Dieses Zustandsbild, der bei D. vorliegende I n f a n t i 1 i s m u s , ist erst in den letzten Jahren eingehend er- forscht und in seiner Bedeutung gerade für sexuelle Anomalien erkannt worden, so daß ihm bei der Urteilsfällung in ausreichender Weise noch gar nicht Rechnung ge- tragen werden konnte. Dieses infantilistische Zurückgebliebensein kommt aber ferner bei der Beurteilung der in Frage stehenden Delikte nicht nur an sich in Betracht, sondern auch als Ausdruck einer bei D. zweifellos bestehenden psychopathischen Kon- stitution, welche das volle Bewußtsein und die Kritik seiner Handlungen in hohem Maße beeinträchtigte und somit den Fortfall seelischer Hemmungen bedingte, die der normale Mensch besitzt. Auch dieses Moment ist als Symptom einer konstitutionellen Anlage ein von Hause aus bestehendes und lag demnach bereits zur Zeit der Begehung der Delikte vor. Mit dieser Auffassung steht es in keiner Weise in Widerspruch, daß D. bei der Ausführung derselben gewisse Vorsichtsmaßregeln beobachtet hat, die seinem Handeln den Anschein des Planmäßigen und Uberlegten geben. Wir begegnen einer solchen inneren Folgerichtigkeit und Zweckmäßigkeit fast stets bei Handlungen, die an sich mehr oder weniger der Herrschaft des Bewußtseins und der freien Willensbestim- mung entzogen sind. So werden beispielsweise in epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen Reisen und andere komplizierte Unternehmungen in durchaus zweckentsprechender Weise zur Ausführung gebracht, so finden wir bei den infolge geistiger Störung ausgeführten Hand- lungen fast stets ein durchaus planmäßiges und vorsichtiges Vorgehen selbst dann, wenn die Handlungen selbst dem Bewußtsein gänzlich entzogen sind. Im speziellen Falle ist die Vorsicht, die D. beobachtete, auch als Ausdruck eines instinktiven Schamgefühls, das bereits auf einer sehr niedrigen Stufe kind- licher Entwicklung bestehen kann, sehr wohl zu erklären. Es unterliegt mithin keinem Zweifel, daß der bei D. vorliegende Zustand krank- hafter Veränderung seiner Geistestätigkeit sich ebenso wie die ihm zugrunde liegenden körperlichen Anomalien als ein dauernder charakterisiert, der bei ihm also auch zur Zeit der Begehung der in Frage stehenden Delikte bestanden hat, da er das wissen- schaftlich wohl umschriebene Bild des Infantilismus zeigt, mithin eine hinter der Norm zurückgebliebene, auf kindlicher Stufe stehen gebliebene Entwicklung darstellt, über die D. in seinem psychischen Niveau nie herausgekommen ist. Die Vorsicht, die D. bei den Ausführungen seiner Handlungen zum Teil beobachtet hat, schließt unserer im vorstehenden näher begründeten wissenschaftlichen Uberzeugung nach in keiner Weise die Tatsache aus, daß ihm infolge krankhaft veränderter Geistes- tätigkeit die freie Willensbestimmung bei der Ausführung derselben fehlte. Auf Grund dieser Erwägungen müssen wir an den Schlußfolgerungen unseres Gutachtens mit aller Bestimmtheit festhalten." Dieser Fall ist deshalb so lehrreich, weil er ein grelles Schlaglicht auf die so lange unterschätzte pathologische Bedeutung des Kryptorchismus wirft. Bis vor wenigen Jahren war man nämlich fast allgemein der Ansicht, daß Bauchhoden und Leisten hoden verlagerte, im übrigen aber in Bau und Funktion normale Testikel seien. Tierzüchter und Tierärzte wiesen zuerst darauf hin, daß dies keineswegs der Fall ist, vielmehr sich nicht herabgestiegene Hoden sowohl makroskopisch wie mikroskopisch wesentlich von den skrotal gelagerten unter- schieden. Sie sind kleiner, schlaffer, in der Schnittfläche glatter als 05 CO <D • r-( OJ CO X a> E-i 05 o *H O 73 p Sh 0> a Co H *3 o o3 B © TS O = © ! — = — a .= a CS P co a cd ja o co cd Ja) o a CD o &2 :cS a a CD *j ja s " - a 'S * & a CD CD c „O CS el CO « a W CD a — 6C 51 a CD ja CD :cS a 03 a CD a CS CO ■a a a a e3 CO J3 a CO a CD J3 CD CO N Fh CD a CD -4-> CD T3 :0 ,60 :3 -a a a a c« CO -Q 3 CO a ja co o (o _a '£1 ja CD a _ a -g o a J3 CD :=S « a * -55 CO CD a a CD o tn a CD ja CD fr< O -*-> a CD -a j= 'Sc CD 'S ® 05 a » <» s, § a a a CD ^ a o es c bo| g "g 1 3 Oi ° es co CO sc § CD H _ CD S-i CD a a 73 S ._-,;< •>* es 0 £ CD ja <» a CO ~- cu :cS .5 a 0> CS cd a o a w * a M CD -a o PH o CD bo ja :cS ' a CY5 CM CO CD P 'S a CD o w a CD ja o O -*-» eu >3 a CD T3 a. (>> J< a CD ■a a o > -4-> a a B SP C3 o ^ ^a S cq M II. Kapitel: Der Infantilismus 39 diese, im Querschnitt bräunlich verfärbt, ihr Mesorchium ist breiter, der Nebenhoden liegt der Hodenaußenfläche nicht so dicht auf. Vor allem zeigten Bouin und Ancel3), welche kryptorche Hoden vom Schwein, Pferd, Hund und Schafbock unter dem Mikroskop unter- suchten, daß die Samenkanälchen solcher Hoden keine Samenzellen, sondern nur Sertolische Zellen aufweisen. Das Zwischengewebe zeigt sich beträchtlich vermehrt. Die doppelseitigen Kryptorchisten sind steril, besitzen aber die sekundären Geschlechtscharaktere und einen normalen, nicht selten sogar sehr regen Geschlechtstrieb. Die Be- zeichnung „Klopf h engste" bezieht sich auf kryptorche Pferde, die trotz vollkommener Unfruchtbarkeit geschlechtlich sehr er- regt sind. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Menschen. So traf Tan dl er in 20 Fällen von kryptorchen Hoden, die er untersuchen konnte, nicht ein einziges Mal Spermatogenese an. Da- gegen ist das Zwischengewebe meist mächtig ent- wickelt (vgl. Tafel VIII). Tandler und Groß2) gelangen auf Grund eigener und fremder Beobachtungen zu dem zu- sammenfassenden Schluß, „daß sich der kryptorche Hoden als ein in seinem generativen Abschnitte mißgebildeter, in seinem innersekretorischen Anteile mehr oder weni- ger normaler erweise". Die Meinung Finottis3), daß Re- tention und Atrophie des Hodens der Ausdruck einer Entwick- wicklungsstörung sind, ist sicherlich zutreffend. Auch das Zusammentreffen von Kryptorchismus und Schwachsinn, wie wir es in dem oben eingehend geschilderten Falle beschrieben, stellt, wenn auch keine regelmäßige, so doch auch keine vereinzelte, sondern ziemlich häufige Parallelersc h ei- nung zwischen genitalem und psychischem Infantil is- mus dar. Als erster hat Strohmayer auf diese kongruente Hemmungs- x) Bouin et Ancel, Sur les variations dans le developpement du tractus genital , ehez les animaux cryptorchides et leur cause. Bibl. anat. 13, 1904. — Sur la structure du testicule ectopique. Compt. rend. de l'assoc. des anat. 12, 1903. — Recherches sur la signification phys. et de path. gen., Nov. 1904. — Sur un cas d'hermaphrodisme glandulaire chez les mammiferes. Compt. rend. des seances de la soc. de biol. 24. Dez. 1904. — Action de l'extrait de glande interstitielle du testicule sur le developpement du skelette et des org. gönitaux. Compt. rend. Ac. Sc. Paris 1906. 22. Janv. — La glande interstitielle du testicule chez le cheval. Arch. de zool. exp. et generale 1905. — La glande interstitielle du testicule et la defense de l'organisme I. Compt. rend. des seances de la soc. de biol. 1905. 25. Mars. — Sur un cas d'hermaphrodisme glandulaire chez les mammiferes. Compt. rend. Soc. Biol. 57, 58. 2) Tandler und Groß, Die biologischen Grundlagen der sekundären Geschlechts- charaktere. Verlag Julius Springer 1913. 3) F i n o 1 1 i , Zur Pathologie und Therapie der Leistenhoden. Arch. f. klin. Chir. 1897. 40 II. Kapitel: Der Infantilismus bildung hingewiesen; neuerdings ist zu dieser Frage eine sehr wert- volle Arbeit von dem Oberarzt der Kgl. Landeserziehungsanstalt zu Chemnitz, Dr. Kellner4), unter dem Titel: „Hodenr etention und Schwachsinn" erschienen. Er fand bei nicht weniger als 29,5°/o der geistig zurückgebliebenen Knaben Störungen des Des- zensus. Im einzelnen fanden sich unter 558 Knaben der Landeserzie- hungsanstalt, welche seit deren Eröffnung bis jetzt im Alter von 6 — 17 Jahren zur Aufnahme gelangten: Neben der Kleinheit der äußeren Genitalien und Störungen des Deszensus findet sich besonders häufig bei Infantilen Hypospadie. Schon vor vielen Jahren wies ich darauf hin, daß diese Hemmungs- bildung oft mit mangelhafter Entwicklung der sekundären Ge- schlechtscharaktere namentlich des Kehlkopfs und der Behaarung vergesellschaftet ist. Oft sind infantile Bildungen des Genitalapparates mit solchen des übrigen Körpers verbunden. Noch häufiger findet sich aber der somatische Infantilismus bei makroskopisch gut ent- wickeltem Genitalapparat; ja, es ist eine alte Beobachtung, daß wie Riesen meist relativ kleine, umgekehrt körperlich zurückgeblie- bene Menschen, Zwerge, Kretins und Bucklige verhältnismäßig große Membra und Skrota haben. Offenbar hängt dies mit dem poly- glandulären Charakter des innersekretorischen Drüsensystems zu- sammen. Wie sich hier die Wechselbeziehungen im einzelnen ab- spielen, wissen wir nicht, möglicherweise ist es so, daß ein Über- schuß von Hypophysensekret ein Minus von Hodensekret zur Folge hat, doch sind dies vorderhand nur Vermutungen. Unter den Erscheinungen des körperlichen Infantilismus steht an erster Stelle ein ungewöhnlich jugendliches Aus- sehen, Vierzigjährige machen den Eindruck von Zwanzigjährigen. Es ist schwer, den kindlichen Gesichtsausdruck zu definieren oder zu beschreiben, den wir so oft bei Infantilen finden: eine gewisse Weichheit und Glattheit der Züge, eine gewisse Naivität und Un- reife, die aber keineswegs mit Beschränktheit zusammenzufallen braucht, mischt sich mit einer aufgeweckten, freundlichen, frischen, Kryptorchismus . . . . Monorchismus Leistenhoden beiderseits Leistenhoden einseitig . . Unvollständiger Deszensus 54mal 44mal 30mal 15mal 22mal 165mal. *) Kellner, Hodenretention und Schwachsinn. Zeitschr. f. d. Erforsch, u. Be- handl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. 6. Verlag G. Fischer. Jena 1912. II. Kapitel: Der Infantilismus 41 nicht selten kecken Miene. Die meisten Infantilen lachen viel, sind läppisch, manche blicken aber anch ungewöhnlich finster. Das Altern tritt dabei meist unvermittelter, plötzlicher ein, wie bei ausgereiften Persönlichkeiten. Sehen wir den Mann, den wir mit 45 Jahren noch wie 25 aussehend fanden, nach wenigen Jahren wieder, so sind wir oft erstaunt, wie rasch und früh er gealtert ist. Das Knochengerüst ist bei somatisch Infantilen viel- fach zierlich, die einzelnen Knochen klein und dünn; im Rönt- genbilde zeigt sich ein kindähnliches Persistieren der Epi- physenfugen; die inneren Organe sind proportional verkleinert, das kardiovaskuläre System ist hypoplastisch. Der Schädel ist wenn nicht hydrozephal oder rachitisch verändert, meist klein. Der wabre Zwergwuchs ist eine extreme,' wenn auch durchaus nicht die häufigste Form des körper- lichen Infantilismus. Die Muskeln sind meist schwach und ziemlich schlaff. Sehr kindlich ist oft die Stimme, die Tonhöhe gleicht der von Knaben, die noch nicht mutiert haben, die Stimmfärbung ist weich. Das Lachen ist meist sehr hell. Sehr gering ist oft der Bart- wuchs. Ich habe gegenwärtig einen 22jährigen Infantilen in Beobachtung, der noch keine Spur von Bartwuchs zeigt. Auch Körperbehaarung ist oft spärlich, vielfach überhaupt nicht vor- handen. Weibliche Infantile zeichnen sich durch schmales Becken, kleine Brüste und mangelndes Fettgewebe aus. Da manchmal der ganze Organismus, nicht selten aber nur einzelne Organe und Funktionen den kindlichen Typus bewahren, können wir einen allgemeinen und teil weisen (generellen und partiellen) Infantilismus unterscheiden. Die kindlichenSchriftzügeund ungelenken Bewegungen, die männlichen und weiblichen Infantilen oft eigentümlich sind, stellen einen Übergang zwischen körperlichem und psychischem In- fantilismus dar. Der psychische Infantilismus besteht darin, daß ein Individuum zeitlebens die seelische Art beibehält, wie wir sie nor- malerweise bei einem kleineren oder größeren Kinde vor oder während der Reifezeit finden. Dadurch ist eine gewisse Verwandtschaft zu leichteren Graden des Schwachsinns, der Debilität und Imbezillität gegeben, doch überwiegen bei weitem die Unterschiede. Es ist viel- mehr das kindliche Gemüt, der kindliche Charakter, das kindliche Wesen und Urteil, ein gewisses kindliches oder auch kindisches Benehmen, das fortbesteht, während die Intelligenz viel weniger be- troffen ist; ja diese ist oft recht gut, wenn auch vielfach ein- seitig, ähnlich wie bei den im folgenden Kapitel zu besprechen- den Wunderkindern, entwickelt. Hier ist auch an die schon oft geäußerte Erfahrung zu erinnern, daß Genies im Wesen und Aus- 42 II. Kapitel: Der Infantilismus sehen vielfach etwas auffallend Kindliches, Unbeholfenes an sich haben. Je nach dem Stehenbleiben auf frühkindlicher oder spätkind- licher Stufe können wir von einer infantilen und juvenilen Form des psychischen Infantilismus sprechen. Von den juvenilen Typen entwirft Anton5), dem wir die beste Studie „über geistig e nlnfantilismus" verdanken, folgende Beschreibung : „Sie sind stets unselbständig, des Kates und der Anlehnung be- dürftig. Das Gedächtnis und das Auffassungsvermögen ist gut er- halten. Die Aufmerksamkeit ist leicht eingestellt, aber flüchtig und ohne Befähigung zu ausgiebiger Konzentration. Die Stimmungslage ist meist heiter, aber in raschem Wechsel veränderlich; leicht ein- geschüchtert und in Angst versetzt, durch die Stimmungen anderer leicht induzierbar, meist gutartig, aber nach Kinderart egoistisch. Wegen geringer Nachhaltigkeit der Affekte sind auch die Zu- neigungen und Abneigungen sehr wechselnd. Die Urteilsleistungeti bringen es selten dahin, das Wesentliche, Wichtige vom Nebensäch- lichen zu trennen; sie haften an den nächstliegenden, äußerlichen Eindrücken; ihre Schlußbildungen sind häufig unlogisch. Ihre Willensrichtung ist leicht ablenkbar; sie sind der Ein- redung (Suggestion) sehr zugänglich und durch Nachahmungsimpulse stark beherrscht, andererseits leicht voreingenommen, dann auch unzugänglich gutem Kate, eigensinnig, besonders gegen nächste An- gehörige während der Fremde als solcher ihnen übermäßig im- poniert. Sie bäumen sich mitunter auf gegen Bevormundung, doch sind sie recht unvermögend zu eigenen, selbständigen Entschlüssen. Der geistige Besitzstand und Bildungsschatz ist oft ganz respek- tabel, doch sehr selten die Basis zu irgend einer eigenen Leistung. Der Erwerb von Fertigkeiten ist oft ausgiebig, ja es sind Virtuosen- und Künstlerleistungen möglich. Sie vermögen es sehr wohl, mit anderen Menschen in Konnex zu treten, sind soziabel und engeren Grenzen anpassungsfähig; gerne suchen sie Verkehr mit viel jüngeren oder minderwertigen Genossen, oder sie attachieren sich auch im späteren Leben nach Kinderart an die Mutter. Auch die Art ihrer ganzen Lebens- führung zeigt sich vielfach als Imitation. Die Motive ihres Handelns entstammen momentanen Eindrücken oder sehr kurz blickenden Er- wägungen ; ihre Gefühlswerte sind vielfach an Tand und irrelevante Dinge geknüpft. Sehr häufig besteht gleichzeitig eine Neuropathie, ja die psychogenen und hypochon- drischen Beschwerden sind meist alleiniger Anlaß zur ärztlichen Evidenz." 5) G. Anton, Vier Vorträge über Entwicklungsstörungen beim Kinde. Über geistigen Infantilismus S. 29. IL Kapitel: Der Infantilismus 43 Die infantilere Form des Psychoinfantilismus ist von der Im- bezillität und dem Idiotismus dadurch unterschieden, daß sie nicht, wie diese eine krankhaft abnormale Entwicklung, nicht eine Umart'ung des Gehirns darstellen, sondern ebenso wie die juvenile Form ein Ausbleiben psychischer Weiterentwicklung. Mit Eecht sagt Anton, es liegt ein kindlicher Psychomechanismus vor, aber ein Mechanismus der Gattung, wie er den Vollsinnigen eigen ist oder war, beim Schwachsinnigen liegt eine andere geistige Physiognomie vor, der den Vollsinnigen gemeinsame Psychomechanismus ist ver- zerrt, Aufmerksamkeit, Gedächtnis sind stumpfer, ungenauer, ihr Kombinationsvermögen viel mangelhafter. Perversionen und Echo- lalie, wie bei den Imbezillen, findet man bei den Infantilen nicht. Sehr hervortretend ist ihr Hang für Spiel und Tand. Ein gutes Beispiel von Psychoinfantilismus bietet der folgende, zur Zeit in meiner Beobachtung stehende Fall : EL, Verkäufer in einem Modewarengeschäft, ist 24 Jahre alt. Trotzdem er ziemlich groß ist, macht er den Eindruckeines 16jährigenJungen. Mimik und Gestik entsprechen völlig dieser Altersstufe. Er ist von kindlicher Fröhlichkeit, aber leicht verzagt und furchtsam, beispiels- weise drückt ihn gegenwärtig die Angst nieder, er müsse ebenso wie seine Brüder, von denen, nicht weniger als 9 im Felde stehen, Soldat werden. Seine Stimme gleicht in Tonhöhe und Modu- lation einer Knabenstimme. Bartwuchs ist schwach. Über seine Neigungen schreibt er: „Ich liebe Bänder und Schleifen, auch Schmucksachen, besonders aber interessiere ich mich für Wäsche und sehe mir solche gern an, wenn sie sich in ganz sauberem, hübsch gebundenen, schön geordneten und mit etwas Parfüm ange- hauchten Zustande im Schrank befindet. Meine Wäsche ist stets in diesem Zustand und mit frisch grünen Bändern verziert vorzufinden. Immer bin ich hocherfreut, wenn ich meinen Wäscheschrank öffne und mir dieser liebe Anblick entgegenkommt." „Ich schwärme sehr für Blumen, und eine ganz besondere Liebhaberei von mir ist es, diese zu küssen oder aus halb geöffneten Bosen Wasser zu trinken. Meine Lieblingsblumen sind folgende: Schneeglöckchen, Himmels- schlüsselchen, Veilchen und das bescheidene Vergißmeinnicht." „Große Freude macht es mir, verschiedene Kleinigkeiten selbst zu nähen, wie Kravatten, Kissen und Sportmützen. Letzterer Gegen- stand ist nicht ganz leicht eigenhändig ohne jegliche Anleitung her- zustellen, aber es ist mir ganz gut gelungen, zwei Mützen zu arbeiten, die ich nun auch mit Vorliebe trage. Meine Mützen haben sogar hier in Berlin bei meinen Bekannten so Anklang gefunden, daß ich schon einige Bestellungen entgegengenommen habe. Meine anderen Brüder im Felde habe ich mit von mir angefertigten mit Daunen gefüllten Schlummerkissen versehen, die ihnen beim Emp- 44 IT. Kapitel: Der Infantilismus fang eine sehr große Freude bereiteten und wohl auch ein nützlicher Gegenstand für unsere armen Soldaten im Felde sind." Sehr bezeichnend ist folgende Äußerung dieses Infantilen: „Sehr gegen meine Geschmacksrichtung ist es, wenn ich mit dein Wort ,Herr' angerufen werde. Dann werde ich sofort von nicht zufriedengestellter Stimmung überfallen und muß erst eine Zeit ganz allein sein, bis ich wieder soweit hergestellt bin, um fröh- licheren Mutes sein zu können. Da ich mich doch durchaus nicht als die Erscheinung eines Herrn fühlen kann, ist es meine Absicht, den nächsten neuen Anzug wieder mit kurzer Kniehose zu tragen, damit mir die Anrede Herr weniger zugelegt wird." Wir begegnen hier einem Symptom, das ich wiederholt bei psychisch Infantilen gefunden habe und mir für ihre Eigenart be- sonders charakteristisch erscheint, der Abneigung, sich als Erwach- sener zu fühlen und zu kleiden, verknüpft mit dem Drange, sich kindlich, knabenhaft od er mädchenhaftzu geben und anzuziehen. Das Entzücken dieser Infantilen sind die m der Karnevalszeit gelegentlieh veranstalteten Baby-Bälle, wo fast alle Erwachsenen in kurzen Röcken und Hosen, viele Mädchen mit Puppen im Arm, viele Herren mit Steckenpferden und anderem Kinderspielzeug erscheinen. In meiner Kasuistik findet sich der folgende Fall: M., 50 Jahre alt, findet sich nur in Matrosenknabenanzügen glück- lich. Er bildet sich dann ein, er wäre noch ein Junge von 12 Jahren. ErziehtsichabendszuHauseeinenKnabenanzugan, von denen er sieben besitzt und setzt sich vor den Spiegel; er ist dann geschlechtlich erregt, berührt aber nicht sein Glied, „weilerdazunoch zujung sei". Am liebsten spielt er mit anderen Knaben Schule. Sonntag nachmittag geht er mit „den anderen Jungen" nach den Rummelplätzen zum Karussellfahren und Schaukeln. Er schenkt ihnen vorher Geld, dann kaufen sie sich zu- sammen Bonbons und Schokolade; sie spielen auch gern Ball. Auch geht er mit den Knaben in die Volksbadeanstalt; er fühlt sich den Jungen völlig gleichartig. „Willi und Kurt seien seine besten Freunde, zu mir sagen sie Louis." Geschlechtliche Handlungen nimmt M. weder mit Kindern, noch Erwachsenen vor. Wenn er sich Sonntags lange mit seinen Kameraden herum getummelt hat und den Abend zu Hause dann in seinen Knabenanzügen verbringt, tritt öfter eine sexuelle Entspannung ein, die ihn völlig zufriedenstellt. Manche Infantile haben eine instinktive Abneigung gegen jedes Haar an ihrem Körper. So stellt gegenwärtig ein 41jähriger In- fantiler in meiner Beobachtung, der sich an den Geschlechtsteilen alle Haare abrasiert hat, ebenso an der Brust und in den Armhöhlen. Ich besitze mehrere Bilder von ihm, auf denen er im Knabenanzug II. Kapitel: Der Infantilismus 45 mit kurzen Hosen, Wadenstrümpfen — auf die nackten Knie legt er besonderes Gewicht — und Matrosenbluse mit freiem Hals dar- gestellt ist. Er sieht auf diesen Bildern wie ein fünfzehnjähriger Junge aus. Er ist verheiratet, kann aber mit seiner Frau nur sexuell verkehren, wenn er sich zuvor als Knabe angekleidet hat. Seine Frau, der dies anfänglich sehr zuwider war, hat sich schließlich mit dieser „Narretei" abgefunden. Patient besitzt zwei Kinder (10 und 12 Jahre alt), mit denen er viel im Freien „nach Bubenart" herumtollt. Im übrigen ist er Erbe einer sehr großen Fabrik, der er erfolgreich vorsteht. Ein ähnlicher Fall, der ein besonders markantes Beispiel von psychischem und psychosexuellem Infantilismus bietet, ist in dem folgenden von Burchard und mir ausgestellten Gutachten be- handelt: Der 40jährige Bierverleger R. K. ist von uns gemeinsam während mehrerer Monate beobachtet, eingehend untersucht und wiederholt exploriert worden. Er hat ferner ein umfangreiches Material in Form von Aufzeichnungen, Schreibübungen aller Art und Bildern beschafft und uns zur Verfügung ^gestellt. An der Hand dieses in sich ge- schlossenen und innerlich wahrscheinlichen Materials konnten wir uns über den Geistes- zustand des K., insbesondere seine psychosexuelle Eigenart ein übereinstimmendes und bestimmtes Urteil bilden, das wir im folgenden gutachtlich zum Ausdruck bringen. K. ist am Todestage seines Vaters in ärmlichsten Verhältnissen geboren. — Über die in der Familie vorgekommenen Krankheitsfälle und Belastungserscheinungen ist bei dieser Sachlage naturgemäß relativ wenig zu ermitteln. Erwähnt sei, daß bei der Mutter ein Bruchleiden vorliegt, daß zwei Geschwister bereits gestorben sind und daß ein Onkel geisteskrank gewesen sein und einen ernsten Selbstmordversuch gemacht haben soll. K. selbst war ein überaus kränkliches Kind, litt in den ersten Lebensjahren an einer schweren Augenentzündung und bis zu dem 15. Jahre an Krampfanfällen, die, der Schilderung nach, epileptischen Charakter getragen haben sollen, K. war ein äußerst schlechter Schüler. Trotz seiner großen Anhänglichkeit an die Mutter trat schon in frühen Kinderjahren, wenn er eben nicht an das Krankenlager gefesselt war, bei ihm eine Neigung zu übermütigen Jungenstreichen deutlich zutage. Auch weiß K. sich genau zu entsinnen, daß schon damals ein ihm — seiner eigent- lichen Ursache nach, natürlich noch unklarer — Reiz für ihn darin lag, derartiger Streiche wegen gezüchtigt zu werden oder auch nur darin, sich eventuelle Züchtigungen vorzustellen. Mit 13 Jahren offenbarte sich die sexuelle Natur dieses Emp- findens deutlicher, als K. eines Tages vom Lehrer auf das Gesäß geschlagen wurde, in der darauffolgenden Nacht im Traume die gleiche Situation nochmals durchmachte und dabei die erste mit lebhaftem Wollustgefühl verbundene Pollution hatte. An dieses erste Zeichen beginnender Pubertät schlössen sich die übrigen Erschei- nungen des Entwicklungsalters, Stimmwechsel, Bartwuchs und bewußtes Sexualempfinden, an. Nach Abschluß der Geschlechtsreife war eine gewisse sexuelle Differenzierung bei K. insofern eingetreten, als seine auf effektive Geschlechtsbetätigung zielenden Wünsche und Neigungen auf erwachsene Personen weiblichen Geschlechts eingestellt waren. — Diese in ihrer Richtung normale Sexualität konnte sich aber nicht zu voller Reife entwickeln und mit der psychischen Individualität harmonisch verschmelzen, da diese in allen ihren Fasern und Regungen eine kindliche blieb und mit einem die ganze Persönlichkeit beherrschenden Drange, Kind zu bleiben, auch der Sexualität den Stempel des bleiben- den Infantilismus aufprägte und damit die Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeit der normalen S e x u al k o mp o n e n t e ver- 46 II. Kapitel: Der Infantilismus hinderte oder doch so weit abschwächte, daß es nie zu einer wirklich befriedigenden normalgeschlechtlichen Entspannung kam. Nur wenn das Bewußtsein und damit das in Wirklichkeit bestehende infantilistische Seelenleben durch Alkoholwirkung in seinen Funktionen herabgesetzt war, gelang K. in späteren Jahren bisweilen eine Annäherung an Personen weiblichen Geschlechts. Doch blieb es auch dann nur bei unvollkommenen Versuchen, sexuellen Verkehrs. Ein solcher hat zu einer luetischen Infektion geführt, die eine längere Spritzkur erforderlich machte und auf K.s ohnehin so gebrechliche nervöse Gesundheit und Widerstandsfähig- keit noch weiterhin schädigend einwirkte. Wie erwähnt, bildete der Wunsch und die Vorstellung, Kind zu sein und als Kind behandelt zu werden, das treibende und die Gesamtpersönlichkeit beherrschende Moment in K.s Seelen- leben. Bereits dadurch, daß erotisches Lustgefühl und der erste Pollutionstraum sich an eine Züchtigung in der Schule anschlössen, dokumentierte sich in gewissem Sinne dieses infantilistische Empfinden in seiner sexuellen Bedeutung. In welcher Weise es später die gesamte Sexualität durchdrang und beherrschte, indem das völlige Aufgehen in der Rolle eines Kindes an sich ge- schlechtliehe Entspannung bewirkte, werden wir bei der Schilderung des gegenwärtigen Zustandes zu erörtern haben. In der Spätpubertät zeigten sich neben der damals bereits vorherrschenden infantilistischen Komponente auch anderweitige Ansätze abnormen Ge- schlechtsempfindens, namentlich darin, daß bei K. vorübergehend der Drang bestand, Mädchenkleidung anzulegen. K.s äußerer Lebensgang war ein mühseliger und schwieriger unter dem Drucke der äußeren Umstände sowohl wie in Wechselwirkung mit den geschilderten Momenten inneren Zwiespaltes. — Vom 17. bis 19. Lebensjahr war er Kuhhirt und hatte bei dieser Beschäftigung besondere Gelegenheit, sich in sein geschlechtliches Phantasie- leben einzuspinnen und dasselbe in einsamer Onanie zu betätigen. Später war er als Hausdiener und Bierzapfer tätig und mußte — unter anderem häufiger Krankheiten halber — vielfach die Stellung wechseln. K. ist ein untersetzter, ziemlich kräftig gebauter Mann, an dem in Gesichts- ausdruck und Haltung ständig eine eigenartige Schüchternheit und Zaghaftigkeit auffällt. Der Organbefund zeigt keine wesentlichen Abweichungen von der Norm. Dagegen ist in der niedrigen, bei der geringsten Denkarbeit stark gefurchten Stirn , in dem Mißverhältnis zwischen Hirn- und Gesichtsschädel, der asymmetrischen Gesichtsbildung und dem wenig differenzierten Bau der ungleich gestellten Ohren ein degenerativer Typus ausgeprägt. Von nervösen Erscheinungen fällt eine — auf lebhafter Gefäßerregbarkeit beruhende — Neigung zum Erröten und Erblassen neben gesteigerter Erregbarkeit der Sehnenreflexe besonders auf. Der p"sychische Befund bietet auf allen Gebieten das Bild v o 1 1 k o m m e n er Kindlichkeit und mangelnder Reife. Alle Interessen K.s drehen sich um den Angelpunkt dieser kindlichen Einstellung: Aus Kinderbüchern, Mä.rchen und Fabeln einfachster Art deckt er seinen geistigen'Bedarf, zu Weihnachten füllt er einen langen Wunsch- zettel aus, in dem er neben Spielsachen aller Art, Soldaten, Reifen, Ballspiel usw. sich erbittet, wöchentlich einmal „ins Kino geführt zu werden", und auch äußerlich ganz als Knabe geklei det gehen zu können und als solcher be- handelt zu werden, ist lnhalt und Ziel aller persönlichen Wünsche des 42jährigen Menschen. Ihm selbst' ist nicht bewußt, wie stark sein sexuelles Empfinden in dieser infantilistischen Gesamtindividualität begründet und mit ihr verflochten ist. Im Umgange mit Knaben und namentlich in dem Gefühl, auch diesen noch unter- geordnet, gewissermaßen kindlicher als die Kinder zu sein, findet seine Sexualität auch ohne wirkliche geschlechtliche Betätigung ihre Entspannung. Hieraus erklärt sich der Genuß, den er darin findet, s-eine äußerst mangel- haften Schreibübungen von Knaben korrigieren und sich der darin enthaltenen Fehler halber zurechtweisen und eventuell züchtigen zu lassen. II. Kapitel: Der Infantilismus 47 Abgesehen von dein mangelhaft entwickelten Intellekt in seiner Armut an Be- griffen und Vorstellungen, an Verständnis und Urteilsfähigkeit, entspricht auch das labile Gefühlsleben in seiner Weichheit und Empfänglichkeit den rasch ausgelösten und wechselnden oberflächlichen Affektäußerungen und der gering entwickelten Willenstätig- keit, dem Mangel an Initiative und Energie, diesem so eigenartigen aber doch in sich harmonischen Bilde völliger Kindlichkeit. Wir besitzen von ihm Photographien, die ihn in Knabenkleidern zeigen. (Tafel IX.) Gutachten: Die Gesamtindividualität des Herrn K. bietet ein Bild von selt- samer und charakteristischer Eigenart. Es handelt sich um einen geradezu klassischen Fall von psychosexuellem Infantilismus. — Trotz- dem K.s äußere Geschlechtsorgane normal entwickelt sind, blieb er in seinem Fühlen und Empfinden völlig Kind. Da seine psychische Sexualität zu keiner harmonischen Reife und zu keiner dem Lebensalter entsprechenden Einstellung auf ein erwachsenes Sexualobjekt, bzw. nur zu ganz rudimentären Ansätzen einer solchen gelangte, verschmolz sie mit den Vorstellungen und Impulsen, welche bereits von frühester Kindheit an sein Triebleben beherrscht und bestimmt hatten. — Die Äuße- rungen des Sexualtriebes („Schulespielen") sind an sich durchaus harmlose Kinderspiele, deren erotische Qualität nur für K.s subjektives Empfinden vor- handen ist und den Partnern völlig verborgen bleibt; sie können — objektiv bewertet — nicht als sexuelle Akte angesehen werden, sind es aber gleichwold subjektiv infolge der abnormen kindlichen Vorstellungs- und Gefühlswelt des K. Diese tritt uns nun aber nicht nur in dem veränderten geschlechtlichen Benehmen entgegen und läßt die betreffenden sexuellen Akte demgemäß nicht etwa als isolierte Äußerungen geschlecht- licher Perversität erscheinen; sie beherrscht vielmehr sein seelisches Leben in allen seinen Kegungen völlig. Er fühlt sich als Kind und will Kind mit Kin- dern sein. Dem entspricht auch sein ununterdrückbarer Trieb, dies auch äußerlich dadurch zu dokumentieren, daß er selbst die Kleidung der Altersstufe trägt, die sein seelischer Zustand verkörpert. Dieser Drang, einem abnormen Altersempfinden in der Kleidung Ausdruck zu geben, ist wissenschaftlich als Z i s - vestitismus zu bezeichnen und dem bekannteren Transvestitismus (erotischen Ver- kleidungstrieb) innerlich verwandt. Der Kontrast, in dem sein wirkliches zu diesem von ihm empfundenen Wesen steht, ruft das Verlangen hervor, dem letzteren dadurch, daß er sich seinen kindlichen Spielgefährten unterordnet, verstärkten Ausdruck zu geben, und begegnet sich darin mit der masochistischen Komponente, die der Art des sexuellen Fühlens ent- sprechender Weise eigen ist. — Wie völlig K. von dem Gefüld eigener Kindlichkeit beherrscht wird, geht am deutlichsten aus seiner eigenen naiven Schilderung der Art seines Umgangs mit Schulkindern hervor. Eine so völlige Umwandlung der gesamten geistigen Persönlichkeit, bzw. ihre Ver- schiebung auf eine zurückliegende Alterstufe ist, wenn irgend etwas, als eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit anzusehen, und Handlungen, welche auf dieser Basis wurzeln, können im Sinne des § 51 als der freien Willensbestimmung ent- zogen erachtet werden. Demgemäß geht unser Gutachten dahin, daß bei Herrn K. zur Zeit der ihm zur Last gelegten sexuellen Delikte ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vorlag, der seine freie Willensbestimmung für dieselben im Sinne des § 51 ausschloß. Wir haben uns mit den letztgeschilderten Fällen bereits be- trächtlich der vierten Gruppe der Infantilismen, dem psych o- sexuellen Inf antilismns genähert. Er ist dadurch gekennzeichnet, daß ein Individuum bezüglich der Äußerungen seiner Sexualität auf einer mehr oder weniger kindlichen Stufe stehen bleibt. Wir haben uns dabei weniger an das zu 48 II. Kapitel: Der Infantilismus halten, was bislang in sehr wenig zuverlässiger Weise über das so- genannte Sexualleben des Kindes ermittelt ist, als an die Tatsache, daß die sexuelle Reizquelle bei dem sexuell zurückgeblie- benen, nicht wie bei dem ausgereiften Menschen eine erwachsene Person zu sein pflegt, sondern ein Kind, ferner, daß die Be- tätigungsweise an diesen wesentlich eine spielerische ist und vor allem, daß der Träger der sexuellen Empfin- dung und Verüber des Delikts sich selbst mehr oder weniger i n - f a n t i 1 fühlt und benimmt. Auch hier — und darin liegt die Haupt- schwierigkeit scharfer Sichtung — ist der Symptomenkomplex nicht immer vollständig vorhanden oder nachweisbar. So gibt es psycho sexuelle Infantile, die nicht Kinder, sondern im Gegenteil Greise lieben. Mit gutem Grunde sagt Julius- burger6): „Das Gegenstück der Pädophilie, die Gerontophilie, ist gleichfalls aufzufassen als der Ausdruck bleibender infantiler Fixierung auf ältere Individuen." Ich habe wiederholt ausge- sprochen infantile Leute gesehen, die in der Mitte der zwanzig zu Greisinnen in Liebe entbrannten und sie auch ehelichten. So heiratete ein 22jähriger Ingenieur eine kinderreiche Witwe von 63 Jahren, ein 19jähriger Arbeiter eine 55jährige Matrone aus Liebe. Ein anderer Infantiler — er ist einseitiger Kryptorchist — berichtete, daß ihm beim Onanieren stets das Bild seiner Großmutter vor- schwebe. Auch in gewissen Formen des später abzuhandelnden Maso- chismus steckt viel Infantiles. Jede erfahrene Spezialistin auf maso- chistischem Gebiet weiß zu berichten, daß zu ihren Hauptkunden Männer zählen, mit denen sie Schule spielen muß, sie wollen von ihr als der Erzieherin wie Schul k nahen behandelt werden, man soll ihnen Kechenaufgaben geben, die sie auf einer Schiefertafel oder in einem Schreibheft lösen, sie zurechtweisen, in die Ecke stellen, mit einem Rohrstöckchen züchtigen. Einen typischen Fall dieser Art des Infantilismus will ich aus meinem kasuistischen Material als Beispiel anführen: G., aus einer Juristenfamilie, hat selbst Jura studiert, jedoch keine Prüfung abgelegt. Er ist jetzt mit 36 Jahren Bureaubeamter mit einem Gehalt von 100 Mark. Dabei ist er von großer geistiger Regsamkeit, nur fehlt ihm der Wille und die Geduld, sich in eine gesteckte Aufgabe mit ruhiger Gewissenhaftigkeit zu vertiefen. Körperlich macht er den Eindruck eines hochaufgeschossenen Primaners von 18 Jahren, während er in Wirklichkeit doppelt so alt ist. G. gibt an, er fühle sich wie 16 Jahre, namentlich in Gesellschaft ihm sympathischer älterer Frauen; in seinen Aufzeichnungen heißt es: „Ich brauche u) Otto Juliusburger: Zur Lehre von psychosexuellem Infantilismus (Para- thymie, regressive Psychopathie). Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 1, H. 5, S. 198 ff. II. Kapitel: Der Infantilismus 49 eine Frau, die in mir einen 16jährigen Jungen sieht, der eigensinnig, launisch und verwöhnt ist und den sie erziehen muß. Sie wird am stärksten wirken, wenn sie meine erotische Phantasie benutzt, um ihr Ziel zu erreichen. Ich bin zum Beispiel auf einem Spaziergang eigensinnig; wenn sie mir die Züchtigung, die ich erhalten werde, möglichst plastisch ausmalt, so bin ich im wahrsten Sinne des Wortes fasziniert. Ein gleiches Empfinden erwacht in mir, wenn ich mich vor ihren Augen entkleiden muß, während sie selbst in Straßen- toilette vor mir sitzt." Ein anderes Mal schreibt er: „Ich möchte Schulaufgaben machen, die ich durch Schreibfehler, Unaufmerk- samkeit usw. so schlecht mache, daß ich von einer Frau Strafe be- kommen muß. Diese wird in Ohrfeigen und Androhung von Schlägen auf das entblößte Gesäß bestehen. Hierbei spielt das Gebrauchen von Worten wie ,Hiebe, Striemen, Popo' usw. eine große Kolle. Es ist mir unmöglich, die Erzieherin, wenn sie solche Worte ge- braucht, anzusehen. Vor allem muß sie mir das typische Knaben- laster, die Onanie verbieten. Sie selbst darf und soll das bei mir tun!" G. besitzt eine große Sammlung von Bildern und Zeichnungen, auf denen Knaben und Jünglinge von Frauen gezüchtigt werden; die meisten sind englischen Ursprungs. Ich füge eines als Probe bei (Tafel X). Außer dem Drange von einer Frau als Schuljunge behandelt zu werden, leidet G. noch an einer andern seltsamen Zwangsvorstellung, von der er sich, trotzdem er ihre Lächerlich- keit einsieht, nicht loslösen kann, nämlich ein Pferd zu sein „aber nicht", wie er hinzufügt, „ein edles Kassepferd, sondern ein kümmer- licher Karrengaul, den eine Frau kutschiert". Seit es im Kriege so viele „weibliche Kutscher" gibt, fühlt er sich in seiner Erotik stark gesteigert. „DieweiblichenKutsche r", schreibt er, „wirken auf michsehr stark erregend; wenn ich sie sehe, möchte ich gar zu gern ein ehemals kräftiges, durch die Frau nun abgewirt- schaftetes Lastpferd sein." In eine verwandte Masochistengruppe gehören auch die Infan- tilen, welche Mama-Briefe schreiben, überhaupt in der Geliebten ihre Mutter, nicht etwa die Mutter ihrer Kinder sehen und sie dementsprechend bezeichnen. Das klassische Beispiel dieser Gruppe ist der genialisch-infantile J. J. Rousseau. In den zahlreichen von Masochisten für Masochisten geschrie- benen Romanen finden sich oft Schilderungen dieser infantilen Per- version. Ich entnehme ein Beispiel für viele der in diesen Kreisen sehr geschätzten englischen Lebensbeschreibung von Julian Robinson7). Als dieser eines Tages mit Gertrude, seiner Ge- 7) Weiberherrschaft. Die Geschichte der körperlichen und der seelischen Erlebnisse i Julian Robinson, nachmaligem Viscount Ladywood. Von ihm aufgezeichnet zu Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 4 50 IL. Kapitel: Der Infantilismus liebten, zusammen ist, verspürt er ein kleines Bedürfnis. Der Vor- gang, der sich infolgedessen zwischen beiden abspielt, wird nun m dem Roman wie folgt geschildert: „Ach, Mama", sagte ich, „bitte, bitte, ich weiß nicht wie ich es dir beibringen soll, aber ich möchte zuerst noch etwas erledigen. „Du mußt mir es genau sagen!" „Ich kann nicht! „Du mußt. • Nun denn, schon seit dem Gabelfrühstück, schon die ganze Zeit im Eisenbahnzug konnte ich nicht hinausgehen, und auch hier fand ich keine Gelegenheit dazu." Es ist so schrecklich, einem Weibe das sagen zu müssen. „Ich kann mir schon denken, was du meinst sagte Gertrude schelmisch, „das kleine Baby will über das lopt- chen gehalten werden." „Ja", sagte ich errötend. „Nun dann sage: Bitte, Mama, darf ich aufs Töpfchen, bevor du mich bestrafst 1 „Ach Gertrudel" ruft Julian aus. „Gertrudel" erwidert diese, „mein Herr, was gestatten Sie sich?" „Ach, bitte, Mama!" verbessert sich Julian, „ich wollte dich ja nur bitten, mir zu erlassen, daß ich den Satz sage." „Du mußt ihn sagen, wenn du auf die Seite gehen willst, oder du darfst nicht. Du hast die Wahl," „Und ich mußte meiner schönen Viviana die garstigen Worte sagen" — schließt Julian Robinson seine Erzählung - - „verschämt verbarg ich dabei mein Gesicht, was ihr wunderbares Vergnügen zu bereiten schien. Ich muß aber sehr natürlich und anziehend ausgeschaut haben, denn sie küßte mich." In so seltsamen Vorstellungen gefällt sich die üppige Phantasie dieser Infantilen, die sich dem Weibe gegenüber als Kind fühlen. Denn daß derartige Erzählungen wirklich dem Leben entnommen sind, habe ich aus spontanen Mitteilungen von Leuten ersehen, die niemals Schilderungen wie die des Julian Robinson zu Gesicht be- kommen haben. So beschäftigte mich vor einiger Zeit der Fall eines jungen Offiziers, der eine schwere Granaterschütterung im Felde davongetragen hatte. Vor allem litt er seitdem an einem heftigen Tic convulsiv. Außerdem gab dieser Patient an, daß er bereits früher vielfach sexuelle Zwangsvorstellungen gehabt hätte, die er ;iher immer leicht wieder verscheuchen konnte. Seit seiner Ver- letzung im Kriege sei er dazu nicht mehr imstande. Er würde fort- während von sehr peinlichen Sexual vorstellungen beherrscht und könne sich ihrer nicht mehr erwehren. Diese Vorstellungen trugen einen ganz infantilen Charakter; er gibt von ihnen folgende Beschivitmiig: „Die stärksten erotischen Gefühle werden in mir ausgelöst, wenn ich sehe, wie kleine Kinder, insonderheit Kna- ben, von Kindermädch en ab gehalten werden. Es gewährt mir den höchsten Reiz, mich an die Stelle des so verwarteten Kindes einer Zeit, wo er unter dem Pantoffel stand. Erste und vollständige Übertragung aus dem Englischen von Erich Berini-Bcll. Privatdruck. Leipzig 1909. II. Kapitel: Der Infantilismus 51 zu versetzen. Auch erregt es mich, wenn solche Kinder auf das ent- blößte Gesäß geschlagen werden. Ich selber könnte Kindern gegen- über nie aktiv werden; schon der Gedanke daran ruft Unbehagen und Übelkeit in mir hervor; alle meine Gefühle verstehen sich nur in der Eigenschaft als passiver Zuschauer. Leider sind dies die schönsten Gefühle, die ich seit meiner Verwundung kenne. Immer wieder suche ich die Plätze auf, wo Kindermädchen sich in der ge- schilderten Weise den Kleinen widmen, stumm hefte ich meine Blicke auf das Kindermädchen, daß das Kind sein Bedürfnis ver- richten läßt. Ich bekomme dabei geschlechtliche Erregungen und befriedige mich dann später daheim in der Erinnerung daran." Weiter berichtet Patient: Redensarten, die mich besonders aufregen, sind: „Willst du wohl artig sein!!" „Soll ich die Rute holen." „Soll Fräulein baue, haue machen f" „Willst du jetzt brav sein, du un- gezogener Junge du?" „Versprich das!" „So, komm, nun sei wieder lieb und gib Küßchen." Patient, der 25 Jahre alt ist, teilt auch noch mit, daß er gern Knabenkleidung trägt, am liebsten würde er als Kadett — er ist im Kadettenkorps erzogen worden — gehen. Immerhin stellen nach meiner Erfahrung Fälle von psycho- sexuellem Infantilismus wie die letztgeschilderten Seltenheiten dar; die Mehrzahl der sexuell Infantilen ist nicht auf Personen vor- geschrittenen Alters eingestellt, sondern ist pädophil. Krafft-EMng, dem wir auch auf diesem Gebiet grund- legende Forschungen verdanken, meint, daß man die „Paedo- philia erotica" als krankhafte Perversion und nicht als Per- versität, also als Krankheit, nicht als Laster, erachten muß, wenn ihr folgende vier Züge gemeinsam seien: 1. Es handelt sich um belastete Individuen. 2. Die Neigung zu unreifen Personen des anderen Geschlechtes erscheint primär (im Gegensatz zum Wüstling) ;' die bezüglichen Vorstellungen sind in abnormer Weise und zudem mächtig von Lust- gefühlen betont. 3. Die deliktuösen Akte bestehen in bloßer unzüch- tigerBetastung und Onanisierung der Opfer. Gleichwohl führen sie zur Befriedigung des Betreffenden, selbst wenn er dabei nicht zur Ejakulation gelangt. 4. Die Pädophilen sind un erregbar durch sexuelle Reize des erwachsenen Individuums, an welchem der Koitus nur faute de mieux und ohne seelische Befriedigung vollzogen wird. Erweitern wir den ersten Punkt dahin, daß sich die erbliche Be- lastung bei Pädophilen sehr häufig im Sinne eines psychischen, soma- tischen oder genitalen Infantilismus äußert, so können wir die v i e r Krafft-Ebingschen Leitsätze auch heute noch für den psycho- sexuellen Infantilismus als pathognomisch ansehen. 4* 52 II. Kapitel: Der Infantilismus Ich will dafür aus meinem Material einige gute Beispiele bei- bringen: M., 29 Jahre alt, Musiker, hat bisher noch nicht die Gerichte beschäftigt. Ein zwei Jahre älterer Bruder, Bäcker von Beruf, ver- büßt zur Zeit wegen Unzucht an kleinen Mädchen im Rückfall eine fünfjährige Zuchthausstrafe. Der dritte der Brüder ist Lehrer. Die einzige Schwester ist Quartalstrinkerin und der Prostitution ver- fallen. Die Eltern sind geschieden. „Meine Mutter" — schreibt M. — „ist gesund, sehr gut und hat uns Kinder immer zum Guten und zu Gott angehalten. Aber der Vater war ein schwerer Säufer, stammt aus einer alten Trinkerfamilie,, die Brüder, wie auch der Vater des Vaters starben als Vagabunden, zwei im Straßengraben, einer hängte sich auf; der Urgroßvater, ein Pastor, soll sich infolge einer unglücklichen Ehe dem Trunk ergeben haben." Der Vater unseres M. soll schon als Junge von 15 Jahren viel Schnaps getrunken haben. Wie die Mutter erzählt, ließ sie sich von dem Vater scheiden, weil er fast nie nüchtern und im Trunk „sehr tobsüchtig" war. Einmal habe er eine Geige, sein einziges Handwerkszeug, mit dem er sich auf Höfen spielend spärlich ernährte, „vor Wut in tausend Stücke geschlagen", auch habe er, wie die Mutter sagt, immer mit dem Messer nach Pferden gestochen. M. zeigt viele Degenerations- zeichen: Vogelschädel von kaum 50 cm Umfang, Ohr- und Zahn- mißbildungen, Abnormitäten in der Entwicklung der Finger, schwa- cher Bartwuchs, Hypospadie, sehr jugendliches Aus- sehen; man könnte ihn auf 17 Jahre schätzen. Er ist von gut- artig kindlichem Wesen, in seinem Benehmen von grotesker Ser- vilität und übertriebener Wichtigkeit. Er ist leicht betrübt und rasch getröstet, oft unmotiviert heiter. Daß er nicht unintelligent ist, wenn auch ziemlich verschroben, zeigen seine Aufzeichnungen, aus denen einige sehr bezeichnende Stellen, die sich auf sein sexuelles Empfinden beziehen, hervorgehoben seien: „Der Unterschied zwischen einem Schulmädchen und einem er- wachsenen Weibe war für mich von jeher ein derartig gewaltiger, wie man ihn sieh kaum vorzustellen vermag. Diese wundervollen, entzückenden, herrlichen, zarten Formen der Schulmädchen, ihr ganzer, von Naturschönheiten strotzender Körper, die schöne, frische Sprache, der Duft, welcher ihnen eigen ist, und dann diese dicken, plumpen, großspurigen, klobigen Formen des Weibes, ihr voller, massiver Eindruck! Sind denn die Normalen blind, daß sie den Abstand nicht wahrnehmen'? Ein Finger oder ein Ohr eines neunjährigen Mädchens reizt mich mehr als mehrere erwachsene, meinetwegen nackte Weiber." „Den Drang zu einem Schulmädchen, welchen ich auf Grund der Kulturgesetze nicht befriedigen kann, suchte ich bisher dadurch IL Kapitel: Der Infantilismus 53 nach Möglichkeit auszugleichen, daß ich, ein solches Mädchen in meiner Nähe habend, sie sehend oder auch an der Hand, am Hals oder am Bein anfassend in ganz unauffälliger Weise onanierte, ohne daß das Mädchen etwas merkte. Nach solcher Onanie in Gegenwart des Mädchens verspürte ich ein wunderbares »Gehobensein', eiae Leichtigkeit, etwas so Frisches, Munteres und außerordentlich Har- monisches in meinem ganzen Menschen, wie ich es bei einer Er- wachsenen nimmer verspürte und auch nie verspüren werde. Nach dieser Onanie blieb ich mehrere Wochen ganz befriedigt, und das erwachsene Weib ekelte mich außerordentlich an." „Nun habe ich folgendes experimentiert. Ich habe mich mit dem Hemde, den Strümpfen, dem Beinkleid eines Schulmädchens zu Bett gelegt oder»mich in ihrer sonstigen Bekleidung mit Stiefeln und Hut aufgehalten; dann verspürte ich ganz deutlich eine starke sinn- liche Erregung. Ich onanierte in den Sachen und war dann ganz beruhigt und blieb nach solcher Onanie mehrere Wochen hindurch vollkommen befriedigt." Patient setzt dann in sehr naiver Weise auseinander, daß das erwachsene Weib schuld daran ist, daß man Schulmädchen nicht lieben darf, weil sich „infolge ihrer Minderwertigkeit unter dem Deckmantel der Moral die gründlichste Eifersucht gegen Schul- mädchen verbirgt", wobei er in bezeichnender Weise an das Mär- chen von Schneewittchen anknüpft. Er sagt: „Schon im ,Schneewittchenmärchen' wird jung und alt gezeigt, wie eine eifersüchtige Person, und noch dazu die eigene Mutter, nach dem Leben eines bildschönen Schulmädchens trachtet ,Du Ausbund von Schönheit!', ruft die auf Schneewittchen eifersüchtige Frau entrüstet dem ihr ihre Häßlichkeit klarmachenden Spiegel zu, und so pflegt heute das erwachsene, an Leib und Seele häßliche Weib, obgleich sie die Schönheit der Natur im Schulmädchen wieder- gespiegelt sieht, unter der Maske ,ihrer Moral' aber im stillen ,du Ausbund von Schönheit!' ausrufend, wegen des Schulmädchen- und Backfischliebhabers die Polizei zu holen! Ganz gewiß muß nach wie vor eine Gesetzgebung dafür sorgen, daß das arme unschuldige, seines Weges kommende Kind nicht das Opfer eines Lüstlings und Vergewaltigers wird. Ganz gewiß! Aber wie kann mir jemand meine von der Natur erlaubte und bestimmte Liebelei mit einem Scbulmädchen verwehren, zumal dieses Mädchen bei mir ein aus- gezeichnetes Leben führen würde, wenn noch womöglich die mich denunzierenden Weiber als treulose Bräute und treulose Frauen ihr venerisches Gift verbreitend auf mich unter der Maske der Moral ihr Gift der Eifersucht auszuschütten suchen, jenes Gift, welches die von der Königin gesandte Krämerfrau in einem schönen Apfel ver- borgen dem Schneewittchen überreichte!" 54 II. Kapitel: Der Infantilismus Er fährt dann weiter fort: „Da sitze ich nun so öfter im Kaffeehause bei den Klängen des Orchesters oder auch im sausenden D-Zuge, wobei sich in meiner Erregtheit und Spannung sowohl durch gute Musik als auch durch das schnelle Fahren der Bahn ein Ausgleich abspielt. Ich kann auf diese Weise meine Unruhe, welche durch die Abwesenheit meines Schul- mädchens verursacht wird, wenigstens einigermaßen betäuben. Aber doch nur bis zu einem gewissen Grade. Denn wie ver- misse ich trotz dieser Musik- und Fahrablenkung besonders auf den schönen Schnellzugsreisen und im gemütlichen Kaffeehause mein Schulmädchen! Dieses vermisse ich schmerzlich, und all die von mir gehaßten erwachsenen »geschminkten und gepuderten' Frauenzimmer sitzen um einen herum! Es ist für mfth geradezu eine Ironie, bei den Klängen des Liedes .Puppchen* nach diesen alten .verlogenen und verbogenen' Weibsbildern zu .schmunzeln', während das wirkliche .Puppchen', das Schulmädchen, schon lange süß schlummert! Ein recht guter Beweis, daß meine Freude an den Schulmädchen nichts mit .Hirngespinsten' und sogenannter leerer, vielleicht auf Bekleidung beruhender Suggestion zu tun hat, wurde mir auf Bühnen erbracht, bei welchen erwachsene Weiber als Schul- mädchen verkleidet in offenen Haaren, kurzen Röcken und Waden- strümpfen auf der Bildfläche erschienen. Hier sah man deutlich nichts wie gemeine, geschminkte Gesichter, häßliche, plumpe Formen, so vor allem schon die scheußlichen, klobigen Arme und Hände und auch scheußliche, beinahe .männliche' Waden! Man kann dabei so recht sehen, wie die Echtheit, Schönheit und Harmonie der Natur mit aller Kunst und mit allem Raffinement nicht nachgeahmt oder gar ersetzt werden kann!" Wir sehen in diesem Falle alle oben angeführten vier Punkte: starke erbliche Belastung, primäre Neigung zu un- reifen Personen, Unerregbarkeit durch sexuelle Reize des erwachsenen Weibes, Neigung zu spiele- rischer sexueller Betastung deutlich ausgesprochen. Die gleiche Symptomatologie findet sich auch in dem folgenden Falle eines noch in den Entwicklungsjahren befind- lichen Pädophilen. Trotzdem er einer sehr frommen christlichen Gemeinschaft angehört (Methodistenkirche), kam er bereits mit 15 Jahren vor Gericht, weil er ein kleines Mädchen "in den Haus- flur gelockt und unzüchtig berührt hatte. Freigesprochen trat er dem Keuschheitsbunde vom „weißen Kreuz" bei, wurde aber mit 17 Jahren rückfällig. Aus dem folgenden Gutachten, das ich über ihn erstattete, geht die Schwere der ererbten psycho- pat bischen Konstitution hervor sowie der hohe Grad seiner psychischen und sexuellen Unreife. Mit meinem Mit- II. Kapitel: Der Infantilismus 55 gutachter gelangte ich infolgedessen zu dem Schluß, daß der Ange- klagte nicht nur infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit der freien Willensbestimmung ermangelte, sondern überhaupt nicht die erforderliche Einsicht. besäße, um die Strafbarkeit seines Han- delns zu erkennen. Wir hielten also die Voraussetzungen des § 51 8) und des § 56 EStGB.8) für gegeben. Unser Gutachten lautete: „Der am 3. Dezember 1896 geborene jetzt 17 Jahre alte Kauf- mannslehrling Emil H. ist während der letzten drei Wochen von uns beobachtet worden. Neben eingehenden Untersuchungen und Explorationen des H. selbst haben wir wiederholte ausführliche Be- sprechungen mit seiner Mutter und seinem Pflegevater gehabt, um uns ein möglichst klares Bild über seine Anlagen und seinen Ent- wicklungsgang zu bilden. Wir sind auf Grund dieser Unterlagen, gestützt auf unsere langjährige Beschäftigung und Erfahrung in sexualwissenschaft- lichen Fragen, zu einer übereinstimmenden Auffassung seines Geisteszustandes gelangt, die wir, unter besonderer Berücksichtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein ihm zur Last ge- legtes Delikt — unzüchtige Berührung eines kleinen Mädchens — im folgenden gutachtlich zum Ausdruck bringen. Unterlagen des Gutachtens: H. ist unehelich ge- boren. Seine Mutter hatte mit dem Vater etwa ein halbes Jahr hindurch Beziehungen, die ein Ende fanden, weil der Vater, der ein ausschweifendes Leben nach jeder Richtung hin geführt haben soll, geisteskrank wurde und in eine Irrenanstalt kam. Er ist hier seinem Leiden — der Schilderung nach Gehirnerweichung — erlegen. — Die Mutter weiß von ihm nur mitzuteilen, daß er viel getrunken und auch in sexueller Hinsicht exzediert hat, wie aus der Art seiner geistigen Krankheit hervorgeht, auch syphi- litisch gewesen ist. — Vier Jahre vor seinem Tode hat er auch eine Gefängnisstrafe verbüßt; der Anlaß derselben ließ sich nicht -ermitteln. 8) § 51 RStGB. lautet: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. § 56 RStGB. heißt: Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Hand- lung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß. In dem Urteile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besse- rungsanstalt gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr. 56 Weitere Belastungsmomente bei ihm oder seiner Familie sind der Mutter nicht bekannt. Sie selbst ist lungenkrank. — Etwa sechs Jahre nach der Geburt des Jungen heiratete die Mutter ihren jetzigen Ehemann, der H. adoptierte und ganz wie seinen eigenen Sohn liebevoll aber streng erzog. Die Ehe der Mutter mit dem Adoptivvater blieb kinderlos. — Während der ersten sechs Lebensjahre — bis nach der Ver- heiratung der Mutter — wurde Emil H. in fremden Familien er- zogen, die er, ungünstiger Verhältnisse halber, dreimal wechseln mußte. Über diese ersten Lebensjahre ist demnach wenig bekannt. Doch war H noch, als er in das Haus des Adoptivvaters kam, ein ängstliches, schreckhaftes Kind, fürchtete sich, allein im Dunkeln zu sein und litt an nächtlichem Aufschreien. Noch im 6. Lebens- jahre soll er zweimal das Bett genäßt haben. Unter dem Einfluß der liebevollen Sorge, mit der H. im Eltern- hause umgeben wurde, besserten sich diese nervösen Erscheinungen ; doch finden sich auch in den ersten Schulzeugnissen noch wiederholt Bemerkungen, die H.s zerstreutes Wesen, seine große Ablenkbarkeit und unruhiges Betragen tadelnd hervorheben. Im übrigen werden die Zeugnisse von Jahr zu Jahr besser und sprechen sich zuletzt in jeder Hinsicht lobend über H. aus. Namentlich gilt das von den Leistungen und dem Betragen im Fortbildungsunterricht. — Den Eltern fiel aber besonders ein starker Hang zum Lügen, der sich in völlig zwecklos erfundenen phantastischen Erzählungen äußerte, auf. Sie konnten diese Neigung mit Strafen und Ermahnungen nicht unterdrücken, bis sie im 14. Jahre sich nach und nach von selbst verlor. H. kam bereits sehr früh — in den ersten Schuljahren — von selbst auf die Onanie, die er bis jetzt regelmäßig — zeitweise exzessiv — betrieben hat. Eine sachliche Aufklärung über sexuelle Fragen fand nicht statt. Um so lebhafter beschäftigte sich H.s rege Phantasie mit abenteuerlichen Vorstellungen und Kombina- tionen auf geschlechtlichem Gebiet. Bei den im Elternhause herrschenden besonders strengen An- schauungen in sittlicher Beziehung hielt H. jeden Gedanken an sexuelle Betätigung für unerlaubt. Es erfaßte ihn aber gelegent- lich ein ihm selbst unerklärlicher Drang nach Betätigung, der schon im Jahre 1911 dazu führte, daß er ein Mädchen unzüchtig berührte. Um sich selbst gegen jede Versuchung zu sichern, trat er einem Jünglingsbund mit Keuschheitsprinzip bei. Er ist jetzt aber wieder der Versuchung, die er selbst als einen ihm ganz unverständ- lichen, dunklen Drang bezeichnet, trotz stärksten An- kämpfens unterlegen. H. ist ein kräftig gebauter, junger Mensch, der indes, hinsicht- lich seiner Entwicklung für sein Alter etwas zurückgeblie- II. Kapitel: Der Infantilismus 57 b e n erscheint. Es trifft das namentlich für die zarte, gefäßempfind- liche Haut und die spärliche Körperbehaarung zu. Die asym- metrische Schädel- und Gesicbtsbildung zeigt degenerativen Typus, dem in nervöser Hinsicht eine gesteigerte Reflex- und Gefäßerreg- barkeit entspricht. In psychischer Hinsicht ist eine auffallend kindliche Weichheit des Gemüts, die in großer Schüchternheit, stillem, träumerischem Wesen und Neigung zu Affektäußerungen, die nur mühsam unterdrückt werden, zum Ausdruck kommt, besonders her- vorzuheben. Das intellektuelle Geistesleben ist durch eine für das Lebens- alter erstaunliche Naivität und Unwissenheit in allen mit dem Geschlechtsleben zusammenhängenden Fragen bei sonst normalen geistigen Fähigkeiten charakterisiert. Die Willenstätig- keit ist — entsprechend der kindlichen Gesamtindividualität — wenig entwickelt; sie zeigt Anlehnungsbedürftigkeit und Lenksam- keit bei großer Unselbständigkeit und Mangel an eigenem Willen, an Energie und Initiative. Gutachten: Bei der Beurteilung der strafrechtlichen Ver- antwortlichkeit H.s für das ihm zur Last gelegte, dem sexuellen Triebleben entspringende Delikt sind zwei Umstände besonders in Betracht zu ziehen. Einmal liegt eine schwere erbliche Belastung seitens des an einer Geisteskrankheit verstorbenen Vaters vor. Diese Be- lastung äußert sich bei H. in einer neuro- und psychopathischen Konstitution, die von Jugend an in einer Reihe charakteristischer Einzelheiten zutage trat. — Das nächtliche Aufschrecken und Bett- nässen in früheren Jugendjahren sind dafür ebenso bezeichnend wie die Neigung zu zwecklosen Lügen und phantastischen Erfindungen bis zur Pubertät. Die abnorme sexuelle Reizbarkeit, die schon in früher Kindheit zu onanistischen Handlungen führte, stellt eine gewöhnliche Begleit- erscheinung dieses Zustandsbildes dar, das vielfach mit einem un- geordneten und impulsiven Triebleben verbunden ist. Als zweites Moment reiht sich der neuropathischen Konstitution H.s seine — gleichfalls mit der erblichen Belastung in engstem Zu- sammenhange stehende — mangelhafte Keif e, namentlich hin- sichtlich der sexuellen Entwicklung, an. Wir haben es nach dieser Richtung in ihm mit einem Menschen zu tun, dessen psychosexuelle Individualität die innere Harmonie und klare Zielstrebigkeit noch gänzlich vermissen läßt, welche man von seinen Lebensjahren schon erwarten könnte. Es entspricht viel- mehr die von ungeklärten Phantasien und dunklen Antrieben be- herrschte Sexualität einer Entwicklungsstufe, die gewöhnlich in der 58 IL Kapitel: Der Infantilismus Pubertät ihren Abschluß findet und die zu seinem sonst gut ent- wickelten Intellekt in charakteristischem Gegensatz steht. — Die gute Absicht der Eltern, ihn in geschlechtlicher Unwissen- heit und Unschuld mögliehst zu erhalten, hat nach dieser Richtung wohl weiter hemmend und schädigend gewirkt, insofern sie eine — in diesem Talle besonders erforderliche — sexuelle Aufklärung ver- hinderte. — Die Stärke impulsiver Antriebe aber pflegt erfahrungsgemäß dem Mangel klarer Erkenntnis und Einsicht in Fragen des Ge- schlechtslebens direkt proportional zu sein. Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergibt sich bei H. das Bild konstitutioneller Neuropathie auf dem Boden erblicher Belastung in Verbindung mit einer noch infantilistischen psychosexuellen Individualität, die in ihrem Mißverhältnis zu der sonstigen geistigen und körperlichen Persönlichkeit ein krankhaftes Überwiegen im- pulsiver sexueller Antriebe über die Hemmungen der Moral und des Verstandes bedingt. Müssen wir schon in dem infantilistischen Zu- stande an sich einen Umstand erblicken, der die fehlende Einsicht in die Strafbarkeit des hier in Betracht kommenden Handelns im Sinne des § 56 bedingen würde, so ist für dasselbe, in Anbetracht des psychischen Gesamtbildes, eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit als vorliegend zu er- achten, welche die freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 ausschließt. Das Seitenstück zu dem aus der Pubertätszeit sich zeitlebens fortsetzenden psychosexuellen Infantilismus juvenilis bildet der Infantilismus senilis. Wohl jedem forensischen Gut- achter sind die senildementen Kinderschänder zu Gesicht ge- kommen, in jedem Zuchthaus sind sie zu finden („Weshalb sind Sie hier", fragte ich einmal einen 80jährigen Greis im Zuchthaus zu B. „Wegen Sittlichkeit" lautete seine Antwort). Diese Fälle hängen mit der regressiven Rückbildung der infantilen PsychezuminfantilenTypus zusammen. Der Altersatrophie und Hypoplasie des Hodens entspricht die Schrumpfung aller Or- gane, die welkende Erscheinung, der mehr kindliche Gesichtsaus- dmck und das kindisch-läppische Wesen. Wir können die Sittlich- keitsverbrechen der alten Leute ungezwungen aus den Rück- bildungserscheinungen der Involutionsperiode er- klären, ohne daß man eine durch Übersättigung gesteigerte oder veränderte Reizbarkeit anzunehmen braucht. Auch liier sei ein Schulfall aus vielen ähnlichen angeführt. Es handelt sich um einen etwa 65jährigen Gärtner, Kriegsinvaliden von 1870/71, der angeklagt war, mit Mädchen von etwa 12 Jahren unzüch- II. Kapitel: Der Infantilismus tige Handlungen vorgenommen zu haben. Soweit wir den Tatbestand feststellen konnten, hatte er mit den betreffenden Kindern wiederholt allerlei Spielereien getrieben, sie auf den Knien reiten lassen, sich selbst auf ihren Schoß gesetzt und dabei offenbar auch sexuelle Mani- pulationen vorgenommen. Ihm selbst schien der erotische Charakter seiner Handlungen — an dem Maßstabe früheren normalen Ge- schlechtsverkehrs gemessen — nicht klar zum Bewußtsein ge- kommen zu sein; auch fehlte ihm die Einsicht für das Auffallende seines kameradschaftlichen Verkehrs mit den kleinen Mädchen völlig. Dagegen hatte er selbst beobachtet, daß ihn in der letzten Zeit Vor- gänge geschlechtlich erregten, die in den Jahren voller Potenz keinerlei Eindruck auf ihn machten, wie beispielsweise der Anblick sexueller Akte von Tieren. Die sonstigen psychischen Schwäche- erscheinungen traten verhältnismäßig noch wenig hervor, so daß sie — namentlich bei dem geringen Bildungsgrade des Patienten — wenig auffielen. Immerhin bestand eine läppische" Euphorie, die sich auch in der Unbesorgtheit und Zuversichtlichkeit gegenüber dem Ernst seiner Lage bekundete, neben einer gewissen knabenhaften Ver- schmitztheit, sowie auch ein relativ bemerkenswerter Maugel an Interessen, verbunden mit partieller Urteilsschwäche und einsichts- loser Perseveration bei eingehender Beschäftigung mit ihm. Das Gericht schloß sich den von uns geäußerten Bedenken an der freien Willensbestimmung des Angeklagten an und verfügte seine Beob- achtung in einer Anstalt zur genauen Feststellung des Geistes- zustandes. Diese in Herzberge ausgeführte Beobachtung führte zu seiner Exkulpierung aus § 51 StGB. Der originäre Infantilismus und der Infantilismus senilis stellen zweifelsohne die beiden auf innersekretorischer Basis be- ruhenden Geistesstörungen dar, auf welche die größte Quote psycho- pathologischer Kinderschändungen entfallen. An dritter Stelle steht der chronische Alkoholismus. Auch hier ein typisches Beispiel. L. stammt aus gesunder Familie, seine 86jährige Mutter lebt noch. Der Vater, welcher ver- unglückte, war ziemlich stark dem Alkohol ergeben. L. selbst, der unter der schweren Anklage steht, sich an seinem 8jährigen Kinde unzüchtig vergriffen zu haben, ist 56 Jahre alt. Seit seinem 15. Jahre bis jetzt leidet er an periodisch auftretender Migräne, bald auf der rechten, bald auf der linken Kopfseite. Als Kind stotterte er. Er wurde Kellner, dann Gastwirt und ist jetzt wieder Kellner. Vom 20. bis 45. Jahr trank er durchschnittlich 20 Glas Bier am Tage, seit den letzten 10 Jahren jedoch „selten mehr wie 10 Glas Bier täglich"; dazwischen einige Gläser Schnaps. Objektiv sind an ihm nachweisbar: ziemlich weit vorgeschrittene Arterien- verkalkung, Zittern, Keflexsteigerung, fibrilläre Muskelzuckungen, 60 II. Kapitel: Der Infantilismus leicht auslöslich/e wechselnde Affekte, Auf dem rechten Ohre ist er tauh. Mit 28 Jahren heiratete er. Die Ehe war von Anfang an sehr unglücklich. Er lag fortwährend mit der Frau im Streit. Trotzdem zeugte er mit ihr fünf Kinder. Vor 8 Jahren trennte er sich, nach- dem er sein ganzes Vermögen verloren hatte, von seiner Frau, kehrte aber vor einem Jahre aus Liebe zu den Kindern zu ihr zurück. Die Anzeige, daß er sich an seiner jüngsten Tochter in strafbarer Weise vergangen hat, wurde von seiner Frau erstattet. Er wurde darauf angeklagt, „durch mindestens sechs selbständige Handlungen mit seiner Tochter Martha, einer Person unter 14 Jahren, unzüchtige Handlungen vorgenommen zu haben, Ver- brechen gegen § 176 Abs. 1 RStGB.". Von seiner Tat gibt er selbst folgende bezeichnende Schilderung: „Als das Kind geboren wurde, hatte ich es sehr lieb. Es war noch nicht 1 Jahr alt, da machte ich von der Familie fort und habe es nicht früher gesehen als einmal vor 3 Jahren, da war es unge- fähr 5 Jahre alt. Ich war gezwungen durch die Verhältnisse, die durch meine Frau verursacht wurden, 3 meiner Kinder, darunter auch dieses der Frau fortzunehmen und habe sie einem katholischen Kloster in Breslau zur Erziehung übergeben. Seit der Zeit habe ich sie nicht wiedergesehen bis im Januar d. J., wo ich sie hier nach Berlin kommen ließ. Durch diese Trennung war sie mir vollständig entfremdet und ich muß gestehen, daß dieses mir sehr leid getan hat. Wie ich zu der Handlung gekommen bin, weiß ich nicht an- zugeben. Ich muß meiner Frau die größte Schuld beimessen: denn sie hat jedenfalls aus verschiedenen Gründen gesucht, mich unglück- lich zu machen; erstens durch das Beisammenschlafen in einem Bett, wo das Kind zwischen mir und der Mutter lag, und dann durch das Alleinsein mit ihr'. Ich glaube, es war im Juli, als ich das erste- mal dem Kinde am Geschlechtsteil spielte. Ich war immer während der Zeit kolossal aufgeregt und wußte für den Augenblick nicht, was ich tat, nachträglich bedauerte ich dieses und habe mir es vor- genommen nicht wieder zu tun. Ich konnte mich aber nicht be- herrschen und habe es viermal im ganzen wiederholt, was ich sehr bedaure. Ich kann es mir nicht erklären, wie ich dazu gekommen bin, denn jedesmal bei Begehung der Tat war ich dermaßen aufge- regt, daß ich nicht wußte, was ich tat, erst nachher wurde es mir klar, als ich mich selbst mit Vorwürfen überhäuft habe, aber aus der ganzen Handlungsweise ersehe ich immer deutlicher, daß die Mutter es darauf abgesehen hat, mich zu ruinieren. Sie hat selbst gesagt, daß sie jetzt ihre Rache an mir ausüben will. Ich habe weiter nichts getan, als mit den Fingern an Marthas Geschlechts- teilen gespielt." 61 Das 8jährige Kind als Zeuge vernommen bestätigte in einer aus- wendig gelernten Aussage, daß Vater mit ihr „Dummheiten" ge- macht habe. Trotzdem zwei ärztliche Sachverständige bei dem An- geklagten durch Alkohol vorzeitig herbeigeführten Greisenschwach- sinn annahmen und erhebliche Zweifel an seiner Zurechnungsfähig- keit äußerten, wodurch nach reichsgerichtlicher Entscheidung bereits die Voraussetzungen des § 51 KStGB. gegeben sind, beantragte der Staatsanwalt IV2 Jahre Zuchthaus. Das Gericht entschied dement- sprechend. Kurz nach seiner Überführung mußte L. wegen schwerer Verblödung in eine Irrenanstalt überführt werden. Von weiteren Defekten, die zu Attentaten an Kindern führen, nennt Krafft-Ebing geistige Schwächezustände auf patho- logischer und epileptischer Grundlage oder nach Apoplexie, ferner Lues cerebri und Kopftraumen. Auch andere Zustände von krank- hafter Bewußtlosigkeit kommen in Betracht. Fritz Leppmann, dem wir eine wertvolle Arbeit über diesen Spezialgegenstand ver- danken, sah die Geistesschwäche dieser Sittlichkeitsverbrecher ein- mal auch nach Typhus, zweimal nach Bleivergiftung auftreten. Einiges noch über die Beziehungen des Infantilismus zum Exhibitionismus. Einem Sachverständigen, der viele Exhibitionisten zu begut- achten Gelegenheit gehabt hat, wird es allmählich auffallen, wie häufig die Entblößungen gerade vor Kindern vorgenommen werden, ferner wie oft den ihre Geschlechtsteile läppisch zur Schau Stellenden ein infantiles Gepräge eigen ist. Oft mischt sich auch bei den In- fantilen der Entblößungstrieb mit dem Drang, obszöne Worte nament- lich vor Kindern zu gebrauchen, ferner mit der Tendenz, unzüchtige Betastungen an den Lustobjekten vorzunehmen oder von diesen an sich vornehmen zu lassen, während die Neigung zu regulärem Koitus meist gänzlich fehlt. Endlich ist zu bemerken, daß es meist ganz bestimmte Körperteile oder Kleidungsstücke sind, die den ex- hibitionistischen Drang auslösen, wobei die unteren Extremitäten (Wade, Knie, Füße, Strümpfe, Strumpfbänder, Schuhe usw.) eine Hauptrolle spielen. Ein Schulfall, in dem sich der Infantilismus mit ex- hibitionistischen und fetischistischen Regungen fest vergesellschaftet hat, findet sich in dem folgenden Gutachten be- schrieben: „Von den Angehörigen des Kaufmanns Max K. sind wir ersucht, auf Grund unserer spezialistischen Beschäftigung mit sexualwissenschaftlichen Fragen ein sachverständiges Gutachten darüber abzugeben, ob Herr K. sich bei der Begehung gewisser ihm zur Last gelegter geschlechtlicher Delikte in einem Zustande krankhaft veränderter Geistes- tätigkeit befunden hat, der seine freie Willensbestimmung ausschloß. Herr K. hat sich aus diesem Grunde in unserer Beobachtung befunden, die durch seine unerwartete Abreise ins Ausland vorzeitig — nach etwa drei Wochen — beendet werden mußte. 62 II. Kapitel: Der Infantilismus Da wir indessen Herrn K. während dieser Zeit fast täglich gesehen und uns sehr eingehend mit ihm beschäftigt haben, da wir die Eindrücke, die wir aus seinen Mit- teilungen und unserer eigenen Beobachtung gewannen, nach Möglichkeit durch Angaben, die uns von seinen Verwandten über ihn gemacht wurden, ergänzen konnten, waren wir in der Lage, uns ein eindeutiges Bild von dem Geisteszustände des Herrn K. zu bilden, auf Grund dessen wir das nachstehende Gutachten abgeben können. K. ist sowolü väterlicher- wie mütterlicherseits recht schwer erblich belastet. Großvater und Großmutter väterlicherseits waren rechter Cousin und rechte Cousine. Von ihren 19 Kindern starben mehrere in jungen Jahren, andere waren mit körperlichen Gebrechen behaftet, drei waren geistesschwach und endeten durch Selbstmord. Der Vater des Herrn K. ist mit 52 Jahren an Magenkrebs gestorben. Auch in der Familie der Mutter sind geistige und nervöse Leiden mehrfach vorge- kommen, ausgesprochene Geisteskrankheit in drei Fällen bei Cousins bzw. Cousinen. Eine Schwester der Mutter leidet an Kropf mit nervösen Erscheinungen, vermutlich Basedow; die Mutter gleich mehreren anderen Verwandten an Migräne, außerdem hat sie grauen Star. Von Max' Geschwistern ist eine Schwester schwer psychopathisch, leidet an funk- tionell nervösen Erscheinungen, während ein Bruder ähnliche degenerative Erscheinungen, namentlich auf sexuellem Gebiete, zeigte, wie K. selbst. Dieser entwickelte sich als Kind langsam und lernte spät — gegen Ende des zweiten Lebensjahres — gehen und sprechen. Bis in die späteren Knabenjahre war er sehr ängst- lich und schreckhaft, stotterte und litt bis zum 6. Jahre an Bettnässen. Auf der Schule kam er sehr schlecht vorwärts, das Lernen fiel ihm außerordentlich schwer, insbesondere waren Gedächtnis- und Merkfähigkeit außerordentlich mangelhaft, so daß er zum Aus- wendiglernen von geschichtlichen Jahreszahlen und Gedichten ungleich längere Zeit brauchte als seine Mitschüler und trotzdem das Gelernte nicht behalten konnte. So blieb ' er denn auch wiederholt sitzen und erreichte das einjährige Zeugnis nur mit größter Mühe. Er machte seine Lehrzeit im Geschäfte seines Onkels durch und war später bei seinem Schwager in Magdeburg tätig; zu einer Tätigkeit bei fremden Leuten oder zu einem selbständigen Erwerbsleben reichten weder seine intellektuellen Fähig- keiten noch seine moralischen Qualitäten aus. Es fehlten ihm geistige Reife, Charakterfestigkeit und Konsequenz des Handelns nahezu völlig. Im frühen Alter schon spielte die Sexualität in seinem Leben eine Rolle und äußerte sich mit impulsiver Stärke, ge- steigerter Reizbarkeit und verminderter Widerstandsfähigkeit. Vom 12. Jahre an hat er regelmäßig, oft mehrmals täglich onaniert. Neben einer Fülle ungeklärter und un- geordneter sexueller Antriebe und Vorstellungen beherrschte ihn längere Zeit eine leiden- schaftliche Verliebtheit zu einer Verwandten, die er äußerer Verhältnisse halber unter- drücken mußte, was seine geschlechtliche Erregbarkeit in hohem Grade steigerte. Der sexuelle Verkehr mit Prostituierten befriedigte ihn nur dann, wenn er damit die Be- friedigung seiner anormalen sexuellen Antriebe verbinden konnte. Zunächst rich- teten sich diese auf bestimmte Kleidungsstücke, namentlich Strümpfe, Strumpfbänder und Schuhe, in Verbindung damit auch auf die entsprechenden Körperteile, Waden und Füße, die aber ausschließlich in bekleidetem Zustande als Sexual- objekte in Betracht kommen. Beim Berühren derselben, oft auch schon bei ihrem bloßen Anblick, gerät K. seiner Angabe nach öfter in einen Zustand eigenartiger Ekstase, in dem ihm das Bewußtsein schwindet, bis bei völliger seelischer und körperlicher Ohnmacht ohne irgend- welche sexuelle Betätigung die Ejakulation erfolgt, nach der er wie aus schweren Träumen ernüchtert erwacht. In Fällen, in denen er sich auf den bloßen Anblick solcher ihn besonders er- regender Sexualobjekte beschränken muß und eine sexuelle Annäherung gewaltsam II. Kapitel: Der Infantilismus 63 zu unterdrücken sucht, treibt ihn ein unwiderstehlicher Drang, sein Glied zu entblößen, worauf sehr rasch die Ejakulation erfolgt. Auch Grausamkeiten, die er in Verbindung mit dem gesclilechtlichen Verkehr erleidet, bilden für ihn starke sexuelle Anreize. Befund und Beobachtungsverlauf: Beim ersten Anblick macht Max K. den Eindruck eines Menschen, dessen Entwicklung in körperlicher und seelischer Hinsicht erheblich hinter seinen Lebensjahren zurückgeblieben ist. Der Körper ist schlank und kräftig gebaut, die Gesichts- züge zeigen einen ausgesprochen kindlichen Ausdruck. Der Bartwuchs ist so spärlich, daß K. nur glattrasiert gehen kann, während die Körperbehaarung normal ist. Die Form des Schädels ist eine äußerst merkwürdige und bildet bei niedriger Stirn und zurücktretendem Hinterhaupt die Merkmale des sogenannten Vogel- schädels (Aztekentypus), die wir nur bei schwer degenerierten Menschen antreffen. Dem entspricht die von der Mitte und den Seiten aus weit auf die Stirn übergreifende Kopfbehaarung. Auch die asymmetrische Gesichtsbildung, die unregelmäßige Zahn- stellung und die wenig differenzierten, abstehenden Ohrmuscheln entsprechen diesem Bilde schwerer Degeneration. Der körperliche Befund entspricht im übrigen, abgesehen von, etwas erhöhter Reflex- und Gefäßerregbarkeit, der Norm. Hervorheben müssen wir - noch, daß Max K. stets besonders zarte, seidene Unter- wäsche, lange Damenstrümpfe mit Strumpfbändern und zierliche Lackhalbschuhe trägt, ein Umstand, der für die Beurteilung seines gesclilechtlichen Empfindens nicht ohne Bedeutung ist. Wiederholt hatte K. während der Beobachtungszeit über nervöse Beschwerden, insbesondere Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Mattigkeit, Unruhe, Zittern und Schwindel- gefühl zu klagen. Seiner Angabe nach ist er von Launen außerordentlich abhängig und leidet oft an dem Zwange, seiner Stimmung widersprechende Gefühls- und Stimmungs- äußerungen zu tun, bei Trauer zu lachen und bei Freude zu weinen. Er selbst gibt an, daß er sehr wechselnder Stimmung ist, daß ausgelassenste Heiterkeit und tiefste Niedergeschlagenheit oft unvermittelt und unbegründet bei ihm wechseln. Es steht damit durchaus nicht im Widerspruch, daß K. uns gegenüber während der Beobachtungszeit ein ziemlich gleichmäßiges apathisches, meist etwas gedrücktes Wesen zeigte, das allerdings nicht selten durch ein ganz unmotiviertes Lachen unter- brochen war. Seine Intelligenz steht auf recht niedriger Stufe. Der Kreis seiner Vorstellungen und Interessen ist ungewöhnlich beschränkt, die kombinatorische Verstandestätigkeit ist deutlich verlangsamt und gehemmt, Einsicht und Urteilsfähigkeit sind sehr gering. Von der Minderwertigkeit seines Assoziationsvermögens, der Mangelhaftigkeit seiner Merkfähigkeit und seines Gedächtnisses konnten wir uns durch zahlreiche Versuche während der Beobachtungszeit überzeugen. Die oben wiedergegebenen Angaben über sein Sexualleben tragen so ausgesprochen den Stempel innerer Wahrscheinlichkeit und entsprechen in so hohem Grade den Tat- sachen wissenschaftlicher Erfahrung, daß ein Zweifel an ihnen ausgeschlossen erscheint, zumal verschiedene Momente unserer eigenen Wahrnehmung ihnen entsprechen. Einmal wären hier die erwähnten Eigentümlichkeiten in der Kleidung K.s zu erwähnen. Ferner befindet sich in seinem Besitz eine Sammlung von 300 Ansichtskarten mit erotischen Darstellungen, die ihrer Art nach den von ihm geschilderten sexuellen Besonder- heiten entsprechen. Wir haben diese Karten zu den Unterlagen der Krankheitsgeschichte in Verwahrung genommen und uns von der spezifischen Eigenart des Materials daher selbst überzeugen können. Wir fügen zwei charakteristische Proben aus dieser Bildersammlung bei. (Tafel XI.) Es kam auch während der Beobachtungszeit vor, daß K. sich gelegentlich ver- spätete und als Grund angab, daß er einer Dame, die er in der Elektrischen mit über- einandergeschlagenen Beinen sitzen gesehen hatte, bis in ganz entfernte Gegenden von Berlin gefolgt war. 64 II. Kapitel: Der Infantilismus Gutachten: Herr K. ist angeschuldigt, vor jungen Mädchen, die auf ihn, wie er selbst angibt, durch den Anblick ihrer bekleideten Unterschenkel und Füße einen sexuellen Reiz ausübten, sein Glied entblößt zu haben, wobei es in einzelnen Fällen vor ihnen zur Ejakulation gekommen sein soll. Aus unseren Angaben geht hervor, daß K. entschieden zu derartigen Handlungen neigt. Fast immer entsteht die Neigung dazu auf dem Boden einer krankhaften Dis- position; es ist im Einzelfalle nur die Frage, ob in Anbetracht derselben tatsächlich ein Ausschluß der freien Willensbestimmung anzunehmen ist. Die Persönlichkeit K.s zeigt neben zahlreichen neuropathischen Zügen in erster Linie das Bild einer eigenartigen Form geistiger Schwäche, die erst in den letzten Jahren wissenschaftlich erkannt und als Krankheitsbild fest umschrieben ist. Wir be- zeichnen sie als I n f a n t i 1 i s m u s , als ein Zurückgebliebensein der Entwicklung auf kindlicher Stufe, das sich auf das Ganze oder auch auf Einzelzüge der Persönlichkeit er- strecken kann. Das letztere ist bei K. der Fall. Zwar hat er sich in mancher Be- ziehung zu Kenntnissen, Anschauungen, vielleicht auch zu Leistungen eines erwachsenen Menschen heraufgearbeitet, im Kern seiner Persönlichkeit aber ist er ja u s den Kinderschuhen nicht herausgekommen. Ganz besonders gilt dies auch von seiner Sexualität. Zwei Momente charakterisieren im wesentlichen das infantile Sexualleben, seine Impulsivität und seine Indifferenziertheit, die in bunter Mannig- faltigkeit Wurzeln und Keime der verschiedensten ungeklärten, oft direkt paradoxen ge- schlechtlichen Antriebe vereinigt. Ein ausgesprochener Mangel an Widerstands- fähigkeit und Beherrschbarkeit gehören gleichfalls zum Bilde des Infantilismus. In der Persönlichkeit K.s treten alle diese Züge ungewöhnlich deutlich zutage; der Mangel an Widerstandskraft und Beherrschbarkeit aber wird bei ihm noch wesentlich erhöht durch die neuropathischen Momente in seinem Krankheitsbild, die Neigung zu Zwangs- handlungen und das temporäre völlige Versagen aller Hemmungen, das — seiner durch- aus glaubhaften Schilderung nach — sich besonders in Momenten geschlechtlicher Er- regung bei ihm einstellt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß durch dieses Zusammentreffen infantil- sexueller Reizbarkeit und abnormer Impulsive einerseits und psychischer Labilität und Widerstandsunfähigkeit andererseits krankhafte Störungen der Geistestätigkeit bedingt wurden, welche die freie Willensbestimmung K.s für die in Frage stehenden Delikte ausschlössen. Unser Gutachten geht demnach dahin: Bei der Begehung ihm zur Last gelegter exhibitionistischer Delikte befand sich K. zweifellos in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, welcher seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 StGB.s ausschloß. Ob es zutrifft, daß, wie Krafft-Ebing, Leppmann und viele andere Autoren meinen, Unzuchtverbrechen an Kindern aucb ,von Geistesgesunden „aus Übersättigung" begangen werden, oder weil sie sich „aus Geilheit und Hoheit, nicht selten in ange- trunkenem Zustande, so weit in ihrer Menschenwürde vergessen", wage ich nicht zu entscheiden. Ich habe geistesgesunde Kinderschänder nicht gesehen, vielmehr bei ge- wissenhafter Tief enexploration stets mehr oder weniger schwere Defekte gefunden. Ich halte, nament- lich auch auf Grund von Beobachtungen, die ich an Personen an- stellen konnte, die verurteilt waren und ihre Strafen verbüßt hatten, ohne daß sie jemals ärztlich untersucht wurden, die Forderung für dringend geboten, daß in jedem einzigen Falle aus II. Kapitel: Der Infantilismus 65 § 176 RStGB. e x o f f i c i o eine sorgsame psychiatrische Beobachtung und Begutachtung des Täters veranlaßt wird. Mit Recht sagt von Krafft-Ebing: „Je monströser die Handlung, je mehr sie see- lisch und leiblich vom natürlichen Geschlechtsverkehr differiert, um so vorsichtiger muß die Beurteilung des subjek- tiven Tatbestandes sei n." Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 5 III. KAPITEL Frühreife Inhalt: Spät reife und Früh reife — Die vier Grundformen der Frühreife (die genitale, somatische, psychosexuelle und psychische Frühreife) — Fälle geschlechtlicher Frühreife beim weiblichen Geschlecht — Beispiele von Menstruatio praecox — Die frühzeitige Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen als Folge innersekretorischer Störungen — Neubildungen an der Keimdrüse, Zirbeldrüse, Nebennierenrinde und Hypophyse — Diskongruenz in der Entwicklung der Geschlechtscharaktere — Infantilismus und Prämaturität — Prämature Geschlechts- entwicklung beim männlichen Geschlecht — Ein vierjähriger Mann — un- einheitliche Geschlechtsreifung — Völliges Verschwinden der Frühreife nach Beseitigung eines Hodentumors — Auftreten männlicher Geschlechtscharaktere bei einem vierjährigen Mädchen — Doppelgeschlechtliche Frühreife — Körperliche Frühreifung ohne genitalen Parallelismus — Psychosexuelle Früh- reife — Schwangerschaften und Entbindungen im Kindesalter — Ge- schlechtsbetätigung von Kindern — Paradoxia sexualis — Periphere und zerebrale Geschlechtserregungen — Ist der infantile Geschlechtstrieb die Regel oder Ausnahme? — Fall von sexueller Paradoxia auf degenerativer Grundlage — Fall von inzestuösem Geschlechtsverkehr unter jungen Geschwistern — Vor- zeitiger Geschlechtstrieb bei Tieren — Die seelische Frühreife — Das Geschlechts- leben der Wunderkinder — Künstlerische Frühreife — Mozart und Dürer — Das Lübecker und fränkische Wunderkind — Der Braun- schweiger Wunderknabe — Jugendliche Rechenkünstler ■ — Phänomenale einseitige Begabung bei Geistesschwäche — Weiterentwicklung geistig Frühreifer — Überentwicklung gewisser Hirnteile auf Kosten anderer. Verzeichnis der Abbildungen: Tafel XII. Prämature Geschlechtsentwick- lung bei einem vierjährigen Knaben. — Tafel XIII. Doppelgeschlechtliche Frühreife im 8. Lebensjahr. — Tafel XIV. Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahr. Nicht ganz so häufig wie der ausbleibende und verspätete, ist der verfrühte Eintritt der Geschlechtsreife. Rechnen wir den normalen Spielraum des Pubertäts beginnsin unseren Breiten etwa vom 11. bis 17. Lebensjahre, so werden wir das Auftreten der Pubertäts- vorgänge nach dem 18. Jahre als Spätreife, ihr Erscheinen vor dem 10. Jahre als Frühreife bezeichnen können. Auch bei der Betrachtung der Frühreife empfiehlt es sich, entsprechend unserer Vierteilung der Geschlechtsmerkmale zu unterscheiden: III. Kapitel: Frühreife 67 I. die genitale Frühreife, II. die somatische Frühreife, III. die psyehosexuelle Frühreife, IV. die psychische Frühreife. Die genitale Frühreife ist sowohl beim männlichen, als beim weiblichen Geschlecht ziemlich häufig beobachtet worden. Schon H a 1 1 e r hat hierher gehörige Fälle von „incrementum nimium" zu- sammengestellt und neuerdings sind ihm Ploß, Kußmaul, Kisch, Gebhardt, Obmann und andere gefolgt. Kisch erwähnt zahlreiche wohl konstatierte Fälle, in denen Menstrualblutungen bereits vor Ablauf des ersten Lebensjahres festgestellt wurden, unter diesen denFall vonBernard, in welchem von der Geburt bis zum 12. Lebensjahre regelmäßig alle Monate eine zweitägige Menstruation mit Molimina eintrat, vom 12. bis 14. Jahre die Menses aufhörten, um dann, wenn auch unregel- mäßig, wiederzukommen. Conty beobachtete folgenden Fall: Ein Mädchen von 6 Jahren und 2 Monaten hat das Aussehen eines 14 bis 15jährigen Mädchens, sie ist brünett, 1,18 m hoch, hat volle, feste, runde Brüste, 72 cm Brustumfang, Möns veneris ist mit Haaren bedeckt, Uterus bei Rektaluntersuchung normal zu fühlen, Hymen intakt; die Menstruation ist seit dem zweiten Lebens- jahre ganz regelmäßig. Die Mutter und 5 Schwestern haben zwischen 12 und 14 Jahren menstruiert. Allgemeinbefinden des Kindes ist gut. Diamant sah gleichfalls ein 6jähriges Mädchen, das 79 Pfund wog, und Hüften, Schenkel und vor allem Mammae einer völlig geschlechtsreifen Frau besaß. Möns veneris und Achsel- höhlen waren behaart. Die Menstruation warmit 2 Jahren eingetreten und seitdem in regelmäßigen Abstän- den wiedergekehrt; sie dauerte 4 Tage. Ploß zitiert folgenden Fall von Cortenajera: „Kind X., mit 7 Monaten (am 4. April 1878) trat 3 Tage lang Blut aus der Vulva; im folgenden Monat kehrte die Blutung wieder und währte gleich- falls 3 Tage; und so allmählich weiter bis zum März 1879. Um diese Zeit, als schon das Kind 18 Monate alt geworden, trat statt der Blutung eine sehr reichliche Leukorrhoe auf, die bis Mitte Januar 1880 anhielt. Hierauf zeigte sich nach einer heftigen Kolik Menor- rhagie von neuem. Die Menge des Blutes, die jedesmal abging, be- trug 45 g. Das Kind hatte im Alter von 28 Monaten mit seinen runden Formen und seiner 75 cm breiten Taille ganz das Aussehen einer im Wachstum stark zurückgebliebenen Frau. Die Brüste sind kräftig, über zitronengroß, elastisch und turgeszent, wie bei einem 16 — 17 jährigen Mädchen, mit prominierenden Warzen und sehr großem Hof. Die äußeren Genitalien sind sehr gut ent- wickelt, die Vulvaöffnung ist sehr groß, die Labien sind dick und der 5* Schamberg mit ziemlich langem, rotem Haar besetzt. In moralischer rund physischer Hinsicht entspricht das Kind den Verhältnissen der ersten Kindheit." Plyette berichtet von einem Mädchen, das mit 4 Jahren zum ersten Male menstruierte, sie war körperlich stark entwickelt. Die Menstruation war seit dem 4. Lebensjahre ganz regelmäßig aufge- treten mit Ausnahme zweier Monate, in denen vikariierendes Nasenbhiten bestand. Gebhard gibt eine Zusammenstellung von 54 Fällen von Menstruatio praecox. Nach seiner bei Kisch abgedruckten Tabelle ist die erste Menstruation eingetreten: In 1 Fall bei einem neugeborenen Kinde, „ 1 „ „ „ Kinde im Alter von 2 Wochen, „ l ,, ., ,, ,, „ ., 2 Monaten, „ 1 i, ii ii •• •■ 3 ii 1 4 11 -L 1, V 11 •• V 11 ■• ^ i. 1 ■• ,1 •• 5 •i 1 -i ii ii 7 „ 4 Fällen „ ' ,, „ ., „ 9 2 ,, ., ., .. ., .. 10 • i 5 ,i „ „ ii 1 Jahre, „ 1 Fall „ „ „ ., ., .. 15 Monaten, ,i 1 „ i, - - 16 „ 2 Fällen „ „ „ „ „ „ 18 „ „• 1 Fall „ ; „ „ „ 19 1 22 n a ii ii ii n ii i- 'i „ 4 Fällen „ „ „ „ ,. ., 2 Jahren ,, 1 Fall „ ,. „ ,, ,. .. 2 .. und 6 Monaten, 1 9 9 11 1 11 11 11 1* 'i 1' "11 11 ° n ,, 6 Fällen „ ,. „ „ ,. 3 ,, 1, 1 Fall „ „ 3 ., „ (i K'-V'4 Fällen „ „ „ „ ., .. 4 „ „ 1 Fall , .. „ .. 4 , „ 3 1 5 n x 11 n n i- n !• ii '-> ii 1 ii ii n ii ii «1 v 5 ii b •i 1 n ii n i- ii i* 6 ii •i 1 n ii ii n ii ii ii 6 i- 0 „ 3 Fällen „ „ .„ „ „ „ 7 , ,, 2 Q n - ,i ,, ,, ,i ii i. i, 1 Fall „ „ ., 11 „ „ G Daß Ovarienverän der u ngen in engen Beziehungen zur Menstruatio praecox und anderen Erscheinungen der Frühreife stehen, lehren Beobachtungen von Kuß m a u 1 und Hof meier. Letzterer entfernte bei einem 5jährigen frühreifen Mädchen eine rasch wachsende Eier Stocksgeschwulst, worauf die Men- strnalblutungen aufhörten und die bei der Operation abrasierten Schamhaare nicht wiederkehrten. Sicherlich sind es aber auch hier nicht die Keimdrüsen allein, sondern noch andere endokrine Organe des polyglandulären Systems, die auf die zu frühzeitige Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen von großem Einfluß sind. Dafür sprechen 69 mancherlei Umstände, einmal, daß man den Symptomenkomplex, der für die dem Alter weit voranseilende Gesehlechtsreifung bezeich- nend ist — P e 1 1 i e i nannte ihn Macrogenetosomia praecox — auch hei Tumoren, namentlich Teratomen der Zirbeldrüse im kindlichen Alter findet, ferner bei Erkrankungen und Tumoren der Nebennierenrinde. Wir erwähnten im vorigen Kapitel, daß dagegen die genitale Unterentwicklung häufig mit Ver- änderungen der Hypophyse im Zusammenhang steht, womit dann häufig eine somatische Überentwicklung verbunden ist. Wird doch die Akromegalie geradezu auf die gesteigerte Sekretion der Hypophyse zurückgeführt. Gerade die Diskongruenz in der Entwicklung der Ge- schlechtscharaktere, wie wir sie sowohl im Infantilismus, als bei der Prämaturität finden, spricht dafür, daß hier nicht eine Drüse, sondern eine ganze Beibe ihre innere Wirksamkeit entfalten, von denen bald diese bald jene funktionell versagt. Biedl erklärt sich die vorzeitige Geschlechtsentwicklung bei Epiphysentumoren so, daß von diesem Organ während der Zeit seiner vollentwickelten Tätig- keit ein bestimmter, und zwar wie es scheint hemmender Ein- fluß auf die Funktionsentfaltung der Keimdrüse ausgeübt wird. Da- durch führe die Zerstörung der Zirbeldrüse und der damit ver- bundene Ausfall ihres Sekrets zu den Erscheinungen der Früh reife. Es ist bemerkenswert, daß nach den bisherigen Ermittlungen Erkrankungen der Epiphyse öfter bei dem männlichen, Veränderungen der Nebenniere öfter bei dem weib- lichen Geschlecht vorkommen; berücksichtigen wir weiter, daß im jugendlichen Alter Hodentumoren seltener sind als 0 v a r i a 1 geschwülste, so erklärt es sich aus diesen Ur- sachen, daß wir die vorzeitige Geschlechtsentwicklung häufiger bei weiblichen als bei männlichen Personen finden. Glynn stellte Ü7 Fälle von Tumoren der Nebennierenrinden im Kindesalter zu- sammen mit prämaturer Entwicklung der Genitalorgane und vor- übergehendem Biesenwuchs. Von diesen 17 Fällen gehörten 14 dem weiblichen, 3 dem männlichen Geschlecht an. In der N e u - rath sehen Zusammenstellung von Fällen vorzeitiger exzessiver Ent- wicklung der primären und sekundären Geschlechtszeichen bezogen sich 83 auf Mädchen und etwa halb soviel, nämlich 43 auf Knaben. Uber die vorzeitige Geschlechtsentwicklung bei Knaben hat vor einiger Zeit Dr. Obmann in Meiningen eine beachtenswerte Studie veröffentlicht. Anlaß gab ihm hierzu ein sehr merkwürdiger Fall, den er an einem noch nicht ganz 4 Jahre alten Knaben namens Bobert E. beobachtete, der wegen Paraphimose in das Georgen- krankenhaus eingeliefert wurde. Ich will über diesen Fall, den ich 70 III. Kapitel: Frühreife später selbst beobachtete, zunächst nach der Schilderung des Kollegen berichten (vgl. Tafel XII). „Robert E.s Eltern leben und sind gesund, der Vater steht zur Zeit im Felde als Landsturmmann. In der Verwandtschaft keine erbliche Veranlagung, nur litt die Mutter, während sie mit Robert schwanger ging, an einer geringen geistigen Störung, anscheinend Schwangerschaftspsychose. Die Mutter war zuvor achtmal schwanger, wobei das Kind siebenmal ausgetragen wurde, einmal kam es zur Fehlgeburt. Bei Roberts Geburt war die Mutter 35 Jahre alt. Die ersten sieben Kinder hatten bei der Geburt normale Größe und entwickelten sich normal; das älteste ist jetzt 16 Jahre alt, eins starb mit drei Tagen. Der Junge selbst wurde nach der normalen Schwangerschaftsdauer leicht, ohne ärztliche Hilfe geboren. Bei der Geburt hatte er dieselbe Größe und dasselbe Gewicht wie durchschnittlich andere Kinder auch. Während aber die früheren Kinder nur mit Mutter- milch aufgezogen wurden, genügte Robert die Brust nicht, obgleich die Mutter ausdrücklich angibt, daß sie ebensoviel Milch gehabt hätte wie früher; er bekam deshalb neben der Brust noch Kuhmilch und Zwieback. Mit ungefähr einem Jahre lernte er das Laufen, ebenso lernte er das Sprechen zur rechten Zeit. Die Zahnentwicklung war normal, nur hatte er dabei viel Krämpfe, keine Durchfälle. Als Robert ungefähr ein Jahr alt war, fiel der Mutter auf, daß an den Ge- schlechtsteilen Haare wuchsen; als er zu sprechen anfing, merkten die Eltern, daß die Stimme auffallend tief war, während es ihnen zuvor beim Schreien nicht so aufgefallen war. VomzweitenLebensjahrcan wuchs Robert sehr rasch, auch bemerkte die Mutter, daß sich die Geschlechtsteile anders entwickelten als bei den übrigen Kindern. Daß das Glied steif wurde, hat die Mutter schon öfters be- merkt, aber nicht, daß Robert an ihm onan istische Manipulationen vorgenommen hätte; "Abgang von Samen wurde nicht festgestellt, ebensowenig Äußerungen besonderer ge- schlechtlicher Erregung. Die Paraphimose habe er sich nach Mitteilung der Mutter durch Spielen mit einem achtjährigen Mädchen zugezogen, wobei die Mutter ausdrück- lich dem Mädchen die Schuld zur Veranlassung gibt, sonst sei er noch nie Mädchen nachgegangen ; überhaupt spiele er nicht mit den Kindern, sondern e r rechnet sich mehr zu den Erwachsenen und hält sich zu diesen. Seine Lieblingsbeschäftigung sei das Ein- und Ausspannen der Kühe, tagsüber sei er größtenteils auf dem Felde; er erzählte auch im Krankenhaus viel von den Kühen. Tier- quälerei sei nicht beobachtet worden. Von Charakter sei er gutmütig, doch sei er nicht so leicht zu bewältigen, wenn er zornig würde, nur vor seinem Vater habe er Respekt. In geistiger Beziehung sei er nicht zurückgeblieben, er sei im Gegenteil viel gescheiter als ein anderes Kind. „Als ich ihn im Bette liegen sah," berichtet Kollege Obmann weiter, „hatte ich den Eindruck, als sei es ein im Wachstum zurückgebliebener Mann. Er ist 121 (99) *) cm groß und wiegt ohne Kleidung 68 (28) Pfund. Kräftiger Knochenbau, Muskulatur sehr gut entwickelt. Die Genitalien entsprechen in ihrer Entwicklung denen eines 16 — 18jährigen Jünglings; sieben Wochen nach der Ope- ration der Phimose ist der Penis in nicht erigiertem Zustande 8 cm lang, beide Hoden kleinpflaumengroß. Am Möns pubis reichlicher Haarwuchs; die Haare sind bis zu 4 cm lang und von dunkler Farbe. Von den sekundären Geschlechtszeichen fällt die enorme Bildung von Aknepusteln in Gesicht und Rücken auf. Die Stimme ist tief wie bei einem Erwachsenen, nur klingt sie sehr rauh. Die Brustwarzen sind stark entwickelt. In den Achselhöhlen und auf den Lippen kein Haarwuchs. Der Kopf ist außerordentlich groß, Umfang um die Stirnhöcker gemessen 58,5 (45) cm. Die Fontanellen sind geschlossen. Die Halsweite beträgt 33 (23,5) cm. Umfang der Brust im Ekspirium 77 (51) cm, im Inspirium 82 (55) cm, des Abdomens 76 (49) cm. Das . Becken und besonders der Fettansatz an der Außenseite der Ober- *) Die Zahlen in Klammern entsprechen den normalen Durchschnitts- maßen eines vierjährigen Knaben. IIT. Kapitel: Frühreife 71 Schenkel hat große Ähnlichkeit mit dem weiblichen Typus. Es besteht ziemlich hoch- gradige Rachitis, besonders an den unteren Extremitäten. Für die kräftig entwickelte Muskulatur sprechen die Maße: so ist der größte Umfang des Oberarms beiderseits 22 (14) cm, des Unterarms links 23 (14), rechts 23,5 (14) cm, des Oberschenkels beiderseits 42,5 (25) cm, der Waden 28 (18) cm. Diese Zahlen entsprechen ungefähr denen eines 12 — 14jährigen Jungen. Ein Beweis für seine Kraft ist, daß Robert einen 20 Pfund schweren Eimer mit einer Hand ohne besondere Anstrengung hebt, ebenso mühelos hebt er ein fünfjähriges Kind von 26 Pfund. Besonders bemerkenswert dürfte die Beobachtung sein, daß er zur Narkose ebensoviel Chloroform brauchte, als ein normaler 20jähriger Mann. Die Ossifikationsverhältnisse entsprechen denen eines acht- bis zehnjährigen Kindes; die sehr guten Zähne dagegen seinem Alter, d. h. er hat noch das vollständige Milchgebiß. Augenhintergrund normal. Hydrozephalus ist trotz des großen Kopfumfanges nicht wahrscheinlich. Röntgenologisch konnte am Schädel, besonders an der Sella turcica mit Bestimmtheit, ein pathologischer Befund nicht festgestellt werden. Die inneren Organe sind gesund. Urin frei von Eiweiß und Zucker. In geistiger Beziehung ist Robert seinen Altersgenossen wohl etwas, wenn auch nicht viel, voraus. Für seine Wunde zeigte er großes Interesse und beurteilte den Heilungsverlauf mit großem Verständnis. Er hängt sehr an seiner Mutter; so verlangte er jeden Abend, wenn es dunkel wurde, nach Hause und war nur mit Mühe zu beruhigen. Er interessierte sich lebhaft für jeden Gegenstand, den er noch nicht kennt und fragt wie er heißt. Auffallend ist sein Eigensinn, denn nur selten tut er das, was man von ihm verlangt." Als ich selbst Robert in seiner ländlichen Heimat aufsuchte, hatte er gerade sein 4. Lebensjahr beendet. Kurz vor dem Dorfe sali ich einen alten Mann arbeiten, den ich nach der Wohnung von Roberts Eltern fragte. Es war zufälligerweise sein Großvater, ein sehr rüstiger Greis von 83 Jahren, der frühere Schultheiß des Dorfes. Der gesprächige Alte, der in seinem Aussehen, seinen Bewegungen und seiner Kleidung sehr feminin wirkte, bot sich an, mich zu seinem Enkel zu geleiten, über dessen sonderbare Entwicklung er schon sehr viel nachgedacht hatte. Nach etwa 10 Minuten Wegs sahen wir in einem geräumigen Gehöft einen stämmigen Jüngling Mist auf- laden. „Sehen Sie nur, diese Forsche," sagte der Alte, indem er auf ihn wies, der fest mit der Hnrke zufassend wie ein starker Knecht den Dung geschickt in den Leiterwagen warf. Es war Robert. Als der Großvater ihn mir vorstellte, lüftete er verlegen lächelnd die Kappe, wurde aber bald zutraulicher, als ich ihm eine mitgebrachte Tafel Schokolade überreichte. „Essen kann der Junge!" sagte der Großvater, „mehr wie seine Brüder zusammen." Mit dem kräftigen Körperbau und dem großen Kopf Roberts standen in eigentümlichem Gegensatz seine kleinen Milchzähne, von denen der erste zum Zeichen des einsetzenden Zahnwechsels einige Tage zuvor ausge- fallen war. Wir gingen mit Robert in die Wohnstube, in der wir seine Mutter, eine kräftige Bauersfrau, die fleißig ihren im Kriege be- findlichen Mann vertrat, und fünf seiner Geschwister trafen, alle blühende, freundliche Knaben und Mädchen von normalem Wuchs und Bau. Die beiden älteren Brüder, von denen Hugo 13, Friedrich 72 9 Jahre zählte, sahen sehr viel schwächer und jünger aus als der 4jährige Robert, der beide mit Leichtigkeit in die Höhe hob. Auch seine Stimme war viel tiefer als die der Brüder, bei denen noch kein Stimmwechsel eingetreten war. Die Mutter berichtet, daß ihr, als Robert sprechen lernte, sogleich sein tiefer Stimmklang aufge- fallen sei. „Robert ist sehr geduldig," sagte sie, „und tut keinem etwas zu Leide, nur wenn man ihn reizt, dann fährt er wild auf und über nichts wird er so heftig, als wenn man ihn mit seiner tiefen Stimme neckt. Nicht mir Kinder, auch Ältere, die vorübergehen, machen ihm seine Stimme nach, und das bringt ihn oft in furcht- baren Zorn. Ich bin sehr bange," meinte die Mutter, „daß, wenn Robert nächstes Jahr zur Schule muß, er damit viel Ärger und Auf- regung haben wird." Ich gab der Frau den Rat, den Jungen mög- lichst allein unterrichten zu lassen. Zeigt doch die Erfahrung, wie mitleidslos und rücksichtslos gerade die Kinder in der Verspottung körperlicher Gebrechen, namentlich auch Sprachgebrechen, wie Stottern, Lispeln und rauhes Organ sind. Als ich Robert untersuchte, fand ich den Körperbau und vor allem den Genitalbefund wie oben geschildert vor. Namentlich die äußeren Geschlechtsorgane gleichen völlig denen eines geschlechts- reifen Mannes. „So war es schon mit zwei Jahren," erzählte die Mutter. Das Glied soll sich auch oft und leicht erigieren, doch scheint Spermasekretion bisher nicht vorhanden zu sein. Auch fehlen An- haltspunkte einer sexuellen Libido. Wie die Mutter mitteilt, leidet Robert seit einiger Zeit auch an Krämpfen. So hatte er am Morgen des Tages, an dem ich dort war, einen Anfall, von dem noch ein frischer Zungenbiß Zeugnis ablegte. Der Verlauf des Anfalls wird so beschrieben, daß er erst eigentümlich grinst, dann den Kopf zur Seite dreht, darauf das Bewußtsein verliert und um sich schlägt. Nach einigen Minuten kommt er wieder zu sich und benimmt sich bald, als wäre nichts vorgefallen. Kollege Obmann wirft die Frage auf, auf welche objektiven Ursachen der Befund bei Robert zurückzuführen sei. Er meint nicht mit ■ Unrecht, daß zu Lebzeiten eine sichere Entscheidung nicht zu treffen siein dürfte. Hoden und Nebennierenrinde zeigen keine nach- \\ i i-lichen Abweichungen von der Norm. Am nächsten liegt, trotz des negal Lven Röntgenbefundes, die Annahme einer Hypophysen - erk r;i ii k u n g. Krämpfe und Kopfumfang sprechen für eine Ge- hirnaffektion. Von Wichtigkeit ist der Fall auch in bezug auf die Uneinheitlichkeit der sekundären Geschl echtsent- w ick lang. Beispielsweise sind Pubes, aber keine Spur von Bart vorhanden, die sonst bei so vorgeschrittener Kehlkopfentwicklung selten fehlt. Dies deutet, ebenso wie der Kontrast von Milchgebiß und Knochenwachstum, darauf hin, daß nicht eine innersekreto- III. Kapitel: Frühreife 73 risqhe Drüse allein, sondern mehrere zusammen an der G e s c h 1 e ch tsr e i f u n g beteiligt sind. Um welche Möglichkeiten es sich bei analogen Sym- ptomenkomplexen handeln kann, lehren Beobachtungen, in denen durch eine Sektion oder Operation das . Dinikel gelichtet wer- den konnte. So handelte es sich in dem Falle von Oestreich- Stawyck gleichfalls um einen vierjährigen Kna- ben, der im ersten Jahre in seiner Entwicklung nichts von der Norm abweichendes zeigte, auch rechtzeitig gehen und sprechen lernte. Im dritten Jahre wurde das vorher muntere Kind auffallend still und scheu. Gleichzeitig traten die Zeichen einer ungewöhnlichen Entwicklung auf. Der Penis wuchs stark, er maß in schlaffem Zustande 9 cm, die Hoden waren taubeneigroß, es sprossen reichlich lange dunkle Schamhaare. Die Brust- drüsen schwollen bis zu 2 cm Höhe und entleerten auf Druck Kollostrum. Muskulatur und Fettpolster nahmen zu. Der Knabe war mit 4 Jahren 108 cm groß, Gewicht 20 kg. Nicht lange nachdem er in ärztliche Behandlung gekommen war, starb der Knabe unter den Erscheinungen eines Hirntumors. Die Autopsie ergab einen Epi- physentumor, den Askanasy als ein embryonales Teratom auffaßte. Ein von der Nebennieren rinde ausgehender Tumor wurde als Ätiologie im Falle Lins er s gefunden, bei dem es sich um einen SVajährigen Jungen handelte. Dieser sah wie ein Jüngling aus, war 138 cm groß und von kräftiger Muskulatur. Der Penis war 8 — 9 cm lang, Hoden von Taubeneigröße, Prostata wie bei einem Fünfzehn- jährigen. Demselben Alter entsprachen Körpergröße und Körper- umfang, die Ossifikation, sowie das fast vollständige Dauergebiß. Ein sehr bemerkenswertes Schlaglicht auf die hier wirksamen Zusammenhänge wirft endlich auch der Fall von Sacchi. Dieser berichtete von einem 972jährigen Knaben, der bis zu seinem fünften Lebensjahre ganz normal war. In diesem Alter setzte eine rasche Entwicklung des Skeletts und der Muskulatur ein. Schamgegend und Gesicht behaarten sich, die Stimme wurde tiefer, auch psychisch trat eine völlige Veränderung ein. Der linke Testikel wurde be- deutend größer als der rechte. Er wurde deshalb einem Hospital zu- geführt. Hier stellte man bei dem mittlerweile 9 Jahre alten Knaben eine Größe von 143 cm und ein Gewicht von 44 kg fest; Haare auch Bart stark entwickelt, Geschlechtsorgane auffallend groß, besonders der linke Hoden. Dieser wurde durch die Orchidektomie entfernt. 1 >ie Diagnose lautete Alveolarkarzinom des Hodens. Die Ope- ration verlief gut. Nach einem Monat begann eine völlige Umwandlung der sekundären Geschlechtscharak- tere, zunächst fielen die Haare vom Bart und den Extremitäten aus, während sie am Möns pubis blie- 74 Hl. Kapitel: Frühreife ben- die Stimme wurde wieder kindlich. In der Größe trat keine Veränderung ein, nur der Penis verminderte sich angeb- lich an Größe und Dicke. Pollutionen und Erektionen, sowie Geschlechtstrieb, die vorher bestanden hatten, schwanden wieder. Leider besitzen wir keine Beobachtungen dieses Falles aus späterer Zeit. Zu den merkwürdigsten Fällen sexueller Frühreife gehören wohl diejenigen, in denen lange vor der normalen Pubertätszeit mann- liche Geschlechtscharaktere in enger Vermischung mit weiblichen zutage treten. Einen solchen Fall beobachtete ich vor einigen Jahren mit Dr. Burchard und gebe ihn im Bilde (Tafel XIID Als ich dieses Kind kennen lernte, war es neun Jahre alt. Laut Taufzeugnis war es am 27. Dezember 1902 in der Provinz Posen geboren. Es soll bei der Geburt den Eindruck eines völlig normalen Mädchens gemacht haben und wuchs als solches auf. Im vierten Jahre — man beachte, wie oft gerade in der Vorgeschichte der erwähnten Fälle dieses Alter wiederkehrt - - wuchs die Klitoris sehr stark. Sie soll damals den Eindruck eines dem Alter ent- sprechenden männlichen Gliedes gemacht haben. Zugleich traten Schamhaare und sekundäre männliche Geschlechtscharaktere aui. Hedwig bekam eine tiefe männliche Stimme und einen kräftigen Bart. Erbliche Belastung ist nicht nachweisbar. Die Eltern, arme polnische Feldarbeiter, und mehrere Geschwister leben und sind ge- sund. Als wir Hedwig untersuchten, stellten wir in Übereinstimmung mit Robert Asch und Oskar Scheuer folgenden Befund fest: Körpergröße 121 cm, Gewicht 31 kg, Kopfumfang 54,5 cm, Scheitel-Kinn-Distanz 22,5 cm, Halsumfang 32 cm, Brustumfang 70—71 cm, Bauchumfang 64 cm, Mamill ardistanz 16 cm, Armlänge 45 cm, Handlänge 13 cm, Spinale 18 cm, Christae 19 cm, Trochanteren 22 cm, Oberschenkel 24,5 cm, Unterschenkel 23 cm, Fuß 19 cm. Die Teile sind insofern nicht gut proportioniert, als der Kopf im Verhältnis zum Rumpf und der Körperlänge zu groß und Arme und Beine im Vergleiche zum Rumpfe zu kurz sind. Das Gesicht ist kindlich, voll, rundlich und symmetrisch. Die Augen sind groß und glänzend, die Iris von grünlich-brauner Farbe, die Pupillen sind gleich, reagieren prompt. Die Wimpern sind schwarz, lang und dicht, ebenso die schön geschwungenen Augen- brauen. Die wohlgebildeten, mit leichtem Flaum bedeckten Obren bieten nichts Besonderes. Die Nase ist) kurz und breit, der Nasen- rücken gerade. Die Backenknochen verraten durch die leicht hervor- springende Wölbung die slavische Abstammung. Ober- und Unter- lippe sind üppig aufgeworfen, doch wohlgeformt. Die Zähne stehen gut, sind groß, weiß, gesund, das Gebiß als ganzes sehr schön. Der III. Kapitel: Frühreife 75 harte Gaumen ist etwas hoch und eng gewölbt. Die Zunge und lonsillen normal, das Zäpfchen sehr lang. Das Gesicht ist umrahmt von einem dichten s c h w a r z e n k r a u s e n V o 1 1 b a r t. Der Schnurrbart ist schmal, unter der Unterlippe zeigt sich eine kleine „Fliege" Der von Dr. Goerke untersuchte Kehlkopf des Kindes ist weit über das Alter des Kindes hinaus entwickelt. Er gleicht dem Kehlkopf eines erwachsenen Mannes. Dement- sprechend besitzt Hedwig eine Männerstimme. Die Muskulatur ist außerordentlich kräftig entwickelt vor allem am Nacken und an Armen und Beinen. Die Muskelbäuche springen wulstig vor. Die Kraft der Arme und Beine ist daher auch eine sehr beträchtliche. Die Haut entspricht völlig dem Aussehen eines brünetten Indi- viduums, zeigt keine abnorme Pigmentation, nur finden sich Arme und Beine ziemlich behaart. Ebenso zeigt sich ein Haarstrich in der Mittellinie des Bauches, der von den Schamhaaren schwächer werdend bis nahe dem Schwertfortsatz aufsteigt. An der Brust sehr spärliche lange Haare, viele Aknenarben. Auch Nacken und Schultern zeigen Behaarung, dagegen sind die Achselhöhlen nur in sehr geringem Grade und Hände, Füße, Stirne gar nicht behaart. Das Kopfhaar ist 36 cm lang, braun, sehr dicht, trocken, wellig und lockig. & Die flachen Mammen, Brustwarzen und Warzen- hof sind von männlicher Beschaffenheit. Die Eöntgen- untersuchung ergibt ein solides, nirgends deformiertes Skelett, größtenteils verknöcherte Epiphysen, so daß die Ossifikation nach bcheuer der „eines 15jährigen Mädchens oder 16jährigen Bur- schen entspricht. Die Sella turcica ist klein. Psychisch überwiegen die weiblichen Charaktereigenschaf- ten Hedwig spielt lieber mit Puppen, .nie mit Soldaten und hat auch sonst mehr Sinn für weibliche Beschäftigungen. Man kann r S!?f?/ d2,ß SiG SiGh Selbst als dem weiblichen Geschlecht zuge- hörig fühlt. Sexuelle Bevorzugungen konnten noch nicht beobachtet werden. Ihre Intelligenz entspricht etwa der eines Mäd- chens ihres Alters. Ihr Wesen ist liebenswürdig und heiter, fast nie unfreundlich, doch erzählt ihre Umgebung, daß sie auch recht eigensinnig sein kann und ziemlich leicht weint. Sie ist sehr schamhaft. Wir kommen nun zu den Genitalien, über die wir unter andern eine genaue Befundaufnahme von Prof. Halb an in Wien besitzen. Von den äußeren Genitalien habe ich von Prof. Benninghoven einen Wachsabdruck (Moulage) anfertigen lassen. Die großen Scham- ippen zeigen die normale weibliche Form, ohne skrotale Quer- lalscnung und Kremasterreflex; die gleichfalls weiblich gebildeten III. Kapitel: Frühreife Labia minora umschließen den Eingang zur Vagina, welche »durch ein ringförmiges Hymen abgeschlossen ist. Bas Hymen ist für den Fhiger dnrchllssig. Man dringt in eine 7 cm lang, ^Scheide. Damm- wärts ist da« Frenulum labiomm deutlich ausgebildet, nabelwarts ^fassen t Beinen Schamlippen an der Stelle de. " = Penis von 4V2 cm Länge (Clitoris peniformis). ^te oto Spitze der Glans zieht sich durch die ganze ventrale Flache des Gliedes ein Spalt wie bei einem Hypospadiakus. An seinem unteren Ende liegt an normaler Stelle der Vulva die Urethralmundung. Die Harnröhre selbst verläuft von hier aus normal 3 /, cm lang. Am Ende der Vagina fühlt und sieht man mit dem Mutterspiegel eine Portio vaginalis uteri mit einem äußeren Muttermund. Dieser fuhrt in einen kleinfingerdicken derbwandigen Uterus, der mit der Sonde gemessen Vj2 cm mißt. Aus der Vagina sondert sich em glasig-zaher Schleim ab. Es wird berichtet, daß dieser wiederholt etwa alle 6 Monate blutigen Charakter annehme, so daß man Menstruation gefolgert hat. Die Geschlechtsorgane haben typischen Zwittergerucn, hauptsächlich von Smegma praeputii herrührend. Eierstöcke oder Hoden konnten bislang von keinem Untersucher getastet werden, auch nicht von Halb an in tiefer Narkose. Die inneren Beckenmaße fand dieser männlich: Annäherung des Promon- toriums und der seitlichen Beckenwände mit Verengerung des Beckenausgangs. Fassen wiir das Untersuchungsergebnis zusammen, so sehen wir bei dem neunjährigen Kinde: Männlich sind Bart, Kehlkopf, Penis, Mammen, Mus- kulatur, Skelett. Weiblich sind Vulva, Urethra, Vagina, Hymen, Uterus, Psyche. Menstruation unsicher. Alle männlichen Charaktere zeigen eine sehr vorzeitige Ent- wicklung, während die weiblichen der Altersstufe entsprechen. Trotzdem weder männliche noch weibliche Keimdrüsen auffindbar waren, kann aus den gemischten Geschlechtsattributen doch mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ge- schlossen werden, daß innersekretorisch sowohl männ- liche als weibliche Geschlechtsdrüsen wirksam sind. Ob daneben Störungen in der inneren Sekretion der Hypo- physe, Glandula pinealis, Schilddrüse, Thymus, Nebenniere vor- liegen, ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Wir sahen an den bisherigen Beispielen, daß durchgängig mit der genitalen eine körperliche Frühreifung ver- bunden ist. Das Umgekehrte trifft nicht immer zu, indem gar nicht selten im Kindesalter ausgesprochene sekundäre Geschlechtscharak- tere ohne Anzeichen genitaler Keife beobachtet werden können. So hat man namentlich bei Mädchen wiederholt ' volle Brüste, Behaa- III. Kapitel: Frühreife 77 rung der Achselhöhle und der äußeren Scham wahrgenommen, ohne daß bereits die Menstruation eingetreten war. Kußmaul hat Mäd- chen beschriehen, bei denen im kindlichen Alter alle äußeren Ge- schlechtsmerkmale vorhanden waren, nur die Menstruation fehlte. Bei Ploß findet sich die photographische Abbildung eines fünf- jährigen Mädchens, die den Möns veneris und die großen Labien schon voll entwickelt mit dicken langen Haaren besetzt zeigt, während die Mammae noch unentwickelt sind. Menstruiert hatte dieses Kind noch nicht. Bei Knaben ist ähnliches, wenn auch selten konsta- tiert: Stimmwechsel und Bartwuchs in vorpubischem Alter ohne Genitalentwicklung. Einige Male sah ich Kna- ben zwischen 6 und 10 Jahren mit Mammaeentwicklung ohne sonstige Merkmale der Geschlechtsreife. Eine bekannte ziemlich weit ver- breitete, wenn auch in ihrer Entstehung noch keineswegs geklärte Erscheinung ist die Milch drüsenentwicklung bei Knaben kurz nach der Geburt. Ähnlich wie mit der körperlichen, ist es mit der psycho- sexuellen Frühreife, dem Geschlechts empfinden und Ge- schlechts trieb. Sexuelle Libido ist bei geschlechtlicher Prämaturität meist vorhanden, doch kommt sie auch gelegentlich ohne diese vor. Ploß2) und K i s c h 3) geben eine Zusammenstellung von Fällen, in denen in Verbindung mit genitaler Frühreife ein sehr vorzeitiger Sexualverkehr mit Schwangerschaft und Geburt festgestellt wurde: So gebar ein Mädchen, bei dem sich die Menstruation im Alter von einem Jahre einstellte, im zehnten Lebens- jahre (Fall von Montgomery). Ein Mädchen, das mit 9 Jah- ren die ersten Menses zeigte, wurde kurz darauf geschwängert (d'Outrelepont). Der vielangeführte, von Hai ler beschrie- bene Fall, in welchem bei der Geburt bereits die Schamhaare entwickelt waren und im zweiten Lebensjahre die Menstruation ein- trat, weist eine Geburt von 9 Jahren auf. Ein Mädchen, das bei der Geburt gleich entwickelte Schamliaare zeigte, mit 4 Jahren men- struierte, von 8 Jahren an regelmäßig kohabitierte, hat mit 9 Jahren geboren, und zwar eine Blasenmole mit Embryo (Molitor). Ein Mädchen, mit 2 Jahren menstruiert, bei dem sich mit 3 Jahren Scham haare und Mammae entwickelten, ist mit 8 Jahren gravid geworden (Carus). Hierher gehört auch die von Martin er- wähnte Beobachtung aus Amerika, nach welcher eine Frau im 26. Lebensjahre Großmutter geworden war. L a n t i e r erzählt, daß er während seiner Reise in Griechenland einer Mutter von 25 Jahren begegnet sei, welche eine Tochter von 13 Jahren hatte. Fälle von geschlechtlicher Betätigung bei Kindern, 2) Dr. H. Ploß: Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Leipzig. Th. Grieben, s) Prof. Dr. E. H. Kisch: Das Geschlechtsleben des Weibes. S. 83. 78 III. Kapitel: Frühreife die äußerlich keine Zeichen körperlicher Frühreife darbieten, ja so- gar in ihrer geistigen und physischen Entwicklung zurückgeblieben sind, finden sich in der Fachliteratur öfter beschrieben und dürften wohl jedem beschäftigten Sexuologen vorgekommen sein. K r a f f t - Ebing hat den Sexualtrieb bei Kindern als Paradoxia sexu- al is beschrieben, worunter er allerdings nicht nur, wie fälschlich öfter angegeben wird, den im Kindesalter auftretenden Ge- schlechtstrieb verstanden wissen wollte, sondern jeden „Sexualtrieb außerhalb der Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge"^ also auch „den im Greisenalter wiedererwachenden Geschlechtstrieb". Mit Recht unterscheidet Krafft-Ebing bei den sexuellen Manipulationen im vörpnbischien Alter die zahlreichen Fälle, in denen Kinder infolge von Jucken an der Vagina, am Penis und Anus, namentlich bei Würmern und örtlichen katarrhalischen Reizungen an den Geschlechtsteilen spielen — wir kommen auf diese Vor- kommnisse im Kapitel Onanie eingehender zurück — von denen, „wo auf Grund zerebraler Vorgänge ohne peripheren Anlaß beim Kind sexuale Ahnungen und Dränge auftreten". Nur in solchen Fällen könne von einem vorzeitigen Hervortreten des Geschlechtstriebs im Sinne sexueller Paradoxie die Rede sein. Wenn Krafft-Ebing nun aber die Ansicht vertritt, daß diese Regungen stets durch einen „neuro - psycho- pathischen Belastungszustand" bedingt seien, so können wir ihm hier nach unseren Erfahrungen nicht völlig beipflichten, wennschon wir der im völligen Gegensatz hierzu stehenden Auf- fassung der Freud sehen Schule, nach der ausnalimlos bereits allen Kindern ein Geschlechtstrieb innewohnt, erst recht nicht beitreten können. Paradoxe Geschlechtsäußerungen findet man allerdings besonders häufig bei psychopathisch en Kindern, die auch anderweitige Zeichen hochgradiger Degeneration darbieten, doch kommen sie gelegentlich auch bei Knaben und Mäd- chen vor, die einen vollgesunden Eindruck machen, nichts von here- ditärer Belastung erkennen lassen und sich später zu völlig normal- sexuellen Geschlechtswesen entwickeln. Ich will kurz zwei Fälle schildern, von denen der eine in die erste, der andere in die zweite Kategorie fällt. Arno S., ein Knabe von 7 Jahren, wurde mir von seiner Adoptiv- mutter gebracht. Er ist ein uneheliches Kind unbekannter Herkunft, der bis vor kurzem anderweitig in Pflege war. Der Kleine sieht sehr blaß und verkümmert, fast greisenhaft aus. Hutchinsonsche Zähne deuten auf syphilitische Belastung. Geistig ist er für sein Alter ganz gut vorgeschritten. Mehrere Monate, nachdem die Mutter das Kind aus der Pflege geholt hatte, entdeckte sie zufällig, daß Arno an seinem erigierten Gliede rieb. Man paßte nun genauer auf und fand, „daß er es immer treibt, sowie er eine Minute ohne Aufsicht ist". III. Kapitel: Frühreife Im Anschluß an die Onanie ließ der Knabe, der sonst ganz reinlich war öfter Urin und Stuhlgang unter sich. Der Vater, ebenso be- troffen wie die Mutter über diese Wahrnehmungen, fuhr nun auf das Land zu den Leuten, wo Arno früher in Pflege war Dort er fuhr er, daß der Junge bereits im dritten Lebensjahre ertappt wurde „wie er kleine Mädchen unten leckte". Er hätte eine förmliche Gier danach gehabt; die Leute haben zwei Mädchen von 5 und 6 Jahren feststellen können, bei denen der Junge diese Handlungen ausge- führt habe. ö Die neuen Eltern waren über diese Entdeckung entsetzt, noch mehr als sie nun auch bei genauem Aufpassen dahinter kamen daß Arno, bereits während er bei ihnen war, bei zwei Mädchen Unnihnctio vorgenommen hatte. Wie er darauf verfallen sei ließ sich nicht feststellen. Als man ihn nach dem Grunde seines selt- samen Gebarens fragte, antwortete er nur: „Das ist schön, das tut gut . Das Kind wurde V» Jahr von mir psychisch und hygienisch- diätetisch behandelt. Es scheint, als ob die Neigung zur Cunnilinctio seit den letzten 3 Monaten nachgelassen hat; ob sie dauernd auf- gehört hat, steht noch dahin. Onanistische Manipulationen kommen noch vor, wenn auch seltener. Können wir in diesem Falle wohl eine sexuelle Paradoxie auf degenerativer Grundlage annehmen, so möchte ich in dem fol- genden, den ich schon vor 15 Jahren beobachtete, schon deshalb nicht daran glauben, weil die Personen, um die es sich hier handelt, aus ganz gesunder Familie stammend inzwischen selbst schon blühende Kinder hervorgebracht haben und außer ihren sexuellen Verfehlungen keinerlei geistige oder körperliche Minderwertigkeit wahrnehmen ließen. Im Jahre 1901 suchte mich in Charlottenburg ein tief- erschüttertes Ehepaar auf. Sie hatten entdeckt, daß zwischen ihren beiden Kindern, einem Mädchen von 15 und einem Knaben von 12 Jahren ein reger sexueller Verkehr stattfand. Nachdem die Mutter zufälligerweise in der Nacht beide in actu überrascht hatte, war der Knabe vom Vater in ein strenges Verhör genommen und hatte iolgendes Geständnis abgelegt: Bereits vor 4 Jahren sei die Schwester erstmalig nachts zu ihm ins Bett gestiegen, hätte sein Membrum durch Titillationen erregt und ihn veranlaßt, an ihrer Vagina das gleiche zu tun. Das hätte sich dann sehr häufig wiederholt, bis sie dann spater zu regelrechten Kohabitationsversuchen übergegangen seien, die nun schon seit Jahren fast jede zweite oder dritte Nacht erfolgten. Vom prophylaktischen Gesichtspunkt aus ist erwähnenswert, daß die Kinder Gelegenheit gehabt hatten, den ehelichen Ver- kehr d e r E 1 1 e r n m i t a n z u s e h e n. Die Untersuchung zeigte so- wohl bei der deflorierten Schwester, als bei dem Bruder deutliche geni- tale Reizerscheinungen. Die erschrockenen Eltern nahmen sogleich 80 ni. Kapitel: Frühreife eine sehr energische Trennung der Geschwister vor. Das Mädchen wurde für mehrere Jahre in ein ausländisches Pensionat gebracht; als sie von dort zurückkehrte, kam der Bruder in Pension. Zwischen beiden trat infolgedessen eine gToße Entfremdung ein, die bei dem etwas sexual- hypochondrischen Bruder in großen Haß umschlug, so daß er sich beispielsweise nicht entschließen konnte, der Hochzeit der Schwester beizuwohnen. Erst im letzten Jahre — ich habe die Familie als Arzt dauernd im Auge behalten können — erfolgte anläßlich der zum Tode führenden Erkrankung des Vaters eine gewisse Annähe- rung der Geschwister. Steht dieser Fall auch, wie aus der Literatur erhellt, nicht einzig da, so bildet er doch einen großen Ausnahmefall. Den Kindern ganz im allgemeinen inzestuöse Neigungen zuzuschreiben, wie es die Freudsche Schule tut, halte ich mit Marcuse4) für eine völlig abwegige Auto- und Alterosuggestion, wennschon sowohl in der Elternliebe, als in der Geschwisterliebe eine leicht erotische, als solche nicht ins Bewußtsein dringende Unter Strömung und selbst bewußte Überschreitungen der Inzestschranken häufiger sein mögen, als meist angenommen wird. Ohne hier noch weitere Beispiele von infantiler Sexualität anzu- führen, sei nur noch bemerkt, daß man analoge Vorkommnisse auch in der Tierwelt beobachtet hat. So zitiert Moll5) die Mitteilung Westons von einem sechs Wochen alten Fohlen, das bereits bei seiner Mutter aufzuspringen pflegte. Drei Monate alt wurde es durch Bespringen von Fohlen und Kälbern derart gefährlich, daß es kastriert werden mußte6). Die seelische Frühreife zeigt sich von der sexuellen Früh- reife unabhängig. Die meisten Kinder mit vorzeitig er- Avachtem und betätigtem Geschlechtstrieb wiesen geistig nicht mehr als eine gute Durchschnittsbegabung auf, ja von vielen wissen wir, daß sie erheblieh dahinter zurückblieben. Letzteres trifft noch in höherem Maße bei der frühzeitigen Entwicklung der primären und sekundären Geschlechtscharaktere zu. Hier finden wir sogar verhältnismäßig häufig eine an Schwachsinn grenzende Geistesverfassung vor. Auf der anderen Seite sehen wir Fälle psychischer Frühreife, bei denen weder der Geschlechtstrieb, noch die Geschlechtsteile dem geistigen Entwicklungsgrade, sondern durchaus dem Alter des Kindes ent- sprechend sind. «) Vgl. Max Marcuse: Vom Inzest. A. d. Sammlung juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Halle. Marhold. s) Dr. Albert Moll: Das Sexualleben des Kindes. S. 110. «) Referat im Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Erkrankungen des Urogenitalapparates II. Jahrgang, Berlin 1907. Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahr Tafel XIV. Hirschfei d, Sexualpathologie. I. A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn. Iir. Kapitel: Frühreife 81 Allerdings ist das Sexualleben sogenannter Wunder- kinder bisher noch so gut wie unerforscht; auch über die eigent- lichen Ursachen ihrer phänomenalen Begabung ist wenig bekannt. Nur eins wissen wir, daß nämlich ihre erstaunliche geistige Früh- reife meist eine recht einseitige ist. Besonders häufig ist die künstlerische Frühreife, unter der wiederum die musi- kalische obenan steht, der dann die zeichnerisch-malerische Begabung folgt. Wir Deutschen besitzen hier in Wolfgang Amadeus Mozart und Albrecht Dürer zwei klassische Beispiele. Dürers Selbstbildnis aus dem dreizehnten Lebensjahr — es befindet sich in der Albertina zu Wien — dem er eigenhändig den Vermerk bei- fügte: „Das hab ich aus einem Spiegel nach mir selbst konterfeit im Jahre 1484, da ich noch ein Kind war", gibt noch jetzt davon Kunde, welche hohe Kunstfertigkeit der Knabe bereits besaß, als er sich aus Liebe zur Malerei dem Wunsche des Vaters, Goldschmied zu werden, so beharrlich widersetzte. (Tafel XIV.) Uber musikalische Wunderkinder äußerte sich einer unserer größten Virtuosen, der selbst als Wunderkind aufgetreten ist, zu Adolf Heß7): „Wunderkinder geben bis zum 14., 15. Lebensjahre, bis die eigene künstlerische Psyche in ihnen erwacht, ausnahmslos eine Nachahmung dessen, was der Lehrer ihnen beigebracht hat. Das geschieht oft so geschickt, daß man es für Eigenes hält. Tat- sächlich ist es der Lehrer, der aus ihnen spricht. Wenn dann die eigene Psyche sich regt, tritt eine Periode des Stillstandes, der Überlegung, der Unsicherheit ein. Während man früher ahnungslos im Zustande der Unschuld über alle Schwierigkeiten glatt hinweg- gekommen ist, fängt man jetzt an zu überlegen: Geht es? Wird es dir gelingen? Und die Folge ist Unsicherheit. Diese Periode dauert drei, vier Jahre, bis der Künstler sich gefunden hat. Dann kehrt die Sicherheit in erhöhtem Maße wieder.'' Nächst f rühreifen Musikern und Male r n findet man unter den Wunderkindern am häufigsten die Rechenkünstler, demnächst diejenigen, die schon in ungewöhnlich frühem Alter lesen lernten oder mehrere Sprachen vollständig beherrschten. Unter den letzten seien als Beispiele das Lübecker und das fränkische Wunderkind genannt, die beide fast gleichzeitig geboren wurden: Christian Heinrich Heineken zu Lübeck am 6. Februar 1721 und am 19. Januar desselben Jahres J ohann Philipp Baratier zu Schwabach in Franken. Der kleine Heineken hatte bereits, ehe er ein Jahr alt war, „die vor- nehmsten Historien in den 5 Büchern Mosis nach der Ordnung ') Vgl. Ä. Heß: „Arthur Nickisch über Krieg und Musik" im Berliner Tageblatt vom 15. August 1916 (Nr. 416). Hirschfeld, Sexualpathologie, I. Q 82 III. Kapitel: Frühreife gelernt". Mit 2xIz Jahren kannte er außer der jüdischen Geschichte die der Griechen und Kömer, Ägypter, Assyrer und Perser so genau, daß er auf alles, was man ihn darüber fragte, Bescheid geben konnte. In einem Bericht8) über den Stand seines Wissens im 4. Lebensjahre heißt es: „Das Kind konnte nun gedruckte und geschriebene Sachen lateinisch und deutsch lesen. Schreiben konnte es noch nicht; seine Fingerchen waren zu schwach dazu. Das Einmaleins konnte es in und außer der Ordnung hersagen. Auch zu numerieren, subtra- hieren, addieren und multiplizieren vermochte es. Im Französischen kam es so weit, daß es ganze Historien in dieser Sprache erzählen konnte. Im Latein lernte es über 1500 gute Sprüche aus lateinischen Autoren. Plattdeutsch hatte das Kind von seiner Amme, von der es nicht lassen wollte, gelernt. In der Geographie fuhr es fort, das Merkwürdigste eines jeden auf der Landkarte stehenden Ortes zu fassen." Es lebte in dieser Zeit noch immer von der Milch seiner Amme; gegen andere Speisen hatte es einen instinktiven Wider- willen. Als der Knabe 31/* Jahre alt war, kam er durch einen lang- wierigen Durchfall stark herunter. Man verordnete ihm eine See- reise, die auf seinen Wunsch von Lübeck quer über die Ostsee nach Kopenhagen ging. Als ihn hier der König in Audienz empfing, hielt er erst eine längere An spräche, verlangte dann nach seiner Amme und sog. Dann folgte eine Unterredung, in der die außerordentlichen geschichtlichen und geographischen Kenntnisse des schwächlichen Knaben ebenso wie die daran ge- knüpften Bemerkungen allgemeinste Bewunderung hervorriefen. Nach der Rückkehr in die Heimat kränkelte er weiter und starb im Alter von vier Jahren und vier Monaten. Auch das fränkische Wunderkind wurde nicht alt. In einem Bericht über ihn heißt es9): „Er lernte in seinem dritten Jahre fertig lesen; im fünften sprach er mit Fertigkeit Deutsch, Lateinisch und Französisch. Mit gleicher Fälligkeit lernte er Griechisch und Hebräisch. Elf Jahre alt übersetzte er die Reisen des Rabbi Ben- jamin und begleitete seine Übersetzungen mit Anmerkungen und Abhandlungen. Im zwölften Jahre studierte er Philosophie, Mathe- matik und Kirchengeschichte, im vierzehnten Jahre war er bereits Magister. Er starb im zwanzigsten Lebensjahre verwelkt und lebenssatt." In unserer Zeit erregte das Braunschweiger Wunderkind Otto P ö h 1 e r — geboren am 20. August 1892 als einziges Kind des Schlächtermeisters Pöhler zu Braunschweig ■ — großes Aufsehen. Einem wissenschaftlichen Berichte, den Professor Dr. Stumpf in 8) Vgl. J. II. Campe, Allgemeine Revision 5. Teil: Uber die große Schädlich- keit einer allzufrühen Ausbildung des Kindes. Wolffenbüttel 1786. 9) Gregor Schmutz: Wunderkinder. S. 20. III. Kapitel: Frühreife 83 Berlin über Otto, als er 4 Jahre alt war, lieferte, entnehmen wir folgende Stellen: „Er ist körperlich nicht stark, aber auch nicht schlecht entwickelt. In dem zierlichen Gesicht fesseln kluge, leb- hafte Augen, die beim Nachsinnen einen merkwürdig ernsten kon- zentrierten Ausdruck annehmen. Eine beständige Unruhe, haupt- sächlich der Ausfluß eines munteren Naturells, hält den ganzen Körper in Bewegung, wenn nicht Zureden oder gespannte Aufmerk- samkeit entgegenwirkt. Seine größte Leidenschaft ist noch immer das Lesen. Das Wich- tigste in der Welt sind ihm historische», biographische und geo- graphische Daten. Er kennt die Geburts- und die Todesjahre vieler deutscher Kaiser, auch vieler Feldherren, Dichter und Philosophen, zumeist sogar auch Geburtstag und Geburtsort; ferner die Haupt- städte der meisten deutschen Staaten, die Flüsse, an denen sie liegen u. dgl. Er weiß Bescheid vom Anfang und vom Ende des dreißig- jährigen und des siebenjährigen Krieges, von den Hauptschlachten dieser und anderer Kriege. Das alles hat er sich nach Angabe der Mutter ohne fremdes Zutun durch das emsige Studium eines patrio- tischen Kalenders' und ähnlicher im Hause vorfindlicher Literatur, auch durch Entzifferung von Denkmalsinschriften, wofür er be- sonders Leidenschaft hat, angeeignet. Als ihm auf zwei verschie- denen Blättern nacheinander zwölf stellige Zahlen gezeigt wurden, die sich nur durch eine der mittleren Ziffern unterschieden, las er sie sogleich als Milliarden und konnte dann, ohne die Blätter wieder anzusehen, mit Sicherheit angeben, worin der Unterschied lag. Sein vorzügliches Gedächtnis setzt ihn auch in den Stand, nicht nur Drucksorten sehr verschiedener Art, sondern auch eigenartige und schlechte Handschriften zu lesen. In Ergänzungen von Ab- kürzungen zeigt er einen besonderen Scharfsinn. So konnte er den abgekürzten Satz : ,In d. großen Schi, bei L. 18. X. 18 . . wurde Nap. besiegt', vollständig entziffern und fügte noch bei, ,da wurde Blücher Feldmarschall und Schwarzenberg — der war Generalf eldmarschall'. Der Knabe liest unheimlich schnell. Er überfliegt sofort einen ganzen Satz, und wenn er laut liest, verschluckt er oft massen- weise Silben und Wörter, um vorwärts zu kommen. Röchlings Bilder- buch mit kurzem Text über den ,Alten Fritz' hatte er in kaum 10 Minuten mit wahrer Gier verschlungen, dessenungeachtet konnte er einige von den Geschichten wörtlich wiedergeben." Nach meinen Erkundigungen hat Otto P ö h 1 e r , der Ostern 1910 die Universität bezog und sich gegenwärtig als Soldat im Felde befindet, auch später gute geistige Fortschritte gemacht, wenngleich nicht dermaßen, daß er den Durchschnitt in besonders auffälliger Weise überragte. Eine sehr einseitige Begabung und wenig günstige Ent- wicklung pflegen die jugendlichen Rechenkünstler zu zeigen, die 6* unter den Wunderkindern eine ziemlich umfangreiche Gruppe bilden. Einer, den ich persönlich kennen lernte, war Jaques Inaucli. Er stammte aus Piemont, wo er am 13. Oktober 1867 geboren war. Seine Eltern waren mittellose Analphabeten. Der Vater ernährte notdürftig die Familie als wandernder Musikant. Um mitzuverdienen wurde Jacques mit drei Jahren Schafhirt. In diesem Berufe er- wachte in ihm ein immer stärkerer Drang, sich mit Zahlen zu beschäftigen. Er zählte alles Erdenkliche, gelangte so von ganz allein zur Addition und Multiplikation, darauf auch durch Hinweise seines Bruders zur Subtraktion und Division und erwarb sich binnen kurzer Zeit eine solche Fähigkeit im Kopfrechnen, daß er bereits mit 7 Jahren alle Zahlenaufgaben und Übungen beherrschte, die später das größte Erstaunen^ seiner Beobachter hervorriefen. Der Fainilienuber- lieferung gemäß zog er in diesem Alter in Gesellschaft seines Bruders mit einer Drehorgel und einem Murmeltier nach Südfrank- reich und sammelte Almosen. Um mehr Gaben einzuheimsen, gab er auch Proben seiner Kechenkunst. Als diese einmal ein Kaufmann in Marseille mit anhörte, war er so überrascht, daß er dafür sorgte, daß Jacques in eine Unterriehtsanstalt kam. Er bereitete aber seinem Gönner und seinen Lehrern eine bittere Enttäuschung, indem man ihm kaum das Schreiben der Ziffern beibringen konnte, geschweige denn daß er imstande war, Orthographie, Naturkunde, Geschichte und Geographie oder gar Geometrie und Algebra zu erlernen. Dafür ver- mochte er aber in wenigen Sekunden die schwierigsten Kechen- exempel mit 4- und östelligen Zahlen zu lösen, selbst in lärmendster Ump.' bung, konnte nach einmaligem Anhören 25 Zahlen aus dem Gedächtnis wiederholen, während normal veranlagte Menschen sich nicht mehr wie 6 — 7 merken können und brachte es fertig, am Schluß der Vorstellung alle Aufgaben und Lösungen, die man ibm gestellt hatte, bis an 40 0 Zahlen, aus dem Kopfe schnell nacheinander aufzusagen. Ebenso unfähig, wie Inaudi, zeigte sich in der Erwerbung geordneten elementaren Wissens ein ihm sehr ähnliches Wunder- kind, sein Zeitgenosse (geb. 1873) Moritz Fr an kl aus Fünf- kirchen, der bereits mit 6 Jahren die Frage: „Wieviel Se- kunden zählen 971 Jahre t" mit unglaublicher Geschwindig- keit beantwortete. Nachdem er einige Jahre durch sein unüber- treffliches Kopfrechnen, wie Ziehen von Quadrat- und Kubik- wurzeln aus 7— 8stelligen Zahlen, Erheben von Zahlen im Kopf zur 4. und 5. Potenz, die Mitwelt verblüfft hatte, ergab er sich einem förmlichen Yagabundenleben, wurde Gewohnheitsdieb, kam in ein e ! rrenanstalt nach Budapest, ging später nach Amerika, wo er völlig verkam und in noch jugendlichem Alter verstarb. Ein anderer ilcrhenkünstler, Job. Mark Zacharias Dase (1824—1861) 85 war Epileptiker, wieder ein anderer, der berühmte Colburn, der mit 6 Fingern und 6 Zehen zur Welt kam, ging gleichfalls elend zugrunde. Er sah beim Kopfrechnen die Zahlen, mit denen er rechnete, plastisch vor sich. — Bis zu welchen wunderbaren Fähig- keiten es diese Kinder bringen, zeigte neuerdings ein kleiner Tamilen- junge, namens Arumugam, der im Jahre 1912 in der Ceylon- sektion der Koyal Asiatic Society in Colombo vorgestellt wurde. Man stellte ihm folgende Aufgabe, die er, kaum ausgesprochen, richtig beantwortete: „Ein Kaufmann gibt einen großen Schmaus und be- wirtet dabei 173 Gäste mit je einem Scheffel Reis. Von jedem Scheffel sollten aber 17% der Körner an den Tempel abgegeben werden. "Wieviel Reiskörner erhielt der Tempel, wenn jeder Scheffel Reis 3 431272 Körner enthielt?" Binnen 3 Sekunden gab der Knabe in seiner Tamilensprache, die dann ins Englische übersetzt wurde, die Antwort: 100 913 709 mit einem Rest 52. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die sich namentlich unter den mathematischen Weltgrößen, wie Gauß und Ampere finden, zeigen die Rechenkünstler neben dem in ihren Kinderjahren auftretenden ungeheuren Zahlengedächtnis so kümmerliche Geistes- gaben, daß man bei ihnen nicht ohne Berechtigung geradezu von einem angeborenen Schwachsinn gesprochen hat. Nach unseren bisherigen Erfahruugen kann man die psychisch abnorm Frühreifen in folgende vier Gruppen teilen: a) in solche, die nach enormer Geistesentwioldung früh ein- gehen, wie Heineken und Baratier ; b) in solche, die bei phänomenaler einseitiger Begabung bald nach der Pubertät geistig entarten, wie Inaudi und Frankl; c) in solche, die früh eine erstaunliche Geisteshöhe erklimmen und auf dieser verharren, bis ihr Alter und ihre Geistes- leistung sich ungefähr wieder entsprechen, wie P ö h 1 e r ; d) in solche, die sich zu Genies weiterentwickeln, wie Mo- zart und Dürer. Sektionsberichte über Wunderkinder liegen bisher noch nicht vor. Wir sind daher auch nicht in der Lage, zu entscheiden, ob es sich ebenso wie bei den anderen Formen der Früh- reife um innere Sekretionsanomalien handelt, oder lediglich um eine Überentwicklung gewisser Hirnteile, in diesem Falle dann sicherlich vielfach auf Kosten anderer Gekirnpartien. IV. KAPITEL Sexualkrisen Inhalt: Evolutions- und Involutionsperioden — Physiologische und pathologische Wirkung genitaler Vorgänge auf den Organismus — Der nervöse, vegetative, chemische und psychische Zusammenhang zwischen den Geschlechts- drüsen und dem übrigen Körper — Die spezifische Reaktivität auf die Sexual- hormone — Sexuelle Rhythmen — Physiologische Pubertätserscheinungen — Neurosen und Psychosen der R e i f e z e i t — Dauer und Prognose pubischer Leiden — Die Nachreife — Veitstanz, Tiks und Stottern — Das Erröten — Migräne, Ab- senzen und Epilepsie — Drangzustände Jugendlicher (Dromomame, Dipsomanie, Pyromanie, Kleptomanie, Exhibitionismus) _ Die p s y e h o p a t hi s c h e K o n s 1 1 1 u - tion — Pathologische Phantasten und Schwindler — Jugendliche Exal- tiert e , Idealisten und Weltbeglücker — Verstandes mäßige und gefühls- mäßige Unausgeglichenheit — „Liebeshaß" — Hysteriker, Selbstmorder und Verbrecher im Alter der Pubertät — Begutachtung eines jugendlichen Diebes — Begutachtung eines Deserteurs — Erotisch betonte Degenerations- typen unter Zuhältern und Prostituierten — Geistesschwache und geistig hochstehende Psychopathen — G e s c hl e ch t s d r ü s e n s e k r e 1 1 o n und De- mentia praecox — Veränderungen im Zentralnervensystem beim Nachlassen und Aufhören der Sexualfunktion — Vasomotorische Störungen der Wechseljahre — Neuralgische Sensationen im Rückbildungsalter — Die Mastodyme — Der genitale Pruritus — Das sogenannte „gefährliche Alter" — Klimakterische Psychosen — Schilderung einer klimakterischen Paranoia — Clim- acterium virile — Menstruelle Befindungsstörungen — Toxische und vasomotorische Menstruationseinflüsse — Verdrießliches und erregtes Wesen von Menstruierenden — Menstruelle Zwangs- und Drang zustände — Be- engung des Geistes zur Zeit der Menstruation — Menstruierende vor Gericht — Rudimente menstrueller Störungen bei M ä n n e r n — Das Drüsen- und Nervenleben schwangerer und gebärender Frauen — Generationspsychosen — Die Wut der Gebärerinnen — Notwendigkeit der Hinzuziehung von Sachverstan- digen in jedem Fall von Kindesmord — Py cho pathi sehe Wöchne- rinnen — Psychosen der Stillzeit — Wirkung unehelicher Schwanger- schaf t e n auf ein labiles Nervensystem — Freisprechung eines wegen kriminellen Aborts angeklagten Mädchens. Wie der Geschlechtsdrüsen a u s f a 1 1 den Gesamtorganismus durch Ausfallserscheinungen im negativen Sinne beeinflußt, so entfalten die p ositiv en Veränderungen, die sich so mannigfach in den männlichen und weihlichen Geschlechtsdrüsen abspielen, eine in den Körper weitausstrahlende positive Wirksamkeit. Diese Wirkun- IV. Kapitel: Sexualkrisen 87 gen sind teils physiologischer, teils pathologischer Natur. Mit den letzteren wollen wir uns nun in diesem Abschnitt beschäftigen. Früher nahm man an, daß die Allgemeinstörungen, die in den Zeiten sexueller Evolutions - und Involutions perioden auftreten, im wesentlichen auf nervöse, also reflektorische Zusammenhänge zurück- zuführen seien, eine Vorstellung, die auch heute noch bei manchen dieser Leiden vorherrscht, beispielsweise bei der Angstneurose und vielen Erscheinungen, die in das Gebiet der Hysterie und Ovarie fallen. Später neigte man zu der Auffassung, daß die eingreifenden Vorgänge und Umwälzungen im Genitalapparat an und für sich bei vielen in so erheblicher Weise eine Schwächung des Körpers und der Seele hervorrufen, daß dadurch die krankhaften Folgeerschei- nungen, wie etwa die Pubertätsbleichsucht der jungen Mädchen oder die Puerperal- und Laktationspsychosen entständen. Heute suchen wir auch bei den in ihrer Bedeutung sehr ver- schieden zu bewertenden Entwicklungsstörungen in dem inneren Chemismus die wesentlichsten Ursachen. Es ist aber neben den angeführten Zusammenhängen, die sich durchaus nicht ausschließen, sondern sehr wohl nebeneinander wirksam sein können, noch ein viertes nicht zu übersehen, der reinpsychische K au sal- nexus. Kufen doch bewußt und unbewußt die sich in den Genitalien abspielenden Vorgänge eine solche Fülle von Vorstellungen, Emp- findungen und Gedanken hervor, daß man es wohl verstehen kann, wenn diese bei Individuen, die neuropathisch und psychopathisch disponiert sind, leicht zu allerlei nervösen und seelischen Stö- rungen Veranlassung geben. Wenn wir uns allerdings die Frage vorlegen, warum kommt es das eine Mal in diesen kritischen Perioden zu so weitgehenden Verödungen und Verblödungen im Seelenleben, wie etwa zu der Dementia praecox, während ein anderes Mal nur im Vergleich dazu kaum beachtenswerte Affektschwankungen, Exaltationen und Depressionen vorhanden sind, so müssen wir wieder zu dem Aller- weltsbegriff der Disposition, der Anlage, unsere Zuflucht nehmen, der auch aushilft, wenn wir zunächst einmal ergründen wollen, weshalb es unter den Hunderttausenden, die den gleichen evolutionistischen Einflüssen unterworfen sind, doch immer nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil ist, der erkrankt. Wir müssen eben annehmen, daß der gesunde, kräftige, widerstandsfähige Organismus den von den Geschlechtsdrüsen ausgehenden Wirkungen gewachsen ist und auf sie in der Breite des Physiologischen reagiert, während die pathologische Wirkung nur bei einem von vornherein erblich be- lasteten und deshalb empfänglicheren spezifisch reizbaren Nervensystem eintritt. Unter den in Betracht kommenden kritischen Zeiten auf- und absteigender Entwicklung steht obenan die Reifezeit, in der mit SS IV. Kapitel: Sexualkrisen der äußeren Sekretion der Geschlechtsdrüsen auch die innere Sekretion einsetzt. Diese Pubertätsperiode ist für das männliche Geschlecht eine kritische Zeit erster Ordnung und auch für das weibliche erweist sie sich von einschneidender Bedeutung. In der Rückbildungsperiode, dem Klimakterium, treten nervöse und psychische Störungen vor allem bei der Frau auf, aber auch beim Manne fehlen sie nicht gänzlich. Sie siud aber bei ihm viel seltener und milder, weil bei dem männlichen Geschlecht ein der Menopause analoges Nachlassen und Erlöschen der Geschlechtsdrüsenfunktion nicht vorhanden ist. Die regelmäßige Eireifung und -abstoßung von den Puber- täts- bis zu den Wechseljahren, die Ovulation mit der eng mit ihr verbundenen Menstruation ist ein weiterer Vorgang der Evolution und Involution, der immer wieder tief in das Gesamt- befinden des Weibes eingreift, um so nachhaltiger, je weicher und labiler ihr Nervensystem an und für sich ist. Beim Manne kennen wir eine so ausgesprochene Periodizität nicht, wenngleich sicherlich auch sein Organismus einer auf- und absteigenden Sexual- welle unterworfen ist, ob allerdings in so festen zyklischen Rhythmen, wie dies Wilhelm Fließ vertritt, wagen wir nicht zu entscheiden. Die schwersten nervösen und psychischen Alterationen rufen beim weiblichen Geschlecht indessen diejenigen sexuellen Vorgänge hervor, die ihm ausschließlich zukömmlieh sind: die Be- brütung des befruchteten Eies unter Sistierung weiterer Eier- absonderung, die Ernährung der Frucht, sei es im Mutterleibe oder an der Mutterbrust, mit anderen Worten, die Ereignisse der Schwangerschaft, der Geburt, des Wochenbettes und der Laktation, zusammenfassend auch Generationszeiten genannt. Unter Zugrundelegung dieser örtlichen G.enital- schwankungen und der von ihnen abhängigen Sym- ptomenkomplexe können wir die Evolutions- und Involutions- störungen wie folgt einteilen: a) Pubertätskrisen (Neurosen und Psychosen der Reife- zeit). b) Klimakterische Krisen (Neurosen und Psychosen der Wechseljahre). c) Menstruationskrisen (Neurosen und Psychosen der Monatsregel). d) Schwangerschaftskrisen (Neurosen und Psychosen der Gravidität ). e) Puerperalkris e n (Neurosen und Psychosen des Wochen- betts). f) Laktationskrisen (Neurosen und Psychosen der Still- zeit). IV. Kapitel: Sexualkrisen 89' Die nervösen nnd seelischen Störungen der Pubertät fallen in die Zeit, in welcher der Knabe zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau ausreift, einen Zeitraum, der sich stets über eine Reihe von Jahren erstreckt, bei jungen Männern oft sogar nahezu ein Jahrzehnt, etwa die Spanne vom 12. bis 22. Lebensjahre in Anspruch nimmt. Mit der in diese Periode fallenden von der inneren Se- kretion abhängigen Entstehung männlicher und weiblicher Ge- schlechtscharaktere zweiter, dritter und vierter Ordnung, derjenigen also, die den Körperbau, den Geschlechtstrieb und das Seelenleben angehen, verändert sich die Persönlichkeit des Men- schen in sehr hohem Grade. Sind es auch nur die im Kinde bereits gegebenen körperlichen und seelischen. Anlagen, die sich in dieser Zeit des Erblühens aufschließen und entfalten, so dringen sie doch erst von nun ab in das Bewußtsein, erhöhen das Selbstgefühl, die Selbständigkeit und auch die Selbstsüchtigkeit des Menschen und verleihen ihm mehr und mehr das ihm eigentümliche Gepräge, den Charakter. Zum Erstaunen ihrer Umgebung geben die noch vor kurzem sich bescheiden im Kreise der Erwachsenen zurückhaltenden „Wachs- tümer" (wie man sie in manchen ländlichen Gegenden Pommerns nicht übel nennt) plötzlich eigene Urteile ab, sie fühlen sich und „spielen sich auf", „tun sich wichtig", wie die Eltern dann wohl zu sagen pflegen, und reden über alles mit. Im bis dahin jungenhaft sieh gebärdenden Mädchen tritt immer mehr das Weibliche, im mädchen- haft weichen Jungen immer deutlicher das Männliche zutage. Gleich- zeitig „reißt sich vom Mädchen stolz der Knabe", und auch das Mäd- chen zieht sich schamhaft vom Knaben zurück, allerdings beide nur äußerlieh, um alsbald innerlich einander um so heftiger zu begehren. Ehrgefühl und Schamgefühl wachsen, Empfindsamkeit und Erreg- barkeit nehmen zu, bald herrscht ein schwärmerisches, träumerisches, Idealen nachjagendes Wesen, bald Unternehmungslust, Abenteuer- sucht, Großtuerei vor. Wie die Reizbarkeit steigert sich auch die Ermüdbar- keit; allerlei Dunkles, Beunruhigendes, Unklares erfüllt die Seele, eine schwer überbrückbare Kluft tut sich nur zu oft zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern auf. Das Gehirn arbeitet in dieser Sturm- und Drangperiode meist sehr sprunghaft; weltschmerz- liche Sentimentalität wechselt mit hochgespanntem Überschwang, ungestillte Sehnsucht mit seliger Schwarmgeisterei. Die Phantasie baut Luftschlösser. Der eine fühlt sich bereits als Maler der Zukunft, als bejubelter Dichter oder Musiker, der andere als weltumstürzender Menschenbeglücker, ein dritter als großer Entdecker und Erfinder. Alles aber, was in der Seele brodelt und wirbelt, gärt und kreist, bewegt sich chaotisch um das sexuelle Zentrum; die bald mehr bald weniger bewußte Erotik gibt für das Fühlen, IV. Kapitel: Sexualkrisen Denken, Wollen und Arbeiten jener Zeit den mehr oder minder deut- lichen Unterton ab. .«.-Vi Vergegenwärtigen wir uns dieses mit wenigen Strichen gekenn- zeichnete Bild der physiologischen Pubertätserscheinungen so werden wir begreifen, wie klein von ihnen der Schritt m das Pathologische ist. Dementsprechend ist auch die Abgrenzung zwischen dem, was schon und dem, was noch nicht psyeho- pathisch ist, oft genug recht schwierig. Viele noch normale Er- scheinungen der Pubertät gleichen, wie wir sahen, völlig denen der Neurasthenie im Sinne einer erhöhten Erregbarkeit und Erschopf- barkeit des Zentralnervensystems. Nur stärkere Grade werden wir daher in dieser Zeit als krankhaft ansprechen. Darüber hinaus sind aber der Zeit der Geschlechtsreife eine Fülle leichter unu schwerer Krankheitsformen eigen. Läßt sich auch nicht immer der Beweis erbringen, daß das zeitliche Zusammentraf fen a u c n d a s ursächliche ist, so dürfte in der großen Mehrzahl der lalle doch kaum ein Zweifel möglich sein, daß zwischen den Neurosen und Psychosen der Keifejahre ebenso wie der Wechseljahre und sonstigen E- und Involutionsperioden einerseits und den Veränderungen der Sexualorgane andererseits ein kausaler Zusammenhang besteht. Sehr o-estützt wird diese Annahme dadurch, daß fast allen diesen Leiden, wie freilich oft erst bei ihrer tieferen Erforschung ersichtlich ist, auch eine direkte sexuelle Färbung anhaftet. Hinsichtlich ihrer Zeitdauer und Prognose lassen sich die Leiden der Pubertät in drei Gruppen teilen: Eine Anzahl, wie beispiels- weise der Veitstanz, entsteht und verschwindet nach kürzerer oder längerer Zeitdauer während der Pubertät, andere hören erst mitdemEndeder vielfach dabei etwas in die Lange gezogenen Pubertät auf. Mit anderen Autoren konnte ich bei sehr vielen Psycho- pathen, die sich bis in die Mitte der zwanzig noch höchst ungebärdig, unlenksam und unreif gaben, gegen Ende der zwanzig und Anfang der dreißig eine entschiedene Nachreife feststellen. Für manche dieser Kategorie paßt das Wort, „wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, er gibt zuletzt doch noch 'nen Wem . Eine dritte Gruppe dieser Störungen setzt in der Pubertät ein, nimmt langsam zu und entwickelt sich zu einem das Leben umfassenden Dauerzustand, der sich teils gleich bleibt, teils sich durch An- passung ein wenig bessert, teils 'sich nach und nach verschlechtert, wie es vor allem bei der Dementia praecox die Regel ist. Immer- hin habe ich auch hier Ausnahmen, sogar Fälle scheinbarer Heilung von Dementia praecox gesehen. Wenden wir uns nun den Pubertätsstörungen im e i n z e 1 n e n zu, so ist zunächst der V e i t s t a n z oder die Chorea minor zu nennen, die meist im ersten Beginn der Geschlechtsreife einsetzt. Sie befallt mehr Knaben wie Mädchen. Oft erstrecken sich die Zuckungen nach IV. Kapitel: Sexualkrisen 91 und nach auf alle Muskelgruppen. Oft beschränken sie sich nur auf wenige, beispielsweise im Gesicht, wo sie zu krankhafter Gri- massenschn eiderei führen. Sie tragen dann mehr den Cha- rakter sogenannter T i k s. Nicht selten vergesellschaftet sich der Veitstanz mit Herz af f ektionen (Endokarditis), Gelenk af f ektionen (Arthritis) und psychischen Alterationen, alles Anzeichen, die auf eine toxische Ursache, Störungen im inneren Chemis- mus, hinweisen. Einen tikartigen Charakter trägt auch das auf nervösen Zwangshemmungen beruhende, besonders im pubischen Alter auftretende Stottern. Verschiedentlich sah ich auch in dieser Lebensphase Schluck hemmungen. Ein zwanzigjähriger Psychopath meiner Beobachtung konnte beim Trinken in Gesell- schaft, namentlich beim Zuprosten nicht das aufgenommene Flüssig- keitsquantum — gleichviel ob groß oder klein — herunterbringen, es blieb ihm im Halse „stecken" und führte zu Würgbewegungen. Er litt gleichzeitig an zwangsmäßigem „Abknabbern" der Finger- nägel, einer vielfach zwar schon vor, oft aber auch erst während der Pubertät auftretenden Zwangshandlung von großer Hartnäckigkeit. Bei unserem Patienten verlor sich beides, als er mit 21 Jahren in den Krieg zog. Eine weitere in der Pubertät beginnende nervöse Störung mit sexueller Färbung ist das Rotwerden verbunden mit und in der Hauptsache verursacht durch Errötungsfurcht, unter der viele Jugendliche ungemein leiden. Es quält sie die Vorstellung, daß durch das Erröten etwas verraten wird, was sie schamhaft zu verbergen bemüht sind. Manche erröten stets bei ganz bestimmten Namen, Worten oder Zahlen, andere bei Handlungen, die den meisten ganz gleichgültig sind, wie beim Durch- gang durch ein Restaurant oder beim Fordern gewisser Waren; fast stets aber liegt dem Vorgang eine unbewußte Gedanken- verknüpfung mit erotischen Regungen zugrunde. Einer, der bei der Zahl 18 errötete, hatte eine besondere Vorliebe für Mädchen dieses Alters, ein anderer, der rot wurde, wenn eine Ware 1,75 Mark kostete und sich deshalb im Gasthaus oder Geschäft niemals etwas geben ließ, was mit diesem Preise ausgezeichnet war, litt an homo- sexuellen Regungen. Einige meiner jugendlichen Patienten hatten die Gewohnheit angenommen, wenn die Errötungsfurcht eintrat, Gegenstände fallen zu lassen, nach denen sie sich bückten ; sie wollten das Rotwerden so verbergen oder den Anschein erwecken, als ob ihnen durch das Herabneigen das Blut zu Kopf gestiegen sei. Stellt das Erröten eine Lähmung der Gefäßnerven dar, so beruht ein anderes, häufig in der Pubertät beginnendes Kopf- leiden — die Migräne — meist auf einem Gefäßkrampf. Sie 92 IV. Kapitel: Sexualkrisen findet sich beim weiblichen Geschlecht häufiger, wie beim männ- lichen; ihr erstes Auftreten fällt oft mit der ersten Menstruation zusammen, deren regelmäßiger Begleiter sie dann bis in die Wechseljahre hinein ist. Wohl jeder Arzt hat Fälle von Hemikranie gesehen, die mit Erbriechen, starker Lichtscheu und Benommenheit ganz das Bild einer schweren Intoxikation boten. Alle bisher genannten Nervenleiden werden an Schwere nun aber weit übertreffen von einer Erkrankung des Zentralnerven- systems, die gleichfalls nur allzu häufig über die Schwelle der Pubertät in dias Leben junger Mädchen und Männer tritt, von der Epilepsie. Häufig handelt es sich um die typischen epileptischen Krampfanfälle, die plötzlich einsetzend, nicht selten mit einem gellenden Schrei beginnend gekennzeichnet sind durch völligen Schwund des Bewußtseins, Schütteln und Zuckungen namentlich der Arme und Beine, durch Zungenbiß, Schaumaustritt aus dem Mund, erweiterte, nicht reagierende Pupillen und Urinabgang. Kommen die Kranken zu sich, so besteht entweder noch eine Weile Verwirrtheit, oder es tritt ein tiefer Schlaf ein, oder aber es schließt sich eine innere Unruhe mit heftigem Harndrang an. Bei näherem Nachforschen ergibt sich nicht selten, daß sexuelle Erregungszustände bei Epileptischen eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. So behandelte ich ein achtzehnjähriges Mädchen an starker Epilepsie, die fast jede Nacht von der Vor- stellung gepeinigt wurde, daß nackte Männer auf ihr kauerten oder daß mehrere völlig entblößte Männer mit übergroßem aufgerichteten Gliede in das Zimmer drangen, um sie zu vergewaltigen; eine andere Epileptika — Tochter eines Landwirts — geriet, wenn fremde Männer sich am Tische aufhielten, in eine kaum beherrschbare ero- tische Erregung, in der sie weder sprechen noch essen konnte. Ihrem Wesen nach den epileptischen Anfällen nahe verwandt sind die Absenzen, das „petit mal" der Franzosen. Auch dieses Leiden tritt mit Vorliebe im pubischen Alter auf. Das petit mal verhält sich zur Epilepsie wie der Tik zur Chorea. Es besteht darin, daß meist nur für wienige Sekunden das Bewußtsein schwindet. Die Patienten machen plötzlich im Gehen Halt, der Schirm, oder was sie sonst in der Hand tragen, entfällt ihnen zu Boden oder sie hören mitten im Reden, Schreiben, Klavierspielen, Essen auf, taumeln ein wenig, blicken starr ins Leere, wenden den Kopf zur Seite oder ver- drehen die Augen, zucken mit den Mundwinkeln oder machen zupfende Bewegungen mit den Fingern. Kaum bemerkt sind diese Anfälle oft schon vorüber, die öfter, wenn auch keineswegs immer, mit der Zeit, wie die Epilepsie selbst, zu epileptischer Charakter- veränderung, namentlich Umständlichkeit und Heftigkeit, ja schließ- lich auch zu epileptischer Verblödung führen können. IV. Kapitel: Sexualkrisen. 93 Zu den epileptischen Äquivalenten werden periodische Dämmerzustände, periodische Verstimmungen und periodische Kopf- schmerzen gerechnet, vielfach auch gewisse periodisch e D r a n g - zustände, die in den Entwicklungsjahren zutage treten und den An- gehörigen und Gerichten oft viel zu schaffen machen, wie der Drang, von Hause fortzulaufen („auszurücken", zu „türmen"), abenteuer- liche Reisen zu unternehmen, zu vagabundieren - — die Dromo- manie ■ — , der Drang, sich zeitweise zu berauschen — die Dipso- manie ■ — , der Trieb, Feuer anzulegen — die Pyromanie — , Gegenstände zu entwenden — die Kleptomanie — , oder sich vor anderen zu entblößen: der später noch gesondert zu behandelnde Exhibitionismus. So viele dieser Fälle ich auch schon be- obachten konnte, namentlich von der Dromomanie, der Dipsomanie und dem Exhibitionismus, so sehr sie in der anfallsweisen Peri- odizität, in dem voraufgehenden Angst- und folgenden Entspannungs- gefühl epileptischen Anfällen ähnlich sind, so wenig habe ich mich davon überzeugen können, daß es sich in der großen Mehrzahl der Fälle um ausgesprochene Dämmerzustände handelt. Meines Erachtens handelt es sich in fast allen diesen Fällen um krankhafte Zwangszustände auf dem Boden einer psychopathischen Konstitution. Mit dem Begriff der psychopathischen Konstitution, der nahezu gleichbedeutend ist mit dem der psychopathischen Minder- wertigkeit, der Entartung oder der degenerätiven Belastung, gelangen wir wieder zu einem Sammelbegriff, der unentbehrlich ist für das Verständnis der in der Pubertät zutage tretenden Seelen- störungen. Gewiß läßt dieser Krankheitsbegriff, wie so mancher, an Präzision zu wünschen übrig; er ist sehr allgemein gehalten und nicht scharf abgegrenzt vom Bereich einer gesunden, normalen, physiologischen Konstitution als Gegensatz, und doch können wir ohne ihn nicht auskommen, wollen wir in der Fülle schwankender Erscheinungsformen nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Auch eine präzise Einteilung der psychopathischen Konsti- tutionen stößt auf Schwierigkeiten. Wir werden am besten tun, die hauptsächlichsten Typen herauszugreifen, die in Wirklichkeit frei- lieh selten ganz isoliert vorkommen. Wir beginnen mit den krankhaften Phantasten, deren sprudelndem Gehirn es unmöglich zu sein scheint, in der Wirklich- keit und Wahrheit Genüge zu finden. Diese jungen Leute verfälschen Erinnerungen, fabulieren und geben unbedenklich die seltsamsten Produkte ihrer Pseudologia phantastica zum Besten, nur um sich interessant zu machen oder ein Ansehen zu geben. Viele nehmen an ihren Namen Veränderungen vor, indem sie sich einen Doppelnamen geben (einer der Wolf f hieß, nannte sich Wolf- Wolfenstein) oder sich ein Adelsprädikat vorsetzen oder einen 94 ihnen nicht zukommenden Titel annehmen. Auch absonderliche, fremdländisch klingende Vornamen sind bei ihnen beliebt, wie Mario statt Max, Jonny statt August. Viele rühmen sich ihrer hoch- adligen Verwandtschaft, ihre Mutter stamme aus altem Geschlecht oder sie selbst seien eigentlich illegitime Kinder einer sehr hochge- stellten Persönlichkeit. Andere phantasieren von ihren vor- nehmen und einflußreichen Beziehungen, sie wären gestern bei Ihrer Durchlaucht zum Tee gewesen, es wäre wieder entzückend gewesen, der Großherzog von bürg war auch da und habe sie eingeladen. Manche fabulieren von ihrem Reichtum, was sie nicht hindert, wenige Minuten nachher sich bei der Person, der sie von ihren Schätzen erzählt haben, eine Mark oder Fahrgeld zu borgen; ein Jüngling von 18 Jahren berichtete jedermann von dem berühmten prachtvollen „Familienschmuck" seiner Eltern, der nach Angabe der Mutter in einer ererbten alten Brosche von nur geringem Wert be- stand. Ein anderer, 21 Jahre alt, gab sich als Sohn eines ameri- kanischen „Multimilliardärs" aus, er ging in die ersten Hotels, fragte, was das ganze erste Stockwerk für seinen Vater und dessen Be- gleitung kosten würde, ließ sich die teuersten Zimmer zeigen und entfernte sich mit einer herablassenden Geste. In Wirklichkeit ver- fügt der Milliardärssohn über einen Monatswechsel von 8 0 Mark. Manche schildern in glühendsten Farben ihre Reisen in tro- pischen Ländern, die ihr Fuß niemals betreten hat, einer, dessen Eltern mich aufsuchten, hatte 8 Monate lang ausführliche Feldpost- briefe nach Hause geschrieben, in denen er eingehend die großen Kämpfe schilderte, an denen er teilgenommen hatte, das Leben im Schützengraben, die gefahrvollsten Sturmangriffe. Schließlich stellte es sich heraus, daß er niemals die mitteldeutsche Garnisonstadt ver- lassen hatte, überhaupt seit Monaten nicht mehr Soldat war, er war nach kurzer Dienstzeit als nervenleidend entlassen. Als p a t h o - logischeS chwindler werden die krankhaften Phantasten nicht selten kriminell, indem ihnen Geschäftsleute, Gastwirte, Zimmer- vermieterinnen, die sie durch ihre Erdichtungen täuschen, beträcht- lichen Kredit gewähren. Meistens lassen es die Verwandten aller- dings nicht soweit kommen, was natürlich vom prophylaktisch- therapeutischen Gesichtspunkt nichts weniger als vorteilhaft ist. In anderer Weise wie beim Pseudologen gibt sich die psychische Unausgeglichenheit und Überspanntheit, das desequilibrierte Wesen beim pathologisch Exaltierten kund, den jugend- lichen Querulanten und Weltbeglückern. Auch ihre verstiegene Phantasie schwebt in höheren Regionen, aber es sind utopistische Ideale, denen sie nachjagt, umstürzlerische Ideale in Politik, Tech- nik, Kunst und Wissenschaft. Greift der pathologische Schwindler in der Wahrheit, so greift der patholo- gische Idealist in der Wahrscheinlichkeit daneben. IV. Kapitel: Sexualkrisen 95 In allen Reformbewegungen und Sekten ist dieser Typus vertreten. Bald tritt er uns als Anarchist oder Adventist, bald als Futurist oder Kubist, bald als Mitglied einer Nacktloge oder eines spiritistischen Zirkels entgegen. Ein in diese Gruppe gehöriger Jüngling gründete mit 19 Jahren einen Bund für Menschheitsduldung. Bis zu seinem 20. Lebensjahre schwebten gegen ihn bereits folgende Strafverfahren: wegen § 110, Aufforderung zum Ungehorsam gegen Staatsgesetze — er hatte impfgegnerische Vorträge gehalten - — , wegen Freiheits- beraubung, wegen Achtungsverletzung gegenüber einer militärischen vorgesetzten Behörde, wegen Hausierens im Umherziehen. Alle Ver- fahren wurden eingestellt. Ferner machte er sich verdächtig, weil er in seine Wohnung viele Kinder — Knaben und Mädchen — kom- men ließ, denen er Schularbeiten nachsah und „selbsterdachte Ge- schichten und Märchen erzählte", um sie, wie er sagte „aus der Gefangensehaft fremden Wesens zu befreien". Als diesem Tun schließlich seitens der Schule ein Riegel vorgeschoben wurde, war er so unglücklich, daß Selbstmordgedanken auftauchten. In seinen Aufzeichnungen schreibt er: „Zu den Kindern fühle ich mich im Ver- hältnis einer Mutter. Die natürlichen Eltern sorgen für Leib und Leben; Gefühle und Gedanken der Kinder sind ihnen gleichgültig, oder sie kümmern sich nicht darum. Ich bin ihnen die Mutter ge- wesen, die ihr Fühlen und Denken miterlebte. Mir kam dies so recht zum Bewußtsein, als ich die Beschäftigung mit den Kindern aufgab. Da war mir es so, als hätte mir die Welt meine Kinder geraubt." Über das Geschlechtsleben äußert er sich: „Das wahre Wesen des Menschen, sein Ewiges, ist ungeschlechtlich. Enthaltsamkeit ist das Richtige bis zur Ehe. In der Ehe ist die Vereinigung eine Opfer- handlung zum Schaffen der leiblichen Hülle für das aus seiner geistigen Heimat herabsteigende Wesen." In einem anderen Falle hatte ein Junge von 15 Jahren während des Krieges in großem Umfange folgenden „Aufruf" ver- faßt, unterzeichnet und versandt: „Ihr, die Ihr zurückgeblieben seid, werdet gewiß viele und große Opfer dem Vater- land gebracht haben. Aber Eure Opfer sind doch klein! Das Vaterland braucht jetzt und für die Zukunft eine gesunde, starke und gestählte Jugend. Manches Kind ist krank gewesen und soll sich erholen, aber oft findet es die Erholung nicht. Aus diesem Grunde habe ich mich entsclüossen, eine Anstalt zu gründen. Diese soll sanatorium- artig sein. Hier sollen die Kinder in die Gärtnerei eingeführt werden, und wenn sie gesund sind, aber noch keine passende Position haben, von der Anstalt eine solche besorgt bekommen. Außer in der Gärtnerei sollen die Mädchen im Waschen, Plätten, Fensterputzen usw. unterrichtet werden. Es gibt viele Mädchen, welche im Haushalt nichts tun wollen, wenn sie aber sehen, daß andere sich nützlich machen, so wollen sie dies auch, und wenn sie dann wieder zurück ins Elternhaus kommen, so sind sie der Mutter eine wahre Stütze. Ihr könnt nun das größte Opfer bringen und Eure Wohnung durchsuchen, um alles das, was entbehrlich ist, an untenstehende Adresse zu senden. Z. B. alte Teppiche, IV. Kapitel: Sexualkrisen Bettvorleger, Bettstellen, Betten, Matratzen, Stühle, Tische, Gardinen usw. Da aber die Anstalt erst gebaut werden soll, so ist in erster Linie Geld erforderlich. Darum schafft Geld! Jeder Pfennig ist ein Tropfen des Stromes. Diejenigen Personen, .wie Ärzte, Kochlehrerinnen, Gärtner und Krankenpflegerinnen, die an diesem Werk per- sönlich teilnehmen wollen, werden gebeten, sich bei untenstehender Adresse zu melden. Auch Grundstücksbesitzer, die einen Teil des Grundstückes für diesen wohltätigen Zweck hergeben wollen, mögen sich dort melden. Auch Architekten, die kostenlos Haus- einrichtungen entwerfen wollen, werden gebeten, sich an diese Adresse zu wenden." Dieser Junge wör später auch kriminell geworden. Er hatte auf Postämtern Umschläge von postlagern den Sendungen aufgelesen, die von den Empfängern achtlos beiseite geworfen waren. Diese forderte er dann am nächsten Tage, wie er versicherte „aus Neugierde", ab. Er gibt folgende Schilderung seiner Straftat: „Der Postbeamte gab mir die Postsachen. Hierunter waren auch zwei Postanweisungen, die eine mit 75 Pfennigen, die andere mit 123 Mark. Der Beamte sagte zu mir: Das braucht bloß unterschrieben zu werden. Ohne Be- denken quittierte ich, indem ich den Namen des Empfängers hin- schrieb. Der Postbeamte sagte: „Die Unterschrift nehme ich nicht an." Als ich dieses hörte, las ich mir die Postsachen unterwegs durch und warf diese mit beiden Postanweisungen in den Gulli. Am andern Tage wollte ich wieder die Postsachen abholen. Da wurde ich festgenommen. Ich weiß und wußte nicht, daß es eine straf- bare Handlung war, was ich tat." Überwiegt bei den letztgenannten Psychoneurosen die ver- stau desmäßige die gefühlsmäßige Unausgeglichen- heit, so überragt bei der nächsten großen Gruppe pubischer Neurotiker, den Hysterikern, die Haltlosigkeit des Ge- fühls die des Verstandes. Ohne an dieser Stelle auf das bunt- scheckige Bild der Hysterie einzugeben, sei nur hervor- gehoben, daß bei den jugendlichen Hysterikern weiblichen und männlichen Geschlechts drei Erscheinungen in den Vorder- grund treten: einmal der unberechenbare Stimmungswechsel, der sprungweise zwischen den Extremen höchster Übersehwenglich- keit und tiefster Niedergeschlagenheit ohne mittlere Stimmungs- lagen schwankt, zweitens die bekannten hysterischen Sensa- tionen von selten fehlendem Kloßgefühl im Halse bis zu allen möglichen hysterischen Krämpfen und Lähmungen — besonders häufig begegnet man in der Pubertät dem hysterischen Tremor — und drittens und hauptsächlich das hysterische Gebaren. Dieses ist gekennzeichnet durch eigenwillige Rücksichtslosigkeit, durch Leidenschaftlichkeit — in der Erotik vielfach als Tempera- ment bezeichnet — sowie durch exzentrische Einfälle und Ausfälle. Man kann oft beobachten, daß Hysteriker einen Menschen um so mehr peinigen, je mehr sie ihn lieben. Niemand ist imstande, 97 seiner Umgebung das Leben durch „Liebeshaß"1) in so unerträg- licher Weise zu vergällen, wie der Hysteriker. Erst stoßen sie eine Person durch Vorwürfe, Beschimpfungen, selbst tätliche Angriffe zurück, um sie, sobald sie sich zurückzieht, mit Liebesbezeugungen, Zärtlichkeiten, Versprechungen zu überschütten, sie werfen sich dann hin, schreien, rasen und schrecken vor keinem Aufsehen zurück. Die berühmte Stelle aus der Oper Carmen: „Ja, ich habe sie getötet, meine angebetete Carmen," entspricht so recht der h y s t e r o - erotischen Stimmungslage. Ich habe viele Fälle gesehen, in denen hysterische Männer und Frauen durch schwere Drohungen Liebe zu erpressen suchen; nicht nur, daß sie der geliebten Person ankündigen, sie würden sie töten, sondern oft genug stellen sie ihr auch in Aussicht, sie würden sie, f a 1 1 s sie ihre Neigung nicht erwiderte, unglücklich machen, bloßstellen, anzeigen. Die Differen- tialdiagnose zwischendemreinkriminellenundhystero- sexuellen Erpresser zu ziehen ist oft recht schwierig und nur durch große Erfahrung möglich, die auch lehrt, daß der krank- haft hysterische Erpresser seine Drohungen viel häufiger wahrmacht, wie der gewöhnliche kalt überlegende Erpresser und Chanteur, dem es nur um das Geld zu tun ist. Auch der hysterische Selbstmordkandidat neigt dazu, durch Selbstmordversuche seine mehr oder weniger ernsten Ab- sichten, die er durchaus nicht immer vorher kundgetan hat, in die Tat umzusetzen. Sind wir auch durchaus Plaezeks2) Meinung, daß es neben einem pathologischen einen physiologischen Selbstmord gibt, so haben wir doch allen Grund anzunehmen, daß bei kindlichen und jugendlichen Selbstmördern in der übergroßen Mehrzahl der Fälle eine psychopathische Konstitution vorliegt. Der äußere Anlaß, der in den Selbstmordstatistiken meist als Ursache angeführt wird — schlechte Zensur, unglückliche Liebe — , spielt eine sehr untergeord- nete, meist zufällige Kolle gegenüber der reaktiven, reizbaren, labilen Psyche, auf die es in erster Linie entscheidend ankommt. Gleichwohl besteht aber zu Eecht, wenn Scholz3) schreibt: „Die oft schweren Konflikte zwischen Schamgefühl und religi- ösen Keuschheits vorstellungen einerseits und dem heftigen sexuellen Drängen andererseits bedeuten mitunter für empfindsame und grüblerische Kinder oder Jugendliche harte Kämpfe, die das psychische Gleichgewicht verhängnisvoll gefährden. Einzelne über- winden die Krisis überhaupt nicht und sie gehen zugrunde an dem Konflikt zwischen Ekel und Begierde." 1) Vgl. Gr. Meisel-Heß: „Die sexuelle Krise". Kap. V. Abschnitt: Liebeshaß. 2) Dr. P 1 a c z e k : Selbstmordverdacht und Selbstmordverhütung. Eine Anleitung z\u Prophylaxe für Arzte, Geistliche, Lehrer und Verwaltungsbeamte. Leipzig 1915. 3) Zitiert nach Frau Dr. Gervai: Kindliche und jugendliche Verbrecher. S. 40. Hirschfeld, Sexualpatholog-ie. I. 7 98 IV. Kapitel: Sexual krisen Wenn aber durch die Literatur der Fall hysterischer Kinder geht, die sich das Leben genommen haben, lediglich „umihreElternzu ärgern", so kann ich aus meiner Praxis nur von Fällen berichten, in denen Jungen sich töteten, uin ihre Eltern nicht, oder nicht mehr zu ärgern. So ist mir unter mehreren andern besonders der Freitod eines 18jährigen Jünglings in Erinnerung geblieben, der, wie viele Kinder psychopathischer Konstitution im Grunde sehr gut- mütig war, aber zu Diebstählen bei seinen Angehörigen neigte. Immer wieder entwendete er den Eltern Gegenstände, die er ver- setzte, um den Ertrag mit Genossen zu verbringen. Er hatte ihnen so allmählich ihre sämtlichen Silbersachen, fast alles Hochzeitsge- sckenke, geraubt. G. war zudem exzessiver Onanist, der es täglich 4— 5mal zur Ejakulation kommen ließ. Eines Morgens fanden ihn die Eltern erschossen vor seinem Bette liegend. Der Abschiedsbrief, den er vor die Schlafzimmertüre der Eltern gelegt hatte, lautete wörtlich : „Meine liebe Mutter und lieber Vater. Ich stand jetzt 1 Stunde vor Eurem Schlafzimmer und lauschte, wie Ihr beide so ruhig schlieft. Bei Euren gleichmäßigen Atemzügen umklammerte meine Rechte den Browning, der Euch von mir erlösen soll. Ich habe Euch vielen Verdruß bereitet und Eure Güte schlecht vergolten. Wie es dazu kam, ich weiß es selber nicht. Wenn ich weiterlebe, fürchte ich, daß Ihr auch in Zukunft viel Leid durch mich erfahren werdet. Deshalb will ich Euch das Leben zurückgeben, das Ihr mir geschenkt habt. Nehmt es mir nicht übel. Meine Absicht ist eine gute. Euer Sohn Friedel." Ein Vetter dieses Jünglings tötete sich neunzehnjährig, zwei Monate später unter ähnlicher Begründung. Wie bei den Selbstmördern ist es auch unter den jugend- lichen Verbrechern keineswegs immer leicht, die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit, und bei Krankheit zwischen den ein- zelnen Psychosen wie Hysterie, manisch - depressivem Irresein, Schwachsinn, beginnender Dementia praecox, zu ziehen. Man wird in der Mehrzahl der Fälle sich mit der Sammeldiagnose: psycho- pathische Konstitution begnügen müssen. Da die Untersuchungen Gruhles und anderer ergeben haben, daß unter den jugendlichen Kriminellen ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz krank ist — unter 105 Verwahrlosten fand G r u h 1 e beispielsweise nur 15 Jungen körperlich und psychisch gesund — , sollte unbedingt gefordert wer- den, daß jeder Jugendliche vor seiner Aburteilung ex officioeinerspezialärztlichenUnter suchung unter- zogen wird. Zwei Beobachtungen und Begutachtungen aus meinem um- fangreichen Material mögen als Beispiele das Gesagte belegen: a) „Der am 23. April 1896 geborene jetzt achtzehnjährige Handlungsgehilfe H. ist von uns (Dr. Burchard und mir) gemeinsam beobachtet, wiederholt exploriert und IV. Kapitel: Sexualkrisen •99 eingehend untersucht worden. Wir haben seine Angaben nach Möglichkeit durch Befragen seiner Verwandten sowie einer Dame, die früher mit ihm zusammen in einem Geschäft tätig war, ergänzt und uns auf Grund dieser Unterlagen ein Urteil über seinen Geistes- zustand gebildet. Wir geben demselben im folgenden unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob und inwieweit bei H. eine strafrechtliche Verantwortlich- keit für ihm zur Last gelegte Delikte besteht, gemeinsamer Uberzeugung gemäß, gut- achtlich Ausdruck. Vorgeschichte: H. wird zur Last gelegt, daß er in der Garderobe seines frü- heren Geschäfts die Paletottaschen seiner Mitangestellten durchstöbert, ihnen Brieftaschen entnommen und den Inhalt beiseite gebracht habe. H. beteuert, er habe dieses nicht getan, um sich zu bereichern, sondern aus einem ihm unerklärlichen Drange, den er selbst nur als krankhafte Neugier ansehen könne. — H.s Vater soll sehr nervös, schwer nierenleidend und erblindet sein. Eine ältere, verheiratete Schwester, die wir selbst kennen lernten, ist ebenfalls hochgradig nervös; deren Tochter ist ein in der Entwicklung zurückgebliebenes Kind. H. soll von seinen Eltern — besonders dem Vater — in wenig konsequenter Weise erzogen, einerseits mit außerordentlicher Strenge, andererseits mit übergroßer Ängstlichkeit und Verweich- lichung behandelt und umgeben worden sein. Von Kindheit an zeigte er Eigenarten neuropathischer Konstitution, Hang zur Einsamkeit, zu phantastischen Träumereien und Einbildungen, Furcht, allein im Dunkeln zu sein und schreckhafte Träume mit nächtlichem Aufschreien. Es entsprachen dem auch allerlei für neuropathische Kinder charakteristische Gewohnheiten, wie Nägel- kauen usw. Im achten Lebensjahre soll H. eines Morgens ohne eigentlichen Grund — er selbst gibt einen unwesentlichen Ärger über seine Schwester als Grund an — planlos fort- gelaufen sein. Am späten Nachmittag — er war inzwischen über die Grenze, ziellos geradeaus gewandert — sei er zur Besinnung gekommen und wurde dann zu den Eltern zurücktransportiert. Er hatte eine abenteuerliche Entführungsgeschichte als Grund seines Fortbleibens erfunden, die ihm auch geglaubt und in der heimatlichen Tages- zeitung wiedergegeben wurde. Es beherrschte ihn in diesem Alter nämlich ein dunkler Drang, Krüppel zu werden, der, wie er selbst jetzt meint, das eigentliche, ihm selbst damals natürlich noch nicht klare Motiv dieser eigenartigen Wanderung war. — Überhaupt konzentrierte sein reges Phantasieleben sich zu dieser Zeit und später vor- wiegend auf die Vorstellung von Krüppeln und dem — aller Wahrscheinlichkeit nach einer unbewußt masochistischen Sexualphantasie entspringenden — Wunsch, selbst ein Krüppel zu sein. ' Mit dem Beginn sexueller Reife nahmen diese Phantasien mehr und mehr einen bewußt erotischen Charakter an. Er spann sich in solche Träumereien ein und ent- spannte die Zwangsvorstellung durch onanistische Handlungen. Seine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht haben bis jetzt noch nicht den Charakter nach Betätigung drän- gender Sexualität angenommen, sondern bestehen in platonischer Verehrung einer ange- schwärmten Dame. Ein weiteres auffallendes Moment, das sich in früheren Jahren bei H. bemerkbar machte, war ein — seinen Schilderungen nach geradezu krankhafter — Drang zur Neugier. Dieser äußerte sich sowohl in sexuellen Dingen wie auch unabhängig davon, in der Sucht, alles zu durchsuchen und durchstöbern, die Schubladen und Schriftstücke seines Vaters, die Sachen seiner Schwester usw. — Dieser Hang zur Neugier soll sich bis jetzt nicht verloren, eher gesteigert haben. — Im übrigen wird H. als ein auffallend stiller und solider Mensch, dessen einzige Liebhaberei Interesse für gute Theaterkunst ist, geschildert. Er klagt über häufige, periodisch auftretende Kopfschmerzen in der linken Schläfe und Stirn sowie über ebenfalls zeitweise auftretende depressive Verstimmungen. Diese Erschei- nungen werden von seinen Bekannten bestätigt. Der körperliche Befund ergibt bei H. bei kräftigem Körperbau die zarte Haut- farbe, welche Rotblonde so oft zeigen, eine auffallende Asymmetrie im Körperbau, namentlich in der Bildung des Hirn- und Gesichtsschädels sowie der Ohren. Außerdem 7 * 100 IV. Kapitel: Sexualkrisen besteht hochgradige Kurzsichtigkeit und Anlage zur Plattfußbildung. Des weiteren fallt die leichte Erregbarkeit der Herzaktion, die lebhafte Reflex- und Gefäßerregbarkeit auf. In psychischer Hinsicht zeigte H. ein ruhiges Wesen, aus dem aber die Neigung zu Veränderungen des Affekts sich deutlich abhob, indem er bald eine gedrückte, ver- schlossene Stimmung, bald ein lebhaft gesprächiges Verhalten an den Tag legt. — Der Intellekt bot in bezug auf Kenntnisse, Interessen und Fähigkeiten nichts Besonderes. Es unterliegt keinem Zweifel, daß H. mancherlei Merkmale einer degenerativen und neuropathischen Konstitution zeigt. — Mit den Erscheinungen, die von ihm selbst in glaubwürdiger und innerlich wahrscheinlicher Weise mitgeteilt und von Personen, die ihn genau kennen, bestätigt, werden, stimmen unsere Beobachtungen überein. Die Neigung zu ausgesprochenen Affektschwankungen, periodischer Verstimmung und anfallartigen Kopfschmerzen von zweifellos migräneartigem Charakter stehen in Über- einstimmung mit den neuropathischen Zügen und Vorkommnissen seiner Entwick- lungsjahre. Neben den in dieser Hinsicht charakteristischen Angewohnheiten, wie Nägelkauen, ist der bereits in frühesten Kindheitsjahren geradezu triebartig hervor- getretene Wunsch, ein Krüppel zu sein oder zu werden, ferner das an Epilepsia prae- cursiva erinnernde unmotivierte Fortlaufen von Hause und der ebenfalls früh bemerkte Hang zu einer geradezu krankhaften Neugier besonders hervorzuheben. H. gehört demnach einer besonders zu zwanghaften Antrieben dis- ponierten Kategorie von Neuropathen an. Hiermit verbindet sich ein gleichfalls auf psychopathischem Boden beruhender Drang zu krankhafter Neugier. Vom psychiatrischen Standpunkte erscheint es einleuchtend, daß diese beiden Momente bei den H. zur Last gelegten Delikten ursächlich und bestimmend in Betracht kommen. Es handelt sich hierbei natürlich nur um eine Möglichkeit, die aber für den Sachverständigen den Vorzug innerer Wahrscheinliclikeit hat und das sonst unver- ständliche Handeln des von allen als sehr solid und zuverlässig geschilderten Ange- schuldigten ungezwungen erklären würde. Es lag demnach unserer gemeinsamen sachverständigen Überzeugung nach bei H. zur Zeit der ihm zur Last gelegten Delikte ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vor, der Zweifel an seiner freien Willensbestimmung im Sinne des § 51, zum mindesten aber eine wesentliche Herabsetzung seiner Verantwortlichkeit auf dem Gebiete subjektiver Wil- lenstätig kcit beding t." b) „Ich bin aufgefordert worden, ein Sachverständigengutachten abzugeben über den Geisteszustand des Gardejägers Wilhelm Peter J., dem eine Reihe straf- barer Handlungen, wie Fahnenflucht, Urkundenfälschung, Diebstahl, zur Last gelegt werden, die er sich während der Kriegszeit zuschulden kommen ließ. Die Unterlagen meines Gutachtens sind wiederholte persönliche Untersuchungen des Angeschuldigten im Militärarrestgebäude in T., eingehende Rücksprachen mit seinem Vater, sowie eine ganze Anzahl mir unterbreitete Schriftstücke, die teils von dem Angeschuldigten selbst herrühren, teils von Personen, mit denen er in Berührung ge- kommen ist, beispielsweise den Wirtinnen, bei denen er wohnte. Vorgeschichte und Befund. Wilhelm J. ist am 10. September 1890 als einziges Kind des Kaufmanns Wilhelm J. in M. geboren. Er besuchte die dortige Realschule vom 6. bis 15. Lebensjahre bis einschließlich Quarta, aus der er Ostern 1905 konfirmiert wurde. Dann erlernte er seinen Jugendwünschen gemäß das Bauhandwerk. Gegen den kaufmännischen Beruf, dem sein Vater mit Rücksicht auf sein eigenes Ge- schäft den Vorzug gegeben hätte, hatte er eine Abneigung. Im Anschluß an die prak- tische Ausbildungszeit besuchte er die Kgl. Baugewerksschule in D., woselbst er am 23. August 1910 die Abschlußprüfung bestand. Vom 24. August 1910 bis zum 31. März des nächsten Jahres war er im Baugeschäft eines Architekten in M. beschäftigt, später IV. Kapitel: Sexualkrisen 101 in L. bis zu seinem Eintritt beim Gardejäger-Bataillon, demselben Truppenteil, in dem auch sein Vater einst diente. Nach zweijähriger Dienstzeit hatte er bis zum Ausbruch des Krieges wiederum Stellungen in R. und S. Die seinem Vater gemachte Angabe, daß er auch in T. in Stellung gewesen sei, stellte sich später als unwahr heraus. Am ersten Mobilmachungs- tage ist er in sein altes Bataillon getreten und am dritten mit demselben nach dem Westen ausgerückt. Mit der III. Kompagnie machte er die Gefechte, Aufklärungen und zum Teil sehr anstrengenden Märsche mit bis zum 21. September (Marneschlacht), wo er verschüttet und verwundet wurde (Handschuß). Am 27. Oktober 1914 wurde er aus dem Kriegslazarett in Frankreich zum Truppenteil entlassen, und zwar erhielt er den Auftrag, sich allein zu seinem Bataillon zu begeben. Er begab sich jedoch nicht zu diesem zurück, sondern .bummelte' zunächst 14 Tage in Lille. Dann trat er mit selbst ange- fertigten Fahrscheinen eine Fahrt durch Deutschland kreuz und quer an, und zwar hielt er sich nachweislich u. a. in Brüssel, Dirschau, Hamburg, Kiel, Fürth, Riesa und Breslau auf. Am 31. März 1915, also nach mehr als fünfmonatiger Wanderfahrt durch Deutschland, wurde er in Wolgast verhaftet. Nach einer Erklärung seines Verhaltens gefragt, gibt er sehr naive Antworten, wie ,Ich wollte zum Osten durch'. Auf das Kindische dieser Begründung hingewiesen, gibt er nähere Auskünfte, wie ,der Stellungskrieg ist so langweilig, Be- wegung muß sein'. Die Frage, weshalb er auf seiner Reise ein paar Stiefel gestohlen habe, beantwortet er kurz dahin: ,Meine waren kaputt'. Der Gedanke, er könne sich durch seine Entfernung von seinem Truppenteil strafbar gemacht haben, sei ihm gar nicht gekommen. Er wäre ,für sein Leben gern draußen', ,er könnte weinen und tue es auch oft, daß er nicht mehr dabei sei'. Daß er sich in der Tat zum Soldatenberuf hingezogen fühlte, geht daraus hervor, daß er, als er seinerzeit bei seiner freiwilligen Meldung zum Militär von dem Stabs- arzt zurückgewiesen wurde wegen zu erregter Herztätigkeit — er soll damals einen Puls von 130 — 140 Schlägen in der Minute gehabt haben — , er sich von zwei Ärzten Atteste besorgte, die ihn körperlich für gesund erklärten. Damit erreichte er dann in der Tat seine Einstellung. Während seiner militärischen Dienstzeit ereigneten sich verschiedene Vorfälle, die für seinen geistigen Zustand überaus bezeichnend sind. Er erbat sich wiederholt Urlaub unter Angabe von Gründen, die seine ethischen Defekte und seine mangelnde Urteils- ' fähigkeit scharf beleuchten. Einmal gab er an, sein Vater sei verstorben, dann wieder, die Mutter hätte einen Schlaganfall erlitten, ein anderes Mal, d i e Mutter sei gestorben, ein viertes Mal handelte es sich um Regulierung der Erbschaft, wieder einmal war der Vater schwer erkrankt. Alle diese Angaben waren völlig aus der Luft gegriffen, so daß J. entsprechende Militärstrafen erhielt. Später erbat er einmal Urlaub, um sich in T. eine Stellung zu suchen, kehrte aber nicht rechtzeitig vom Urlaub zurück. Nach seiner Entlassung vom Militär ging er nach T., um diese Stellung anzutreten. Er hielt sich dort zwei Monate auf und reiste dann nach Kiel. Durch Zufall stellte es sich dann heraus, daß er gar keine Stellung in T. gehabt hatte, und daß die ganze Sache erfunden war. Auch sonst hat er noch, wie der Vater sich ausdrückt, ,sehr viel Dummheiten' gemacht; meistens bezogen sich diese auf Schulden und .grobe Unwahrheiten', die bei allem scheinbaren Raffinement doch stets den Stempel einer gewissen geistigen Be- schränktheit und Urteilsschwäche nicht verleugneten. Im übrigen zeigte sein Verhalten ein sehr wechselvolles Bild. Das Lernen wurde ihm im allgemeinen schwer, doch zeigte er sich für einzelne Fächer, wie Mathematik und Zeichnen, gut befähigt. Manchmal zeigte er einen starken Arbeitsdrang, ,ich zeichne dann die ganze Nacht hindurch', zu anderen Zeiten aber wirft er die ganze ■ Arbeit hin; er kann sich nicht konzentrieren und kann, wie er sich ausdrückt, dann ,nicht 2 und 2 zusammenziehen'. Er selbst, der in keiner Weise den Eindruck eines Simulanten macht, sagt: ,Es kommen Zeiten, wo ich nicht weiß, was ich tue.' 102 IV. Kapitel: Sexualkrisen Sehr wechselnd ist auch seine Schrift. Wie der Vater erzählt, trugen auch seine beiden Briefe aus dem Lazarett, die letzten bevor er sich strafbar machte, verschiedene Schrift und ganz verschiedenen Charakter. Der erste Brief war gut und deutlich in Schrift, verständig im Sinn und von Dienstpflicht erfüllt; der zweite Brief dagegen war kaum zu lesen und ganz unverständlich im Inhalt. Dem Vater fiel dies so sehr auf, daß er die Briefe gleich zu Anfang des Verfahrens einlieferte, ehe ihm die Tat- umstände näher bekannt waren, durch die sein Sohn sich strafbar gemacht hatte. Ich selbst habe die Originale dieser Briefe nicht einsehen können, kann aber hinsichtlich der mir bekannten, von der Hand des Angeschuldigten herrührenden Schriftstücke be- stätigen, daß sie in Form, Schrift und Inhalt sehr differieren. Im allgemeinen ziemlich ruhig, zeigt J. gelegentlich heftige Wutanfälle. Bei der Schlußprüfung in F. geriet er wegen einer Aufgabe mit einem Lehrer in Meinungsverschiedenheit und wurde dabei so heftig, daß er im Beisein der ganzen Regierungskommission ihm die Kreide vor die Füße schleuderte. Ich selbst hatte auch Gelegenheit, eine ungewöhnlich heftige Erregung bei ihm zu beobachten. Es handelte sich um seine in Aussicht genommene Abführung aus der Militärarrestanstalt. Mit funkelnden Augen erklärte er, er würde sich nur im Wagen transportieren lassen; sollte man ihn zu Fuß als Gefangenen durch die Straßen von D. transportieren, dann würde er sich hinwerfen und nur mit Gewalt fortschleifen lassen. ,Ich mache dann einen Affentanz', stieß er hervor, wobei er am ganzen Leibe zitterte und seiner selbst kaum mächtig schien. Bemerkenswert ist nun noch die bei J. vorhandene Neigung, mit den Fingern tief in den Mastdarm zu bohren und mit dem Kot Bettlaken, Hemde, Wände, Bettbretter usw. zu beschmieren. Diese zweifellos sehr schwere Zwangshandlung .führte den Untersuchungsrichter zu der Annahme, es könne sich hier um eine mit homo- sexueller Triebrichtung in Zusammenhang stehende Störung handeln. Dies ist nicht der Fall; es findet zwar eine Art analer Onanie statt, aber der wesentliche Charakter dieser Fingerbohrungen und Kotbesudelungen ist kein rein sexueller, sondern ein auf allge- meiner Psychopathie beruhender. Trotzdem J. sehr unter dieser häßlichen Neigung leidet, die ihm, wie er berichtet, überall im Wege stand, ihm bisher sein Leben ver- gällte und ihm vielfach Schimpfnamen eintrug, die er sich sehr zu Herzen nahm, konnte er nicht davon lassen. Ich gebe hier einige Zeugenaussagen von Wirtsleuten wörtlich wieder, die sich über diese Schmiersucht geäußert haben: Frau Z. in Kiel schreibt: ,Der Techniker Willi. J. hat während seiner Lehrzeit im Jahre 1908, desgleichen im Frühjahr 1914 längere Zeit bei uns gewohnt. In dieser Zeit hat er sehr oft nachts das Bett mit Kot beschmiert, desgleichen seine Bettwäsche, auch Taschentücher. Den Kot selbst hat er öfter an verschie- denen Stellen seines Zimmers zwischen den Möbeln, Kommode, Vertikow, Matratzen, ver- steckt, wo er dann tage-, ja wochenlang liegen blieb. Machten wir ihm Vorhaltungen des- wegen, so unterblieb es doch nicht. Wir sind der Meinung, daß Wilh. J. krankhaft be- anlagt ist; er hatte oft ein schlechtes, fahles Aussehen; außerdem war er sehr nervös und überreizt.' Frau K. aus F. äußert sich ähnlich: ,Der Bautechniker Wilh. J. hat im Jahre 1907 und 1908 vom Frühjahr bis Semester Schluß bei mir gewohnt. Er hat während dieser Zeit sehr oft das Bett beschmutzt und seine Bedürfnisse zuweilen im Papier oder Taschentuch im Schrank oder seinem Handkoffer aufbewahrt. Da er sonst solide und nie betrunken in der Zeit gewesen ist, haben wir es ihm als eine Krankheit ange- rechnet.' Ebenso berichtet Frau H. aus R. Auch von Lehrer Julius S., bei dem J. in W. wohnte, liegt eine ähnliche Be- kundung vor. Ich selbst konnte diese unabhängig voneinander gemachten Mitteilungen durch die Besichtigung seines Hemdes und Bettes bestätigen, die zahlreiche Kotschmier- flecke aufwiesen. In seinen Lebensgewohnheiten ist J. ziemlich anspruchslos; sexueller Verkehr hat nur selten stattgefunden; auch im Genuß alkoholischer Getränke ist er mäßig, dagegen zeigt er im Rauchen das Verhalten eines Periodikers. Wochen- und Monatelang ist IV. Kapitel: Sexualkrisen 103 kein Bedürfnis nach Tabak vorhanden, dann überkommt ihn eine förmliche Rauch- sucht. In solchen Zeiten läßt er die Zigarre oder Zigarette den ganzen Tag nicht aus- gehen. Er kann dann gut arbeiten. Diese süchtige Periode wird von einer des Ekels abgelöst; dann kann er, wie er berichtet, .nicht einmal den Rauch der Zigarre riechen oder vertragen'. Noch einige andere subjektive und objektive Krankheitserscheinungen seien er- wähnt: Häufiges Kopfweh, Schlaflosigkeit, krampfartiges Ziehen in den Beinen, und eine eigenartige Störung der Vasomotoren. Beim Entkleiden zeigen sich auf der Haut große rote Flecken, die erst nach ziemlich langer Zeit verschwinden. Auch die Sehnen- reflexe sind gesteigert. Zusammenfassung und Gutachten. I. Halten wir alle die genannten Erscheinungen zusammen, so unterliegt es keinem Zweifel, daß der Gardejäger Wilhelm J. an einer ausgesprochenen psychopathischen Konstitution leidet. Im Krank- heitsbilde finden sich Anzeichen von Hysterie und Hebephrenie. Daneben geht eine recht erhebliche reizbare Nervenschwäche. IL Dieser Zustand, an dem J. bereits vor dem Kriege litt und auch jetzt noch leidet, blieb sicherlich nicht unbeeinflußt von den außerordentlich starken körperlichen und seelischen Erschütterungen, denen der Patient in den ersten Kriegsmonaten ausgesetzt war. Den gewaltigen Anforderungen, die an seine Truppe gestellt wurden — bei denen fast das ganze Bataillon in kurzer Zeit aufgerieben wurde — , war der hoch- gradig psychopathische und neuropathische J. nicht gewachsen. III. Daher muß man mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit an- nehmen, daß J. zu der Zeit der ihm zur Last gelegten Handlungen, d. h. vom 27. Oktober 1914 bis 31. März 1915, nicht im Besitze seiner geistigen Gesundheit war, vielmehr an einer so hochgradigen Störung der Geistestätigkeit litt, daß seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 RStGB. als nicht vorhanden angenommen werden kann." Besonders zu erwähnen ist noch der erotisch betonte Degene- rationstypus, den man unter Zuhältern und Prostituierten zahlreich vertreten findet. Wer die Mühe nicht gescheut hat, die mißachteten Persönlichkeiten der Zuhälter innerhalb und außerhalb gerichtlicher Verwicklungen in ihrem Seelenleben zu erforschen — bisher ist dies nur sehr vereinzelt geschehen — , wird sich bald des Eindrucks nicht erwehren können, daß auch hier eine starke endo- gene psychopathische Komponente, erkenntlich vor allein an weitgehender Labilität und Suggestibilität, mit allerlei exogenen wirtschaftlichen oder sonstigen Anlässen zusammentrifft. Das Alter, in dem die Mehrzahl der jungen Leute zum Zuhältertum gelangt, ist das erweiterte Pubertätsalter, in dessen Verlauf sich der verhängnisvolle Vorgang häufig wie folgt abspielt: zwischen dem sich überschätzenden, nach Selbständigkeit drängenden heran- wachsenden Sohn und den um ihn besorgten Eltern entsteht allmäh- lich ein Mißverhältnis. Der Sohn will einen neuen, den Eltern phan- tastisch erscheinenden Beruf ergreifen, Kinoschauspieler, Artist, Flieger, Forschungsreisender; Vater und Mutter wollen davon nichts wissen, er soll werden, was der Vater war, Kaufmann, Beamter, Offizier; der Sohn neigt dazu, sich bis tief in die Nacht herumzutreiben, die Eltern verweigern ihm den Hausschlüssel; der Sohn glaubt mit 104 IV. Kapitel: Sexualkrisen 3 Mark wöchentlichem Taschengeld nicht auskommen zu können, wobei das von den Eltern meist gänzlich übersehene, von dem Sohn hoch bewertete, aber verschwiegene erotische Moment keine ge- ringe Rolle spielt. So häufen sich die Gegensätze und Zusammen- stöße bis der Sohn schließlich eine Nacht, dann mehrere überhaupt nicht' mehr nach Hause kommt. Unter den sich feilbietenden Mäd- chen, die ihm gefielen, hat er eine getroffen, der er gefiel. Sie nimmt ihn mit in eine Wirtschaft, in ein Tanzlokal, bezahlt für ihn, dann in ihre Behausung und der Zuhälter ist fertig. Oft genug besitzen auch die unfertigen, noch wenig verdorbenen Jün-linge in ihrer Haltlosigkeit und Hilflosigkeit für die nicht erloschenen mütterlichen Instinkte der Prostituierten eine be- sondere Anziehungskraft. Sie geben dem stellungslosen oder in seiner Stellung sich nicht wohlfühlenden Jüngling Unterkunft, Unterhalt und vor allem in reichlichem Maße Geschlechtsverkehr, und immer tiefer versinkt er in den Sumpf, aus dem eine Befreiung seit Ein- führung des unglücklichen Gelegenheitsgesetzes der Lex Heintze viel schwieriger ist, wie ehedem. Früher konnten jugendliche Zuhälter, wenn ihr Charakter und Wille sich gefestigt hatte, mit Hilfe wohl- meinender Dritter verhältnismäßig leicht vom Weibe loskommen. Wenn jetzt der Vater seinen Sohn abholen will, heißt es bei der Berliner Dirne nur zu oft: „Wat, der hat ja Jeld von mia jenommen, der bleibt bei mia oder ick bring ihn rin von wegen Zuhälterei." Ebenso leicht wie dem Zuhältertum und unter sehr ähn- lichen Begleitumständen verfällt der in seiner sexuellen Triebrich- tung noch nicht scharf differenzierte jugendliche Psychopath der männlichen Prostitution, nicht selten auch beiden gleichzeitig, indem sowohl er selbst, wie seine „Braut" ihren jugendlichen Körper ge- werbsmäßig zum Sexualverkehr feilbieten. Auch unter den Entstehungsursachen der weiblichen Pro- stitution in den Entwicklungsjahren, namentlich zwischen 15 und 25 Jahren, ist neben den exogenen Anlässen, wie wirtschaft- lichem und häuslichem Elend, schlechten Wohnungsverhältnissen, Hungerlöhnen, Zank und Streit in der Familie, die psycho- p a t h i s c h e K o n s t i t u t i o n als die in den meisten Fällen endogene gegebene Vorbedingung nachzuweisen. In vielen Fällen konkurriert die psychopathische Konstitution mit manisch-depressivem Irresein, in einigen auch mit Imbezillität. Ich habe wiederholt ausgesprochene Psychopathen in durchaus nicht anstaltsbedürftigem Zustande zu sehen Gelegenheit gehabt, die in jugendlichem Alter als Manischdepressive in Irrenhäusern waren. Geistesschwache Psychopathen sind seltener als intellektuell hoch- stehende; in der von den Franzosen als degeneres superieurs be- zeichneten Gruppe jugendlicher und älterer Psychopathen gibt es sogar geistig sehr hochstehende, ohne deren Leistungen die Welt 105 viel Wertvolles auf dem Gebiete der Kumt, Wissenschaft und Technik entbehren würde. Es wäre nun noch nötig, auf die schwerste der sich gewöhnlich im Pubertatsalter entwickelnden Psychosen einzugehen, die in der Mehrzahl der Fälle mit der Zeit zu einer völligen geistigen Ver- ödung und Verblödung führt, auf die Dementia praecox, auch rJebephreme und Schizophrenie genannt. Wir müssen hier aber auf die psychiatrischen Lehrbücher verweisen, da ein genaueres Ein- gehen auf diese organische Krankheit, die ihren anatomischen Aus- druck m dem Ersatz eingeschmolzener Nervenzellen der tieferen Hirnrindenschicht durch wuchernde Gliazellen findet, den Rahmen unseres Lehrbuchs der Sexualstörungen überschreiten würde. Nur das eine sei bemerkt, daß der Grund, weshalb diese Krankheit so häufig in den Entwicklungsjahren auftritt, darin zu suchen sein dürfte, daß das i n n e r e S e k r e t der Geschlechtsdrüsen entweder qualitativ oder quantitativ abnormal ist oder auf ein an und für sich fehlerhaftes Gehirn trifft, welches auf das als solches nor- male Sekret krankhaft reagiert. Kötscher4) sieht in der Puber- tatsentwicklung die wesentlichste Entstehungsbedingung der De- mentia praecox. Er führt aus, daß für diese Auffassung ganz be- sonders der Umstand spricht, „daß gewisse Formen derselben gerade wahrend der Entwicklungsjahre einsetzen, ferner die namentlich von Heck er betonte Anlehnung des klinischen Bildes an die gewöhn- lichen psychischen Veränderungen in jener Zeit. Dahin gehören du© lebhafte Tätigkeit der Einbildungskraft, die eigentümlichen Stim- mungsschwankungen, die Reizbarkeit, die Neigung zur Schwärmerei und Empfindsamkeit, die geschlechtliche Erregbarkeit, die Antriebe zu allerlei unvermitteltem und unüberlegtem Handeln. Alle diese finden sich in krankhafter Ausprägung namentlich bei den bebephrenischen Erkrankungen wieder. Allerdings, fügt er hinzu, haben wir es hier stets mit greifbaren und eigenartigen Zer- störungen m der Hirnrinde zu tun, über deren nähere Beziehungen zu den Entwicklungsvorgängen noch völliges Dunkel hängt." i- w <Üü\er hat in Annahme der sexuellen Ätiologie sogar mög- lichst frühzeitige doppelseitige Kastration zur Bekämpfung der Dementia praecox vorgeschlagen. Es ist ihm aber wohl hierin bis- her niemand gefolgt. Auch Tschisch (nach Kräpelin, Psych- iatrie IL Teil, S. 930) hat die Meinung vertreten, „daß die Unter- druckung oder mangelhafte Entwicklung der geschlechtlichen Tätig- keit als Ursache der Dementia praecox anzusprechen sei," und von -Krapelm selbst ist die Ansicht ausgesprochen, „daß möglicher- weise irgendein mehr oder weniger entfernter Zusammenhang der seine AnLirendSL67M- KötSCher: Das Erwachen *» Geschlechtsbewußtseins und 106 IV. Kapitel: Sexualkrisen Dementia praecox mit den Vorgängen in den Geschlechtsorganen be- stehen könne". Er betont indes, daß überzeugende Beweise für diese Annahme bisher noch nicht beigebracht seien. Mit Eecht wendet Kräpelin sich aber dagegen, daß aus dem Umstand, daß viele dieser Kranken jahrelang onaniert haben, ge- folgert werde, die Onanie könne eine Dementia praecox her- vorrufen; hat man doch früher der Hebephrenie zugehörige Krankheitsbilder geradezu als „Irresein der Onanisten" beschrieben. Kräpelin meint, daß die Onanie bei diesen Kranken durch ihre scheue Zurückhaltung gefördert wird, die ihnen oft die geschlecht- liche Annäherung an andere Personen unmöglich macht. Anderer- seits besteht aber bei ihnen meist eine sehr lebhafte geschlecht- liche Erregung, welche sich häufig auch in quälenden geschlecht- lichen Beeinflussungsideen kundgibt. Kräpelin hebt auch die Zu- nahme der Erkrankungen im Klimakterium hervor und äußert sich über die Beziehungen zwischen der Dementia praecox und dem Fort- pflanzungsgeschäft wie folgt: „Abgesehen davon, daß Menstruations- störnngen häufig sind, und zudem während der Menses vielfach Ver- schlechterungen des Krankheitszustandes beobachtet werden, beginnt die Dementia praecox in einer erheblichen Zahl von Fällen während der Schwangerschaft, im Wochenbette oder nach einem Aborte, bis- weilen auch erst in der Säugezeit. In Heidelberg sah ich von den katatonischen Erkrankungen bei Frauen nahezu 1/4 sich im An- schlüsse an das Fortpflanzungsgeschäft entwickeln, während von den hebephrenischen Fällen noch nicht Vio einen solchen Znsammenhang erkennen ließen. Einmal knüpften sich die 4 Schübe, in denen die Krankheit verlief, je an eine Geburt an, bis der letzte die endgültige Verblödung brachte. In einem andern Falle begann die Krankheit ebenfalls im Wochenbette, um nach einer längeren Bemission mit dem Eintritte neuer Schwangerschaft in schwerem Bückfall zu enden." Nach alledem dürfte ein Zusammenhang zwischen innerer Geschlechtsdrüsensekretion und Dementia praecox, wenn er auch im einzelnen noch unklar ist, nicht von der Hand gewiesen werden können. Wie der Eintritt erogener Stoffe in den Körper zur Zeit der Geschlechtsevolution neben den physiologischen Umwälzun- gen schwere pathologische Veränderungen des Nerven- und Seelen- lebens zur Folge haben kann, so bewirkt auch das Nachlassen und Aufhören der Sexualfunktion im Klimakterium vielfach Störungen im Zentralnervensystem, wenn auch nicht ganz so häufige und weittragende wie im Pubertätsalter. Jedenfalls stellen die Wechseljahre für die Psyche und insonderheit für die sexuelle IV. Kapitel: Sexualkrisen 107 Psyche eine kritische Zeit erster Ordnung dar. In erster Linie er- kranken freilich auch hier wiederum neuropathische und psychisch belastete Personen. . Unter den nervösen Störungen des Klimakteriums sind am ver- breiteten vasomotorische, die sich als Wallungen auf- steigende und fliegende Hitze nicht selten mit Flimmern vor den Augen und Ohrensausen äußern. Oft sind diese Erscheinungen mit Schwindelanfällen, Übelkeit, Ohnmachtsanwandlungen und kalten Fußen und Händen verbunden. Dabei besteht häufig Schlaflosig- keit. Es dürfte schwer zu entscheiden sein, was in diesen Zuständen auf Hyperamie und Anämie, was auf Hysteroneurasthenie oder aus- schließlich innersekretorischen Einflüssen beruht. Denn alles dies kommt als Wirkung der Geschlechtsdrüsen-Involution in Betracht. Höchst lästig sind bei Frauen gewisse neuralgische Sen- sationen imEückbildungsalter, unter denen die Mastodynie die „irritable breast" der englischen Ärzte und der Pruritus vulvae et vagmae vor allem zu nennen sind. Die als Mastodynie be- zeichnete Schmerzhaftigkeit der Brust ruft bei Frauen leicht die Befürchtung eines Brustkrebses hervor und kann damit den Aus- gangspunkt schwerer Hypochondrien und Melancholien bilden. Ich sah einen solchen Fall, wo schließlich zur Amputation der Brust geschritten werden mußte, trotzdem alle Ärzte Karzinom ver- neinten. Eine der unangenehmsten Erkrankungen im Klimakterium ist der g enitalePruritus,ein unerträgliches Brennen und Jucken in den Schamteilen, welches zu exzessiver Masturbation und förm- lichen libidinösen und orgastischen Krisen führen kann. Ich habe Falle von Pruritus beobachtet, in denen es in Verbindung mit hoch- gradiger Nymphomanie zu konvulsivischen Zuckungen kam. Auch die bloße Aufgeregtheit, Unruhe, Launenhaftigkeit und Heftigkeit im klimakterischen Alter ist nicht selten eine Folgeerschei- nung örtlicher Eeizzustände in den Genitalien; sie kom- men allerdings auch ohne diese vor. Die Schilderungen der dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis, welche seinerzeit viel Auf- sehen erregten, über Frauen „imgefährliehenAlte r", gehören m dieses Gebiet. Es sind dies aber Einzelfälle, die man nicht verall- gemeinern darf. Im Gegenteil, eine depressive Stimmungslage, eine gewisse Traurigkeit und Verdrießlichkeit, Ängstlichkeit und Mut- losigkeit findet sich in den Wechseljahren öfter vor, als eine ge- hobene, freudig erregte Gemütsverfassung. Dabei herrscht vielfach ein Gefühl der Insuffizienz und Überflüssigkeit. Nahezu die Hälfte aller weiblichen Selbstmorde ereignet sich zwischen dem 40. und 50. Lebensjahre. Auch unter den Psychosen im Klimakterium kommen Manien verhältnismäßig nicht so häufig vor wie Melancholie und 108 IV. Kapitel: Sexualkrisen Paranoia, welche die eigentlichen klimakterischen Geisteskrank- heiten sind. Bei Frauen, die viel geboren haben und mit ihren Man- nern zusammenleben, sind diese Leiden viel seltener als bei ledigen, kinderlosen oder kinderarmen, verwitweten oder geschiedenen Frauen; wiederholt beobachtete ich sie auch bei solchen, deren Männerüber ein Jahr im Felde standen. Dies gilt auch für die häufigste der klimakterischen Psychosen, die Paranoia. Sie ent- wickelt sich fast immer auf dem Boden einer nachweislich psycho- pathischen Familiendisposition. Viele dieser Frauen glauben, daß sie auf elektrischem, magnetischem oder hypnotischem Wege von einem bestimmten Manne verführt, entjungfert oder geschwängert seien. In einem S c h u 1 1 a 1 1 , den ich beobachtete, handelte es sich um eine 46jährige unverehelichte Lehrerin Emma K. Sie war mir bereits seit 16 Jahren bekannt, da ich ihre Mutter an einer schweren Geistes- störung (Altersverblödung) und ihren Vater an Neuralgien und Tremor behandelt hatte. Nach dem Tode der Eltern, die sie mit großer Aufopferung pflegte, ließ sich die ziemlich intelligente, aber etwas verschrobene und hysterische Tochter pensionieren und ging auf Reisen. Da sie ziemlich viel ererbt hatte, lebte sie ganz unab- hängig und verbrachte ihre Zeit in Museen, Bibliotheken und Hör- sälen. Als der Krieg ausbrach, befand sie sich seit einem halben Jahr in Grenoble, um sich im Französischen zu vervollkommnen. Sehr erregt reiste sie über die Schweizer Grenze nach Genf, wo sie er- krankte. Als ich sie kurz darauf sah, bot sie folgendes Bild: sie war ausschließlich von dem Gedanken beherrscht, ihr Professor in Grenoble hätte sich in sie verliebt und mache die größten An- strengungen, sich auf dem Wege drahtloserTelegraphiemit ihr in Verbindung zu setzen; man hätte sie zwar fälschlich als Franzosenfeindin und Spionin verdächtigt, aber er glaube an sie und ließe nicht von ihr ab. Hier in Deutschland mischten sich wieder andere in ihr Verhältnis mit dem Professor, den man ihr nicht gönne. Man hielte seine Briefe und Telegramme zurück, auch ihre würden nicht abgesandt. Die Kaufleute in dem Bezirk, in dem sie wohnte, hätten auch schon von der Liebschaft gehört und nannten sie hinter ihrem Rücken die Franzosenbraut. Man würde sie verhaften, wenn sie das Kind zur Welt brächte, das sie „infolge unbefleckter Empfängnis" von dem französischen Professor unter ihrem Herzen trüge. Die Untersuchung ergab, daß sie virgo intacta war. Wenn sie zu mir kam, war ihre erste erregte Frage, ob nicht ein Brief des Professors für sie unter meiner Adresse eingetroffen wäre. Diagnose lautete klimakterisches Irresein; Prognose war unter Berücksichtigung der starken erblichen Disposition als dubia ad malam vergens zu bezeichnen. IV. Kapitel: Sexualkrisen 109 Im übrigen habe ich oft die klassische Schilderung bestätigt gefunden, welche Kisch5) und Kowalewski von der klimak- terischen Paranoia entwerfen. Die Phantasie der von diesem Leiden Befallenen „konzentriere sich stets auf Männer; sie merken, daß die Männer überhaupt, besonders aber einige, ihnen nachsehen, mit ihnen liebäugeln, Andeutungen machen, Zeichen geben und beson- dere Aufmerksamkeit auf sie lenken. Die gewöhnlichsten, natür- lichsten, allgemein angenommenen Höflichkeitsformen werden bei der krankhaft gesteigerten Beobachtung solcher Frauen als Aus- druck einer besonderen Umwertung und Aufdringlichkeit gedeutet. Mit stockendem Herzen und besonderer Verliebtheit laufen sie diesen Männern nach und schreiben ihre eigene übermäßige Aufmerksam- keit den Männern in bezug auf ihre Person zu. Oft wird diese Periode der krankhaft gesteigerten Beobachtung auch von geschlecht- lichen Mißbräuchen in Form von Masturbationen usw. begleitet. Nicht selten haben solche Degenerierten wollüstige Traumbilder. Oft treten Halluzinationen im Gebiete geschlechtlicher Sensationen oder in Form vermeintlicher Angriffe auf ihre Jungfräulichkeit ein. Alle diese Zustände gehen bald in Verfolgungs- oder Argwohns- ideen über. Die Kranken meinen, daß dieser oder jener, oft unbe- kannte und sogar in einer andern Stadt lebende Mann mit ihnen in geistige und leibliche Verbindung tritt. Diese Beziehungen wer- den namentlich nachts auf dem Wege des Hypnotismus, Spiritis- mus und der Elektrizität unterhalten. Die Kranke setzt solchen Personen durch Briefe zu, glaubt sich mit ihnen in gesetzlicher Ver- bindung und gewährt ihnen nicht selten das Vergnügen, ihre Bech- lingen und Einkäufe zu bezahlen. Besonders oft hat in dieser Be- ziehung die katholische Geistlichkeit zu leiden, welche gemäß ihrer Pflicht in nähere geistliche Beziehung zu allen tritt. Nicht selten werden solche Frauen aus Verfolgten Verfolgerin- nen, indem sie ihre Opfer mit Briefen überschütten, ihnen Eifersuchtsszenen machen und zuweilen auch Skandalszenennichtscheuen. Ein solcher Liebeswahn wird nicht selten von geschlechtlichen Halluzinationen und Ideen be- gleitet, wobei solche Kranke sich für schwanger, entehrt und im Verkehr mit der einen oder der anderen Person halten, die sie oft nicht einmal kennen. In eine besonders schlimme Stellung kommen in dieser Hinsicht die Ärzte, welche nicht selten solche Personen unter vier Augen vornehmen müssen und dabei nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Oft wird ein solcher Verfolgungswahn von Anfällen offenbarer Nymphomanie begleitet, wo wiederum der unvorbereitete Arzt nicht selten in eine äußerst unangenehme Lage kommt. Dieser Wahn der Verfolgung seitens der Männer auf dem 5) Prof. Dr. E. H. Kisch: Das Geschlechtsleben des Weibes, S. 692. -qq IV. Kapitel: Sexualkrisen Wege des Hypnotismus, Spiritismus, Telephons usw. vereint mit dem geschlechtlichen Wahne und Nymphomanie erscheint so oft im klimakterischen Alter, daß er als klimakterisches Irresein par exellence gelten kann. Sehr oft hat diese Krankheitsform einen alten, hysterischen Zustand zur Grundlage." Auch beim Manne finden sich nicht selten zwischen 4o und 55 Jahren psychische Alterationen, die man als Klimakterium virile bezeichnet hat. (Kurt Mendel, Valletau de Mo- nillac.) Nach meiner Erfahrung treten diese Zustande bei Jung- gesellen, Witwern und feminin Veranlagten häufiger auf als bei ver- heirateten Männern vom virileren Typus. Wenn Mendel und Hollander daher eine gewisse Effe- mination, Auftreten von allerlei weiblichen und weibischen Eigen- schaften, als charakteristisch für das männliche Klimakterium er- achten, so ist dies zwar in gewissem Sinne zutreffend, doch darf nicht übersehen werden, ob und inwieweit schon vor Eintritt klimak- terischer Störungen eine weibliche Wesensart vorlag. Man kann unter den klimakterischen Alterationen ziemlich deutlich zwei Formen unterscheiden, die depressiv-hypochondrisch- nielancholische Form, die nicht gar so selten in diesem Alter zu Selbstmorden und Selbstmordversuchen führt und die paranoide, querulatorische. Beziehungs- und Verfolgungswahnideen pflegen beiden Formen eigen zu sein. Leichtere Fälle tragen den Charakter endogener Verstimmung und Skrupelsucht, wobei oft Eifersuchts- quälereien, sich selbst und anderen bereitet — beispielsweise ihre Frauen reagierten auf die Blicke fremder Männer — , vorherrschen. Neuerdings ist von Max Marc use eine beachtenswerte Arbeit6) veröffentlicht worden, in der er die Auffassung vertritt, daß das männliche Klimakterium „auf einer Hypofunktion oder Dysfunk- tion" der innersekretorischen Organe, und zwar in erster Linie der Prostata, beruht. Er will diese bei 16—20 Patienten mit In- volutionsbeschwerden stets krankhaft verändert gefunden haben, und zwar sei sie bei der Mehrzahl atrophisch gewesen, wobei sich die Vorsteherdrüse schlaff anfühlte — „Wie ein leerer, in sich zu- sammengefallener Beutel". Bei den andern sei sie sehr hart ge- wesen, meist hypertrophisch und mit derben höckrigen Knoten in den tieferen Gewebsschichten. Gewöhnlich seien bei diesen Patienten, trotzdem sie erst in den vierziger Jahren standen, Zeichen von Arteriosklerose, wenn auch nicht sehr erheblichen Grades, vorhanden gewesen. Für ätiologisch eindeutig halte ich die Marcuse- schen Fälle nicht. Da bei den meisten Harnbeschwerden im Vor- e) Max Marcuse: Zur Kenntnis des Climacterium virile, insbesondere über urosexuelle Störungen und Veränderungen der Prostata bei ihm. Neur. Zentralbl. 1916, Nr. 14, 16. Juli, S. 577. IV. Kapitel: Sexualkrisen 111 dergrunde des Krankheitsbildes standen, — auch ich sah bei Männern im klimakterischen Alter wiederholt Enuresis nocturna auftreten — , bei sehr vielen gewohnheitsmäßiger Coitus interruptus voraufgegangen war, eine beträchtliche Anzahl auch an all- gemeiner Arteriosklerose litt, ist nicht recht einzusehen, weshalb wir in den organischen Prostataveränderungen nicht eben so gut eine Folge als eine Ursache der Erkrankung erblicken dürfen. Völlig stimme ich aber mit M a r c u s e überein, daß, wenn auch die extra- sekretorischen generativen Organteile des Mannes nicht, wie bei der Frau, in den Wechseljahren außer Funktion treten, sehr wohl die innersekretorischen Anteile eine Eückbildung erfahren können, die bereits Valletau de Monillac dahin beschrieben hat, daß im Alter von 50 Jahren eine deutliche Pigmentierung der interstitiellen Hodenzellen beginnt, verbunden mit einem ge- wissen Grad von Sklerose. Bezüglich des weiblichen Klimakteriums geht eine vielfach im Volke verbreitete Anschauung dahin, daß gewisse Störungen mit den Wechseljahren ihr Ende erreichen. Dies trifft auch bezüglich einiger Leiden tatsächlich zu, und zwar vornehmlich solcher, die mit der Geschlechtsreife und ersten Menstruation eingesetzt haben und jedesmal mit der monatlichen Eegel wiedergekehrt sind. Mit der letzten Menstruation im Klimakterium pflegen diese Leiden nicht selten völlig zu verschwinden. Es gehören hierzu viele Fälle von Migräne, Hysterie, Epilepsie und namentlich auch Zwangsvor- stellungen quälender Art, die mit der Periode immer wieder er- scheinen. Wir gelangen damit in das Kapitel der Menstruation s- neurosen und -psychosen, denen kein geringerer wie Krafft-Ebing eine ausgezeichnete Spezialarbeit 7) gewidmet hat. Es verrät den Scharfblick dieses großen Naturforschers, daß er die menstruellen Befindungsstörungen durch die Veränderungen des Blutdrucks und der Zirkulation für nicht hinreichend erklärt ansah, vielmehr der Vermutung Ausdruck gab, daß „hier die von Brown S e q u a r d angenommene innere Sekretion der Ovarien entweder im Sinne einer bloßen Hypersekretion, oder einer qualitativ geänderten Absonderung zur Geltung kommen dürfte"; es würden dadurch „auf toxischem Wege Allgemeinsymptome in analoger Weise vermittelt, wie dies der krankhaft veränderten und abnorm sezernierenden Thyreoidea bezüglich der Basedowkrankheit zugestanden wird. Daß die Ovarien nicht bloß zur Produktion von Ovula da sind, sondern vermöge von Sekretion (,Ovariue' als Analoga der Spermine) und Resorption derselben in den Blutkreislauf einen wichtigen Einfluß 7) R. v. Krafft-Ebing: Psychosis Menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart 1902. Ferd. Enke. S. 3. 112 auf Stoff Wechselprozesse und Ernährungsvorgänge des Gesamt- organismus ausüben mögen, läßt sich nicht bezweifeln, wenn, man die Wirkung des Flirts bei jungen Damen, die des normalen Koitus bei jugendlichen Ehepaaren beobachtet, die oft einem Aufblühen der Frau gleichkommt; dazu der gleiche Erfolg durch glucklich be- hobene menstruale Störungen und Genitalerkrankung, andererseits wieder der gewaltige Einfluß im ungünstigen Sinne: bei gestörter Entwicklung in der Pubertät, im Klimakterium, wo es doch wahr- lich nicht um das bloße Aufhören der Ovulationstätigkeit, sondern um einen großen Umwand lungs- bzw. Mauserungsprozeß im ganzen Organismus sich handelt." Auf die durch veränderte Eierstockssekretion bewirkte quali- tative toxische Blutänderung führt Kraf f t-Ebing einmal die psychischen Menstrnalstörungen zurück, wie gesteigerte Reizbarkeit und Stimmungsanomalien, ferner Affektionen sensibler Nervengebiete, wie Neuralgien, Paralgien, Kephaleia, dann aber auch vasomotorische Menstrualsymptome in Gestalt von wechselnder Blässe, Rötung, Kälte, Zyanose der Extremitäten, Ohnmachts- neigungen, Salivation, profuse Schweiße, während er bei anderen vasomotorischen Erscheinungen in Körperteilen, die in einem Kon- sensus zu den Menstruationsorganen stehen, wie bei der menstruellen Anschwellung der Mammae, der Schilddrüse, der Nasenschi eimhaut, einen solchen Zusammenhang nicht annimmt. Diese Unterscheidung scheint uns nach den wissenschaftlichen Fortschritten, die mittler- weile auf dem inneren Sekretionsgebiet gemacht sind, nicht mehr stichhaltig zu sein. Nicht immer bleibt es bei den erwähnten leichteren nervösen und psychischen Begleiterscheinungen des „Unwohlseins", es kommt zu weiter- und tief ergeh ernden Alterationen. Bei manchen Frauen steigert sich das weinerliche verdrießliche Wesen bis zu stumpfem Hinbriiten, feindlicher Reaktion gegen die Außenwelt, Furchtsam- keit — nach einer Statistik Hellers hatten unter 40 Selbst- mörderinnen außerhalb der Reife- und Wechseljahre 35^ die Periode — , bei anderen Frauen geht die Erregbarkeit bis zu Zorn- explosionen, starker Unruhe und Vielgeschäftigkeit, Drang umher- zulaufen, einzukaufen, reinzumachen (Waschsucht), einige quälen si, h und ihren Mann durch Eifersuchtswahn oder sie werden gar kriminell, indem sie in ungehemmter Aufgeregtheit Ehrenbeleidi- g ungen, Hausfriedensbruch, Brandstiftungen verüben. Ich hatte einen Fall zu begutachten, in dem eine Prostituierte wiederholt in der Menstruation auf andere Dirnen losgeschlagen hatte, einen anderen, in dem eine Dame der besseren Gesellschaft in dieser Zeit Herren auf der Straße die Zunge herausstreckte. Beide w urden freigesprochen. Nicht selten ist während der Menstruation eine Abschwächung des Gedächtnisses und der Urteilsfähigkeit be- IV. Kapitel: Sexualkrisen 113 merkbar und sehr häufig sind die Perioden von bestimmten Zwangs- vorstellungen begleitet; so suchte mich eine Frau auf, die beruhigt sein wollte, weil sie sich seit Beginn des Weltkrieges bei jedesmaliger Regel mit dem Gedanken abquälte, sie würde geisteskrank werden, wenn ihr Mann fiele. Unter den zwangsmäßigen Antrieben, die men- struell rezidivieren, nimmt die Dipsomanie eine der ersten Stellen ein. Bei den menstruellen Quartalstrinkerinnen, die ich beobachtete, wurden allerdings von einem Anfall zum anderen meist eine Reihe von Menstruationen überschlagen. Unter den eigent- lichen Menstruationspsychosen stehen die maniakalischen Exalta- tionen an Häufigkeit an erster, die melancholischen Depressionen an zweiter Stelle. Der Rest der Zustandsbilder trägt degeneratives Gepräge. Mit Recht sagt Krafft-Ebing: „Das menstruierende Weib hat Anspruch auf die Milde des Strafriehters, denn es ist unwohl zur Zeit der Menses und psychisch mehr oder weniger affiziert", und weiter fordert er, daß bei allen weiblichen An- geklagten festgestellt werden soll, ob die inkriminierte Tat mit dem Termin der Menstruation zusammenfiel. Er beruft sich dabei auf ein denkwürdiges Beispiel, das sich in Hitzigs Zeitschrift für Kriminal- rechtspflege findet und schon aus dem Jahre 1827 (Juli und August) stammt: „Eine Mutter tötete ihr Kind, indem sie es ins Wasser warf. Niemand ahnte einen unfreien Zustand zur Zeit des Mordes. Die unglückliche Mutter war geständig und zum Tode verurteilt. Kurz vor der Hinrichtung teilte sie einer Mitgefangenen mit, sie habe sich geschämt, dem Richter zu gestehen, daß sie zur Zeit der Tat gerade die Periode gehabt habe, in welcher sie regelmäßig von einer ihr unerklärlichen Unruhe und Angst gequält sei und an Lebensüberdruß leide. Die Vollstreckung des Urteils wurde suspen- diert, die Delinquentin während mehrerer Monate ärztlich beob- achtet, wobei sich ergab, daß sie zu dieser Zeit jeweils an Kopf- weh, Kongestion zum Kopf, Pulsbeschleunigung bis zu 130 Schlägen, Schlaflosigkeit, Bangigkeit, Lebensüberdruß und allen Erschei- nungen einer tiefen Melancholie litt. Die Unglückliche ward daraufhin freigesproche n." Auch menstruierende Zeuginnen, sowohl solche, die während ihrer Vernehmung unwohl sind, wie solche, die es zur Zeit der Vorfälle waren, über die sie gehört werden, soll man mit Vorsicht bewerten. Namentlich bei Schwachsinnigen nimmt die geistige Einengung zur Zeit der Men- struation zu. In einem Mordprozeß, zu dem ich als Gutachter zugezogen war, bemerkte man, wie der Hauptbelastungszeugin, einer psychopathischen Prostituierten, während ihrer stundenlangen Be- fragung vor aller Augen das Menstrualblut abträufelte, so daß sich am Ende ihrer Aussage an der Stelle, wo sie stand, eine ansehn- Hirschfeld, Sexualpathologie. I. o 114 IV. Kapitel: Sexualkrisen liehe Blutlache gebildet hatte. Die *^™^}*^0^l der Freundin der Ermordeten, mit der sie bis unmittelbar vor ihrem Tode zu —gewesen war, grenzte an Echolalie. Sie sollte d e Frage entscheiden, ob ein Angeklagter mit dem Be_ ernst", tatsächlich mit dem Manne identisch Freundin in die Kajüte eines Spreekahns begeben hatte m ^der sie Getötet mirde Sie bejahte dies. Ich legte als Gutachter dar, daß Ä^Festetellini auf dem schwachen Fundament der Bekun- dung einer jugendlichen Straßenprostituierten, die sich noch im Srtätealter befände und zudem gerade menstruierte, nicht auf- SSÄ Bas Gericht schloß sich £ Ähnlich wie gelegentlich bei Mannern klimakterisch Neurosen und Psychosen vorkommen, ohne daß streng : ge- nommenTm Klimakterium im Sinne einer Menopause^ sein kann, kommen auch ausnahmsweise bei männlichen Per onen Rudimente menstrueller Störunge, jor ,dm an, an das weibliche Unwohlsein erinnern. Namentlich bei sehr fenu- nmen Mannern und unter diesen besonders häufig bei Transvestiten habe ich solches beobachten können. Dieselbe Rücksicht wie das menstruierende verdient auch das schwangere und gebärende Weib, ebenso die Woch- io!d die stillende Mutter. Denn ebenso wie wahrend der Pubertät, der Menstruation und dem Klimakterium erleidet auch während der Gravidität, der Niederkunft ^ Woche»- bett und in der Stillzeit das ganze Getriebe des Korpers der Seele, besonders aber das D r ü s e n 1 e b e n eine vielgestaltige Be- einflussung, von der nicht selten das gesamte Nervensystem, sei es vorübergehend, sei es dauernd, schwer betroffen wird. Kommen doch hier zu der qualitativen innersekretorischen Blutveranderung quanti- tative hinzu, wie veränderter Blutdruck und Gehirndruck außerdem direkte psychische Erschütterungen, ferner die Erschöpfung durch die Geburtsarbeit, der Blutverlust, der Einfluß der Schmerzen, die plazentare Autointoxikation oder womöglich gar Infektionen und Embolien, kurz eine Menge Schädigungen und Gefahren, die es be- greiflich machen, daß namentlich dort, wo eine endogene Dis- positionsschwäche gegeben ist, nur zu leicht Störungen Platz grei Im' einzelnen muß hier auf die Lehrbücher für Gynäkologie ver- wiesen werden, nur sei angeführt, daß der Häuf igkeit nach unter den Generationspsychosen die des Geburtsakts und Wochenbetts an erster Stelle stehen, die der Laktation an zweiter, die der Schwangerschaft an dritter ; ihrem psychopathologiscüen Gesamtcharakter nach erinnert die Stillzeit am meisten an die Wechseljahre, das Puerperium an die Pubertät und die Schwanger- schaft an die Menstruation. IV. Kapitel: Sexualkrisen Dementsprechend prävalieren in der Gravidität depressive und angstvolle Affekte neben manischen Verstimmungen. Im Wochenbett können alle möglichen Arten von Geistesstörungen zum Ausbruch gelangen. Besonders häufig tritt in dieser Phase die akute halluzinatorische Verwirrtheit (Anientia) auf. In der Geburts- periode selbst ist namentlich bei neuropathischen und hysterischen Frauen nicht selten eine impulsive Neigung zu Gewaltakten beobachtet worden, die Wut der Gebärerinnen, die sich besonders auch gegen das eigene Kind richten kann. In der Literatur sind Fälle beschrieben, in denen psychopathische Wöchnerinnen in einem un- bewachten Augenblick das eben geborene Kind an die Wand schleu- derten, aus dem Fenster herauswarfen, erwürgten oder erdrückten. Kein Fall vonKindesmord sollte ohne Hinzuziehung eines ärztlichen Sachverständigen abgeurteilt wer- den. Die in der Säugezeit auftretenden Seelenstörungen unter- scheiden sich insofern von den übrigen Generationspsychosen, als sie chronischer und unheilbar zu sein pflegen. Namentlich fest in der Psyche verankerte Wahnvorstellungen der Paranoia nehmen von dieser Zeit ihren Ursprung; aber auch Melancholien, Manien, Ver- wirrtheitszustände und vor allem . Angstzustände mit Zwangs- gedanken sind in der Laktationsperiode vertreten. In unehelichen Schwangerschaften wirken naturgemäß neben den endogenen auch die exogenen Gründe auf ein labiles Nervensystem sehr nachteilig ein, ja psychopathische Mädchen und Frauen können durch den graviden Zustand ganz aus der Fassung gebracht werden. Dieser Gesichtspunkt darf bei der Strafver- folgung krimineller Aborte nicht außer acht gelassen werden. Mit der Anführung eines hierher gehörigen Falles, den ich mit Dr. Ernst Burehard zu begutachten hatte, will ich dieses Kapitel schließen. Das Gutachten, aus dem alles Nähere ersichtlich ist, lautete: Seitens der Verteidigung des am 9. Oktober 1887 zu Neu-Ruppin geborenen Fräulein Therese L. sind wir ersucht worden, ein Gutachten über den Geisteszustand der Ange- klagten, unter besonderer Berücksichtigung der Frage ihrer strafrechtlichen Verantwort- lichkeit für das ihr zur Last gelegte Delikt, abzugeben. Wir haben Fräulein L. während nahezu eines Vierteljahres eingehend beobachtet, körperlich untersucht und vielfach exploriert. Uber die Vorgeschichte, insonderheit die familiären Verhältnisse hat uns die Schwester der Therese, die Mitangeklagte Martha, besonders eingehende Angaben gemacht, die wir durch Erkundigungen bei Bekannten der Geschwister L. nach Möglichkeit nachgeprüft und ergänzt haben. Auf Grund diese* Unterlagen haben wir uns, gestützt auf eine langjährige spezialistische Erfahrung in sexualwissenschaftlichen und psychiatrischen Fragen, ein Urteil über das uns obliegende Beweisthema in gemeinsamen Beratungen gebildet. Es liegt bei der Angeklagten eine äußerst schwere erblicheBelastung — insbesondere in nervöser und psychischer Hinsicht — vor. Der Vater soll in seiner Jugend und auch während der ersten Jahre der Ehe ein äußerst ausschweifendes Leben geführt, in Alkohol und sexueller Betätigung stark exzediert haben. In späteren Jahren stellten sich bei ihm allerlei Zwangsvorstellungen und seltsame Neigungen ein, 8* 116 IV. Kapitel: Sexualkrisen bis er an einem psychischen Leiden erkrankte, das den geschilderten Symptomen nach sich fraglos als Paralyse charakterisiert und zum Tode führte. Die Mutter ist hochgradig nervös und litt an epileptischen Krampf- anfällen, die nach der Geburt des dritten Kindes mit besonderer Heftigkeit auf- traten und erst in späteren Lebensjahren an Stärke und Heftigkeit abnahmen. Außer- dem ist sie schwer herzleidend und nervös. Einige Geschwister der Angeklagten waren nicht lebensfähig und starben bald nach der Geburt. Von den lebenden Geschwistern ist uns die älteste Schwester ärztlich genau bekannt und ebenfalls von uns eingehend beobachtet. Sie soll als Kind dauernd schwer krank gewesen sein, an Gelenkrheumatismus und Veitstanz gelitten und sich so spät entwickelt haben, daß sie erst mit 8 Jahren sprechen lernte. — Nach den anschaulichen und innerlich wahrscheinlichen Angaben, welche uns Bekannte gemacht haben, zeigten sich im späteren Leben bei ihr typische Symptome ausge- sprochener Hysterie. Sie hatte wiederholt schreckhafte Sinnestäuschungen, an welche sich Angstzustände anschlössen, die sich suggestiv auch auf die anderen Familien- mitglieder übertrugen. — Vor einigen Jahren ist ein äußerst charakteristischer Dämmerzustand bei ihr beobachtet; sie ging in das Wasser des Wannsees und wurde von Passanten herausgeholt, als ihr das Wasser bereits bis zum Halse ging. Sie hatte — unter dem Einfluß einer hysterischen Illusion — den Spiegel des Sees für Asphalt gehalten und die Nässe des Wassers nicht gespürt. — Im Anschluß an diesen Vorfall wurde sie in eine Nervenheilanstalt überführt, wo sie mehrere Monate blieb. Die zweite Schwester leidet ebenfalls von Jugend auf an nervösen Störungen, ins- besondere charakteristischen Zwangsantrieben (Kauen von neuem Leder, frischbedrucktern Zeitungspapier usw.). — Sie lebt nach unglücklicher Ehe, aus der ein — ebenfalls nerven- krankes — Kind stammt, von ihrem Manne getrennt. In der weiteren Verwandtschaft war unter anderem ein Bruder der Mutter geisteskrank und endete durch Selbstmord (Erhängen). Die Angeklagte selbst soll von den Geschwistern von Kindheit an die schwächlichste und kränkste gewesen sein. — Geistig äußerst schwerfällig, entwickelte sie sich sehr langsam, lernte spät gehen und sprechen. Auch bei ihr traten in nervöser Hinsicht bereits in jugendlichem Alter Erscheinungen von typisch hysterischem Gepräge auf. So bestand bei ihr jahrelang ein als „Dämmerungsblindheit" bekannter Zu- stand, der darin bestand, daß sie bei schwindendem Tageslicht absolut nichts sehen konnte. Als heranwachsendes Mädchen soll sie einmal zwei Tage lang in einem Starrkrampf gelegen haben. Um das 15. Lebensjahr bestand bei ihr ein zwangsmäßiger Hang zum Entwenden und Verstecken zweckloser Gegenstände. Die Periode trat spät — mit 19 Jahren — ein und blieb dauernd unregelmäßig, von heftigen Beschwerden begleitet. Je älter sie wurde, desto mehr fiel ihrer Um- gebung ihre Interesse- und Teilnahmlosigkeit auf. Im Verkehr mit Fremden und nament- lich mit Männern war sie scheu und schloß sich förmlich ängstlich ab. Ihre Stimmung wird als eine ständig gedrückte bezeichnet, ihr Wesen ist stumpf und apathisch. Unsere eigene Beobachtung hat diese Angabe in vollstem Umfange be- stätigt. Ebenso überzeugten wir uns in eingehenden psychischen Untersuchungen von der überaus eigenartigen und krankhaften Art ihres psychischen Reagierens. Bei den ersten Explorationen versetzten sie einfache Fragen in einen Zustand völliger Verblüfft- heit und Verwirrung, der gewöhnlich damit endete, daß sie in Tränen ausbrach. Erst als sie sich etwas an uns gewöhnt hatte, gab sie uns zögernd und mühsam Antworten, welche uns ein Bild von der Armut ihrer Interessen, der Lückenhaftigkeit und Zu- sammenhanglosigkeit ihrer Vorstellungen und Kenntnisse gaben. Versuchten wir aber — nach langer Beobachtungsdauer — Assoziationsprüfungen mit ihr vorzunehmen, ihr Kombinations- und Urteilsvermögen durch einfache Aufgaben, Erklärung von Sprichwörtern, kleinen Rätseln, leichtverständlichen Witzen auf die Probe zu stellen, dann stellte sich rasch wieder ein Versagen, verbunden mit Weinen, ein. IV. Kapitel : Sexualkrisen Noch stärker reagiert sie auf relativ geringfügige Erschütterungen ihres Gefühls- lebens, die gleichfalls zunächst depressive Affektäußerungen und dann ein apathisches Erstarren hervorrufen. In gleicher Weise soll ihr Verhalten sein, wenn einem ihrer Angehörigen etwas zustößt, eine Erkrankung in der Familie auftritt oder ihr selbst irgendein unge- wöhnliches Erlebnis begegnet. Sie reagiert darauf mit einem Zustande schwerer Apathie, der in anscheinender absoluter Gleichgültigkeit oder völliger Willenlosi<*keit zum Ausdruck kommt. Diesem psychischen Befund entsprechen körperlich nervöse Symptome: Störungen der Sensibilität, der Schweißsekretion, der Gefäß- und Reflex- erregbarkeit. Die Kopfhaut zeigt Spuren eines für derartige nervöse Zustände charakte- ristischen (sogenannten trophoneurotischen) Hautausschlages, das Gesicht zahlreiche Narben, die von multiplen Eiterherden herrühren, deren Verbreitung gleichfalls für Hysterie typisch ist. Gutachten: Es wird Therese L. zur Last gelegt, daß sie eine Abtreibung an sich hat vornehmen lassen, und ist es unsere Aufgabe, unsere sachverständige Ansicht darüber zum Ausdruck zu bringen, inwieweit in Anbe- tracht des geschilderten Geisteszustandes eine Beschränkung oder Aufhebung ihrer freien Willensbestimmung für das in Frage stehende Delikt vorlag. Therese L. ist eine nervenkranke Person, bei der auf dem Boden schwerster erblicher Belastung sich ein Zustand hochgradiger konstitutioneller Psychopathie hysterischer Natur entwickelt hat. Das Charakteristische und Wesentliche dieses Zustandes beruht nicht sowohl auf der mangelhaften Anlage einzelner psychischer Eigenschaften und Fähigkeiten als viel- mehr auf dem völlig abnormen Funktionieren des gesamten psychischen Apparates. Der seelische Mechanismus — wenn wir uns der Anschaulichkeit halber dieses über- tragenen Ausdruckes bedienen dürfen — ist in allen seinen Funktionen gehemmt und reagiert auf Anreize im Sinne einer bis zur Lähmung sich steigernden Hemmung. Wie dieses Verhalten auf dem Gebiete des Affektlebens sich in einer ständigen Depression, welche bei Gefühlserregungen in völlige Apathie umschlägt, bekundet, auf dem Gebiete der Verstandesfähigkeit in einem völligen Versagen der Kombinations- und Urteilsfähigkeit bei relativ geringer geistiger Anspannung zum Ausdruck kommt, tritt es in analoger und besonders markanter Weise hinsichtlich der Willenstätigkeit zutage. Ereignisse und Anforderungen, welche den normalen Menschen zu besonders konse- quentem, planvollem und zielstrebigem Handeln veranlassen, bewirken bei pathologischen Naturen von der Art Therese L.s ein völliges Versagen aller zweckmäßigen und ge- ordneten Willensäußerungen und bedingen, in Verbindung mit den in solchen Situationen gleichfalls eintretenden Veränderungen der Gefühls- und Verstandestätigkeit einen Zustand völliger A b u 1 i e , in dem die Kranke entweder ein wehrloses Werkzeug in der Hand anderer ist oder aber bei dem Fehlen geordneter Willenstätigkeit unter dem Einfluß impulsiver Antriebe handelt. Daß diese pathologische Einstellung der psychischen Funktionen während der Schwangerschaft bei Therese L. in besonders ausgesprochener Weise bestand, war, wissenschaftlicher Erfahrung nach, zu erwarten und wird durch ihr Verhalten in der Tat durchaus bestätigt. ^ Der Zustand krankhafter Reaktion, der auch sonst bei ihr infolge besonderer Er- lebnisse eintritt, war in dieser Zeit unter dem ständigen Einfluß der außergewöhnlichen und beängstigenden Sachlage ein perma- nenter geworden. Unserer Uberzeugung nach lag demgemäß bei Therese L. zur Zeit der Begehung des ihr zur Last gelegten De- likts ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vor, welcher die freie W i 1 1 e n s b e s t i m m u n g im Sinne des §51 des S t G B.s ausschloß. Die Angeklagte wurde freigesprochen. V. KAPITEL Die Onanie (Ipsation) Inhalt: Name und Betrriff— Die deutsche Bezeichnung Selbstbefriedigung — Der unzutreffende Gebrauch des Wortes Masturbation — Entstehung und Ver- breitung des Ausdrucks Onanie — „Mutuelle Onanie", ein Widerspruch in sich — Andere Bezeichnungen — Ipsation von ipse = selbst — Ipsation mit und ohne Vorstellungen — Die Ursachen der Ipsation — Zentrale und periphere Veranlassungen — Der i n s t i n k t i v e Entspannungsdrang — Die Erotisierung des Geschlechtszentrums — Objektive Bedeutung der V e r f ü h r u n g — Die L e i c h 1 1 g - keit der ipsatorischen Lustfindung — Hemmungen durch Willen und Wissen - Taktile Reize — Angaben von Onanistinnen — Reizbarkeit und neuro- p a t h i s c h e Disposition — Die angebliche Gefährlichkeit der Säuglingspflege — Örtliche Irritamente der Genital- und Analzone — Reibung und Reizung — Lustbetonte „Spielereien" — Haut- und Schleimhautaffektionen beim männlichen und weiblichen Geschlecht — Entferntere R e i z s t e 1 1 e n — Die motorische Unruhe — Ekzessive Onanie der Psychopathen — Schädlichkeit der Schlaflosigkei t — Die Surrogat onanie — Abstinenz- Onanisten — Notonanie normalsexueller Frauen — Ipsation infolge Ejaculatio praecox des Mannes — Vorstellungsonanie der sexuell Abnormalen — Die geistige Onanie, ein veralteter Begriff — Beispiele unbewußter Ipsation — Pollutionsonanie — Verbreitung und Häufigkeit der Ipsa- tion — Schätzungen und Statistiken — Ergebnis eigener Statistiken — Verbreitung der Ipsation in den verschiedenen Lebensaltern — B e g i n n der Onanie — Unerotische Lust- handlungen im Kindesalter — Extensität und Intensität der Onanie — Onanie- kalender — Dauer der Ipsation — Verbreitung der Onanie beim weiblichen Geschlecht — Ipsation bei wilden und zivilisierten Völkern — Bei Tieren — In älterer und neuerer Zeit — Ipsationsformen — Die m a n u e 1 1 e , f e m o r al e und koha- b i t o i d e Form — Lustverstärkungen und Varianten der manuellen Ipsation — Schilderung eines Apressionsonanisten — Solitäre Koitusimitationen — Onanie in scheidenartige Öffnungen — Klitorisvibration — Phallusersatz — Orale Onanie — Urethrale Ipsation — Mammal onanie — Larvierte Onanie — Onanie prolongata — interrupta — incompleta — Einfluß der Sexualhypochondrie und Sexualneurasthenie auf die Ipsation — Diagnose der Ipsation — Un- sicherheit der Indizien — Untersuchung der Samenflecken — Aussehen der Onanisten — Onaniehypochondrie — Eingebildete und trügerische Merkmale der Onanie (Tissots „signes de Ponanisme") — Gibt es M a s t u r b ati o n schar ak t e r e? — Opfer falscher Diagnostik und Dogmatik — Ipsationsfol gen — Übertrei- bungen, Irrlehren und Massensuggestionen — Onanistenbriefe — Unkenntnis in der Anatomie und Physiologie der Genitalorgane — A b s c h r e c k u n g s Schriften, Tissots großer Einfluß — Gesunde Onanisten — Stoffverlust und Schuld- bewußtsein — Körperhöhe, sexuelle, nervöse und psychische Schäden — Angebliche Umgestaltung des Genitalapparates — Ejaculatio praecox und Impotenz im Gefolge der Onanie — Organische, spinale, nervöse und autosuggestive Impotenz — V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) 119 Gegensuggestionen — Wechselseitige Onanie und Homosexualität — Onanie als Schutzmittel — Wirkung der Onanie auf das Nervensystem — Funktionelle Störungen — Vasomotorische Neurosen — Urtikaria nach Onanie — Angst- neurosen — Viszerale und Blasenneurosen — Beeinflussung des Geisteslebens durch die Ipsation — Depressionen, Hypochondrien, Versündigungs- und Selbstmordideen der Onanisten — Verschlimmern Phantasievorstellungen die Nachteile der Onanie? — Es gibt keine spezifischen Onanieschäden — Koliaiidlumr der Ipsation — Be- seitigung der Onanie und Onaniefolgen — Psychische, hygienische, medikamentöse, instrumentelle und operative Mittel — Hypnotische Suggestions- behandlung — Ärztliche Aufklärungsmethode — Innehaltung der Wahrheit und Fernhaltung von Übertreibungen und Drohungen — Die sexuelle Erziehung als Teil der hygienischen Erziehung — Geschlechtskunde — Bedenklichkeit der Keuschheitsgelübde — Die sechs Gebiete der hygienischen Therapie: Körperpflege und Körperübung, Bekleidung und Er- nährung, seelische und sexuelle Diätetik — Vermeidung von Juckreizen — Hydro- therapie — Gymnastik — Wichtigkeit der künstlichen Körperhüllen: Bett und Kleid — Hosen und Hosentaschen — Menge und Art der Speisen — Das Nacht- mahl — Der Alkohol — Pflanzenkost — Diätetik der Seele — Wissensschatz und Willensschatz — Uberwindung der Willensschwäche — Gewöhnung und Plan- mäßigkeit — Sexuelle Selbstbeherrschung — Verwerflichkeit des Spürsystems — Gutachten über einen relegierten Schüler — Das geschlechtliche Dilemma von der Reife bis zur Ehe — Heilkraft einer ideellen Liebe — Ein- klang zwischen Biologie und Soziologie — Arzneien, Apparate und Operationen zur Bekämpfung der Ipsation — Sedantien und Koborantien — Infibulation, Klitoridektomie und Kastration. Name und Begriff. Unter den sexuellen Begleite rscheinungen der Entwick- lungsjahre kommt keine an Häufigkeit derjenigen gleich, mit der wir uns im folgenden Kapitel zu beschäftigen haben, der Selbst- befriedigung. Ihr Fehlen ist im Alter der Pubertät viel seltener wie ihr Vorkommen, so daß beachtenswerte Forscher dazu neigten, in dieser primären Sexualbetätigung „an und für sich" keine pathologische Anomalie, sondern eine physio- logische Entspannungsform der Reifezeit zu erblicken. "Der deutsche Ausdruck „Selbstbefriedigung" deckt das, worum es sich hier handelt, besser, als irgendeine der sonst ge- bräuchlichen Bezeichnungen. Masturbation, umgebildet aus Manustupration, zusammengesetzt aus manus ■= Hand und stup- rum = Schändung, ein altes Wort1), das neuerdings dadurch wieder mehr in Aufnahme gekommen ist, daß Rohleder es zum Titel seiner bekannten Monographie über den Gegenstand wählte, ist in- sofern unzutreffend — ebenso wie die seltenere dem griechischen entlehnte Bezeichnung Cheiromanie, gebildet aus xsiq — Hand und fiavia = Sucht — , als, wie wir wissen, es durchaus nicht *) Das Substantivum Masturbatio kommt im klassischen Latein nicht vor, dagegen das Verbum masturbari; Martial XI. 104, 13: masturbantur Phrygii post ostia servi; Martial XIV. 103 steht masturbator = Onanist. 120 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) immer die Hand ist, welche die durch Reibung hervor- gerufene G enitalerregung vermittelt. Die Griechen selbst sprachen übrigens in diesem Sinn nicht von Cheiromanie, son- dern von %£iQovQystv oder dicpstv (eigentlich „kneten"). Noch weniger wissenschaftlich befriedigend ist der sehr volks- tümliche internationale Name : Onanie. Er wird zurück- geführt auf eine Stelle im ersten Buche Mosis, Kapitel 36, Vers 9, wo von Onan , dem Sohne des Juda und der Suah, dem Enkel Israels die Rede ist. Von diesem soll sein Vater gefordert haben, daß er nach altjüdischem Gesetz die Witwe seines verstorbenen Bruders Her eheliche, um mit ihr Kinder zu erzeugen. Dies aber wollte Onan nicht, deshalb ließ er, als er ihr beiwohnte, seinen Samen zur Erde fallen und verderben, damit keine Kinder aus dem Verkehr mit seiner Schwägerin entständen. „Dies mißfiel Gott so sehr, daß er ihn sterben ließ." Es ist ohne weiteres klar, daß diese Handlung Onans, der Coitus interruptus oder reservatus, etwas ganz anderes darstellt, als diejenige Betätigung, durch die sein Name unsterb- lich geworden ist. Trotzdem hat, namentlich seitdem der Lausanner Arzt Simon AndreeTissotim Jahre 1760 sein berühmtes Werk : „De 1 ' 0 n a n i s m e ou dissertation physique sur les maladies pro- duites par la masturbation" schrieb, das Wort „Onanie" — englisch Onania — in allen Sprachen Eingang gefunden. Es wird zum Teil ganz sinnwidrig angewandt, denn, bedeutet es das- selbe wie Selbstbefriedigung, so ist beispielsweise die verbreitete Wendung mutuelle oder gegenseitige Onanie gleich wechsel- seitiger Selbstbefriedigung ein Widerspruch in sich. Das Typische der Onanie ist gerade das Einseitige. Ist ein ona- nistischer Akt gegenseitig, so fällt er in eine ganz andere Kategorie. Auch die vielen Bezeichnungen, die mehr oder weniger moralische Werturteile enthalten, wie „Schoßsünde", „stum- mes Laster", „Jugendverirrung", „Selbstbefleckung" können auf wissenschaftliche Verwendung keinen Anspruch erheben. Da das Wesentliche der onanistischen Sexualbetätigung die am eigenen Körper selbst vorgenommene Geschlechts- erregung, das Solitäre ist, kommt dem Kern der Sache sehr nahe ein Ausdruck, den ein polnischer Autor, Dr. Kurkiewicz aus Krakau, in einer Schrift über den Gegenstand gebraucht hat: „Ipsatio", was eine geschlechtliche Handlung, die von jemanden selbst an sich selbst vorgenommen wird, bedeuten würde. Sprachlich verwandt ist dieses lateinische Wort dem von Bleuler eingeführten, vom Griechischen hergeleiteten Ausdruck Autismus. Doch wird hier schon mehr an eine seelische Bezugnahme auf die eigene Persönlichkeit gedacht, eine Voraussetzung, die keines- wegs für die große Mehrzahl der Fälle von Selbstbefriedigung zu- V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 121 treffen würde. Ähnliches gilt auch von dem Ausdruck Auto- erotismus, den Havelock Ellis in die Sexualwissenschaft eingeführt hat (Geschlechtstrieb und Schamgefühl S. 163), und ebenso von Latamendis Autoerastie und Näkes Narzißmus. Hier ist mehr oder weniger der eigene Körper nicht nur das 1 e i b 1 i c h e , sondern auch das p s y c h i s c h e Objekt des onanierenden Subjekts.' Das aber geht schon über den Begriff der g e w ö h n 1 i c h e n Onanie im Sinne von Selbstbefriedigung oder Ipsation hinaus. Unterscheiden wir als zwei Hauptgruppen der Onanie die m i t und ohne Vorstellungen, so ist es klar, daß bei. der ohne Vor- stellungen die eigene Person als Gegenstand erotischer An- ziehung überhaupt nicht in Frage kommt; aber auch bei der durch Vorstellungen ausgelösten spielt die eigene Persönlichkeit nur eine untergeordnete Polle, indem es zumeist andere Menschen oder Dinge sind, auf die sich die Gedanken erstrecken. Die Fälle, in denen sich diese dennoch auf die eigene Individualität beziehen, werden wir in dem nächsten (VI.) Kapitel über „Automonosexualis- mus" ausführlicher behandeln. Ursachen der Ipsation. Welches sind die Ursachen dieser so weitverbreiteten Ge- schlechtsbetätigung? Da muß man zunächst zweierlei voneinander trennen: die zentrale und periphere Veranlassung. Der zen- trale Grnnd ist der bei einem gesunden Menschen spontan und instinktiv auftretende Trieb, sich sexuelle Lustgefühle zu verschaffen. Dieser Entspannungsdrang tritt gewöhnlich erst dann m größerem Umfange auf, wenn durch das innere Sekret der Geschlechtsdrüsen, die Sexualhormone des Mannes und des Weibes, Andrin und Gynäzin, das nervöse Ge s c h 1 e c h ts z en tr u m in den Zustand erotischer Spannung versetzt, wie Stei- nach es kurz nennt, „erotisiert" wird. Der bei der Entspannung ein- tretende Rausch ist das erstrebte Ziel der Selbstbefriedigung. In- sofern gleicht das onanistische Verlangen anderen süchtigen Be- gehrungen von Pauschsubstanzen mit dem Unterschiede, daß der das Nervensystem chemisch verändernde Stoff nicht von außen, sondern von innen in das Blut gebracht wird. Wir können Bloch 2) daher vollkommen beistimmen, wenn er sagt: „die innere Se- kretion hat uus auch das Verständnis für das Wesen der Mastur- bation eröffnet, für die man bisher fast ausschließlich sekundäre Gelegenheitsursachen in Anspruch genommen hatte". 2) Bloch: Aufgaben und Ziele der Sexualwissenschaft. Zeitschr. f. Sexualw. 122 V.Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Die Erfahrung, daß ein solcher Lustgewinn am eigenen Körper möglich ist, wird vielfach durch andere vermittelt durch die sogenannte „Verführung", die von Alteren oder Gleich- altrigen, seltener von Jüngeren ausgeht. Die objektive Bedeu- tung der Schuld des Verführers ist nicht so groß, wie sie ge- meiniglich erscheint. Denn von der Mehrzahl männlicher und weiblicher Onanisten wird versichert, daß sie ganz von allem zur Selbstbefriedigung gelangt seien, so daß wohl angenommen wer- den kann, daß die meisten auch unverleitet dazu gekommen waren. Ist doch der Weg zu dieser Lustquelle nur zu leicht gefunden. Ver- gegenwärtigt man sich, daß unwillkürliche Erektionen m der Pubertätszeit fast niemals ausbleiben, daß schon ein leichtes Streifen der Bettdecke oder Beinkleider an den Krauseschen End- körperchen der Glans eine leicht lustbetonte Reizung bewirkt, ferner, daß der ausgestreckte Arm fast stets genau bis zu der Genitalzone reicht, so ergibt sich schon aus diesen drei Momenten: Häufigkeit spontaner Erektionen, Empfindlichkeit der Glans, Länge des Arms, die außerordentliche Leichtigkeit, mit der ein jugend- licher Mensch zur Selbstbefriedigung gelangen kann, bei dem die Hemmungen durch den Willen nur schwach, die Hemmungen durch Wissen vielleicht überhaupt nicht vorhanden sind. Beim weiblichen Geschlecht liegen ganz ähnliche Einflüsse vor, die nament- lich durch die Sensitivität des Kitzlers und der kleinen Labien gegeben sind. Vielfach werden von den Patienten und Autoren stärkere tak- tile Reize als die geschilderten oberflächlichen Berührungen für die Auslösung der Onanie verantwortlich gemacht, beispielsweise das bei Knaben beliebte Rutschen auf dem Treppengeländer, Stangen- klettern oder Hochziehen am Tau, bei Mädchen Radfahren oder Reiten im Herrensitz. Es kann auch nicht in Abrede gestellt werden, daß solche Umstände eine verhängnisvolle Bedeutung gewinnen können. Ich will als Beispiele aus meinem Material Schilderungen zweier Onanisten anführen, die intelligent und zuverlässig sind. Die eine rührt von einem 30jährigen Manne aus dem Arbeiterstande her, die andere von der ebenso alten Gattin eines Kriegsgefangenen. Ersterer schreibt: „Ich glaube, ungefähr im Alter von 11 — 12 Jahren mit der Onanie angefangen zu haben, allerdings erst unwissentlich und weiß ich mich zu entsinnen, das ich durch etwas ganz Besonderes dazu gekommen bin: Ich war nämlich mit Quirlen von Eiweiß be- schäftigt und wie man's gewöhnlich tut, klemmt man den Topf zwischen die Beine und quirlt. Doch dauert es immer geraume Zeit, ehe das Eiweiß fest wird, und da man's nun erzwingen will, drückt man immer fester den Topf an sich und speziell an die Geschlechts- teile. Da löste sich nun damals plötzlich das eigentümliche Gefühl los und ich war wie berauscht davon. Wußte natürlich lange Zeit V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 123 noch nichts über das Wesen des Vorgangs, doch versuchte ich es zu wiederholen, eben bloß durch das Aneinanderpressen der Beine, und es gelang mir und es wurde eine unselige Leidenschaft daraus, die ich vielleicht an manchen Tagen 5 — lOmal ausgeübt haben mag. Es war noch in einer Zeit, wo keine Pollution eintrat. Doch wurde es später auch nicht viel besser, als dasselbe geschah. Im Gegenteil, nun las man öfter Schwarten auf schlechtem Zeitungs- papier, die irgendein Kamerad plötzlich aus der Tasche zog und die nun heimlich verschlungen wurden. So dauerte es nicht lange und ich benutzte die Hand zum Onanieren und übte es öfters des Nachts im Bett und am Tage im Abort aus. Doch der Trieb war stärker als meine Willenskraft und so reizte mich bald die kleinste Ursache, Bilder von halbnackten Frauen, Zeitungsberichte über sexuelle Dinge, schwangere Frauen, sogar das Wort junges Mädchen ge- nügte, um bei mir den Drang hervorzurufen, und ich habe es auch bis heute noch nicht fertiggebracht, ganz der Onanie zu ent- sagen." In dem anderen Bericht heißt es: „Zum erstenmal hatte ich es in der Schule gesehen von einem kleinen Mädchen, und obgleich ich diesem kleinen Mädchen meine Verachtung ausdrückte über so etwas Häßliches, so tat ich es doch selbst, als ich zu Hause war und im Bett lag. Ich erinnere mich nicht, ob ich mir dabei etwas dachte, wenn ich es tat, es mußte nur dunkel sein und still — ich weiß, ich kroch ganz unter die Decke. Wenn es geschehen war, weinte ich oft über mich selbst, fürchtete mich zu beten und konnte doch ohne zu beten nicht einschlafen, so war ich immer in schrecklicher seelischer Verfassung und ich versprach mir selbst, es nie mehr zu tun, bis ich mich be- ruhigte und einsehlief. Mein gegebenes Versprechen habe ich nie gehalten, es geschah immer wieder, weiß nicht in welchen Abständen, aber doch nicht öfter als einmal im Monat glaube ich. Ich weiß es nicht genau. Jahrelang gelassen habe ich es, als meine Mutter mich dabei überraschte und mir eine eindringliche strenge und doqh gütige Rede hielt. Da habe ich es meiner Mutter zuliebe gelassen, bis kurz vor der Menstruation. Da quälte und juckte es mich so, daß ich es wieder mit einer großen Leidenschaft- lichkeit tat. Am nächsten Morgen sah ich, daß ich blutete und hatte Schmerzen in den Knien und in den Beinen und konnte nicht aufstehen. Ich gestand meiner Mutter, daß ich es wieder getan hätte und ganz blutig sei, ich glaubte, es sei die Folge davon und weinte heftig. Mutter beruhigte mich und hielt mir die zweite Rede; ich war damals 13 Jahre alt." Ist es in dem einen der eben angeführten Fälle der einge- klemmte Topf, so ist es in dem anderen der erregende erste Men- struationsvorgang, welcher den genitalen zur Onanie füh- -^24 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) renden Reiz vermittelte. Dabei ist hier, wie bei allen ähnlichen An- lässen der Grad der allgemeinen nervösen Reizbarkeit, der neuropathischen Disposition und' Konstitution wohl zu berück- sichtigen. Je stärker das Nervensystem ist, um so stärkerer Außen- reize, je schwächer es ist, um so schwächerer Anlässe bedarf es, um onanistische Manipulationen auszulösen. Die Preudsche Schule hat sich auch hier wieder ihre eigene Lehre zurechtgelegt. Weil es in der Tat vorkommt, daß bei der Säuberung kleinster Kinder „von den Endprodukten des Stoff- wechsels" durch Abwaschen und Trockenreiben der Genitalgegend von Müttern und Wärterinnen unbeabsichtigteLustempfin- d u n g e n an diesen empfindlichen Stellen wachgerufen werden, die zu Selbstspielereien Anlaß geben können, verallgemeinert Sadgar3) dies und schreibt: „Um es kurz zu sagen und in einem Satze: Die letzten Wurzeln jeder Selbstbefriedigung ruhen in der notwendigen Säuglingspflege." Und Tausk4) geht in demselben Sammelbande der Wiener psycho- analytischen Vereinigung noch weiter, indem er ausführt, daß „die vom Pflegepersonal durch Berührung und Priktion der sexuell empfindlichen Organe beim Reinigen und Klei- den der Kinder gesetzten Erregungen die ersten sexuellen Verführungen seien, denen das Kind unterliege. Es lerne auf diese Weise die Lustquelle kennen, die in der Berührung sexueller Zonen durch andere Personen liegt, und es lerne sie auch unverdächtigerwei&e gebrauchen. Diese ersten Verführungen seien von allergrößter Wichtigkeit für das Leben des Menschen. Sie seien der Anlaß dazu, daß das Kind seine Lustbedürfnisse von andern Mensehen abhängig mache und bei anderen Menschen zu befriedigen suche; sie seien einfach die erste und unerläßliche Bedingung für die Entstehung der Neigung zum Men- schen, für die Entstehung der Liebe." So Tausk. Es bedarf wohl keines Hinweises, daß wir diese mit so dogmatischer Sicherheit vorgetragenen Lehrsätze für ebenso unbewiesen, wie ein- seitig und übertrieben halten. Mit Recht macht auch St ekel gegen diese Hypothesen geltend, daß sie nicht die Onanie der T i e r e erklärten, indem ja doch Hunde und Affen des Wartepersonals er- mangelten, das ihnen beim Säubern von Verunreinigungen an den Geschlechtsteilen zerren könnte. Unter den örtlichenlrritamenten,die häufig zur Selbst- befriedigung führen, stehen bei beiden Geschlechtern allerdings die Haut- und Schleimhautaffektionen der Genital- und s) Die Onanie. Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener Psychoanaly- tischen Vereinigung". Wiesbaden 1912. J. F. Bergmann. J. Sadger, S. 13. *) Ebendaselbst. Viktor Tausk, S. 54. V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) 125 benachbarten Analzone obenan. Jedes Kribbeln, Jucken und Kratzen bewirkt in dieser Kegion Reize, bei deren Bekämpfung es zu Reibungen an den Geschlechtsteilen kommen kann. Die Reibung erhöht den Reiz, der vermehrte Reiz verstärkt die Reibung und so wird fast unmerklich die Grenze überschritten, die von der lustbetonten Beseitigung peripherer Juckgefühle zu wollüstigen „Spielereien" an den Geschlechtsteilen führt. Namentlich bei Kindern spielt dieser Zusammenhang eine be- trächtliche Rolle; bei kleineren Knaben und Mädchen sind hier in erster Linie die so häufigen Darmschmarotzer aus den Gattun- gen Oxyuris und Askaris (Springwürmer und Spulwürmer) zu nennen. Ich habe viele Kinder zwischen dem zweiten und dem zwölften Lebensjahre behandelt, bei denen die Beseitigung der Ein- geweidewürmer zur Behebung des Brennens und Bohrens in der affizierten Zone und damit zur Heilung von der Onanie führte. Unter den äußeren parasitären Erkrankungen ähnlicher Wirksamkeit sind vor allem S k a b i e s und Pedikulosis (Krätze und Läuse) zu erwähnen. Aber auch alle anderen Hautleiden können die gleiche Bedeutung gewinnen, beispielsweise die Urtikaria, das gewöhnliche Ekzem, die bei nicht sauber gehaltenen Kindern so häufige Intertrigo, auch Liehen ruber und vor allem der rein nervöse Pruritus, für den beim männlichen Geschlecht die Pubes, beim weiblichen die Vulva Prädilektionsstellen sind. Nament- lich bei Frauen habe ich Fälle gesehen, in denen der Pruritus vul- vae die Patientinnen förmlich zur Verzweiflung brachte und ex- zessiveste Masturbation bewirkte. Von Störungen, welche an den Sexualorganen selbst irrita- torisch wirken, kommt bei Knaben die angeborene Verengerung der Vorhaut — die Phimose — an erster Stelle in Betracht; neben ihr und durch sie ruft die gesteigerte Absonderung der Schleimhaut von Eichel und Vorhaut sowie die Ansammlung dieser Sekrete unter dem Präputium und die dadurch verursachten entzünd- lichen Erscheinungen ein Prickeln an den Nervenendkörperchen der Glans hervor, das zum Hingreifen und Onanieren Anlaß gibt. Bei weib- lichen Personen kommen teils entzündliche Reizzustände an der Klitoris und den Schamlippen in Betracht, teils reizende Schleimabsonderungen aus der Scheide, der w e i ß e F 1 u ß , der bei Mädchen vielfach bereits in frühem Kindes- alter auftritt, namentlich bei Anämie und Chlorose. Vielfach geht der zur Onanie führende Impuls nicht un- mittelbar von der Genital- und benachbarten Analzone, son- dern von entfernteren Reizstellen aus. Besonders er- regend und erigierend wirken hier die mit Schleimhaut be- deckten und mit Haaren versehenen Stellen der Körperober- fläche, vor allem die regio mammillaris. Ferner finden sich 126 V. Kapitel : Die Onanie (Isopation) sexuelle Erregungsstellen dort, wo die Oberhaut besonders prall gespannt ist und ohne viel Unterhautfettgewebe den Muskeln und Knochen aufliegt. Bei den Menschen sind derartige Reizstellen die Handteller, die Fußsohlen, die Fingerspitzen, die Zehen- spitzen, Knie und Ellenbogen. Weitere erogene Zonen sind bei vielen die innere Seite des Oberschenkels, der Nabel, die Nacken- gegend, der Hals, die Ohrmuschel und Ohrläppchen, bei manchen die behaarte Kopfhaut. Auch hier gibt es wiederum ganz individuelle Besonderheiten, welche anatomisch vermutlich durch eine stärkere Anhäufung sexueller Nervenendkörperchen an gewissen Stellen charakterisiert sind. Um einige hierher gehörige Seltenheiten anzu- führen, erwähne ich den Fall eines Mannes, der angab, daß er durch Zwicken des äußeren Augenwinkels, eines anderen, der durch Einführen des Fingers in die äußere Öffnung des Gehörganges, eines dritten, der durch Spielen mit der Zungenspitze am Gaumen- gewölbe erotische Lustgefühle vermittelt erhielt. Alle diese Per- sonen erregten diese Partien künstlich bei sich selbst zu mastur- batorischen Zwecken. Zu diesen örtlich auslösenden Momenten gesellen sich nervöse Zustände allgemein gesteigerter Unruhe, welche ebenfalls einen motorischen Drang zu onanistischen Manipulationen herbei- führen können. Es sind hier besonders der Veitstanz in seinen ver- schiedenen Abstufungen von der Chorea minor bis zu den sich in Zuckungen einzelner Muskelgruppen äußernden Tiks zu nennen. Es wird hier im Einzelfalle nicht immer ganz leicht zu entscheiden sein, ob die Onanie eine Folge der motorischen Unruhe ist, oder mit dieser zugleich auf dem Boden der neuropathischen Konstitution erwachsen ist. Denn zweifellos ist diese ebenso wie die weiter- gehende psychopathische Konstitution an und für sich ein Faktor, der stark zur Selbstbefriedigung disponiert. Alle geistigen Schwächezustände begünstigen schon deshalb den Drang, am eigenen Körper sexuelle Lustgefühle herbeizuführen, weil bei ihnen die intellektuellen und ethischen Hemmungen eingeschränkt und die Ausübung normalgeschlechtlichen Verkehrs äußerlich und inner- lich erschwert ist. Die exzessivesten Onanisten, die ich sah, waren ausgesprochene Psychopathen bald mehr imbeziller, bald mehr hysterischer oder epileptischer Färbung. Es ist sehr beachtenswert, daß geistige Defekte sehr viel häufiger eine Ursache als eine Folge sexueller Ausschweifungen sind. Sehr zutreffend bemerkt Ziehen: „Unmäßige Onanie ist öfter ein Symptom als eine Ursache einer psychopathischen Konstitution5), 5) Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen (krankhaft seelischen Ver- anlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte Kinder. Voa Prof. Dr. Ziehen. Dritte Auflage. Berlin 1916. S. Karger. S. 22. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 127 Sie tritt bei psychopathischen Kindern oft schon sehr früh auf." Unter den Psychopathen findet man auch die be^ fremdlichste Gruppe der Onanisten, jene, für die zeitlebens die Onanie die adäquate Befriedigungsform bleibt, zu der sie immer wieder zurückgreifen, selbst wenn sie innerhalb oder außerhalb der Ehe reichlich Gelegenheit zum normalgeschlechtlichen Koitus haben. Noch zwei weitere Ursachen der Onanie finde ich in meiner Kasuistik vielfach aufgeführt: Schlaflosigkeit und geschlecht- liche Abstinenz. Namentlich von älteren, aber auch von jüngeren nervösen Onanisten kann man nicht selten hören, daß sie sich der Onanie gleichsam als eines Schlafmittels bedienen. Sie ver- möchten erst nach dieser Entspannung die für die Ruhe er- forderliche Abspannung zu finden und so sei die Selbstbefrie- digung für sie eine allabendliche Gewohnheit geworden, wie für andere die Sucht, sich durch Morphium zu berauschen oder durch alkoholische Getränke die nötige „Bettschwere" zu verschaffen. Ist dieses Motiv verhältnismäßig selten, so findet sich um so häufiger sowohl bei Männern als bei Frauen die Angabe, sie „hülfen sich" mit Selbst bef riedigung, weil ihnen die Be- friedigung mit anderen, der sie den Vorzug geben würden, versagt sei. Diese Surrogatonanie, auch Notonanie genannt, ist zweifel- los sehr häufig, wird sie doch gelegentlich geradezu selbst von ärzt- licher Seite empfohlen. Namentlich von jungen Leuten zwischen 20 und 30 Jahren habe ich häufig erfahren, daß sie aus Furcht vor Ansteckung mit onanistisehen Ersatzakten vorlieb nehmen, und Max Marcuse führt einen Autor an, der bemerkt: „Die Onanie, mäßig geübt, hat sehr viele Vorteile, besonders für studierende Jünglinge; es wird dabei Geld und, was noch wertvoller ist, Zeit erspart; man entgeht allen unangenehmen Verbindlichkeiten und Verhältnissen, macht niemanden unglücklich und läuft nicht Gefahr, venerische Krankheiten zu erwerben." Gelegentlich kann man auch von Ver- lobten und von ihren Frauen örtlich getrennten Ehemännern hören, daß sie in der Onanie eine Nothelferin zur Bewahrung der Treue erblicken. Man kann die Abstinenzonanisten in zwei Gruppen teilen: die geschlechtlich normalen und die abnormal veran- lagten. Daß der Normalsexuelle in eingeschlechtlicher Um- gebung — auf Schiffen, im Felde, in Erziehungsanstalten, im Ge- fängnisse, kurz überall dort, wo ihm die Gelegenheit zum Beischlaf fehlt — vielfach dazu gelangt, sich in größeren oder kleineren Ab- ständen „brevi manu" selbst zu entspannen, meist unter Vorstellungen des Weibes, ist eine alt- und allbekannte Tatsache. Manche drücken dabei das Kopfkissen in die Arme und bedecken es mit liebkosenden Worten und Küssen, andere machen sich aus dem Bettuch eine Art 128 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Vagina zurecht. Die a k t i v e Neigung faute de niieux (Blochs Pseudohomosexualität") statt mit einem Weibe mit einer Person gleichen Geschlechts sexuellen Umgang zu pflegen, sei es mastur- batorisch, oder weitergehend, ist bei Normalsexuellen nicht so häufig, wie die solitäre Onanie, dagegen ist bei abstinenten Normalen die Widerstandsfähigkeit homosexuellen Antragen gegenüber geringer und dementsprechend die passive Geneigtheit „mitzumachen" größer. m Beim weiblichen Geschlecht liegen die Verhaltnisse ganz analog. Viele jüngere und ältere Mädchen, vereinsamte Frauen, Witwen, „Strohwitwen" onanieren unter der Vorstellung sexuellen Umgangs mit einem Manne, wobei nicht selten die Phantasie materiell durch Phallusimitationen unterstützt wird. Wiederholt konnte ich Fälle beobachten, in denen Frauen zu Onanistinnen wur- den, weil der Gatte an Ejaculatio praecox litt. Dieses Leiden des Mannes bewirkt, daß die Erregungskurve der Frau noch ansteigt, während sie beim Manne bereits abgeklungen ist. Infolge- dessen fühlt die Frau sich nach dem Akte in keiner Weise entspannt und sucht durch Selbsthilfe eine Entlastung herbeizuführen. Diesen solitären onanistischen Ersatzhandlungen verwandt ist es, wenn sich normalsexuelle Frauen in Ermangelung eines Mannes von Viragines befriedigen lassen, sei es durch Digitatio oder cunni- 1 i n c t i o. Dabei pflegen sie sich ihrerseits meist passiv zu verhalten und vermeiden aktive Berührungen der weiblichen Person. Sehr häufig ist die surrogative Onanie bei sexuell Ab- normen aller Art. Auch hier ist die Auffassung, es entständen Perversionen aus Onanie, dahin zu berichtigen, daß die Onanie vielmehr eine Folge der nicht befriedigten Perver- sion ist. Bald ist es die mangelnde Gelegenheit zu adäquater Ent- spannung, bald die Furcht vor ihr und den Folgen, die diese Per- sonen zur Ipsation treibt. Ich kannte einen höheren Geistlichen, der lediglich aus Angst, er könnte einmal in der Beherrschung seiner krankhaften Neigungen versagen, jahrelang täglich vier- bis fünfmal masturbierte. Gewöhnlich pflegen sich die in ihrer geschlechtlichen Trieb- richtung von der Norm abweichenden Männer und Frauen bei der Onanie die Person, Sache oder Handlung vorzustellen, die sie geschlechtlich erregt ; homosexuelle Frauen denken an Frauen, Urninge an Männer ihrer Geschmacksrichtung, Fetischisten an ihr ■Symbol, Masochisten und Sadisten an die Passionen, welche sie be- gehren. Vielfach werden diese Vorstellungen durch das Lesen ent- sprechender Schilderungen oder den Anblick adäquater Keize ver- tieft. Fast jeder sexuell Anormale hat Bilder der ihn anziehenden Subjekte oder Objekte in seinem Besitz, viele erregen sich vor Schau- fensterauslagen. Erst kürzlich bildete sich um einen alten Mann, der V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 129 vor einem Korsettgeschäft in der Tauentzienstraße in Berlin unent- blößt, aber doch unverkennbar onanierte, ein Kreis spöttischer Beob- achter. Oder sie folgen auf weiten Wegen den sie sexuell anziehenden Gestalten, ohne sich im übrigen irgendwie auffällig zu machen. Bei Neuropathen oder Personen, deren Libido durch lange Enthaltung sehr gesteigert ist, kommt es dabei gelegentlich wohl auch, zu Eja- kulationen und zum Orgasmus, o h n e F r i k t i o n des Sexualorgans, lediglich durch die hochgradige geistige Sexualerregung. Diesen Vorgang hat man auch als g e i s t i g e oder Gedanken- onanie bezeichnet, auch als „moralische" Onanie (R o h 1 e d e r) oder „Onanie durch bloße Gedankenunzucht" (Hammond). Sie gilt als ganz besonders schädlich wegen „der immensen Verschwendung der Nervensubstanz und der dadurch herbeigeführten geistigen Schwä- chung". (R o h 1 e d e r 1. c. S. 28.) Seitdem H u f e 1 a n d in seiner be- rühmten Makrobiotik gesagt hat: „Die geistige Onanie ist ohne alle Unkeusckheit des Körpers möglich, sie besteht in der Anfüllung und Erhitzung des Gehirns mit wollüstigen Bildern", schlängelt sich der Begriff der psychischen Onanie durch die Fachliteratur, ohne daß er im Laufe der Zeit an Klarheit gewonnen hätte. Soweit ich die Ausführungen der Autoren übersehe, ist es dreierlei, was sie darunter verstehen: Einige sehen in der psychischen Onanie ledig- lich „Gedankenunzucht"; auch Hufeland scheint dies ge- meint zu haben, denn er spricht lediglich von der Anfüllung und Erhitzung des Gehirns mit wollüstigen Bildern, ohne Andeut ung einer dadurch bewirkten Ejakulation. Dies wäre aber etwas ganz anderes als das, was gewöhnlich unter Onanie verstanden wird. Andere meinen mit Gedankenonanie Onanie m i t bestimmten Vorstellungen im Gegensatz zu der gedankenlosen. Es wäre dies die oben als Surrogatonanie bezeichnete Form der Onanie, die an und für sich nicht schädlicher ist, als die ohne zentrale Phan- tasien ausgeübte. Noch andere stellen sich unter psychischer Onanie die durch bloße Vorstellungen ohne Manipulation an den Geni- talien bis zur Ejakulation gesteigerte Geschlechts- erregung vor. Das aber ist dann auch keine eigentliche Onanie, sondern gehört in das Gebiet der sexuellen Hyperästhesie. Deshalb ließe man in der Fachliteratur den Ausdruck psychische Onanie, den Huf eland wahrscheinlich ursprünglich nur bildlich und über- tragen gemeint hat, e t w a im Sinne dessen, was Ellis später unter sexuellem Tagtraum oder Eulenburg unter i d e e 1 1 e r K o - habitation verstanden hat, am besten gänzlich fallen. Tritt bei der sogenannten geistigen Onanie die Gehirntätig- keit ganz in den Vordergrund, so rückt sie bei einer weiteren Form, der unbewußten Onanie, fast völlig in den Hintergrund. Es wird nämlich vielfach von männlichen und weiblichen Personen behauptet, sie onanierten im Schlaf oder Halbschlummer, ohne daß sie Hirschf eld, Sexualpathologie. I. q V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation)^ sich dessen bewußt wären. Einer sorgsamen Nachprüfung hal len diese Angaben meistens nicht stand, ebensowenig wie die nicht seltenen Bekundungen, es habe jemand ein ihm zur Last gelegtes sexuelles Delikt im Schlaf begangen. . Doch pflegen dann meistens die von den Zeugen berichteten Nebenumstände derartig zu sein, daß sie die behauptete Bewußtlosig- keitwiderlegen. Andererseits kann aber nicht m Abrede gestellt wer- den daß es vorkommt, daß Personen, die einen wollustigen Traum haben, schlafend mit dem erigierten Gliede stoßweise Bewegungen ad ejaculationeni ausführen oder während der Pollution mit der Hand nach dem Geschlechtsteil greifen, wobei es sich dann m der Tat um ein Zwischending zwischen Pollution und Onanie handeln würde. Noch eine andere Art unbewußter Onanie, die wachend vorgenommen wird, ist zu erwähnen. Sie besteht dann, daß die Ge- schlechtsteile durch Gegendrücken an einen festen Gegenstand erregt werden, ohne daß die Betreffenden wissen, daß es sich um eine&Onanie handelt. Namentlich bei Mädchen und Frauen bin ich dieser unbewußten Onanie oft begegnet. So schreibt eine geistig hochstehende Frau von 27 Jahren, eine Oberin: „Ich onanierte nie- mals, aber als ich 5 Jahre alt war, lehnte ich mich einmal mit dem Leib an ein Geländer. Durch den starken Druck gegen die Schoß- und Schamgegend löste sich ein eigenartiges Gefühl bei mir aus, das sehr schön war. Ich sagte damals zu meiner kleinen Cousine, sie möchte das auch einmal probieren, es wäre dann in einem wie wundervolles G lockenläuten. Ich habe dies dann sehr oft wiederholt an Fensterbänken und Bettstellen, ohne eine Ahnung zu haben, daß es etwas Sinnliches wäre. Erst mit 14 Jahren wurde es mir klar, daß es ein richtiges geschlechtliches Gefühl sei. Bis heute noch ist meine einzigste sexuelle Auslösung dieser feste fast schmerzhafte Druck gegen einen Bettpfosten oder eine hölzerne Lehne. Fast alles, was ich im Leben an Befriedigung empfunden habe, verschaffte ich mir auf diese Art. Beim Manne — Patientin ist jetzt verheiratet — reagiere ich sehr schwer und äußerst selten." Eine andere Dame, eine Engländerin, berichtet: „Im Alter von 27 Jahren begann ich zu onanieren, als ich erkältet an der Riviera im Bett lag. Ich hatte eine Wärmflasche bekommen und verspürte ein so angenehmes Ge- fühl, als ich sie gegen die Geschlechtsteile drückte, daß ich es immer wieder tat. Daß dies die Onanie sei, wußte und begriff ich lange Zeit nicht. Es war mir bis dahin überhaupt unbekannt, daß von diesen Partien beim Anrühren solche Empfindung ausstrahlt." V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Verbreitung und Häufigkeit der Ipsation Berücksichtigen wir die vielen zentralen und peripheren Ur- sachen, die zur Onanie führen, so kann es nicht wundernehmen, daß die Zahl derjenigen, die in ihrem Leben niemals onaniert haben, verschwindend gering ist im Vergleich zu der übergroßen Mehr- zahl männlicher und weiblicher Personen, die für kürzere oder längere Zeit der Selbstbefriedigung ergeben waren. Die meisten Sachkenner stehen heute mit K o h 1 e d e r auf dem Standpunkt, daß „neunzig Prozent Masturbanten unter dem Menschengeschlecht" nicht zu hoch gegriffen sind. Allerdings sind wir dabei im wesent- lichen auf Schätzungen angewiesen, denn die bisherigen sta- tistischen Untersuchungen erstrecken sich auf zu wenig Personen, um eine geeignete Unterlage zu bieten. Julian Marcus« wurde unter 210 Fällen 196mal stattge- fundene Onanie bejaht, 14mal verneint, das wäre ca. 93%. Eine Umfrage, die Meirowsky unter Ärzten veranstaltete, ergab, daß von 88 nur 10 nie h t masturbiert hatten, mithin betrug der Prozent- satz der Onanisten 88,7. Bei einer früheren Rundfrage fand er unter 170 Studenten 121 Onanisten. Eine in Budapest vorgenommene sexualpädagogische Enquete ergab 96,7% Masturbanten. Pro- fessor Duck ermittelte unter 119 erwachsenen Männern folgendes- 4 (3,4%) hatten weder onaniert noch koitiert; 7 (5,8%) hatten schon koitiert, niemals aber vorher onaniert; 68 (57,2%) onanierten, weil ihnen die Gelegenheit zum Koitus fehlte; 40 (33,6%) geben, trotzdem sie ebenso leicht hätten koitieren können, der Onanie den Vorzug zusammen also 90,8% Onanisten. In England stellte der Schularzt Dukes bei 90—95% der Schuler Onanie fest; aus Amerika berichtet Seerley, daß von 125 Studenten nur 6 Onanie in Abrede stellten. Einige Autoren sind zu noch höheren Zahlen gelangt, so spricht Professor Oskar Berger sich (im Archiv für Psychiatrie Bd. 6, 1876) dahin aus daß jeder Erwachsene ohne Ausnahme in seinem Leben einmal Onanist gewesen sei. Er sagt: Die Masturbation ist eine so ver- breitete Manipulation, daß von hundert jungen Männern und Mäd- chen 99 sich zeitweilig damit abgeben und der Hundertste, wie ich zu sagen pflege, der reine Mensch, die Wahrheit verheimlicht6) " Und Stekel\> erklärt geradezu: „Alle Menschen ona- nieren. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme, wenn man einmal weiß, daß es eine unbewußte Onanie gibt." Auch ich bin auf Grund umfangreicher Nachforschungen zu dem Ergebnis gelangt, daß Männer und Frauen, die niemals bewußt a) Zitiert nach Rohleder, S. 50. 7) Wiener Diskussion S. 31. 9 ' 132 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) oder unbewußt onanistische Handlungen an ihrem Korper vorge- nommen haben, selten sind. Jedenfalls bilden sie Ausnahmen von der Kegel und ich kann nicht behaupten, daß sie sich von denen, die Selbstbefriedigung zugeben, durch hervorragende körperliche oder geistige Fähigkeiten auszeichneten. Sie machten eher den Eindruck von Sonderlingen als die Onanisten. Namentlich machte es mich stutzig, daß unter denen, die mich konsultierten, weil sie sich nach Eingehung der Ehe zu ihrer eigenen schmerzlichen Uber- raschung als impotent erwiesen, mehrere waren, die nicht nur jeden früheren Geschlechtsverkehr, sondern auch jegliche Vornahme von Onanie in Abrede stellten. Neuerdings habe ich unter 500 für zuverlässig gehaltenen Per- sonen verschiedenen Alters und Standes, teils Patienten, teils anderen eine Umfrage über Vorkommen, Beginn, Häufigkeit und Formen der Selbstbefriedigung veranstaltet. 480 unter 500 gestanden zu, zu onanieren oder früher onaniert zu haben. Mithin: Onanisten 96°/0 Nichtonanisten. . . 4°/0 Sehr verschieden ist die Verbreitung der Ipsation nach den ver- schiedenen Altersklassen. In erster Linie ist sie eine Erscheinung der Entwicklungsjahre. In unseren Breiten dürfte es das Alter von 14 bis 18 Jahren sein, in dem bei weitem am meisten onaniert wird. Auch 3 bis 4 Jahre vorher und nachher, also im Alter von 10 bis 14 und von 18 bis 22 Jahren ist die Zahl der Onanisten noch recht bedeutend; wesentlich geringer ist sie dann in der Zeit vor dem 10. und nach dem 22. Lebensjahre, sie kommt aber auch noch nach dem 30. Jahre und später bis ins höchste Greisenalter hinein vor, wie es andererseits auch Fälle gibt, die bis in das früheste Säuglingsalter zurückreichen. Ob freilich durch das „Spielen" der Kinder am Gliede schon regelrechteOrgasmen ausgelöst werden, erscheint zweifelhaft, obwohl die Angehörigen nicht selten Fälle berichten, in denen das erregte Gebaren der Kinder solches vermuten läßt. Donner be- obachtete einen 21/2jährigen Onanisten, den Sohn eines Offiziers, welcher auf dem Boden herumrutschte, bis er eine Erektion und an- seheinend wollüstige Gefühle hervorrief, schließlich provozierte er diese ihm angenehme Sensation täglich 8 bis lOmal. Der Junge magerte sehr ab, war sehr ermattet und bekam Krämpfe. Durch einen mehrmonatlichen Aufenthalt an der See erholte er sich dann wieder. Man hat auch in dem Daumenlutschen und sonstigen Ludel- bewegungen der Kleinen, dem Suctus voluptabilis eine erotische onanistische Handlung erblicken wollen; ebenso im Nasenbohren. Daß dieses Saugen und Bohren den Kindern Lust bereitet, ist ohne weiteres zuzugeben, ob aber diese Lust eine geschlecht- V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 133 liehe ist, erscheint mehr wie zweifelhaft, es sei denn, man hält jegliche Lust für erotisch. Mit demselben, ja mit mehr Recht, wie man das Lutschen für eine sexuelle, kann man das gedankenlose Spielen am Gliede bei Kindern für eine unerotische Lusthandlung ansehen, da wohl die empfindsamen peripheren Tastkörperchen, nicht aber die eroti- sierende Rauschsubstanz vorhanden ist, die erst nach der Reife die Nervenzentren umspült und erotisiert. Daß allerdings die Spermasekretion kein unbedingtes Erfordernis wollüstiger Er- regung ist, zeigen die übereinstimmenden Angaben von Knaben, die bereits vor der Samenabsonderung mit Lustgefühlen onanierten, sowie die oben S. 10 von mir erwähnte Tatsache, daß auch Personen, bei denen infolge von Hodenverkümmerung überhaupt kein Sperma gebildet wird, mit Wollustempfindungen der Onanie frönen. Den Beginn der Onanie festzustellen ist für die Sexual- pädagogik von höchster Wichtigkeit. 437 von 500 machten mir glaub- hafte Angaben über den Zeitpunkt, in dem sie der Selbstbefriedigung verfielen. Das Ergebnis veranschaulicht folgende Kurve. Die oberste Zahlenreihe enthält die Lebensjahre von 4 — 24. Die unterste Zahlenreihe gibt an, wie sich in absoluten Zahlen die Onanisten auf diese Lebensjahre verteilen, beispielsweise begannen von 437 66 im Lebensjahr 4. 5. 6. 7. S. 9. 10 lt. 12 13. 11 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 2k 15% »X 13% 12% 11% 10% 9% 8% '7% 6% 5% i-l 3% 2% n o% m % '37% \ 7% — 'O 3% V ^2.8 2 '1.8' % 1.6% 4 25% 95% 025 $37 134 V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 12., 60 im 13. und 68 im 14. Lebensjahr mit der Onanie. Die seit- liche Reihe enthält die in Betracht kommenden Prozentzahlen von 0— 16°/o, während neben der Kurve selbst die genauen Prozentzahlen in den betreffenden Lebensjahren vermerkt sind. Nach dieser statistischen Tabelle fällt der Beginn der Ona- nie vorzugsweise in das Alter von 12—14 Jahren, es begannen von 437 Onanisten: 194 d. s. 44,4°/0 zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr, 101 d. s. 22,9°/o vor dem 12. Lebensjahre, 142 d. s. 32,7°/0 nach dem 14. Lebensjahie. 437 = 100 °/o. Im allgemeinen kann man sagen, daß mit dem Abschluß der Reifezeit und der Aufnahme regelmäßigen Geschlechtsverkehrs der onanistische Drang nachläßt und bald völlig verschwindet. Dies gilt aber nicht für alle, ja es gibt sogar verheiratete Männer und Frauen, die Kinder haben, welche selbst bereits schon onanieren und die doch nicht von zeitweiser Selbstbefriedigung lassen können. Namentlich finden wir diese Fälle unter gewissen Psychopathen und Neuropathen, bei denen die Onanie den Charakter einer Zwangs- handlung trägt oder bei denen sie dauernd die ihnen entsprechendste Form sexueller Entspannung bleibt. Sehr verschieden ist die Anzahl onanistischer Akte beim ein- zelnen. Ich selbst habe Fälle gesehen, und auch von anderen sind sie beschrieben worden, in denen Leute sehr lange Zeit fünfmal und öfter am Tage masturbierten. Eine beträchtliche Menge ona- niert täglich einmal, meist abends im Bett oder früh, viele gewohn- heitsmäßig zwei- bis dreimal in der Woche. Manche wiederum ona- nieren fast regelmäßig einmal in der Woche und andere nur ein- bis zweimal im Monat. Es gibt auch Personen, bei denen dieser Akt nur einmal vierteljährlich, halbjährlich oder jährlich vorkommt; 5 Fälle kenne ich, davon betreffen 3 Frauen, die in ihrem Leben nur ein einziges Mal und dann nie wieder Selbstbefriedigung ge- trieben haben. Unter den 500 von uns befragten machten 283 glaubhafte An- gaben über die Häufigkeit der onanistischen Betätigung, und zwar betätigten sieh: 109 => 39°/o zweimal wöchentlich oder seltener, 174 = 61°/o öfter als zweimal wöchentlich. 283 = 100°/o. Nicht selten führen Onanisten genau Buch über die einzelnen Daten. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 135 In meinem Besitze befinden sich mehrere Onaniekalender, die mir von Patienten übergeben wurden. Ich gebe zwei Proben. So finden sich in einem kleinen Notizbuch mit der Überschrift „1897" folgende Eintragungen: 1897: 5. I. — 7. I. — 9. I. — 15. I. — 17. I. — 20. I. — 23. 1. — 25. I. — 31. I. — 3. IL — 6. IL — 10. IL — 16. IL — 17. IL — 5. III. — 10. III. — 13. HL — 17. III. — 21. III. — 23. III. — 28. III. - 2. IV. — 8. IV. — 15. IV. = P. — 23. IV. — 25. IV. — 28. IV. — 3. V. — 4. V. — 11. V. — 15. V. = P. — 16. V. — 21. V. — 23. V. — 27." V. — 30. V. — 2. VI. — 6. VI. — 7. VI. = P. — 18. VI. — 22. VI. — 27. VI. — 1. VII. — 4. VII. = P. — 6. VII. — 10. VII. — 15. VII. — 17. VII. — 26. VII. = P. — 27. VII. — 29. VII. — Auf der Reise: 3. VIII. — 10. VIII. — 12. VIII. — 13. VIII. — 15. VIII. =T. — 17. VIII. = 2°. — 3. IX. — Beilin: 10. IX. — 16. IX. — 23. IX. — 26. IX. — 3. X. — 5. X. = P. — 7. X. = P. — 15. X. — 17. X. — 20. X. — 22. X. — 25. X. — 31. X. — 3. XL — 8. XI. — 12. XL — 15. XL — 20. XL = P. & O. — 21. XL — 26. XL = P. — 28. XL - 30. XL — 1. XII. — 10. XH. — 19. XII. — 30. XII. Ein anderer (1890 geboren) überreichte mir die folgende Tabelle seiner „Onanien (+), Pollutionen (=) und durch Berührung weib- licher Hände herbeigeführten Ergüsse (i)". Einen regelrechten Koitus hatte er bisher aus Furcht vor den Folgen noch nicht voll- zogen : Jahr .lan. Felir. März April Mai Juni Juli Aug Sept. Okt. Nov. Dez. d S 65 + + + + + + + + + + + + f ! r + + + + + + + + + 4- + + + + + + + + i ; + + + 1908 4 1 9 7 5 7 1 6 1 1 ■■'> 1 2 ir, 3 3 1909 4 1 5 2 5 I 6 2 4 1 1 7 1 1 6 1 8 7 4 3 5 1 Hl !) 3 1910 5 2 4 ii 3 1 8 1 (i 1 8 1 6 9 4 1 S 1 5 7l> 8 0 1911 7 5 7 1 3 1 8 7 h\ 5 3 I Ii 4 5 1 6S 4 0 1912 6 1 3 2 4 5 3 I 4 I 3 1 4 1 2 2 5 4 4 47 9 0 1913 Die Anzahl der Jahre, in denen die einzelnen Selbst- befriedigung treiben, beträgt in den meisten Fällen 3 bis 4 Jahre, oft auch nur 1 bis 2 Jahre, häufig aber auch 5 bis 10 Jahre, selbst mehr, doch sind mir und anderen Sexualforschern auch Fälle vor- gekommen, in denen sich die Onanie von der Keifezeit an über die ganze Lebensdauer erstreckte. Viel umstritten ist die Frage, ob die Ipsation bei dem weiblichen Geschlecht ebenso verbreitet ist, wie bei dem männlichen. Nach meinen Erfahrungen ist dies zu bejahen. Nur bestehen binsichtlich der Onanie in den verschiedenen Lebens- altern gewisse Unterschiede. In der ersten und zweiten Kindheit bis zur Pubertät ist ihr Vorkommen bei beiden Geschlechtern 136 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) gleich. Inder Eeifezeit selbst aber scheint sie bei den J ungen verbreiteter infolge der größeren motorischen Unruhe und Aktivität des männlichen Geschlechts, andererseits sind aber bei den Mädchen durch periodische Äff luxe allerlei sensitive Reize an den Genitalien gegeben, die bei den Knaben fehlen. Nach Ab- schluß der Reifezeit aber bieten sich für die Männer viel mehr Möglichkeiten und Gelegenheiten zu der ihnen entsprechen- den Geschlechtsentspannung als für die zahllosen unbefriedigten, vereinsamten, ledigen Frauen, so daß etwa vom 20. Lebensjahre ab die weibliche Surrogatonanie an Häufigkeit die männliche weit übertrifft. Infolgedessen dürfte die Ge- samtziffer onanistischer Akte sicherlich wohl bei beiden Geschlech- tern die gleiche sein. Abwegig ist auch die Annahme, wie sie beispielsweise noch Paul Mantegazza vertrat, die Onanie sei „eine der bitteren Früchte der Zivilisation". Es trifft ja zu, daß Ehelosigkeit unter Männern und Frauen der Naturvölker eine sehr seltene Er- scheinung ist und daß dadurch die aus Mangel an sexuellem Ver- kehr entstehende Selbstbefriedigung weniger oft vorkommt, im übrigen aber ist die Onanie auf der Erde so ubiquitär wie der Koitus selbst; wir finden sie unter allen Himmelsstrichen, in Stadt und Land, bei arm und reich, hoch und niedrig in gleicher Weise vertreten und heute genau so wie schon in biblischer Zeit. Gerade diese ihre Allgemeinheit legt immer wieder den Gedanken nahe, daß ihr bis zu einem gewissen Grade ein physiologischer Charakter innewohnt. Ist sie doch auch bei Tieren nachgewiesen und vielfach beob- achtet worden; teils klopf en diese mit dem harten Geschlechtsglied an eine festere oder weichere Unterlage, teils drücken sie es reibend zwischen die Hinterbeine oder bedienen sich noch anderer Kunst- griffe, bis der Same abspritzt. Nicht nur bei Pferden, Hunden und A f f en, welch letztere mit den Händen masturbieren, hat man solches gesehen, sondern auch bei vielen anderen Tieren, wie brünstigen Hir- schen, die sich an Baumstämmen reiben, Schafen, Katzen, Kamelen und Elefanten. Wenn allerdings Röhl «der8) sagt: „Es muß immer wieder betont werden, daß Tiere nur onanieren, wenn sie keine Gelegenheit haben, den Normalakt zu vollführen", so scheint es mir, als ob wir bisher in die seelischen Regungen der Elefanten und Kamele denn doch zu wenig eingedrungen sind, um über die positiven und negativen Beweggründe ein Urteil abgeben zu können, welche bei ihnen masturbatorische Handlungen auslösen. Wie Mantegazza irrtümlicherweise meinte, daß die Onanie nur bei zivilisierten Völkern vorkomme, versuchte Donner zu s) Rohleder, 1. c. 55. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 137 beweisen, daß sie sieh erst in neuerer Zeit, und zwar hauptsäch- lich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in so riesigem Umfange verbreitet hätte. Er schreibt: „Wenn auch an- genommen werden kann, daß die Onanie jahrhundertelang ihr Wesen im Verborgenen treiben konnte, so ist doch sicher, daß sie mehr die neueren Geschlechter aufsucht, und ihre Verheerungen scheinen immer mehr zuzunehmen. Bei den alten Griechen und Kömern spielte die Gymnastik eine große Rolle. Die Schönheit, Grazie, Kraft und Behendigkeit des Körpers, mit welcher die Onanie nicht vereinbar ist, genoß eine Art göttlicher Verehrung, und was mir noch wichtiger erscheint, die Geschlechtsbedürfnisse konnten auf jede Weise befriedigt werden, da man den jungen Leuten nicht nur keine Hindernisse in den Weg legte, sondern ihnen diesen Ver- kehr geradezu ermöglichte und erleichterte, und da weiterhin die Geschlechtskrankheiten noch nahezu unbekannt waren." Die Annahme, daß die antiken Schriftsteller die Onanie nicht erwähnten, trifft nicht zu. Bekannt ist die Erzählung über den Philosophen Diogenes, der auf dem Markte onaniert und bemerkt haben soll, er bedaure, sich den Hunger nicht ebenso vertreiben zu können, wie die Geilheit. Ebenso wie in der attischen Komödie spielt bei den römischen Satirikern, zumal bei Martial, Juvenal und Petron die Onanie eine sehr große Rolle9). Auch auf die weibliche Selbstbefriedigung wird vielfach Bezug genommen, und zwar ähn- lich wie in der Bibel, wo der Prophet H es e kiel sich beschwert, daß die Weiber mit Nachahmungen männlicher Glieder aus Edel- metall „gehuret" hätten, gewöhnlich auf die instrumentale Onanie. So spielt Aristophanes in der Komödie „Der Friede" auf Selbst- befriedigung der Weiber mit einer Möhre an. Daß bei den Medi- zinern des Altertums, Hippokrates, Galenus und Celsus, nichts über Onanie vorkommt, läßt nur den Schluß zu, daß sie die Onanie nicht als pathologisch betrachteten, keineswegs aber, daß sie sie nicht gekannt haben. Ipsatioiisformen Sowohl bei dem weiblichen wie bei dem männlichen Ge- schlecht kann man drei Hauptformen der Ipsation unterscheiden, die manuelle, femorale und kohabitoide (beischlafsartige). Erwähnenswert ist, daß fast jeder dieihmeigeneOnanieform dauernd beibehält. Der Schenkel onanist wird sich nur selten der 8) Vgl. die Arbeiten von Licht über den nai6oiv igus in der griechischen Dichtung im Band VIII und IX der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen und Band VII der Anthropophyteia. 138 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) Hände, der Manusturbant im ursprünglichen Sinne dieses Wortes kaum je der Schenkel bedienen. Die verbreitetste Art der Onanie ist zweifellos bei beiden Ge- schlechtern die manuelle. Hierbei werden die empfindsamen Wollustkörperchen der glans penis oder glans clitoridis durch Streichungen und Vibrationen, unmittelbar oder mittelbar, beispiels- weise durch Hin- und Herstreifen des Präputiums, oder Zerren der Labia minora (die gewissermaßen das Präputium der clitoris sind 10), so lange gereizt, bis sich die kumulierende Erregung re- flektorisch ähnlich wie beim Koitus auf das spinale und zere- brale Sexualzentrum fortpflanzt, von wo aus die Erschütterung dann zentrifugal auf die motorischen Nervenbahnen übergeht. Durch diese wird dann schließlich gleichzeitig eine Aus- stoßung externer Sekrete nach außen und interner Rausch Stoffe über zerebrale Nervenganglien bewirkt. Nach den an meinem Material gesammelten Erfahrungen onanieren über dreiviertel aller männlichen Ipsanten in dieser Weise manuell und auch von den weiblichen gut die Hälfte. Zur Reiz- und Lust- verstärkung werden nicht selten drückende und ziehende Bewegungen in der Umgebung, von Frauen mit Vorliebe an den kleinen Scham- lippen, von Männern an der Skrotalhaut vorgenommen. Varianten der meist mit der rechten Hand vorgenommenen manuellen Ipsation sind die bimanuelle, bei welcher das Membrum zwischen den beiden flachen Händen hin- und hergerollt wird, eine bei wilden Völkern viel geübte Abart. So berichtet Günther Teß- m a n n ") von dem westafrikanischen Negerstamm der Pangwe, daß sie bei der Onanie dadurch die Geschlechtslust auslösen, daß sie das Glied „quirlen". Eine andere Methode besteht darin, daß die Hohlhand nicht bewegt, sondern stillgehalten wird und mit dem Körper stehend oder liegend in sie hinein beischlafähnliche Be- wegungen ausgeführt werden. Diese Abart, bei der die Hand ge- wöhnlich eingefettet wird, stellt einen Übergang dar zwischen der manuellen und der kohabitoiden Ipsation. Die zweithäufigste Art der Onanie ist bei Männern die femorale, wobei das Membrum zwischen die vibrierende Oberschenkelmuskulatur gepreßt wird. Auch beim Weibe findet sich diese Form des Drückens der Klitoris und der Labien durch die aneinandergepreßten Schenkel. Dem Schenkelreiben wird deshalb vielfach der Vorzug gegeben, weil es die Selbstbefriedigung in Anwesenheit anderer, an öffentlichen Orten, vielfach im An- 10) Vgl. Otto Adlers Diskussionsbemerkung zum Vortrag Liebermann „Uber erogene Zonen". Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 1, S. 35. ") Die Pangwe. 18. Abschnitt von GüntherTeßmann. Völkerkundliche Mono- graphie eines westafrikanischen Negerstamms. Ergebnisse der Lübecker Pangwe-Expedition. 1907—1909 und früherer Forschungen, 1904—1907. Berlin 1913. Wasmuth. V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 139 blick eines Fetischs, ermöglicht, ohne daß jemand den Vor- gang wahrnimmt. So hatte ich einen Patienten, der in der elektrischen Straßen- bahn oder im Eisenbahnwagen, wenn er Frauen mit über- geschlagenen Beinen sich gegenübersah, diese von keinem beobachtete Manipulation bis zur Ejakulation an sich vor- nahm; eine von mir behandelte Frau tat das gleiche bei der Be- obachtung hoher Sporenstiefel. Ein Kechtsanwalt meiner Klientel ejakulierte auf diese Art täglich fünfmal, und zwar mit erstaunlicher Kunstfertigkeit. Namentlich wenn der von Hause aus sehr neuropathische Mann in Aufregung und Angst war, entspannte er sich durch Oberschenkeldruck mehrere Male hintereinander, beispielsweise während er im Gerichtsgebäude auf eine Verhandlung wartete; indem er sich im Korridor mit dem An- geklagten unterhielt, lehnte er sich an eine Säule und onanierte unbemerkt. In seinen Aufzeichnungen heißt es: „Soweit ich mich entsinnen kann, fing es in der dritten Volksschulklasse an, im Alter von etwa 9 Jahren. Entstanden ist es bei Gelegenheit der Be- arbeitung einer Bechenaufgabe. Ich konnte diese nicht gleich lösen, geriet darüber in große Erregung, schlug die Beine zusammen, drückte heftig und hatte gleich darauf ein unbeschreiblich wohliges Gefühl. Seitdem blieb bis auf den heutigen Tag ein Hauptmotiv zur Onanie eine schwierige geistige Arbeit, an die ich mich zu machen hatte. Das ist mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich bei fast jeder geistigen längeren Arbeit einige Male onaniere; ohne dies kann ich fast gar nicht arbeiten. Je drängender und wichtiger die Arbeit ist und je kürzer die dazu zur Verfügung stehende Zeit, um so leidenschaftlicher und heftiger ist der Drang zur Onanie. Namentlich bei schriftlichen Prüfungen ist dieser Drang ein ganz ungeheurer gewesen. Nie onanierte ich vielleicht mehr als zur Zeit, da ich mein juristisches Staatsexamen ablegte (schriftliche Prüfung). Hier onanierte ich täglich vielleicht 15mal odermehr; an manchen Tagen (der Konkurs dauerte 14 Tage) auch etwas weniger. Ob ich die Arbeiten daheim oder auswärts mache oder in der Kanzlei, stets ist der Drang zur Onanie dabei gleich heftig, und muß ihm ohne Widerstand nachgegeben werden." Eine dritte Form der Ipsation, die ebenfalls recht häufig ist, imitiert den Koitus. Männer führen durch beischlaf ähn- liche Bewegungen gegen eine Unterlage, wie Kissen, Bettzeug, Erektion, Orgasmus und Ejakulation herbei. Sie verfertigen sich dabei nicht selten aus Tüchern scheidenartige Öffnungen oder stecken den Phallus in vorhandene Löcher und Spalten. Einer meiner Patienten, ein 21jähriger Student, gibt folgende Besehrei- bung: 140 V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) „Seit meinem 14. Jahre ahme ich den Geschlechtsakt durch Stoßen mit dem Bauch gegen das Bett nach; zuerst tat ich es zwei Wochen lang jeden zweiten Tag, dann lange Zeit ganz regelmäßig jede Woche, dann in größeren unregelmäßigen Abständen, jetzt oft monatelang nicht. Zeitweise übte ich auch folgenden Modus: Aus- gekleidet in der Badekabine habe ich, vor oder nach dem Bad, das ge - spannte Leintuch unter dem erigierten Penis mit beiden Händen gehalten und ihn so lange durch rasches Spannen und Nachlassen gereizt, bis die Ejakulation kam; oder ich führte dasselbe durch Ziehen und Reiben eines Handtuchs über den Penis herbei. Ich bin der vollen Überzeugung," fügt Patient hinzu, „daß ich nie in Onanie verfallen wäre, hätte ich von Jugend auf mit Mädchen intim — ich meine nicht körperlich — verkehrt. Denn zur Zeit meiner Tanz- stunde, in der ich auch ein Mädchen liebte, erlosch jegliche Onanie» und ich war die ganze Woche in einem angeregten Zustand. Als die Tanzstunde aufhörte, kam die regelmäßige Onanie wieder. Mich zu befreien, ist trotz größter Anstrengung bisher unmöglich ge- wesen." Ein anderer Masturbant, der zu mir kam, onanierte, indem er sich auf eine Kleiderbürste setzte. Diese verknüpfte er mit der Vorstellung einer behaarten Vulva. Er gibt an, daß ihm „die Natur zum erstenmal gekommen sei", als er als Junge von 14 Jahren zu- fällig nackend auf einer Kleiderbürste saß; seitdem — er ist jetzt im 28. Jahre — befriedigt er sich mehrmals wöchentlich auf diese Art. Beim weiblichen Geschlecht dürfte die kohabitoide Form, bei der ein phallusersetzender Gegenstand bis zum Orgasmus in der Scheide hin- und hergeschoben wird, neben der Klitorisvibration die üblichste Onanieform sein. In erster Linie wird zu diesem Zweck ein Fiuger benutzt, gelegentlich auch zwei, oder ein künstliches Glied aus Gummi — es gibt solche mit milchgefüllten Druckballons — oder irgendein beliebiger Gegenstand. Seitdem sich der Anatom Hyrtl eine merkwürdige Sammlung von Körpern anlegte, die er bei Obduktionen aus dem oberen Scheiden gewölbe entfernt hatte, zieht sich durch die Literatur ein seltsames Verzeichnis dieser Artikel, das mit Rüben, Bananen und Siegellackstangen zu beginnen und mit Rosenkränzen, Rasierpinseln, einem Maikäfer und einer zu- sammengeknitterten Speisekarte zu enden pflegt. Mir selbst teilte vor einiger Zeit ein Kollege folgenden Fall mit: „Kürzlich onanierte in einem großen Werke eines Elektrokon- zerns auf dem Abort eine Arbeiterin mit einer Selterwasser- flasche. Durch die Bewegungen bildete sich in der Flasche ein Vakuum, das ein Herausziehen unmöglich machte. Auf ihr Stöhnen hin kam eine Kollegin zu Hilfe. Die Arbeiterin wurde ohnmächtig, worauf der Heilgehilfe des Werkes sowie der Vertrauensarzt herzu- gerufen wurden. Bis zum Eintreffen des Arztes bemühten sich der V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 141 Heilgehilfe und die Arbeitskollegin vergebens, den Eindringling zu entfernen. Der Arzt ließ sich einen kleinen Hammer geben, mit dem er den Boden der Flasche einsehlug und erlöste dadurch die Arbeiterin von ihrem Übel." Eine sehr seltene Abart der Selbstbefriedigung ist die orale, ausgeführt durch Heranbringung des eigenen Mundes an die Geni- talien. Beim Weibe dürfte diese Form wohl überhaupt nicht möglich sein, beim Mann aber kommt sie ausnahmsweise vor; Voraussetzung ist eine ungewöhnliche Biegsamkeit des Körpers. K r a f f t - E b i n g berichtet einen Fall, in dem ein Patient die Fellatio an sich selbst vornahm. Von einem Aktphotographen wurde mir vor Jahren die Photographie eines Römers übersandt, der sich in dieser Stellung aufnehmen ließ. Ferner besitze ich von zwei anscheinend zuverlässigen Patienten entsprechende Mitteilungen, der eine schreibt, daß er onaniert, indem er auf dem Rücken liegend die Beine über den Kopf schlage und so membrum suum in os proprium praktiziere. Noch zwei weitere Formen der Onanie sind zu erwähnen: die urethrale und mammillare. Man hat wiederholt beobachtet, daß sowohl Kinder wie Erwach- sene allerlei Objekte in die Harnröhre praktizieren, wie Erbsen, Bohnen, Blumenstiele, Strohhalme, Kornähren, Zahnstocher, Strick- nadeln, Stecknadeln, Bleistifte, Federhalter, Sonden, Streichhölzer und ähnliches. Sowohl männliche wie weibliche Personen hat man bei solchem Tun betroffen und etliche Male hat man auf operativem Wege aus der Harnröhre derartige Gegenstände entfernen müssen, die sich hierbei festgebohrt hatten; ja selbst aus der Harnblase, in die sie hineingeschlüpft waren, mußten sie extrahiert werden. Ich bin der Meinung, daß man von einer eigentlichen Onanie hier nicht reden kann. Teils handelt es sich um Spielereien, wie sie analog von Kindern an allen Körperöffnungen, Gehörgang, Nase, After vorgenommen werden. Nicht selten liegt auch eine absichtliche Schmerzerzeugung auf automasochisti scher Grundlage vor. Auch kommt es bei Frauen vor, daß versehent- lich ein spitzer Gegenstand von der Vaginal- nach der benachbarten Urethralöffnung gleitet. Sicherlich kann auch durch leichtere Be- rührungen der inneren Harnröhrenschleimhaut eine Art Kitzel her- vorgerufen werden, daß aber dieser eine geschlechtliche Er- regung oder gar eine Ejakulation bewirkt, halte ich nach den Erfahrungen meiner Praxis für nahezu ausgeschlossen. Anders ist es mit der Mammalonanie. Die erektilen Brust- warzen stellen in der Tat bei beiden Geschlechtern eine erogene ZoneersterOrdnung dar. Ihre Nervenendkörperchen stehen mit den Genitalorganen in engem Konnex. Sie verhalten sich darin ganz ähnlich wie die der Lippenschleimhaut. Es ist ja bekannt, wie leicht die Mundberührung im Kuß zu Erektionen führt. Die Mammal- 142 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) onanie, welche gewöhnlich mittels Eeiben der Brustwärzchen zwischen zwei sich bewegenden Fingern ausgeführt wird, wird teils als Reizverstärkung bei der gewöhnlichen Onanie vorgenom- men, teils aber auch als ausschließliches Reizmittel bis zum Höhepunkt der Erregung fortgesetzt, indem es dann beim Weibe zum Ausstoßen des Zervikalpfropfes, beim Manne zur Ejakulation kommt. Erst kürzlich wurde ich in einem Falle um Rat angegangen, in dem ein SOjähriger Mann seit vielen Jahren vor dem Spiegel ledig- lich durch Ziehen, Rollen und Reiben der Brustwärzchen so lange masturbierte, bis Pollution eintrat. Auch hier handelt es sich oft um eine unbewußte oder lar- vierte Onanie, besonders dann, wenn es vermieden wird, die star- ken Lustgefühle bis zur Spermasekretion zu steigern. Im Zusammenhang hiermit muß endlich noch kurz auf drei Onanievariationen eingegangen werden, die Onania pro- longata, interrupta und incompleta. Die protra- hierte Onanie besteht darin, daß der mit der Ejakulation verknüpfte Lusthöhepunkt absichtlich recht lange hinausgeschoben wird. Sobald der Onanist merkt, daß die Vorlust sich diesem Endstadium nähert, stellt er die Friktionen ein, um sie nach einer Pause wieder aufzunehmen. Es gibt Fälle, in denen der sexuelle Akt durch diese Unterbrechungen bis zu einer Stunde und darüber hinaus verlängert wird. Daß der Verbrauch von Nervenkraft dadurch erheblich vermehrt wird, liegt auf der Hand. Im übrigen ist die Zeit vom Friktionsbeginn bis zur Ent- ladung bei der Onanie individuell genau so verschieden wie beim Koitus, sie variiert zwischen wenigen Sekunden — sich damit dem Vorgang der Ejaculatio praecox nähernd — und vielen Minuten, 20 und mehr. Wie der übermäßig prolongierte, so greift auch der vor dem Endstadium gänzlich unterbrochene Masturbationsakt — die Onania interrupta — das Nervensystem infolge gestörter Reaktion stark an. Für beide gilt das, was Alexander Payer in seiner Broschüre „Der unvollständige Beischlaf" (Stuttgart 1890) ausführt. „Durch die Ejakulation und die dieselbe bedingende Kon- traktion der Genitalmuskeln wird nun der in seinen erektilen Ge- bilden und kavernösen Räumen mit Blut überfüllte Genitalschlauch von Blut entlastet und zugleich das Erektionszentrum mit dem Ejakulationszentrum funktionell außer Tätigkeit gesetzt,.., je vollkommener die Depletion des blutüberfüllten Genital- schlauches ist, um so behaglicher und wohler fühlt sich der Be- treffende. Gerade aber diese Bedingung fehlt beim Coitus reser- vatus." Von dem gewöhnlichen Coitus interruptus unterscheidet sich die Masturbatio interrupta wesentlich dadurch, daß bei jenem meist nur V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 143 die Ejaculatio in vagina (durch Extractio penis e vagina ante eja- culationem), bei dieser die Ejakulation überhau pt verhindert werden soll. Man kann bei der Masturbatio interrupta eine voluntaria und involuntaria unterscheiden, je nachdem sich die vorzeitige Beendigung mit oder gegen den Willen des Onanisten vollzieht. Das freiwillige Abbrechen beruht auf Gegenvorstellungen und hängt eng mit dem meist angestrengten Abgewöhnungskampf des Onanisten. zusammen, der sich mit tausend Eiden, Gebeten, Gelübden und Versprechungen Immer wieder vorgenommen hat, von seiner Schwäche abzulassen. Bald überwiegen mehr ethische, bald mehr gesundheitliche Be- denken, namentlich ist aber die keineswegs feststehende Annahme wirksam, nicht die geschlechtliche Erregung, sondern der Samen- verlust als solcher sei bei der Onanie das gesundheitsschädi- gende Moment. Die unfreiwillige Unterbrechung wird durch äußere Stö- rungen verursacht oder durch eine spontan eintretende Er- schlaffung des Gliedes bei längerer Fortsetzung der Friktionen ent- sprechend dem auch während der Kohabitation nicht selten vor- kommenden Zurückgehen der Libido und Erektion. Wie bei der freiwilligen Interruption die Sexualhypochondrie, so ist bei der unfreiwilligen die Sexualneurasthenie der haupt- sächlich ins Gewicht fallende Faktor. Was endlich noch die Masturbatio incompleta anlangt, so versteht Rohleder darunter den ziemlich seltenen Vorgang, daß ein völlig befriedigender Orgasmus ohne Samenausstoßung eintritt. Auch diese seltene und in ihrer Entstehung noch keineswegs klar- gestellte Erscheinung besitzt eine Analogie im normalen Koitus, bei dem gleichfalls, wenn auch nur in sehr vereinzelten Fällen, die Auslösung eines vollen Orgasmus ohne Ejakulation beobachtet wor- den ist. Diagnose der Ipsation Was nun die objektive Erkennung der Selbstbefriedigung be- trifft, so kann der Satz vorangestellt werden, daß es einen exakten Beweis der Onanie nicht gibt, es sei denn, daß jemand auf frischer Tat ertappt ist, oder daß man die in der weiblichen Vagina ge- fundenen Fremdkörper als ein untrügliches Indizium erachtet. Selbst die in der Bettwäsche, in Taschentüchern und Handtüchern oder an Kleidern vorhandenen Samenflecken sind keine sicheren Zeichen, denn sie können auch eine Folge unfreiwilliger Samenabgänge oder regulärer Kohabitationen sein. Immerhin ist es sehr verdächtig, wenn wiederholt in Taghemden steife, weißgraue, von der Umgebung sich ziemlich scharf abhebende Stellen beobachtet werden. Ist man 144 V. Kapitel: Die Onanie (lpsation) im Zweifel, ob es sich tatsächlich um Samen flecke handelt, so kann durch folgende Methoden der Nachweis erbracht werden: Ein verdächtiges Leinwandstück von ungefähr 2 qcm wird in eine 4 ccm konzentrierte Schwefelsäure und 1 ccm Wasser ent- haltende Eprouvette gebracht. Durch tüchtiges Schütteln erhöht sich beim Vermischen von Säure und Wasser die Temperatur auf 82 Grad. Nun gießt man rasch 15 ccm kaltes Wasser in die vorher durch einen Wasserstrahl erkaltete Eprouvette. Eine große Anzahl von Gasbläschen steigt an die Oberfläsche, sowie Klümpchen, welche die Spermatozoiden und die Epithelzellen enthalten. Diese Klümp- chen werden auf einem Objektträger ausgebreitet und drei- bis vier- mal durch die Flamme gezogen, um sie zu fixieren. Falls keine Klümpchen auf die Oberfläche steigen, verdünnt man die Schwefel- säurelösung mittels 15 Volumenteilen und zentrif ugiert ; dann be- finden sich die Spermatozoiden im Bodensatz. Als Färbungsmethode empfiehlt sich, während 10 Minuten 2—3 Tropfen einer alkoholischen V2prozentigen Eosinlösung einwirken zu lassen, dann mittels Wasser und nachher mittels absolutem Alkohol zu behandeln. Falls nur wenig Spermatozoen 12) im Präparat vorhanden sind, wird schließ- lich noch mit Löfflerblau während einiger Sekunden gefärbt. Demetrius Gasio13) gibt folgende Methode an: Von dem zu untersuchenden Gewebe werden Stückchen, die der Peripherie und dem Zentrum des Spermafleckes angehören, herausgeschnitten und 3—5 Minuten in eine 1 : 1000 Quecksilberchlorid-(Sublimat)lösung gelegt, dann abgepreßt. 1 Tropfen der Flüssigkeit wird bei leichter Flamme getrocknet und eine Minute in lprozentiger wässeriger Eosinlösung gefärbt; dann wird mit lprozentiger Jodkaliumlösung entfärbt bis zur Rosatönung. Die Färbung kann auch unterbleiben, ermöglicht aber die schnellere Auffindung der Spermien. — Eine andere Methode stammt von B. Baechie14): 1. Färbung eines ca. 1 qcm großen Stückes des befleckten Stoffes V* — 1 Minute in einer der folgenden Lösungen: lprozen tigern saurem Fuchsin oder Methylenblau, salzsaurem Wasser (1 : 100) 40 Teile oder lprozentigem saurem Fuchsin, lprozentiges Methylenblau aa 1 Teil, salzsaures Wasser (1 : 100) 40 Teile. 2. Abwaschen in salzsaurem Wasser (1 : 100). 3. Abtrocknen an der Luft oder Entwässerung in absolutem Alkohol. 4. Aufhellen in Xylol, auf dem Objektträger !2) Vgl. L. Marique : Neues Verfahren zum Nachweis von Spermatozoiden. Aich, internat. de med. legislat. Bd. 1, S. 111 — 139. Referat von Zuntz in den Jahres- berichten über die Fortschritte der Tierchemie 1911, Bd. 40, S. 461. «) Zur Auffindung der Spermatozoen in alten Sperraaflecken. D. med. Woch. Bd. 36, S. 1366—68, 1910. ") Vgl. „Über eine Methode zur direkten Untersuchung der Spermatozoen auf Zeugflecken". Vierteljahrsbericht für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts- wesen. 1912. H. 1. 145 Einbetten nach Belieben. Behufs mikroskopischer Untersuchung ist die stärker gefärbte Seite des Stoffes nach oben zu wenden. Andern- falls müssen beide Seiten des Stoffes untersucht werden. Ferner ist zu beachten, daß, wenn die Flecke nicht frisch sind, ein, je nach den Fällen verschiedenes, von 7a — 24 Stunden dauerndes Auffrischen in 20 — 30prozentiger Ammoniaklösung erforderlich ist, sowie späteres Verbringen in destilliertes Wasser im Moment der Färbung. Keinesfalls angängig ist es, aus dem scheuen Ge- baren, dem verlegenen Wesen, dem verstockten Gesichtsausdruck, den blauen Ringen unter den Augen oder den eingefallenen Wangen heranwachsender Jünglinge oder Jungfrauen Onanie zu folgern. Alles dies hat gewöhnlich ganz andere Ursachen und ist durchaus nicht beweisend. Es muß dies um so mehr betont werden, als sich die Onanisten selbst oft den größten Befürchtungen hingeben, jedermann könne ihnen ihr geheimes Laster ansehen. Ängst- lich stellen sie sich früh vor den Spiegel, prüfen ihre Gesichtszüge und beunruhigen sich in gänzlich ungerechtfertigter Weise. Es scheint, als ob diese Onaniehypochondrie von früheren Ärzten nicht als solche erkannt worden ist, denn sonst könnte man kaum verstehen, was von ihnen alles als „signes de l'onanisme" beschrieben worden ist: Unruhe, besonders abends, Magerkeit, trauriger Gesichtsausdruck, rauhe Stimme, unsteter Blick, kurzer Atem, schlottrige Kniee, unsicherer Gang, Wadenkrämpfe, Empfind- lichkeit gegen Kälte, Schweigsamkeit, Hang nach Einsamkeit und störrisches Wesen gegenüber den Chefs (embarasses vis-ä-vis leurs chefs). Auch die Freudsche Schule15) spricht neuerdings wieder von „Masturbations-Charakterzügen" und erwähnt als solche die Sparsucht („die ursprüngliche anale Sparsamkeit"), die Sammel- wut, den Reinlichkeitsfanatismus sowie „die Gewohnheit, Geschenke, und zwar meist Näschereien, die ja dem Verderben ausgesetzt sind, sich für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben, aufzusparen". „Professor Freud — berichtet Rank — konnte dieses Verhalten als typischen Masturbations-Charakterzug agnoszieren und meint, daß darin einer- seits der Zug zur Enthaltsamkeit zum Ausdruck komme, anderer- seits das Schuldbewußtsein, das sich des Geschenkes nicht würdig fühle." Fournier (de l'onanisme) bezeichnet als Merkmal der Onanie: „Besuche von verdächtigen Personen" (offenbar eine Ver- wechslung mit Homosexualität), und Baraduc (de l'ulceration des eicatrices recentes symptomatiques de la nymphomanie et de l'ona- nisme, Paris 1872) sieht es sogar als symptomatisch an, daß bei Onanisten Wunden schlecht heilen, weil in ihnen kleine gelbe Knöpf- chen entstehen (petites boutons, jaunätres peu proeminents). Auch «) Die Onanie. Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener Psychoanaly- tischen Vereinigung". Wiesbaden 1912. S. 123. Hirschfeld, Sexualpathologie. I, i/-> Back16) gibt noch Hautausschläge und Haarausfall als Zeichen der Gewohnheitsonanie an, während andere gerade im Gegenteil m Übereinstimmung mit einem alten verbreiteten Volksglauben meinen, daß Hautef floreszenzen, die sogenanntenKeuschheitspickel oder Jünglingspickel, von sexueller Enthaltsamkeit herrühren. Devay (Hyg. des faniilles, IL edit., 1858, S. 572) gibt als sicheres Mittel, die Onanie zu erkennen, an, daß die Pupille ein wenig nach oben, und zwar teils nach innen und teils nach außen verschoben sei (presque toujours dans ce cas la pupille est deformee, oblongue au lieu d'etre arrondie; eile ne se trouve plus dans Taxe de la cornee). Donner17), dem ich dies entnehme, will diesen Punkt be- stätigt gefunden haben. Doch kann ich ihm hierin auf Grund meiner Beobachtungen nicht beistimmen und ebenso- wenig in zwei anderen „objektiven Befunden", die er als patho- gnoniisch für Onanie ansieht: in der Umwandlung der hellroten Farbe des Colliculus seminalis in eine dunkelscharlachrote sowie dem Auftreten von Urethralfäden im Urin neben glashellem faden- ziehenden Schleim aus den Cowperschen Drüsen. Er meint, daß, wenn man solches im Urin bei jungen Leuten findet, die nocjh keinen Tripper gehabt haben, man „ziemlich sicher eine Onanie diagnostizieren könne". In Wirklichkeit handelt es sich hier aber nur um Reizerscheinungen und deren Folgen, die ebensogut von jeder anderen Art sexueller Betätigung, namentlich auch von häufigerem Koitus kommen können, aber durchaus nicht für Onanie beweisend sind. Gleichfalls sind es nicht: Brennen beim Urinieren, häufiger Harndrang und Bettnässen, aus denen andere auf Onanie haben schließen wollen. Es erhellt unschwer, daß unter den angeb- lichen körperlichen und seelischen Onaniemerkmalen viele sind, die wir im vorigen Kapitel als Erscheinungen und Störungen der Pubertät an und für sich beschrieben haben. Sie sind also mehr bedingt durch die innere Sekretion der Pubertätsdrüse, als durch die von den Onanisten künstlich bewirkte äußere Se- kretion. Die in den älteren Lehrbüchern für gerichtliche Medizin ange- führten „Indizien" der Onanie geben an Einbildungskraft den bisher erwähnten wenig nach. Es bietet mehrwieeinKuriosi- t ä t s i n t e r e s s e , diesen mit solcher Sicherheit vorgetragenen Irr- lehren nachzugehen. Zeigen sie uns doch, wie f est sich derartige Trug- schlüsse in der Wissenschaft einnisten und weiterschleppen, bis sie zu Dogmen erstarren, von deren Wahrheit die falschen Propheten ") Dr. Georg Back: „Sexuelle Verirrungen des Menschen und der Natur". Berlin 1910. S. 121. i?) Dr. med. H. Donner: Über unfreiwillige Samenverluste, ihre Ursachen, Folgen und Behandlung. Stuttgart 1898. S. 51. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 147 selbst durchdrungen sind, einfach, weil sie ihnen als Glaubenssätze von ihren Lehrern überliefert worden sind. Gerade auf sexuellem Gebiet wimmelt es von diesen Irrlehren und man würde sehr da- neben greifen, wollte man annehmen, daß sämtliche oder auch nur der größte Teil von ihnen schon jetzt überwunden sind. Schon die Gründe, weshalb man sich in den Lehrbüchern für gerichtliche Medizin mit der Onanie beschäftigt, verdienen Be- achtung. In Friedreichs Blättern für gerichtliche Anthropologie (für Ärzte und Juristen, Erlangen bei Enke 1856, VI, 69) heißt es dar- über: „Die Selbstbefriedigung kann sowohl von rechtlicher als auch polizeilicher Seite aus veranlaßt, Gegenstand einer gerichtlich- anthropologischen Untersuchung werden, wenn durch sie irgend- eine Kechtsverletzung erzeugt wurde: beispielsweise, wenn eine Ehefrau sich beklagt, ihr Mann treibe Onanie und schwäche sich dadurch so, daß er seine ehelichen Pflichten nicht mehr hinreichend erfüllen könne; oder wenn die durch Onanie hervorgerufene Geistesschwäche als Grund der Minderung oder Aufhebung der Zurechnungs- fähigkeit angezogen wird; wenn öffentliche Anstalten, als Erziehungsanstalten, Seminarien, Klöster usw. dieser bei ihnen eingerissenen Unzucht für verdächtig erklärt werden." Über die Merkmale der Onanie wird dann dem Gerichtsarzt und Polizei- arzt folgendes gelehrt: „diese Merkmale sind entweder allgemeine oder besondere, d. h. dem einzelnen Geschlecht eigentümlich a) Merk- male der Selbstbefriedigung bei beiden Geschlechtern sind: rote trübe, aufgeschwollene Augen, bläuliche Ringe um dieselben, ein matter Blick; kleine Ausschläge im Gesicht, besonders an der Stirn, blasses eingefallenes Aussehen, Niedergeschlagenheit, üble Launen, Hang zur Einsamkeit, eine besinnungslose Starrheit, Flecken in der Leib- wäsche und in dem Bette, oder auch wohl auf dem Fußboden an ein- samen Orten. Brück18) macht darauf aufmerksam, daß das K a u e n an den Fingernägeln, welches man so häufig in Irrenhäusern bei Blödsinnigen beobachtete, in der Regel nur von jenen solcher Unglücklichen geschehe, die zugleich Onanie trieben, und daß es deshalb als sicherer Verräter geheimer Sünden auch beiKnabenundMädchenBeachtungverdiene. b) Merk- male der Selbstbefriedigung nach dem Geschlechte sind: beim männlichen: ein schlaffer, lang herabhängend er Hoden- sack, erschlaffte Vorhaut, Schweiß in der Gegend der Geschlechts- teile; beim weiblichen Teile: eine sehr feuchte Mutterscheide, auf- geschwollene Schamlefzen; eine längere, dickere, besonders empfind- liche Klitoris und — wenn sich das Individuum seiner Finger be- dient — an denselben, besonders am Zeige- und Mittelfinger, Warzen und ein dem Sauerkohl nicht unähnlicher Geruch." 18) In Caspers Wochenschrift 1835, Nr. 45. 10* 148 V. Kapitel: Dio Onanie (Ipsation) Unter allen diesen Onanie-Indizien befindet sieh auch nicht ein einziges, auf das sich die Diagnose Onanie auch nur mit einiger Sicherheit stützen ließe. Wie viele aber mögen auch hier Opfer falscher Dog- matik und Diagnostik geworden sein, gestempelt vor anderen und was schlimmer ist, vor sich selbst zu sündhaften, lasterhaften und verbrecherischen Menschen, ehe sich die richtige Erkenntnis über Ursachen, Wesen und Folgen der Onanie durchsetzte. Ipsationsfolgen Die Tatsache, daß es unmöglich ist, aus dem Körperbefund eine objektive Diagnose der Onanie zu stellen, sollte logische Forscher auf den Gedanken bringen, daß es dann auch mit den Folgen der Onanie nicht so schlimm sein kann, wie vielfach von Ärzten und Laien angenommen wurde und zum Teil noch jetzt angenommen wird. Wir haben es hier mit einer Massensuggestion zu tun, der nutzlos und schuldlos im Laufe der Zeit eine große Menge von Men- schen zum Opfer gefallen sind; nicht nur, daß ihnen die besten Jahre ihres Lebens vergällt und verbittert wurden, nicht wenige sind direkt zum Selbstmord getrieben worden, weil sie meinten, daß aus ihnen nun doch nichts mehr werden könne ; viele strebsame Jünglinge sind diesem Irrwahn unterlegen. Die Ansicht Koh- leders"), daß die Onanie auch bei nervös belasteten Individuen nimmermehr zum Suizidium führen kann, vermag ich auf Grund meiner Erfahrungen n i c h t zu teilen. Mehr als einen jungen Mann habe ich gesehen, der sich die Pulsader aufschnitt, oder eine Kugel in den Körper jagte und nur mit knapper Not vom freigewählten Tode errettet werden konnte, weil er der Onanie nicht Herr werden konnte und ihm vor ihren Folgen graute. Auch weiß ich von man- chem Kriegsfreiwilligen, der, als er sich bei Ausbruch des Welt- krieges von vaterländischer Begeisterung geleitet, so schnell wie möglich meldete, nebenbei die stille Hoffnung hegte, eine feind- liche Kugel werde ibn von der sündigen Lust befreien. Von einem Primaner erhielt ich kurz vor dem Kriege folgendes Schreiben: „Hochgeehrter Herr Doktor! Gestatten Sie mir, daß ich als ein Ihnen ganz Fern- stehender mich mit der Bitte an Sie wende, mich durch Ihren Rat aus der unglück- lichsten Lage zu reißen. Ich habe keinerlei Eigenschaften auf meiner Seite, durch die ich meine Bitte genügend stützen könnte. Ich hoffe, daß dies keine Schranke be- deuten wird, sondern, daß Sie mir, geehrter Herr Dr., erlauben, an Ihre Menschen- liebe und an den Arzt zu appellieren. Ich möchte gleich in medias res gehen, um mich möglichst schnell von dem Alp zu befreien, trotzdem ich immer noch nicht weiß, wie ich vor einem andern erklären soll, was mir selbst ganz unerklärlich ist. »») L. c. S. 210. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 149 Ich habe jetzt mein 17. Jahr vollendet und seit vielleicht meinem 8. Jahr leide ich an der schrecklichsten Krankheit, der Onanie. Seien Sie versichert daß meiner Natur alles Unreine fremd ist, zuwider, ekelhaft. Und ich muß gegen allen Willen in diesem widerlichen Schmutz versinken! Denken Sie sich, seit meinem 8. Jahr, das heißt, wo ich noch nicht von dem, was ich tat, wußte; wo ich weder wissen noch ahnen konnte, daß es so etwas gibt. Jetzt, wo ich älter wurde, habe ich versucht, mir die Zusammenhänge zu suchen, aus denen ich vielleicht die Gründe zu meinem Leiden herleiten konnte. Es gibt da vieles, worüber man nur bei einer mündlichen Unterredung sprechen kann, doch soweit ich es vermag, will ich alles berichten: Meine Eltern sind beide nervös, am meisten meine Mutter, bei der die Nervosität oft zu heftiger Gereiztheit führt; sie teilt die Veranlagung mit den meisten Mitgliedern ihrer Familie. Meine Geschwister haben alle einen schlappen Körperorganismus. Bei allen ist er an tiefen Augenrändern erkennbar. Ich hätte mich selbst verantwortlich zu machen, wenn die Krankheit in einem Alter eingetreten wäre, wo ich die volle Entschließungsfreiheit über mein Tun besaß. So aber begann sie in einem Alter, wo ich mich ihrer nicht erwehren konnte, in dem ich nicht einmal wußte, daß es eine Krankheit war, wo sie sich geradezu wie eine unabweisbare Notwendigkeit einstellte. Und dieses Übel grub sich so tief in meinen Organismus ein, daß ich vollkommen ohnmächtig dagegen wurde, zumal es mir gerade die Kraft nahm, die ich brauchte, um es zu bekämpfen; einmal allerdings, für kaum D/4 Jahr hatte ich mich davon befreit; aber es kehrte wieder und beherrschte mich von neuem, allem meinem Wehren zum Trotz. Wenn ich jetzt an die Zeit zurückdenke, erscheint mir meine Anstrengung, auf die ich damals so stolz war, wie die Karikatur einer Energie. Und nun denken Sie, Herr Dr., jetzt vor einem Monat ist das Leiden von mir gewichen, ohne jedes besondere Bemühen meinerseits, es vergiftet nicht mehr meinen Körper und, was mich am meisten freut, nicht mehr mein Denken, ich bin vollkommen frei und rein. Sobald ich das merkte, unterstützte ich den Zustand sofort durch fleißige Körpergymnastik, trinke keine alkoholischen Flüssigkeiten, keinen Tee, ganz wenig Kaffee, viel Kakao und Milch. Ich fühle ganz genau, daß das Leiden nun nicht wieder kehrt! Aber was nützt mir das alles, es hat meinen Körper untergraben und vor allem mein Nervensystem, mein Gehirn. Ich fühle so eine entsetzliche Müdigkeit; ich lebe und lebe nicht. Versuchen Sie bitte, Herr Dr., sich diesen wahnsinnigen Zustand vorzu- stellen: Ich bin von Natur geistig und seelisch mit den besten Gaben ausgestattet, und muß nun alles verkümmern lassen. Ich kann kein Buch richtig lesen, diese bleierne Müdig- keit setzt sich jedem Bemühen entgegen, mich in die Gedankengänge eines schweren Schrift- stellers einzuarbeiten. Ich bin aber bei meiner ganzen geistigen Anlage darauf ange- wiesen und deshalb bedeutet der Zustand tausendmal mehr als das, was man mit dem Wort Tod ausdrücken kann; ein Tag vergeht wie der andere, jede Stunde ist ein neues Sterben, da jeder Versuch, scharf zu denken, mich an meine Ohnmacht erinnert. Ich bin so nervös, daß ich fortwährend zittere, jetzt wo ich schreibe ebenso wie bei jeder anderen Gelegenheit. Das Dilemma verstärkt sich noch, weil ich jeden Augenblick Herzklopfen bekomme, das mir zu starke körperliche Bewegung verbietet, während ich wiederum Körperübungen machen muß, um meine Kräfte wiederzuerlangen. Was tun! Mein Geschick setzt mich in fürchterliche Angst, die sich nicht ausdrücken läßt: Ich bin so gern bereit, gutzumachen, was die Natur an mir gesündigt hat. Ich wäre froh, wenn ich mir wenigstens Vorwürfe machen könnte. Ich möchte noch einmal betonen, daß meine Krankheit, von der ich sprach, aufgehört hat und daß ich an mir genau fühle, daß sie nicht wiederkehrt. Aber das, was bleibt, ist traurig genug, es heißt soviel wie 1 e b e n d i g t o t , was ohne alle Pose und Vorstellung gesagt ist, Herr Dr., und was Sie sicherlich verstehen werden, wenn Sie sich in meinen Zustand hineindenken. Deshalb bitte ich, mich aus meiner verzweifelten Lage durch irgendeinen Rat, irgend- ein Wort aufzurichten: Sagen Sie mir, ob es nicht möglich ist, durch vernünftiges Verhalten mich von dieser entsetzlichenMüdigkeitzu befreien, ob es nicht ge- lingen kann, mich wieder arbeitsfähig zu machen. Wenn ich einen Wunsch an das Schicksal habe, so ist es nur der, bis zum letzten Tage arbeiten zu können, die Schätze meiner 150 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Veranlagung heben zu können. Wie soll ich noch Achtung vor mir selber haben wo ich jeden Augenblick durch alles was ich angreife gedemütigt werde: es ist fürchter- lich Bei Ihrem Menschheitsgefühl bitte ich Sie, mir zu helfen. Aber bitte schonen Sie 'mich nicht. Ich bin vernünftig genug, und deshalb jeder Wahrheit gewachsen. Ich behandle mich ganz objektiv und habe ein ganz unpersönliches Interesse an mir. Ich finde die unzähligen Menschen so lächerlich, die so unendlich viel Wert auf ihr Persönchen legen und so viel Aufhebens davon machen, wenn ihnen die Menschlich- keit passiert, daß sie sterben sollen. Aber d a s ist zu bedauern, wenn man durch einen blöden Zufall um ein reiches Dasein betrogen wird und das unbenutzt liegen lassen muß, worin sich das Höchste, Größte manifestiert. Ich bitte Sie flehentlich, mir zu schreiben. Sollte eine Heilung sich nur durch eine persönliche Untersuchung bewerk- stelligen lassen oder eine längere Behandlung, so bin ich gern dazu bereit. Ich komme bald nach Berlin und da läßt sich dann weiteres tun. Ich bin Ihnen in ewigem Dank ergeben, wenn Sie mir die gütige Hilfe zuteil werden lassen. Es wird mir wie eine Neugeburt sein, wenn ich meine Fesseln erst abgeworfen habe. Ich habe beim Nachlesen gemerkt, daß ich etwas zu erwähnen vergessen habe: Ich habe mich, trotz meiner geschlechtlichen Überreiztheit, nicht in sexuellen Verkehr eingelassen (was übrigens bei vielen andern meines Alters keineswegs so selbstverständ- lich ist). Ich hatte eine heillose Scheu vor dem Schmutz." Aus der auf dieses Schreiben sogleich erteilten Antwort seien einige Stellen wiedergegeben: „Sehr geehrter Herr T. Mit großem, aufrichtigem Mitgefühl habe ich Ihr Schreiben gelesen. Auf Grund einer reichen Erfahrung auf dem in Frage stehenden Gebiete kann ich Ihnen aus vollster Überzeugung die Versicherung geben, daß Sie die Schädlichkeiten und namentlich die bleibenden Folgen der Onanie sehr erheblich überschätzen;" „Die Onanie, die übrigens eine in den Entwicklungsjahren nahezu allgemein geübte sexuelle Betätigungsart darstellt, bedingt nur inso- fern eine größere Gefahr als andere Geschlechtsakte, als sie infolge der unbeschränkten Gelegenheit vielfach in exzessiver Weise geübt wird und dadurch namentlich bei ohnehin nervös dis- ponierten jungen Menschen bisweilen recht unangenehme, aber immer reparable Störungen bedingt. Meistens ist die durch übertriebene Vorstellungen der schädlichen Folgen der Onanie hervorgerufene Angst ein weit gesundheitsschädi- genderes Moment als diese selbst. Eine gewisse Mattigkeit und Unfähigkeit sich zu konzentrieren, wie Sie sie gegen- wärtig bei sich beobachten, kann ja bis zu einem gewissen Grade durch übertriebene Onanie hervorgerufen sein, wird sich aber bei normaler und naturgemäßer Lebensweise sehr bald von selbst wieder verlieren. Sie kann aber auch, und das halte ich für das Wahr- scheinlichere, eine durchaus natürliche Begleiterscheinung der Puber- tätsjahre sein, die für jeden, besonders aber für den nervös ver- anlagten und dabei intelligenten Menschen eine Periode schwerer innerer Kämpfe und seelischer Konflikte zu sein pflegt." Es folgte nun die Aufforderung, sich möglichst bald zwecks Untersuchung vorzustellen; doch kam dies nicht mehr zur Ausführung, da der "V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 151 Krieg entbrannte. Der Schreiber trat sogleich freiwillig ins Heer und fiel wenige Monate später in Flandern. Ähnliche Onanistenbriefe sind mir, wie wohl jedem Sexual- forscher, m erklecklicher Anzahl zugegangen. In allen spiegelt sich der Seelenkampf wieder, den Tolstoi in der Kreuzersonate in die Worte faßt: „Ich quäle mich, und Sie haben sich gewiß auch gequält, und so quälen sich 99 unter 100 von unseren Knaben; ich entsetzte mich, ich litt, ich betete und fiel immer wieder zurück." Diese Selbstpeinigungen können auch nicht wundernehmen, wenn man liest, mit wie krassen Farben nicht nur in Laienschriften, sondern vielfach auch in ernsthaften medizinischen und theologischen Büchern „die unheimlichen Folgen heimlicher Verirrungen" ausge- malt werden. Zum großen Teil beruhten diese mehr oder weniger wohlgemeinten, jedoch mehr theoretischen, als auf Tatsachen- beobachtung gegründeten Warnungsschriften auf der ana- tomischen und physiologischen Unkenntnis der in Betracht kom- menden Organsysteme. Solange man mit Hippokrates glaubte, daß der aus den Genitalien entleerte Same direkt aus dem Ge- hirn und Eückenmark abflösse, durfte man auch annehmen, daß durch diesen Säfteverlust Rückenmarksschwindsucht und Gehirnerweichung eintreten oder das Zentralorgan so eintrocknen könne, „daß man es in der Schädelkapsel klappern hören könne". Es ist ein Zeichen der auch in der Naturwissenschaft herrschenden vis inertiae, daß man mit den fallenden Prä- missen nicht auch d ie Schlüsse fallen laß t. Denn als man langst wußte, daß der Same aus besonderen Geschlechtsdrüsen stammt und, gleichviel auf welche Weise abgestoßen, sich binnen kurzem wieder ersetzt, als man die der ganzen Natur eigene Verschwendung von Keimzellen erkannt und auch gefunden hatte, daß bei vielen der Onanie zugeschriebenen Krankheiten ganz andere Ursachen eine ausschlaggebende Rolle spielen, wie beispielsweise das luetische und alkoholische Toxin, die pathogenen Kleinlebewesen und die Here- ditat, als alle diese wissenschaftlichen Fortschritte die früheren Kausalitätshypothesen vollkommen umgestürzt hatten, hielt man doch immer noch zähe an dem Glauben oder richtiger Aber- glauben fest, daß eine Unzahl körperlicher und geistiger Erkran- kungen auf das Schuldkonto der Onanie zu setzen seien. Soweit die von Schreckbildern erfüllten Schriften der Ab- schreckung dienen sollten, haben sie i h r e n Z w e c k — die Ver- minderung der Onanie - nicht erfüllt. Ja, sollte es in der Tat zutreffen, daß die Onanie erst im 19. Jahrhundert eine so ungeheure Verbreitung gefunden hat wie manche glauben so mußte man eher das Gegenteil annehmen, da die über- große Anzahl dieser Bücher erst während dieser Zeit im An- 152 V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) schlnß an das Tissotsche Werk „de l'Onanisme" erschienen sind. T i s s o t s Schrift wurde so viel übersetzt nnd „ging so gut", daß die französischen Verleger fast während des ganzen vorigen Jahrhunderts den Weltmarkt mit der führenden Literatur auf diesem Gebiete versorgten. Auf Tissot folgt Doussins „Brief über die G e fahren der Onanie", dann Fecaubes Arbeit über die Chiromanie, denen sich dann die an wissenschaftlichem Wert höherstehenden Werke von Deslandes „über die Onanie und die übrigen Ge- schlechtsausschweif uugen" (Paris 1835) sowie Lallemands weit- verbreitetes Buch „des pertes seminales involontaires" (Paris und Montpellier 1836 und 1841) anschlössen. Der Einfluß der franzö- sischen Auffassungen war ein so starker, daß sogar ein biologisch so erleuchteter Geist wie Kant, ein Zeitgenosse Tissots, in seiner „Metaphysik der Sitten" (1797 20) sich dabin aussprach, daß „die unnatürliche Wollust der Selbstbefleckung", dieser „naturwidrige Gebrauch" (oder Mißbrauch) der Geschlechtseigenschaft, eine der Sittlichkeit im höchsten Maße widerstrebende Verletzung der Pflicht gegen sich selbst sei, sie erscheint Kant „noch unsittlicher und empörender als der Selbstmord" — was sich auch darin ausspreche, daß man von diesem doch unbedenklich sich zu reden getraue, während hier dagegen „selbst die Nennung eines solchen Lasters bei seinem eigenen Namen für unsittlich gehalten wird — , gleich als ob der Mensch überhaupt sich beschämt fühle, einer solchen ihn selbst unter das Vieh herab- würdigenden Behandlung seiner eigenen Person fähig zu sein". Mit Eecht zitiert Eulenburg diesen Ausführungen Kants gegenüber das Wort Mephistos: „Man darf vor keuschen Ohren das nicht nennen, Was keusche Herzen nicht entbehren können." Im übrigen könnte man Bände füllen, wenn man alle die ent- setzlichen Folgen nennen und widerlegen wollte, die von früherem Autoren der Onanie zugeschoben wurden. So schreibt von Hoven (Versuch über Nervenkrankheiten, Nürnberg 1813, S. 7): „Aber die fürchterlichsten Folgen dieser Schwäche und Erschöpfung der Ner- venkräfte, Epilepsie, Katalepsie, Blödsinn usw. zeigen sich vorzüglich nur bei den Onanisten. Die meisten Epileptischen, Kata- leptischen, Blödsinnigen, ja selbst die meisten Wahnsinnigen waren, wie die Geschichte der Irrenhäuser lehrt, in ihrer Jugend Onanisten, und wenn nichts beweist, wie sehr dieses Laster das Nervensystem angreift, so beweist es die schlimmste aller Nervenkrankheiten, die 20) Neu herausgegeben als 42. Band der philosophischen Bibliothek, Leipzig 1907. Vgl. Prof. Dr. A. Eulenburg: Moralität und Sexualität. Sexualethische Streifzüge im Gebiete der neueren Philosophie und Ethik. A. Marcus & E. Webers Verlag. Bonn. S. 18. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 153 Rückenmarksdarre (tabes dorsalis), eine Krankheit, wodurch die Natur dasselbe noch strenger bestraft, als die Unzucht durch die Lustseuche" — als ob nicht auch die meisten Nichtepileptiker, Nicht- kataleptiker und Nichttabiker in ihrer Jugend Onanisten waren. Erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ließ die Irrlehre allmählich nach. Ich erinnere mich noch recht deutlich, wie erlösend es förmlich wirkte, als einer der Bahnbrecher einer ver- nünftigen Anschauung, mein verehrter Lehrer Erb in Heidelberg, den Studenten klarlegte, daß es ein Fehlschluß schlimmster Art ge- wesen sei, Rüekenmarksschwintlsucht und Gehirnerweichung auf Onanie zurückzuführen. Die Auffassung von der Zerstörung des Körpers durch die Onanie wurde auch dadurch nicht erschüttert, daß man unter den Onanisten nicht selten junge Leute von geradezu strotzender Kraft und Gesundheit fand. So behandele ich gegenwärtig einen Onanisten von 16 Jahren, der ein wahrer Athlet ist. Er wiegt 180 Pfund, sieht blühend aus und ist geistig überaus rege. Sein Vater führte ihn mir zu, weil er wenige Wochen vorher einen ernstlichen Selbst- mordversuch unternommen hatte. Die Eltern hörten nachts einen Schuß im Nebenzimmer mit anschließendem Fall und als sie er- schreckt hineinstürzten, fanden sie ihren Sohn von einer Kugel ge- troffen bewußtlos am Boden liegen. Das Geschoß, welches im Fett- polster steckengeblieben war, heilte bald reaktionslos ein. Als Grund der Selbstmordabsicht ergab sich, daß der Sohn bereits seit 10 Jahren in hohem Maße der Onanie ergeben war. Vor einem Monat hatte er einem Wandervogelführer das Ehrenwort ge- geben, damit aufzuhören, nun hatte er sein Wort gebrochen und doch wieder onaniert; „da er die Hoffnung auf Besserung aufgegeben hätte, habe er Schluß machen wollen." Es liegt die Frage nahe, wie der durch die Selbstbefriedigung verursachte Schade zu erklären wäre. Beruht er auf dem Säfte - und Stoffverlust? Dieser ist nicht größer wie beim Koitus; das abgegebeue Quantum Eiweiß ist durch die Ernährung leicht wieder ersetzt, es ist auch festgestellt, daß die in einem Ejakulat entleerte Samenmenge von durchschnittlich 3 Gramm zwar bei wiederholten Entladungen innerhalb eines Tages abnimmt, nach 24stündiger Ruhe aber bereits wieder die gleiche Höhe erreicht. Auch die Reizung und Schwächung des Nervensystems ist bei m ä ß i g vorgenommener Ipsation von der des Koitus nicht wesent- lich verschieden, nur bei häufig wiederholten Akten — was ja allerdings ein relativer Begriff ist — beineuropathischen und vor allem jungen Menschen in der Vorpubertät ist sie von größerer Bedeutung. Bleibt derpsychischeFaktor, die Gebundenheit an etwas, was stärker ist als alle guten Vorsätze, das Schuldbewußtsein. Dieses Moment ist bei den dem 154 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) Leben entgegenwachsenden Menschen allerdings ein ^ Umstand der schwer ins Gewicht fällt und wohl geeignet ist, das seelische una nervöse Gleichgewicht erheblich zu stören. vprmeint- Nachwr erbracht, und es erscheint auch die Meinung nach dem derartigen Stande der Wissenschaft durch nichts begründet, daß 1 Onanie irgendeine substantielle Veränderung des mensch- ten oWnLus zur Folge hat. Theoretisch wäre es 3a fohl nicht ausgeschlossen, daß eine allgemeine Korperschwachung auch eine Schwächung einzelner Organe bedingt und sie da- durch für exogene Krankheitsursachen weniger widerstands- fähig macht. Aber einmal ist der Begriff der Organschwache und Organminderwertigkeit überhaupt ein sehr relativer, unbestimmter, um nicht zu sagen unwissenschaftlicher, und weiter- hin sieht man Onanisten von so gesundem, stammigen Äußeren und so robuster Körperbeschaffenheit, daß die Behauptung irgend- eine katarrhalische, entzündliche, infektiöse, karzinomose oder son- stige Veränderung der Körpergewebe könne durch die Onanie als solche verursacht sein, als völlig willkürlich abgewiesen werden muß. Eher könnte man daran denken, daß die exzessive, nicht kohabi- tatorische Verwendung der Geschlechtsorgane rein örtliche Wir- kungen und Umgestaltungen am Genitalapparat zuwege bringen könne. Tatsächlich ist solches auch behauptet worden. Man hat davon gesprochen, daß sich beim männlichen G eschlecht durch starke Onanie der Penis vergrößere, die Vorhaut sich ausdehne und das Skrotum schrumpfe oder erschlaffe, während bei Frauen die Klitoris hyper- trophere und die kleinen Labien welkten und schlaff herunterhmgeii. Beides ist unrichtig. So wenig ein Schwamm sein wirkliches Vo- lumen verändert, wenn er auch noch so oft seine Ausdehnung durch den verschiedenen Gehalt an Feuchtigkeit wechselt, so wenig andern die Schwellkörper des Gliedes, von deren Ausdehnung die Große des Organs im wesentlichen abhängt, durch Schwellung und Leerung ihren gegebenen Umfang. Die Schlaffheit oder Prallheit des Skrotums aber hängt von seinem Inhalt ab, der gleichfalls durch die Onanie keine dauernde Abänderung erleidet. Abbildungen, wie sie noch neuerdings wieder Dr. Georg Back in seinem verbreiteten Werk (1. c. Abbildung 17, S. 114) mit der Unterschrift: „Der Hodensack eines Gewohnheitsonanisten" bringt, sollten daher als irreführend besser unterbleiben. Die bei Frauen gefundenen Hypertrophien der äußeren Genitalorgane stellen ähnlich wie die Phimose oder V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) 155 Hypospadie beim Manne kongenitale adhärente Entwicklungsstörun- gen dar, sind vielfach schon Varianten der Gescklechtsdifferenzie- rung, so daß zwischen ihrem Ursprung und der meist erst nach ihrem Vorhandensein einsetzenden Onanie unmöglich ein Kausal- nexus bestehen kann. Auch örtliche Katarrhe, wie Balanitis und Vulvitis (fluor albus) sowie Menstruationsstörungen dürften kaum je auf unkomplizierte Onanie zurückzufüren sein. Dagegen habe ich mich des Eindrucks nicht erwehren können, trotzdem auch hier ein schlüssiger Beweis kaum erbracht werden kann, daß die so häufige Ejaculatio praecox, eine nicht nur für den Mann, sondern auch für das empfangende Weib recht peinliche Potenzstörung, nicht selten auf einer allzuhäufigen onanistischen Reizung beruht, allerdings auch nur bei entsprechend disponierten Personen, denn die Zahl der Masturbanten, die nicht dieser Sexual- neurose verfallen, ist ungleich größer, als die an ihr leiden. Auch für die Entwicklung der eigentlichen Impotenz spielt die Selbstbefriedigung nicht die Rolle, die ihr von Laien vielfach zuge- sehrieben wird. Daß dieImpotentiagenerandi,die Portpflan- zungsunfähigkeit, weder beim Manne noch beim Weibe von Onanie herrühren kann, dürfte für jemanden, der sich genauer mit den Gründen männlicher und weiblicher Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit be- schäftigt hat, kaum noch zweifelhaft sein. Die andere Form, die Impotent iacoeundi, die Beischlafsunfähigkeit, ist ätiologisch in mehrere Untergruppen, in die organische, spinale, nervöse und psychische Impotenz einzuteilen. Die organische, beruhend auf organischen Erkrankungen der peripheren Teile, ist von der Onanie unabhängig. Ebenso die spinale, welche durch Strukturverände- rungen, Läsionen, syphilitische Entartungen, Entzündungen der Rückenmarkszentren für die Erektion und Ejakulation bedingt ist. Die nervöse Impotenz ist eine gelegentliche Teilerscheinung der sexuellen Neurasthenie, die ihrerseits als Begleiterscheinung der Onanie auftreten kann. Diese nervöse Potenzstörung sitzt aber nach meiner Erfahrung meist nicht sehr tief und ist dementsprechend auch verhältnismäßig leicht zu beseitigen im Gegensatz zu der psychischen Impotenz, die durch fehlende Reaktions- fähigkeit des zerebralen Zentrums begründet ist. Zwischen der nervösen und psychischen Impotenz steht die autosuggestive, in der wir eine Folgeerscheinung der sexuellen Hypochondrie und Skrupelsucht zu erblicken haben. Ist ein Onanist fest davon durchdrungen und überzeugt, er habe durch Selbstbefrie- digung die Fähigkeit verloren, sich einem Weibe mit Erfolg zu nähern, so kann mit der Zeit aus dieser' Vorstellung eine Scheu vor dem Weibe, ja sogar ein vorübergehendes Unvermögen resultieren. Entsprechende Gegensuggestionen eines kundigen Arztes leisten hier vortreffliche Dienste. •j^g V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Ganz anders aber verhält es sich bei der psychischen Im- potenz im eigentlichen Sinne, bei der dem negativen Aus- fall etwas Positives, der seelischen Abneigung eine seelische Zu- neigung gegenübersteht. Die Triebabweichungen, um die es sich hier handelt, sind in der Anlage schon vor Ausübung der Onanie vorhanden, nicht selten auch schon vor ihrem Eintritt be- tätigt worden und es ist schon aus diesem Grunde irrtümlich, sie auf Onanie zurückzuführen. Gleichwohl begegnen wir nicht nur m Laienkreisen immer wieder solchen Trugschlüssen; so behauptet Schimmelbusch-Hochdahl in einem Vortrage, den er auf der Hamburger Naturforscherversammlung 1902 21) über das Thema: „Der Grundirrtum in von Krafft-Ebings Psychopathia sexu- alis historisch und philosophisch betrachtet", hielt, daß „perverses Sexualempfinden nicht als angeboren, sondern als durch Masturbation erworben zu betrachten sei". Namentlich hat man geglaubt, daß die in Internaten, Knaben- und Mädchen- pensionaten, Kadetten-, Waisen- und anderen Erziehungsanstalten so weit verbreitete mutuelle Masturbation eine häufige Ur- sache der Homosexualität abgäbe. In der Tat gibt es manche hoch- berühmte Schulen besonders in Deutschland und England, aus denen zuverlässige Gewährsmänner übereinstimmend berichten, daß in ihnen seit alters her mutuelle Onanie epidemisch sei. Ich selbst besitze eine größere Reihe hierhergeböriger Berichte. Aber gerade diese ausgedehnte Verbreitung beweist, daß der Onanie eine entschei- dende Bedeutung für die Entstehung gleichgeschlechtlicher Nei- gungen nicht innewohnen kann. Wenn beispielsweise vonl20 Wai- senknaben, die unter gleichen Verhältnissen erzogen, alle fast ausnahmslos masturbierten, nachweislich später nur ein er homo- sexuell geworden ist, wenn überhaupt unter 100 Menschen über 95 Onanisten sind, und unter diesen sich später nur einer als dauernd homosexuell herausstellt, zwei vielleicht noch als bisexuell, 92 aber als völlig heterosexuell, so werden wir unmöglich die Onanie als ausreichenden Grund homo- sexueller Triebrichtung ansehen können. Unter den vielen männ- lichen und weiblichen Personen, die mich wegen Befreiung von Onanie um Rat fragten, befand sich nicht eine, deren seelische Trieb- richtung infolge der Masturbation eine Änderung erfahren hatte. Die heterosexuelle Mehrzahl bleibt heterosexuell, die homosexuelle Minderheit homosexuell. Auch die Phantasie- Vorstellungen beim onanistischen Akt hatten, soweit vorhanden, dementsprechend gleichbleibend entweder homosexuellen oder heterosexuellen 2i) Referat in der Münchn. med. Woch. Nr. 47, 1902. Eine gründliche Widerlegung des Schimmelbuschschen Vortrags findet sich im Jahrb. f. sex. Zwischenstufen Jahrg. 4, S. 964 ff. V. Kapitel : Die Onanie (Tpsation) 157 Inhalt. Richtig ist allerdings, daß vielfach die Homosexu- ellen die Masturbation noch in einem Alter treiben, in dem sie bei Heterosexuellen bereits dem Geschlechtsverkehr mit dem andern Geschlecht Platz gemacht hat. Es handelt sich dann eben um surrogative oder prophylaktische Akte, die natur- gemäß bei den sexuell abnormal Veranlagten eine größere Rolle spielen, als bei der Normalen. St ekel erzählt einmal einen Fall, in dem ein Mann kurze Zeit, nachdem er die von ihm täglich be- triebene Onanie aufgegeben hatte, weil er von ihren schlimmen Folgen gelesen hatte, sich an einem kleinen Mädchen verging und infolgedessen ins Zuchthaus kam. Es hat schon etwas Richtiges, wenn er hinzufügt: „Die Onanie hat in diesem Sinne eine wichtige soziale Bedeutung. Sie ist gewissermaßen ein Schutz der Gesell- schaft vor unglücklichen Menschen mit übermächtigen Trieben und allzu schwachen ethischen Hemmungen. Würde man die Onanie voll- kommen unterdrücken, die Zahl der Sittlichkeitsdelikte würde ins Unglaubliche steigen." Es wird bei dieser Darlegung allerdings übersehen, daß stärkere Onanie selbst die Hemmungen schwächt und damit den Widerstand gegen den abnormalen Anreiz vermin- dert, dessen Eindrucksfähigkeit auf die Sinnes- und Sexualorgane an und für sich von der Onanie unbeeinflußt bleibt. Wie ist es nun mit dem schädigenden Einfluß der Onanie auf das Nervensystem'? Zweifellos ist der einzelne onanistische Akt mit einer nicht unerheblichen Erregung und Schwächung der geni- talen Neurone verbunden, die auf das Lumbaizentrum herüber- greift und in den Rückenmarksbahnen weiterläuft und schließ- lich in den zerebralen Ein- und Ausdruckszentren endet. Die elastischen Nerven des gesunden kräftigen Men- schen überwinden die einzelne Alteration leicht. Nicht so der zarte in der Entwicklung noch nicht abgeschlossene Ner- venapparat jugendlicher Individuen oder von Hause aus neuro- pathischer Personen. Vor allem aber schadet das Über- maß. Hier gilt so recht der alte Satz: gutta cavat lapidem, non vi sed saepe cadendo, zu deutsch: Steter Tropfen höhlt den Stein, wobei allerdings wieder einschränkend hinzugesetzt wer- den muß: das Maß, was bei dem einen noch als mäßig gelten kann, muß bei dem andern schon unmäßig oder übermäßig ge- nannt werden. Der Zustand aber, der sich aus der oft wiederholten Reizung und Schwächung der Nerven entwickelt, ist der der reiz- baren Nervenschwäche, den wir als Neurasthenie und wenn er von Störungen des Sexuallebens ausgeht, als sexuelle Neur- asthenie zu bezeichnen pflegen. Daß unter diese sexuellen Störungen auch die Onanie zu rechnen ist — ebenso wie nicht selten die forcierte sexuelle Enthaltung, der Coitus interruptus, geschleeht- 158 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) liehe Unmäßigkeit, sowie jede Form quantitativ oder qualitativ nicht adäquater Sexualbetätigung — , er- scheint bei unvoreingenommener Beobachtung und nüchtern- kritischer Prüfung außer Zweifel. Gekennzeichnet ist dieses Leiden in erster Linie durch eine erhöhte Reizbarkeit und Erschöpf barkeit der Nerven; bald überwiegen mehr die Erscheinungen der gewöhnlichen Nervenschwäche, bald die der Spinalirritation, bald der Symptomenkomplex der Zere- brasthenie und Psychasthenie. Dabei tritt uns eine bunte Fülle funktioneller Betriebsstörungen entgegen, die, wenn auch alle re- parabel, doch recht geeignet sind, einem Menschen das Leben zu vergällen. Von Einzelerscheinungen fehlen bei der sexuellen Neur- asthenie fast nie „der eingenommene Kopf", Rückenschmerzen, „Schwere in den Gliedern", das Gefühl von Zerschlagenheit und Kraftlosigkeit. Häufig wird über Schwindelanfälle, Ohnmachts- anwandlungen, Zittern sowie Überempfindlichkeit gegen Licht- und Schallreize geklagt. Der Schlaf ist oft gestört, Schlaflosigkeit wechselt mit schreckhaften Träumen, Alpdruck und Schlummer- sucht. Häufige Beschwerden sind Gedächtnisschwäche, Mißmutig- keit, Zerstreutheit, Interesselosigkeit, mangelnde Energie und Arbeits unlust. Die Reflexe, vor allem die Sehnenreflexe und unter diesen wieder der Kremasterreflex und das Kniephänomen, zeigen eine erhebliche Steigerung. Ebenso ist die vasomotorische Reizbar- keit erhöht. Es besteht Errötungsfurcht sowie oft ein flecken- oder strichweises Auftreten von Hautröte, bald mehr vom Charakter der Urtikaria, bald vom Aussehen eines Erythems. Ich sah einen Masturbanten, der wenige Stunden nach dem manuellen Akt von stärkstem Jucken befallen wurde, das besonders an der Glans, an den Waden und Armen nahezu unerträglich und meist von Quaddeln begleitet war. Der Zustand währte gewöhnlich ein bis zwei Tage. Die gleichen Erscheinungen traten bei dem Patienten später auch post coitum auf. Bei Onanisten, die zu vasomotorischen Störungen neigen, pflegen auch selten die Erscheinungen der Herzneurose zu fehlen. Man hat in diesem Sinne nicht gerade glücklich vom Masturbantenherzen gesprochen. Die Patienten leiden an beschleunigter Herztätigkeit, Herzklopfen und Herzschmerzen und vor allem an mehr oder weniger starker „Herzensangst", die sich von leichterer Präkordialangst bis zu schwersten Herzbeklemmungen mit Angstschweiß und Atemnot, sogenanntem „Asthma nervosum", steigern kann. Mit der Angst verbindet sich manchmal ein nur schwer unterdrückbarer innerer Zwang zum Aufschreien oder zu motorischen Exzessen, wie den Drang, sich hinzuwerfen oder Gegenstände zu zerstören ; auch kompliziertere Zwangsideen kommen vor, wie sie in den seltsamsten Formen Neu- rotiker so oft quälen. So kam wiederholt ein exzessiver Onanist zu V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 159 mir, der die sonderbare Zwangsneigung hatte, wenn ihm die Tür. geöffnet wurde, zu fragen, ob sein Diener bereits nach ihm tele- phonisch angeklingelt hätte oder ob sein Chauffeur sich bereits er- kundigt hätte, wann er ihn mit seinem Auto abholen solle. Es war ein unbemittelter Angestellter, der sich weder einen Diener noch ein Auto leisten konnte und selbst das Lächerliche seiner Zwangshand- lung vollkommen einsah. Einige Autoren sind der Meinung, daß die Ursache der Angst stets sexuelle Nichtbefriedigung sei. Freud sagt: „Angst ist eine von ihrer Verwendung abgelenkte Libido." Eine ähnliche Auf- fassung verlrat schon Gattel22), der das Ergebnis seiner Unter- suchungen in den Satz zusammenfaßte: „Die Angstneurose tritt überall da auf, wo eine Eetention der Libido stattfindet." Er teilte die Angstneurotiker des Krafft-Ebingschen Ambulatoriums in vier Gruppen ein, diejenigen, die den Coitus interruptus ausüben, ferner die, welche häufig frustrane Erregungen haben, sowie die Impotenten und Abstinenten. Die Onanisten erwähnte er namentlich nicht, doch finden sich auch bei ihnen vollkommen analoge Beschwerden. Es kommt offenbar ätiologisch im wesentlichen darauf an, daß in allen genannten Fällen die dem wirklichen Bedürfnis ent- sprechende Entspannung fehlt. Dieselben Anschauungen, wie die der genannten beiden Autoren, finden wir bei Herz23), Strohmeyer24) und vor allem bei Steckel25), doch hat sich die größere Reihe der Psychiater diese Auffassung bisher nicht zu eigen machen können. Zum großen Teil beruht dies wohl darauf, daß sie unter dem Angstbegriff nicht ganz dasselbe verstehen, wie die Sexologen. Sie haben mehr die „Seelen- angst" und Herzensangst im Sinn von Furcht im Auge, während die Sexologen mehr an die vasomotorische Präkordialangst mit begleitenden Beklemmungen denken, einem Erscheinungskomplex, den man im Volksmunde auch als „Herzkrampf" bezeichnet. Außer der Herzneurose habe ich bei Onanisten am häufigsten viszerale und Blasenneurosen beobachtet. Die viszerale Neurose trägt den Charakter einer nervösen Dyspepsie mit Magen- drücken, kolikartigen Leibschmerzen, oft mit starken Diar- rhöen, seltener mit Stuhlverstopfung einhergehend. Auch Übelkeit, Widerwillen vor bestimmten Speisen, Aufstoßen, Erbrechen sind manchmal vorhanden, Symptome, die mit Ausübung der Onanie zu-, mit ihrer Unterlassung abnehmen. Bei der Zystoneurose besteht ein quälender Harndrang oft schon bei ganz mäßiger Füllung der Harn- \ W)er die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und Angstneurose, Berlin 1S98. 23) Max Herz: Die sexuelle psychogene Herzneurose, 1909. 2*) Strohmeyer: Über die ursächlichen Beziehungen der Sexualität zu Ausst- und Zwangszuständen. Jahrb. f. Psych, u. Neur. 1908. 2S) Wilhelm Steckel: Die Angstneurose. 160 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) blase Bei manchen Patienten schießt dann beim Wasserlassen unter starkem Druck ein kaum zu haltender Strahl hervor, bei anderen kann der Urin nur sehr schwer tropfenweise entleert werden Der Zufall fügt es, daß ich zur Zeit zwei völlig analoge Falle von Blasen- neurose zu behandeln habe, von denen der eine bei einem ex- zessiven Onanisten, der andere bei einem Total- abstinenten aufgetreten ist. Beide sind im funfunddreißig- sten Jahr. • . Es ist zu betonen, daß es eine spezifische, nur durch Onanie bewirkte Krankheitsstörung überhaupt nicht gibt. Alle körperlichen und seelischen Leiden, von denen wir annehmen — ob und inwie- weit mit Recht bleibt dahingestellt — , daß sie auf Onanie beruhen, *ind auch bei Nichtonanisten beobachtet worden, sei es infolge anderer exogener Momente, sei es lediglich auf endogen neuropathischer Grundlage. Wohl nirgends ist daher der alte Zweifelssatz der Mediziner, post hoe, non propter hoc, ange- brachter, wie bei den Klagen der Onanisten. K r ä p e 1 i n schreibt von der Dementia praecox: „So manche Gründe sprechen dafür, daß dem Geschlechtsleben bei dieser Krankheit eine gewisse Rolle zu- kommt, aber sie wird keinesfalls durch Onanie verursacht. Es gibt zahlreiche begeisterte Onanisten, die nicht hebephrenisch werden und umgekehrt fehlt die Onanie bei Hebephrenischen, namentlich bei weiblichen, nicht selten gänzlich, trotz starker ge- schlechtlicher Erregung." Das gilt für alle Geisteskrank- heiten, die früher der Onanie zugeschoben wurden. Daher ent- behren auch die von Loewenf eld26) angeführten Erhebungen, nach denen Ellinger unter 383 Geisteskranken in 83 Fällen, also in 21,5°/0, Hagenbach 69mal unter 800 Kranken, Peretti unter 300 männlichen Irren in 59 Fällen Masturbation „als mit- wirkende Ursache der Geistesstörung" gefunden haben wollten, während Burs bei 10°/0 aller im Eastern Michigan Asylum behandelten Geisteskranken Masturbation als causa morbi annahm, und nach Ribbing bei 3,7°/0 der in den Schwedischen Hospitälern aufgenommenen Geisteskranken das Leiden durch Masturbation entstanden sein soll, jeder auf Exaktheit und Sach- kenntnis Anspruch machenden Unterlage, überhaupt ist das Auf- treten einer wirklichen ausgesprochenen Geisteskrankheit nach Onanie nicht erwiesen und auch nach dem gegenwärtigen Stand der Lehre von den Geisteskrankheiten und der Onanie auch nicht anzunehmen. Wohl können vorübergehende Verschlimmerungen vorhandener Psychosen durch die nervöse Reizung einer onanistischen Handlung verursacht werden; namentlich bei Hysterikern und auch bei Epileptikern 2«) L. c. S. 197. V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 161 kommt es vor, daß Anfälle durch den masturbatorischen Ge- hirnschock ausgelöst werden. Gegenwärtig habe ich ein junges Mädchen in Beobachtung, die angibt, daß ihren heftigen epi- leptischen Krampfanfällen wollüstige Pollutionsträume voranzu- gehen pflegen. Es besteht aber bei der Vorgeschichte des stark libidi- nösen Mädchens der wohlbegründete Verdacht, daß diese Pollutionen nicht so unfreiwillig auftreten, wie die Patientin schildert. Die hauptsächlichste seelische Störung im Gefolge der lpsation ist eine Verschiebung der Stimmungslage nach der depressiven Seite. Diese kann sehr hochgradig sein, eine melancholische Fär- bung annehmen, zu Selbstmordgedanken und -versuchen, ja zum Selbstmord selbst führen. Von den Onanieverteidigern wird der Standpunkt vertreten, daß diese tiefe Niedergeschlagenheit keine natürliche Begleiterscheinung der Onanie ist, sondern künstlich her- vorgerufen ist durch die übertriebenen schauervollen Schilderungen der furchtbaren Folgen der Selbstbefriedigung. Ich halte dies nur zum Teil für zutreffend. Es gibt zweifellos Personen, die genau darüber unterrichtet sind, daß die Onaniegefahren bei weitem nicht so schlimm und vor allem so nachhaltig sind, als vielfach berichtet wurde und die doch weniger verstandesmäßig als rein gefühlsmäßig seelisch ungemein unter der lpsation leiden, die zu überwinden sie außerstande sind. Besteht auch der Satz: Omne animal post coitum triste unter gesunden Verhältnissen nicht zu Recht, so hat doch der Satz: Homo sapiens post ipsationem tristis in der großen Überzahl der Fälle seine volle Gültigkeit. Insofern trägt die Selbstbefriedigung ihren Namen zu Unrecht, als sie ein wirkliches Gefühl derBefriedigungseltenzurückläßt. Die Niedergedrückt- heit, das Schuldbewußtsein, die Gewissensbisse der Onanisten kön- nen sich bis zum Versündigungswahn und ausgesprochener Hypochondrie steigern, die dann oft die Zeit der Onanie sehr lange überdauert. Patienten, die noch nach zwanzig und mehr onaniefreien Jahren den größten Teil ihrer Beschwerden immer wieder mit ihren „Jugendsünden" in Zusammenhang bringen, sind keine Seltenheit. Mehrfach ist namentlich von der Freudschen Schule, aber auch von anderen mit Nachdruck der Standpunkt vertreten worden, daß lpsation mit Phantasievorstellungen viel folgenschwerer sei, als solche ohne Phantasietätigkeit. So schreibt Eeik27): „Wir wissen, daß die Onanie an sich dem Organismus keinen großen Schaden zufügt, wenn sie nicht von Phantasien begleitet ist." Es ist dies 27) Theodor Reik: Zur Psychoanalyse des Narzißmus im Liebesleben d»r Ge- sunden. Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 2, S. 45. Hirs chf eld, Sexualpathologie. I. ii 162 eine wenn unbewiesene Vermutung. Man könnte mit demselben, nicht mit mehr Recht die entgegengesetzte Auffassung vertreten, daß die „rein mechanische" Onanie schädlicher sei, weil sie der natürlichen Entspannung durch den Koitus unähnlicher ' und daher unnatürlicher sei, als diejenige, bei der die unmittelbare Wahrnehmung wenigstens durch Erinnerungsbilder ersetzt wird. In Wirklichkeit dürften zwischen der Onanie mit und ohne Vor- stellungen hinsichtlich der Schädlichkeit nennenswerte Unterschiede kaum vorhanden sein. Fassen wir alles über die Onanieschaden zu- sammen, so kann man sagen, eine spezifische Folge- erkrankung der Onanie gibt es nicht, die Entstehung irgend einer körperlichen organischen oder geistigen Erkrankung durch sie ist in keiner Weise erwiesen. Die einzige mit größter Wahrscheinlichkeit nachgewiesene Folge ist bei exzessiver Onanie und neuropathischer Anlage eine reizbare Nerven- schwäche (sexuelle Neurasthenie) meist allgemeinen, gelegentlich auch örtlich genitalen Charakters (Ejaculatio praecox). lerner treten nach ihr seelische Depressionen hypochon- drischer Färbung auf, die nicht allein durch unberechtigte exogen erzeugte Furchtvorstellungen bedingt zu sein scheinen, son- dern in vielen Fällen auch als endogene Reaktion auf die onanis tische Reizung anzusehen sind. Behandlung der Ipsation Sind demnach in summa die Onaniefolgen bei ganz unpartei- ischer Betrachtung keineswegs als schwerwiegend oder gar lebensverkürzend anzusehen, so sind sie immerhin be- trächtlich genug, um dem subjektiv meist in sehr hohem Grade bestehenden Verlangen nach ihrer Beseitigung nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. Deshalb müssen wir uns nun noch mit der Behandlung der Onanie beschäf- tigen. Was vom Arzt in dieser Beziehung gefordert wird, ist zweierlei: einmal ist es die Beseitigung der Onaniefolgen und dann die Behebung der Onanie selbst. In beiden Fällen muß unsere Therapie im wesentlichen eine kausale sein. Um die durch die Onanie verursachten Schäden zu heilen, müssen wir den Patienten vor allem von der Onanie befreien, und um ihn hiervon zu erlösen, muß man vor allem die Ursachen kennen und entfernen, die ihn zur Onanie führen. Im einzelnen kann man die zahlreichen Heil- mittel, die gegen die Onanie in Anwendung gebracht und empfohlen sind, in fünf Hauptgruppen teilen: in die psychischen, hygi- enischen, medikamentösen, instrumentalen und ope- rativen Mittel. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 163 Zur psychischen Therapie gehört die hypnotitsche Sug- gestionsbehandlung, die, von einem sachkundigen Arzt ausgeübt, häufig, und zwar auch schon ini Kindesalter recht vortreffliche Dienste leistet; ihr begeistertster Fürsprecher ist v. Schrenck- Notzing, der sich von dem „kategorischen Imperativ des sug- gestiven Zwanges" bei Onanierenden in der Vorpubertät und Puber- tät ungleich mehr verspricht, als von einer geistigen Beeinflussung im Wachzustande, die „über den geistigen Horizont und das Können vieler Kinder" hinausgeht. Ohne den Wert der Hypnose zu ver- kennen, möchte ich nach meiner Erfahrung doch einer geeigneten Aufklärungsmethode den Vorzug geben. Je nachdem der Fall es erfordert, wird diese darauf gerichtet sein, dem Patienten mehr die Schädlichkeit oder NichtSchädlichkeit der Onanie klarzumachen ; in beiden Fällen aber, und darin liegt der Schwerpunkt dieses psychischen Verfahrens, hat man sich von Über- treibungen fern und streng an die Wahrheit zu halten. Vielfach ist schon die Frage erörtert worden, von welcher Seite die heranwachsende Jugend am besten über das Geschlechtsleben und seine Gefahren einschließlich der Selbstbefriedigung aufge- klärt werden soll, ob von den Eltern, vom Arzt, Lehrer, Geistlichen, ob von einem älteren Freunde oder durch ge- eignete Schriften. Meines Erachtens kommt es weniger dar- auf an, von wem, als wann und in welcher Weise die sexuelle Aufklärung erfolgt. Es ist auch nicht nötig und richtig, daß alles, was man über die Entstehung des Menschen, die Onanie, die Geschlechtskrankheiten und andere Sexualfragen wissen muß, auf einmal beigebracht wird, sondern nach und nach hat die Erziehung die einzelnen Punkte zu be- rücksichtigen. Das ist wirksamer als eine einmalige sexu- elle Belehrung, womit die hohe Bedeutung nicht verkannt werden soll, die in dem Herrenhausantrage des General- gouverneurs Freiherrn von Bissing liegt, der unter anderm forderte, daß „planmäßige Belehrungen der Schüler und Schülerinnen sämtlicher Schulen vor der Entlassung über Ge- schlechtskrankheiten durch Schul- oder Amtsärzte" abgehalten werden sollen. Was im besonderen die Onanie betrifft, so muß die verhütende Belehrung sehr viel früher beginnen. Sobald man überhaupt an- nehmen kann, daß ein Kind versteht, was man ihm sagt, ja schon vorher, soll die Mutter ihm sagen, daß das Spielen an dem Ge- schlechtsteil seiner Gesundheit nachteilig ist. Diese Mahnung kann später bei passenden Gelegenheiten, wie beim Baden, An- und Aus- kleiden noch oft erneuert werden, jedoch stets mit eindringlicher Milde, nicht mit übermäßiger Strenge, Schlagen auf Hand, den Geschlechts- teil oder Übertreibung der Gefahren. Gänzlich zu verwerfen ist das 11* -^04 v- Kapitel: Die Onanie (Ipsation)^ kleinen Kindern gegenüber noch immer viel geübte Drohen, man werde ihnen, wenn sie sich unten anfaßten, das Glied oder die Hände abschneiden, oder sie müßten, wenn sie es wieder täten, sterben, oder es sei eine „Todsünde". Auch das Schwörenlassen sollte unter- bleiben. Durch alles dies wird das Kind nur übermäßig verängstigt und daran gehindert, sich später jemandem anzuvertrauen. Auch ist es wohl möglich, daß solche Einschüchterungen den Reiz erhohen nach dem alten Satz: Verbotene Früchte schmecken süß. Sagt doch S t e k e 1 geradezu: „Das Verbot der Onanie wirkt als Lusterholrang." Man muß sich stets bewußt bleiben, daß die sexuelle Erzie- hung in erster Linie ein Teil der hygienischen Erzie- hung ist. . Ein nochmaliger Hinweis, daß jede künstliche Erregung der Sexualorgane für das Nervensystem nachteilig ist, muß gegeben werden, sobald sich die ersten Zeichen der G eschlechtsreif e be- merkbar machen, beim Mädchen also die erste Menstruation eintritt, beim Knaben das Schamhaar sproßt. Wird ein Kind konfirmiert, so können ihm Vater und Mutter bei dieser Gelegenheit auseinander- setzen, daß die Einsegnung eigentlich ein Fest der beginnenden Geschlechtsreife ist, daß alle Völker, namentlich auch die Natur- völker, diesen Vorgang feierlich begehen, weil er wie die Geburt und Hochzeit einer der bedeutendsten Zeitabschnitte im menschlichen Leben ist. Indem man klarlegt, wie dieses Ereignis Kindheit und Jugend trennt, kann man auch schildern, daß nun die E n t w 1 c k - lungsjahre beginnen, in denen Körper und Geist allmählich zur Reife gelangen, man kann dann betonen, daß diese Entwicklungs- zeit nicht durch fehlerhaftes Verhalten gestört werden darf, wie Selbstbefriedigung, vorzeitigen Geschlechtsverkehr, Schwängerung oder gar Ansteckung. Dabei malt man in schöner Anschaulichkeit aus, welches Glück man später zu erwarten hat, wenn die Zeit, bis zu der man einen auf Liebe gegründeten Lebensbund einzugehen in der Lage ist, geschlechtlich ungetrübt verläuft. Fühlen sich Vater und Mutter ungeeignet, diese Aufgabe zu übernehmen, die leicht und geschickt zu lösen nicht jedermanns Sache ist, so mögen sie den Hausarzt, Geistlichen, Lehrer, kurz diejenigen Personen, zu denen sie in dieser Hinsicht das meiste Ver- trauen haben, bitten, statt ihrer das Erforderliche zu sagen. Mehr wie anderswo gilt hier der Satz, daß es der Takt ist, der dem Gegen- stand die Würde verleiht. Eine wertvolle Ergänzung findet diese sexuelle Erziehung durch den bereits vor der Konfirmation beginnenden und nach ihr fort- gesetzten Schulunterricht in Natur- und Menschenkunde. Die G e - schlechtskunde bildet einen der wichtigsten Bestandteile dieses Fachs. Hier können bei Pflanzen und Tieren die überall in der Natur wiederkehrenden Keimzellen, Eier und Samen beschrieben V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 165 werden und die verschiedenartigen Geschlechtsorgane, die sie be^ herbergen. Es werden die mannigfachen Formen geschildert, wie die Keimzellen sich vermischen und sich dadurch väterliche und mütter- liche Eigenschaften auf das Kind übertragen, ferner wie sich aus der Vereinigung, die teils außerhalb, teils innerhalb des Körpers vor sich geht, die Frucht entwickelt, wie sie geboren und durch die Mutter ernährt wird, vor der Geburt durch rotes Blut und nach der Geburt durch das weiße Blut, das man Milch nennt. So muß man dem Lernenden allmählich immer mehr Einblick in die Natur-, Geschlechts- und Menschenkunde gewähren, bis dem Kinde schließ- lich die entsprechenden Vorgänge beim Menschen als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen. Es ist ein verhängnisvoller Trugschluß, daß die Unwissen- heit, die man noch vielfach schlechthin als „Unschuld" bezeichnet, einen besseren sexuellen Schutz gewährleiste, als das Wissen der Wahrheit, das im Gegenteil eines der wertvollsten Vor- beugungsmittel auf sexuellem Gebiete ist. Es sollte endlich einmal mit dem Dogma gebrochen werden, das gedankenlos einer dem an- deren nachspricht, eine ernste sexuelle Aufklärung könne schaden oder gar erst die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand lenken, auf den der junge Mensch ohne Belehrung gar nicht erst verfallen wäre. Hat sich denn nicht gerade die ganze sexuelle Not unserer Zeit unter der Decke der Verborgenheit und Geheimnis- krämerei entwickelt? Ich habe in den Lehrkursen, die ich seit 15 Jahren über die sexuelle Frage halte, viele Tausende auch über Bedeutung und Folgen der Onanie aufgeklärt, von denen sehr viele mündlich und schriftlich der Überzeugung Ausdruck gaben, daß sie schwerlich der Onanie verfallen wären, wenn sie rechtzeitig das, was ich ihnen auseinandersetzte, gewußt hätten. Für abwegig aber muß ich es nach meinen Erfahrungen halten, wenn junge Leute, wie es in Keuschheitsvereinen und anderswo viel- fach geschieht, veranlaßt werden, Gelübde abzulegen oder das Ehrenwort zu geben, daß sie nie mehr Onanie treiben werden. Ich habe bereits einen Fall angeführt, in dem ein 16jähriger Jüng- ling einen ernstlichen Selbstmordversuch unternahm, weil er sein Ehrenwort brach, und könnte noch mehrere Fälle beschreiben, in denen es infolge ähnlicher Versprechungen zu schwerem seelischen Zwiespalt kam. Ganz anders als bei solchen, die man vor Onanie bewahren will, muß die psychische Therapie denen gegenüber sein, die sich schwer beunruhigen, weil sie onaniert haben. Den Weg der Wahr- heit muß man auch hier betreten, aber man soll weniger den Nach- teil betonen, welchen die Onanie für das Nervensystem hat, als zeigen, daß diese Nachteile nicht überschätzt werden dürfen. Vor allem muß man sich darin auf den Boden der Tat- Sachen stellen, daß man den Patienten zunächst einmal gründlich untersucht und ihm dann darlegt, daß er positiv keinen ernst- lieben Schaden durch die Onanie erlitten hat. Liegen Erscheinungen sexueller Neurasthenie vor, so muß auf Heilbarkeit dieser Be- schwerden hingewiesen und erörtert werden, daß Spatfolger. de Onanie nicht zu erwarten sind. Man wird dem Onanisten klarlegen, mit welchen Mitteln er seine Schwäche überwinden kann, daß e? aber, falls er doch einmal wieder dem Triebe unterliegen sollte, sich nicht verzweiflungsvoller Reue hingibt; der Onanist soll grundsätzlich nie d as V er g an g en e , sondern immer nur das Zukünftige im Auge haben. Unter den Mitteln, welche die psychische Behandlung m wert- voller Weise ergänzen, steht obenan die hygienische Therapie. Man kann diese einteilen in die geeigneten Vorschriften über Körperpflege, Körperübung, Bekleidung, Ernah- fung seelische und sexuelle Diätetik. Wollten wir auf diesen sechs Gebieten alles erörtern, was zur Verhütung der Onanie dient, wir müßten eine besondere Gesundheitslehre schreiben und den Kähmen dieses Grundrisses weit überschreiten. Nur das Wesentlichste sei daher hervorgehoben. Hinsichtlich der Körperpflege ist vor allem darauf zu achten, daß alles bekämpft wird, was als Hautreiz zum Juck e n und Kratzen und damit zur Erweckung ipsat onset 1er Lust- gefühle Anlaß gibt. Deshalb muß bei Kindern sehr auf Darmwur- mer geachtet und frühzeitig auf sorgsame Reinigung post defaecatio- nem Wert gelegt werden. Alle entzündlichen Reizungen an der Glans müssen vermieden, Phimosen, wenn sie solche befördern, operiert wer- den; der Pruritus vulvae et vaginae, sei er nervös oder katarrbalisch, muß ebenso wie jedes parasitäre, exzematöse oder nervöse Jucken an den Schamhaaren so rasch wie möglich beseitigt, überhaupt d e de Hautkrankheit einer schnellen und guten Behand- lung unterzogen werden. Von Jugend an soll das Kind seinen ganzen Korper an regel- mäßigen Wassergebrauch gewöhnen, so daß ihm dies zum tag- lichen Bedürfnis wird. Es dient dies zugleich der Sauberkeit, der Abhärtung und der Gesunderhaltung. Allerdings soll nicht un- erwähnt bleiben, daß manche junge Leute berichten, daß gerade das Alleinsein mit ihrem nackten Körper beim Baden sie immer wieder zur Selbstbefriedigung veranlaßt hat. Namenthch gilt das für Wannenbäder in Einzelzellen. Gern e inschaf tsbad er in größeren Badehallen haben den Vorzug, daß die gegenseibge Be- obachtung und Scham voreinander ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht bietet, wenn auch zuzugeben ist, daß in einigen der Anblick nackter Körper erotische Empfindungen auslösen mag, etwas, was gänzlich auszuschließen ein Ding der Unmöglichkeit V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 167 ist. Es wird aber uni so weniger der Fall sein, je früher; der Mensch sich daran gewöhnt hat, Nacktes unbefangen zu sehen; so ruft in den skandinavsichen Ländern, wo nacktes Baden noch immer eine allgemeine erfrischende Volks- sitte ist, der unbekleidete Leib weniger erotische Vorstellungen hervor, als in den mittel- und südeuropäischen Ländern der von dem Feigenblatt der Badehose bedeckte Unterleib, der vielfach erst die sexuelle Neugier reizt. Im übrigen gehört auch die Badehose zu den Kleidungsstücken, deren Keibung örtliche Reizungen be- günstigt. Vom Standpunkt der Onanie-Prophylaxe sind jedenfalls gemeinsame Schwimm- und Brause- bäder die geeignetste Bade form. Ebenso zweckmäßig sind auch die Licht-, Luft- und Sonnenbäder, die in den letzten Jabren erfreulicherweise sehr an Volkstümlichkeit gewonnen haben, namentlich in Verbindung mit körperlichen Übungen. Aus dem Ursprung des Wortes Gymnastik von yvßvog ■= nackt ist er- sichtlich, welchen Wert die in hygienischer Hinsicht vielfach vor- bildlichen Hellenen gerade auf Nacktübungen legten. Körperübungen, in erster Linie Wandern, dann Turnen, wie gute athletische und sportliche Betätigung gehören überhaupt zu den besten Vorbeugungs- und Heilmitteln gegen die Onanie. Wer es noch nicht vorher gewußt hat, hätte durch unsere Feldgrauen erfahren können, wie sehr körperliche Strapazen geeignet sind, den Geschlechtstrieb zu d ä m p f e n. Viele junge Leute berichten, daß mit dem Leben in der Kaserne ihre Onanie wie mit einem Sehlage er- losch. Die Erfahrung zeigt aber, daß als Abfuhr sexueller Spann- kräfte körperlichen Leistungen doch nur eine relative, keine absolute Heilkraft innewohnt. Auch Nietzsches Meinung, daß „der Ge- schlechtstrieb an die Maschine gestellt werden und nützlich arbeiten lernen, z. B. holzhacken, Briefe tragen oder den Pflug führen könne"28), trifft nur für eine gewisse Zeit und für geistig besonders dazu be- fähigte Leute, nicht für die große Mehrzahl zu. Neben der energischen Ableitung ist ein Hauptvorzug körper- licher Betätigung hinsichtlich der Onanievorbeugung, daß sie einen gesunden tiefen Schlaf hervorzubringen vermag. Der Satz, den mir ein Onanist schreibt: „Am meisten hilft noch, sich abarbeiten, bis man so müde wird, daß gleich der Schlaf eintritt," hat eine allgemeinere Bedeutung. Verführt doch gerade das lange Wachliegen im Bett, nackt und allein unter molligen Decken, junge Leute leicht zur Ipsation. Deshalb ist auch in dieser Beziehung alles, was den Schlaf stört, vom Übel, alles, was ihn bessert, von entschiedenem Nutzen. Auch der verlängerte Aufenthalt frühmorgens im Bett, 28) Vgl. Dr. v. Römer: Zeitschr. f. Sexualw. 1908, S. 39 ff. / 168 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) womit viele Eltern ihren Kindern eine Sonntagsfreude bereiten wollen, ebenso das zu frühe ins Bett schicken, wenn die Kinder keine Spur von Müdigkeit zeigen, ist von diesem Gesichtspunkt schädlich. Auch gewöhne man von Jugend an die Knaben und Mäd- chen an ein mehr hartes, kühles und leichtes Lager. Wie die natürliche Körperdiecke, die Haut, so kann auch die künstliche, das Kleid, onaniebegünstigende Reize auslösen. Verschiedentlich wurde bereits, wie erst eben bei der nächtlichen Körperhülle, auf diesen Umstand hingewiesen. Ältere Autoren haben namentlich denengenBeinkleidern eine wesentliche Schuld an der Onanie zugemessen. In meinem Werk: „Die Transvestiten" habe ich ausführlicher ein merkwürdiges Buch aus dem Jahre 1791 er- wähnt, merkwürdig durch seinen Inhalt — es führt den Titel: „Wie der Geschlechtstrieb des Menschen in Ordnung zu bringen und die Menschen besser und glücklicher zu machen sind" — , noch merk- würdiger durch den großen Eifer, mit dem sein Verfasser, der „gräflich Schaumburg-Lippische Hofrat und Leibarzt" Dr. Bern- hard Christian Faust, seine Ideen verficht. Er fordert, daß die hervorragendsten seiner Zeitgenossen, von denen er unter anderen die Herren von Goethe, von Dahlberg, Herder, Hufeland, Schiller, Wieland namentlich anführt, zu einer Untersuchungskom- mission zusammentreten sollen, um seine Gedanken und Vor- schläge zu prüfen. Diese gipfeln in dem Entwurf einer aus- führlichen „Landesordnung für eine künftige einförmige Kleidung der Kinder, die Deutschlands große, gute und weise Fürsten als Väter ihrer Völker mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts im Jahre 1800 als Gesetz für ihre lieben treuen Untertanen am Altare der Menschheit niederlegen sollen". Er stellt in diesem Buche, dem der berühmte Pädagoge Campe eine Vorrede beigegeben hat, die These auf, daß die hauptsäch- lichste Ursache der Onanie der Knaben29) die Hosen seien Auch das Einwickeln in Windeln reizt nach Faust frühzeitig die Geschlechtsteile. Später entstehe dann durch die Hosen „eine große und feuchte Wärme, die am vorzüglichsten und größten in der Gegend der Geschlechtsteile ist, wo das Hemd sich in Falten zu- sammenschlägt". (S. 46.) „Auch muß der Knabe," fährt der Ver- fasser fort, „wenn er seinen Harn ablassen will, sein kleines männ- liches Glied aus den Hosen zerren; im ersten Anfange und auch noch lange Zeit nachher, kann der kleine Knabe dies nicht selbst bewerkstelligen; Kinder, Mägde und Knechte helfen ihm und zerren und spielen mit seinem Geschlechtsteil: Durch dies Befühlen, Zerren und Spielen, das der Knabe selbst oder andere mit seinen Geburts- teilen treiben, gerät der Knabe (auch das Mädchen, das sehr oft 29) Vgl. Dr. Iwan Bloch: „Das Sexualleben unserer Zeit", S. 476. V. Kapitel. Die Onanie (Ipsation) 169 hilft und dem der unschuldige Knabe aus Dankbarkeit wieder helfen will) in eine vertraute Bekanntschaft mit Teilen, die sonst heilig, unrein und Schamteile waren. Das Kind gewöhnt sich an, mit den Geburtsteilen zu spielen, und die Gelegenheitsonanie ist durch die Hosen hervorgebracht" (S. 45). Als Ab- hilfe schlug Faust eine mehr der weiblichen Kleidung an- gepaßte Kleidung für die Knaben vom neunten bis zum vier- zehnten Lebensjahre vor, in der die Hosen wegfallen. Die Kin- der werden dann „der Natur gemäß, Kinder seyn und spät reifen" — und „der Geschlechtstrieb der Menschen wird in Ord- nung kommen und die Menschen werden besser und glücklicher werden". (S. 217.) So meinte der gute Dr. Bernhard Faust, der nach Art der Steckenpferdreiter zwar sehr übertreibt, in dessen Lehren aber doch der gesunde Kern nicht verkannt werden kann, nämlich, daß sowohl beim männlichen als weiblichen Geschlecht Ober- und Unterkleider, die eine Reibung des Genitalapparates bewirken, den Drang befördern, die Reizung durch Betastungen zu steigern. Jedenfalls ist die von Zeit zu Zeit immer wieder auftretende Herren- mode, die Beinkleider so eng zuzuschneiden, daß sich in ihnen die männlichen Organe prall abheben, auch vom hygienischen Stand- punkt zu verwerfen. So begreiflich es ist, daß sich Fausts Forderung nicht durch- setzen konnte, so wenig verständlich ist, daß ein anderer viel ein- facherer Vorschlag keine Beachtung gefunden hat, der dahingeht, die Hosentaschen so anzulegen, daß sie nicht geradenwegs zu den Geschlechtsteilen führen. Es könnte hier so leicht durch aus- schließliche Anbringung der Taschen über dem Gesäß Abhilfe ge- schaffen werden. Wie richtig das wäre, ersieht man aus der Fest- stellung, die man bei Überprüfung der Hosentaschen in den Schulen machen könnte, daß sehr zahlreiche Schüler sich unten in die Taschen Löcher gebohrt hatten, um sich selbst und gegenseitig leichter an den Geschlechtsteilen spielen zu können. Es geht zwar auch durch die uneröffneten Hosentaschen; aus mehrfachen Berichten ist be- kannt, daß es in manchen Schulklassen geradezu Sitte geworden war, sich während langweiliger Stunden wechselseitig in die Hosen- taschen zu greifen und unten anzufassen, nicht selten usque ad ejaculationem. Diese mutuelle Schulonanie leistet der solitären zu Hause großen Vorschub. Deshalb ist der Rat des Gesundheitslehrers Bock, die Taschen bei Knabenhosen hinten anzu- bringen, wohl begründet, ebenso wie es das Verbot der Korsetts für Schulmädchen ist, und die Empfehlung loser leichter Kleider im allgemeinen. Von alters her besteht die Auffassung, daß zu denjenigen Ein- flüssen, die direkt und indirekt die sexuelle Begehrlichkeit steigern, eine üppige Kost gehört. Sowohl auf die Menge als auf die Art -j^q V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) der Speisen kommt es an, und besonders verhängnisvoll ist ein reich- liches Nachtmahl. Es gibt Nahnmgs- und namentlich Genußmittel, von denen wir wissen, daß sie auf das Nervensystem und damit auf die sexuelle Libido erregend wirken, wie die meisten Gewürze, stark stickstoffhaltige Speisen, Fleischbrühe, Tee und vor allem Kaffee — hinter jeder Tasse Kaffee verbirgt sich die Onanie, be- hauptete einst Dr. H ahnemann — , andere Genußmittel, zu denen in erster Reihe der Alkohol zu rechnen ist, sind wiederum geeignet, die Widerstände gegen sexuelle Antriebe zu unter- drücken Schon in der Bibel wird vor dem Wein als Genossen der Unzucht gewarnt und auch bei den alten Griechen und Römern waren die Götter des Weins und der Liebe, BacchusundVenus, ein unzertrennliches Paar; das ihnen Gemeinsame ist der Rausch und dessen Folgen. Sicherlich ist nach allem, was wir wissen, für Onanisten und diejenigen, die es werden könnten, vor allem also für die Jugend, eine alkoholfreie, frugale, kochsalz- und stickstoffarme Kost mit Be- vorzugung von Obst, Gemüsen, Salaten, Brot, Breien, süßer und saurer Milch die angemessenere Ernährung, ohne daß man allerdings ihre schützende und heilende Kraft überschätzen darf. Ich habe viele Onanisten gesprochen, die sich lange Zeit jedes Fleisch- und Alkoholgenusses enthalten haben, in der Hoffnung, dadurch den Stachel loszuwerden, der sie zur Selbstbefriedigung trieb. Sie versicherten mir, daß dies nur einen sehr vorübergehenden, anscheinend mehr suggestiven Erfolg gehabt hätte. Zu denken gibt auch die Tatsache, daß unter den Tieren gerade die Pflanzenfresser, der Hengst, der Stier, die geschlechtlich regsamsten sind. Trotz dieser und anderer Einwände behält aber doch die richtige Kost in der Onanieprophy- laxe ihren nicht geringen Wert, nur hilft sie nicht allein. Eins muß das andere ergänzen. Bedeutsamer jedenfalls als die Diätetik des Leibes ist für die Ipsation die D i ä t e t i k d e r S e e 1 e. Denn schließlich und endlich ist es doch der Geist des Menschen, de r s e i n e n Körper leitet. Von der Denk- und Willenskraft werden die Schranken errichtet gegenüber Instinkten und Kontrainstinkten, positiven und negativen Empfindungen, Zuneigungen und Abneigungen, Liebe und Haß, denen wir ohne Herrschaft des Oberbewußtseins zügellos preis- gegeben wären. Allerdings erreicht diese Macht nur einen gewissen Grad. „Bis zu einem gewissen Grade steht die Empfindung unter der Gewalt des Willens", sagt Kant mit gutem Grunde. Die Empfin- dung ist in ihrer Richtung, meist auch in ihrer Stärke gegeben, aber der Grad ihrer Beherrschung ist durch ziel- bewußte Willensschulung der Steigerung zugäng- lich. Hier wird von den Eltern viel gefehlt, die oft zu bequem, V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 171 öfter noch zu sehr in Anspruch genommen sind, um ein Kind, namentlich ein schwieriges Kind, in nicht erlahmender Mühe und Milde daran zu gewöhnen, daß es das für gut Erkannte durchführt. Und auch die Schule vernachlässigt zumeist über dem Wissens- schatz den Willensschatz und berücksichtigt nicht aus- reichend, daß nicht für die Schule, sondern für das Leben erzogen werden soll. Die Überwindung der Willensschwäche, die namentlich zwischen dem 10. und 20. Lebensjahre oft den Charakter krankhafter A b u 1 i e annimmt, ist gewiß eine der schwersten, dafür aber auch die wichtigste und dankbarste Aufgabe der J ugenderzieh u n g. Sie darf nicht blinden Kadavergehorsam im Auge haben, im Gegenteil muß dem aufwachsenden Menschen von allem, was er tun soll, Sinn, Zweck und Ziel erklärt werden, er soll einsehen und würdigen, was und warum ihm etwas dient. Dann aber soll unermüdlich darauf ge- halten werden, daß er das als gut und nützlich Befundene ausführt und das als schlecht und schädlich Begriffene unterläßt. Die Ge- wöhnung, die nicht früh genug einsetzen kann — bisher wird meist der richtige Moment verpaßt — ist die beste Stärkung und Förderung der Willenskraft ; sie muß in der planmäßigen Ein- teilung jedes Tages, in Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Gewissen- haftigkeit, Zuverlässigkeit im kleinen wie im großen ihren Aus- druck finden. Mit Recht sagt Feuchtersieben in seiner noch immer lesenswerten „Diätetik der Seele": „Erziehung zur Selbst- beherrschung ist der Inbegriff der ganzen Moral." Die sexuelle Selbstbeherrschung soll sich aller- dings nicht nur auf die eigene Person beschränken, sondern muß auch anderen gegenüber beobachtet werden, indem nicht in ihr Selbstbestimmungsrecht eingegriffen wird. Dies muß ge- wahrt bleiben, wenn Menschen, deren freie Entschlußfähig- keit wir im übrigen voraussetzen, allein oder gemeinsam ohne Schädigung anderer Geschlechtshandlungen begehen. Aus diesem Grunde ist das Spür- und Denunziersystem zu ver- werfen, dem in der Onaniefrage vielfach das Wort geredet wird. Selbst die katholische Beichte hat ihre Bedenken. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung ist behauptet worden, daß „die unsittlichen Fragen der Beichtväter die Mädchen und jungen Burschen oft erst auf die Sünde der Masturbation"30) hinweisen. Für ebenso bedenklich halte ich die wohlmeinenden Thesen, welche der berühmte Breslauer Ophthalmologe Hermann Cohn in seiner Broschüre: „Was kann die Schule gegen die Masturbation der Kinder 30) „Auszüge aus der Moraltheologie des Liguori" von Robert Graßmann. Stettin 1901. S. 20 u. 21. 172 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) tun?" aufgestellt hat, dahingehend, daß „eine beständige Aufsicht durch die Lehrer während des Unterrichts und während der Pausen in hezug darauf, daß die Schüler nicht Auto- und mutuelle Onanie treiben" stattfinden soll und „Straflosigkeit demjenigen Schüler zuge- sichert werden soll, der die mutuelle Onanie zur Anzeige bringt". Zu welchen Ungerechtigkeiten solche Anschauungen führen kön- nen, habe ich kürzlich in einem Fall beobachten können, über den ich ein Gutachten abzugeben hatte. Ein Ujähriger Knabe hatte mit einem etwa gleichaltrigen Onanie getrieben. Diesem war, ein dritter — - 17jähriger — in überschwenglicher Jugendfreund- scbaft zugetan. Er suchte ihn von der Onanie abzubrin- gen. Alles Nähere geht aus der folgenden gutachtlichen Schilderung hervor, die so bezeichnende Einblicke in die Schülererotik gibt, daß ich sie meinen Lesern nicht vorenthalten möchte. Von dem Herrn Kaufmann Paul W. in X. bin ich ersucht worden, in meiner Eigen- schaft als Spezialarzt und Sachverständiger auf sexualwissenschaftlichem Gebiet ein Gut- achten abzugeben über den Zustand seines Sohnes, des 17jährigen Oberprimaners Max W. insonderheit darüber, ob anzunehmen ist, daß dem seinem Sohn zur Last ge- legten Verkehr mit dem um 3 Jahre jüngeren Schüler desselben Gymnasiums, Hans S., ein geschlechtliches Motiv oder sexuelle Absichtenzugrundegelegenhaben. Der sachliche Vorfall, der zu diesem Gutachten Anlaß gegeben hat, ist kurz fol- gender: Max W. war als Unterprimaner Ende Mai 19.. Zugführer der ... Jugend- kompagnie des ... Bezirks von X. geworden, die sich aus Schülern des ... gymnasiums zusammensetzt. In seinen Zug trat Ende August der damalige Obertertianer Hans S. Es interessierte W., der schon damals die Absicht hatte, Offizier zu werden, besonders, daß der Vater des Hans als Hauptmann im Felde stand und das Eiserne Kreuz I. Klasse bekommen hatte. Auch sonst hatte er ihn sehr gern wegen seines munteren, freundlichen Wesens, seiner sportlichen Interessen und seiner Auffassungen und Ansichten, die mit den seinh'en viele Berührungspunkte hatten. Es bildeten sich allmählich stärkere freund- schaftliche Empfindungen für Hans S. heraus, und als beide bei einer zweitägigen Übung der Jugendkompagnien zwischen G. und E. am 8. und 9. Oktober 19.. zufällig beim Übernachten in einer Scheune nebeneinander zu liegen kamen, küßte W. den Hans S., ohne daß es dabei zu sonstigen körperlichen Berüh- rungen oder geschlechtlichen Erregungen kam. W. will diesen Kuß lediglich als Besiegelung seiner innigen Freundschaft und Sympathie aufgefaßt haben. Bald nach dieser Übung forderte Hans S. den W. auf, mit in die Wohnung seiner Eltern zu kommen; er stellte ihn seiner Mutter vor und zeigte ihm viele Photo- graphien und Abbildungen, die sein Vater aus dem Felde geschickt hatte und von denen er annahm, daß sie Max als zukünftigen Offizier — Hans selbst wollte später auch Offizier werden — interessieren würden. Ende Oktober lud Max dann auch den jüngeren Hans zum Kaffee zu sich und zeigte ihm Photographien, ausgestopfte Tiere usw. Auch bei diesen Zusammenkünften küßten sich beide mehrfach, doch versichert Max W. wörtlich: „ich weiß genau, daß ich dabei keine geschlechtliche Erregung spürte, ich war nur glücklich in dem Gedanken, wenn du doch auch einmal einen solchen Sohn haben könntest". Inzwischen war S.s 16jähriger Freund, Ernst M., auf den Verkehr der beiden auf- merksam geworden und suchte Hans S. davon abzubringen. Der 13jährige Bruder von Einst, Ludwig M., welcher auch auf dem . . . gymnasium war, berichtete W. davon und erzählte ihm auch, daß „Ernst M. und Hans S. sich früher öfter in ein Zimmer ein- geschlossen, die Vorhänge zugemacht und sicherlich wohl zusammen onaniert hätten, auch beim Baden in A. hätten sie sich unanständig benommen". V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 173 W. machte dem Hans S. darüber Vorhaltungen und beachtete ihn dann mehrere Wochen nicht, schrieb ihm auch nicht aus Y., wo er die Weihnachtsferien über mit eeinen Eltern und Geschwistern weilte. Doch schrieb er inzwischen an Ludwig M., er möchte ihm „möglichst alles Schlechte" mitteilen, was Ernst und Hans mit- einander trieben. Seine Absicht war, Hans dies dann vorzuhalten und ihn von dem Verkehr mit Ernst M. abzubringen, weil er glaubte, daß dieser Hans schädlich beeinflußte. Diesen in Geheimschrift geschriebenen Brief nahm Ernst seinem Bruder fort, entzifferte ihn und übergab ihn der Mutter von Hans, Frau S. Am 7. Januar bekam dann Max W. von Ernst M. und Hans S. einen Brief, in dem sie schrieben, Frau S. habe Hans den Verkehr mit ihm verboten. Darauf sprach W. mehrere Wochen nicht mehr mit Hans, bis ihm ein anderer Freund, Arthur F., sagte, dieses angebliche Verbot stimme nicht, was ihm dann auch Hans S. auf Befragen be- stätigte. Nach der Kaisergeburtstagsfeier, bei der W. in einem Theaterstück eine Hauptrolle spielte, sprach dann Hans S. den W. wieder an und es bahnte sich wieder ein näherer Verkehr an. Zu Küssen ist es aber seitdem nicht mehr ge- kommen. W. berichtet dann weiter: „Am 8. März fragte Hans mich morgens in der Schule, ob ich nachmittags für ihn Zeit habe. Ich bin dann nachmittags von 5 bis 3/47 Uhr mit ihm spazieren gegangen. Da bat er mich: .Kannst du mir nicht mal diese ganzen Geschichten da erklären, die zwischen Jungs vorkommen? Wenn die anderen darüber sprechen, dann weiß ich immer nicht Bescheid!' usw. Ich habe mir die Sache überlegt und es schließlich für besser gehalten, wenn er es auf einmal richtig, als nach und nach von seinen Freunden falsch erfährt. Ich habe ihm erzählt, wie mit 13, 14 'Jahren im Menschen sich der Geschlechtstrieb entwickelt, angedeutet, wie man ihn später auf natürlichem Wege befriedigt und ihm gesagt, welche schrecklichen Folgen häufige Selbstbefriedigung haben kann und daß man sich gerade in seinem Alter sehr in acht nehmen muß, und ihm gute Ratschläge in dieser Richtung gegeben. Dann habe ich mir ehrenwörtlich versprechen lassen, daß er sich die größte Mühe geben will, nie so etwas zu tun und daß er mir sofort den nennen soll, der ihn zum Onanieren verführen will. Er war sehr froh, daß er dies endlich erfahren hat, sagte er und hat sich bei mir dafür bedankt." Am 25. März, als die Schüler wegen des Ergebnisses der IV. Kriegsanleihe frei hatten, machte W. von i/2ll bis i/212 Uhr mit S. eine Radtour in den . . . wald. Da Hans von dieser Tour — er war inzwischen noch in G. bei M. gewesen — spät nach Hause kam, machte ihm seine Mutter Vorwürfe. Wie W. am anderen Tage von Ludwig M. erfuhr, verbot bei dieser Gelegenheit Frau S. ihrem Sohne in Anwesenheit von Ernst M. gänzlich den Verkehr mit W. Da sie bei dem Befragen ihres Sohnes auch von den Küssen erfuhr, die W. etwa 3 Monate vorher ihrem Sohne gegeben hatte und wohl den Eindruck gewann, daß W. den H. geschlechtlich verführt hätte, oder verführen könnte, begab sie sich einige Tage später zu dem Ordinarius von Hans, Herrn Oberlehrer Dr. R., und beschwerte sich über den Verkehr zwischen W. und ihrem Sohne. An diesem Tage (28. März) — W. war noch nicht vernommen — traf W. zufällig auch Ernst M., der auf Hans wartete. W. war sehr erregt, weil er glaubte, daß Frau S. auf das Betreiben von Ernst M. ihn in der Schule angezeigt hatte und machte diesem heftige Vorhaltungen, er verdiene eigentlich etwas anderes als Worte, er, W., würde beim Verhör alles sagen, er habe ein reines Gewissen, er würde sagen, was er von dem Verkehr zwischen Ernst M. und Hans S. gehört habe und ähnliches; auch meinte er, sie — nämlich Ernst und Hans — sollten sich nicht wundern, wenn sie eines Tages etwas gedruckt lesen würden, was ihnen bekannt vorkäme. Es schoß ihm dabei der Gedanke durch den Kopf, daß er einmal eine Übung in der Jugendkompagnie schildern wolle, in der er dann auch auf die Geschichte, die sich zwischen Hans, Ernst und ihm abspielte, Bezug nehmen wollte. An eine Drohung gegen Frau S. — wie Ernst M., der dies sofort Frau S. mitteilte, an- nahm — dachte W. dabei in keiner Weise. Auch bestreitet er entschieden, zu einem anderen Mitschüler, namens Otto B., mit dem er sich nicht gut stand, gesagt zu haben: „auf einer Ostertour würde er es mit Hans bis zum äußersten kommen lassen". Yi^_ V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) Am 29. und 30. März wurde Max W. und ebenso Hans S, F. und B. von Herrn Dr. P, vernommen, der dann am 31. März dem Vater von ^ ^ * \VkTu f ^ e n z selbst von der Schule zu nehmen, weil er sonst dur«\ K™1""* beschluß jedenfalls von der Schule verwiesen werden wurde. Der Vater meldete ihn am gleichen Tage von der Schule ah In da, | A^«eugm- wurde vermerkt: „Er verläßt die Anstalt wegen krankhaften Nerven zl a JT Ts " Bei „Betragen" wurde in der Zensur vermerkt: „gut, bis auf die letzte Zeit" In e n m zwei Wochen vorher ausgestellten Führungszeugnis zum Zwecke der An- n nme als Fahnenjunker stand dagegen: „Betragen sehr gntf«. W, der ohne ^^eses Vor- kommnis in zwei Monaten die Notreifeprüfung abgelegt haben wurde, um die 0 Hiziers- lauTbahn zu erwählen, nahm sich die ganze Angelegenheit sehr zu Herzen; er fühlte sich tiefste in seiner Ehre gekränkt, unrichtig heurteilt, in seinen Absichten verkannt rnd truo sich daher ernstlich mit dem Gedanken, seinem Leben dTrch Erschießen ein Ende zu bereiten. Er hatte sich zu diesem Zweck bereits einen Revolver k o m m e n 1 a s s e n. Nur die Rucksicht auf seL besorgte Mu t«, das Bewußtsein eines guten Gewissens und der Wunsch dem vXlande "im Kriege zu dienen, hielten ihn, wie er angibt, von diesem äußersten SClUiHerrb W sen. unterbreitete mir auf Rat seines Hausarztes, Dr. K den Sachverhalt und nahm ich darauf seinen Sohn in Beobachtung und Behandlung, da die Vermu- Tung bestand, es könnte sich bei seinem _S ohne um eine hom - sexuelle G e s c h 1 e c h t s n e i g u n g oder eine mit der Pubertät in Zu- sammenhang stehende E n t w i c k 1 u n g s s t ö r u n g handeln. Auf Grund eingehender methodischer Exploration und sorgfältigster Untersuchung des Schülers Max W. bin ich dann zu folgenden Ergebnissen gekommen: Eine erbliche Belastung ist bei W. nicht nachweisbar. Eltern und zwei jüngere Geschwister sind gesund. Er selbst ist mittelgroß, Gewicht 66 kg Muskeln sind ziem- lich kräftig entwickelt. Er neigt zu körperlicher Tätigkeit treibt ziemlich viel Sport, Leichtathletik, Jagen, Schießen, Schwimmen, Rudern, Fußball Seine Schritte > sind tat Die Hüften sind schmaler als die Schultern. Auch sonst bestehen weder in der Stimm- bildung, noch in der Brustbeschaffenheit, noch sonst feminine Einschlage. In inteüek- tueUer Hinsicht ist er seinem Alter entsprechend vorgeschritten. Er macht einen ernsten gesetzten, wenn auch in mancher Hinsicht noch unreifen Eindruck Seine Energie ist gut entwickelt, seine Bekannten behaupten, er sei ehrgeizig und herrschsuchtig sein Vater findet ihn etwas verschlossen, er selbst bezeichnet sich als stolz. Ich fand ihn an- fangs recht zurückhaltend, dann aber, nachdem er zum Arzte Vertrauen gefaßt hatte, aufrichtig, bescheiden und aufmerksam; er ist pünktlich, zuverlässig ordnungsliebend etwas eigenwillig. Gedächtnis ist gut, seine Lieblingsfächer in der Schule smc 1 Physik und Deutsch. In seiner Kleidung zeigt er sich in keiner Weise auffallend. Die häusliche Erziehung war ziemlich streng. Was nun sein sexuelles Leben betrifft, so ist zu bemerken, daß vor 2*/, Jahren die Geschlechtsreife bei ihm eintrat. In seinem 14. und 15. Lebensjahre hat er, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, etwas onaniert, anfangs alle 6 bis 4 Wochen, dann seltener. Er wurde dazu durch gleichaltrige Schüler und em etwas älteres Mädchen verführt. Nachdem er damit aufgehört hatte, traten in den letzten Jahren dann und wann Pollutionen auf. Er träumte dabei von bekannten Mädchen. Ein Geschlechts- verkehr mit dem Weibe hat bisher noch nicht stattgefunden; dagegen fühlt er sich in seiner seelischen Geschlechtsneigung ausschließlich zu weiblichen Personen hingezogen, jungen Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen". Im Jahre 19.. — er war damals 14 Jahre alt — wurde er zum ersten Male von Kameraden ge- küßt Kurz darauf lernte er einen 17jährigen Jungen, namens Albert 0., auf dem Sportplatz kennen, der ihm Geld und Schokolade schenkte und ihn dann und wann innig küßte. Geschlechtlich berührt haben sich beide aber niemals. Da W. die Freund- schaft dieses 0. nicht erwidern konnte, war dieser sehr traurig und als bald darauf der V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 175 Krieg ausbrach, trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer und fiel in d e n e r s t e n K ä m p f e n. Auf W. machte dies einen tiefen Eindruck. Fassen wir das bisherige Sexualleben W.s zusammen, so ist zu sagen, daß er lediglich im BegiDn der Pubertät zeitweise Selbstbefriedigung ^e- tneben hat, seitdem nur Pollutionen gehabt und sich jeder Geschlechts - betätigung enthalten hat. Sollte Hans S. in der Zeit, in der er mit W. ver- kehrte, wie behauptet wird, für sich onaniert haben, so kann W. dafür nicht verantwort- lich gemacht werden, zumal sich S. in dem Alter befand, in dem nach sexualwissen- schaftüchen Ermittlungen ein sehr hoher Prozentsatz (über 90%) dieser Jugendverirrun* erliegen. 6 Ich gebe demnach mein Sachverständigengutachten wie folgt ab: I. Der Vermerk auf W.s Abgangszeugnis, es liege bei ihm ein krankhafter Nervenzustand vor, entspricht nicht den ärztlicherseits festgestellten Tatsachen. II. Max W. ist ein gesunder, seinem Alter entsprechend körperlich und geistig gut entwickelter Jüngling. III. Insbesondere fehlen bei ihm alle Anzeichen einer homosexu- ellen Veranlagung. Das Sexualleben des 17jährigen W. zeigt keine Regelwidrigkeiten. Er hat zwar mit 14 und 15 Jahren zeitweise onaniert, seitdem aber nur normale Traum- pollutionen gehabt und niemals weder mit Personen des anderen noch des gleichen Ge- schlechts einen sexuellen Umgang gepflogen. IV. Sein Verkehr mit Hans S. trägt den Charakter einer überschwenglichen, aber reinen und idealen J u g e n d f r e u n d s c h a f t. Er ist bemüht gewesen, auf den Knaben gunstig einzuwirken, hat ihn niemals geschlechtlich berührt, im Gegenteil ihn vor der Onanie eindringlich gewarnt und ihn Einflüssen zu entziehen gesucht, die er, ob mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt, für schädlich hielt Dabei hat er einen etwas naiven jugendlichen Übereifer an den Tag gelegt, wie dies beispiels- weise der Brief an Ludwig M. zeigt, keinesfalls aber sich von unlauteren Be- weggründen leiten lassen. V. Die Verkennung der Beweggründe W.s, seine infolgedessen veranlaßte Entfernung von der Schule wenige Wochen vor seiner Kriegsreifeprüfung und dem beabsichtigten Eintritt ins Heer, der Vermerk auf seinem Zeugnis, er sei wegen eines „krankhaften Nervenzustandes entlassen, sind geeignet, W. nicht nur äußerlich, son- dern auch innerlich schwer zu schädigen. Der unverdiente Ruf homosexueller Empfindungen und Verfehlungen haftet erfahrungsgemäß einem Menschen lange an, verletzt ihn seelisch tief und setzt ihn in den Augen anderer herab. Es ist daher wohl verständlich, daß nur wenig fehlte und es wäre durch das von unrich- tigen Voraussetzungen ausgehende Vorgehen gegen W. die Zahl der Schülerselbstmorde vermehrt worden. Ein Vorwurf gegen den Verhandlungsleiter oder die Schule, die sicherlich das Beste wollten, soll damit nicht erhoben werden. Doch machen meine Sachkenntnis und meine Erfahrung als Spezialarzt es mir zur Pflicht, im Interesse des seelischen Zustandes des meiner Begutachtung und Behand ung unterstellten Max W. den dringenden Wunsch auszusprechen, daß die in der Beurteilung W.s vorgekommenen Irrtümer und Fehler nach Möglichkeit berichtigt werden. 6 rr • Z?- Irff^eine Gefahr> daß W. auf seine Mitschüler in sexueller oder moralischer Hinsicht nachteilig einwirken könnte, liegt nach seiner ganzen psychischen Individualität in keiner Weise vor. Die Wirkung, die dieses G utachten erzielte, war die beabsichtigte Das Abgangszeugnis wurde entsprechend geändert. Außer von körperlichen spricht man auch von geistigen Abführmitteln sexueller Spannkräfte, den sexuellen Äquivalenten im Sinne Blochs, den Sublimierungen Freuds Bewegen wir uns hier auch noch sehr im Theoretischen und Speku- 174. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Am 29. und 30. März wurde Max W. und ebenso Hans S., F. und B. von Herrn Dr. R. vernommen, der dann am 31. März dem Vater von W. riet, seinen Sohn selbst von der Schule zu nehmen, weil er sonst durch Konferenz- beschluß jedenfalls von der Schule verwiesen werden wurde. Der Vater meldete ihn am gleichen Tage von der Schule ab. In das Abgangszeugnis wurde vermerkt: „Er verläßt die Anstalt wegen krankhaften Nerven zustandes." Bei „Betragen" wurde in der Zensur vermerkt: „gut, bis au die letzte Zeit" In einem zwei Wochen vorher ausgestellten Führungszeugnis zum Zwecke der An- nahme als Fahnenjunker stand dagegen: „Betragen sehr gut". W., der ohne dieses Vor- kommnis in zwei Monaten die Notreifeprüfung abgelegt haben würde, um die Offiziers- laufbahn zu erwählen, nahm sich die ganze Angelegenheit sehr zu Herzen; er fühlte sich aufs tiefste in seiner Ehre gekränkt, unrichtig beurteilt, in seinen Absichten verkannt und trug sich daher ernstlich mit dem Gedanken, seinem Leben durch Erschießen ein Ende zu bereiten. Er hatte sich zu diesem Zweck bereits einen Revolver kommen lassen. Nur die Rucksicht auf seine besorgte Mutter, das Bewußtsein eines guten Gewissens und der Wunsch, dem Vaterlande im Kriege zu dienen, hielten ihn, wie er angibt, von diesem äußersten SChlltHerr W sen unterbreitete mir auf Rat seines Hausarztes, Dr. K., den Sachverhalt und nahm ich darauf seinen Sohn in Beobachtung und Behandlung, da die Vermu- tung bestand, es könnte sich bei seinem Sohne um eine homo- sexuelle Geschlechtsneigung oder eine mit der Pubertät in Zu- sammenhang stehende E n t w i c k 1 u n g s s t ö r u n g handeln. Auf Grund eingehender methodischer Exploration und sorgfältigster Untersuchung des Schülers Max W. bin ich dann zu folgenden Ergebnissen gekommen: Eine erbliche Belastung ist bei W. nicht nachweisbar. Eltern und zwei jüngere Geschwister sind gesund. Er selbst ist mittelgroß, Gewicht 66 kg. Muskeln sind ziem- lich kräftig entwickelt. Er neigt zu körperlicher Tätigkeit, treibt ziemlich viel Sport, Leichtathletik, Jagen, Schießen, Schwimmen, Rudern, Fußball. Seine Schritte sind fest. Die Hüften sind schmaler als die Schultern. Auch sonst bestehen weder in der Stimm- bildung, noch in der Brustbeschaffenheit, noch sonst feminine Einschläge. In intellek- tueller Hinsicht ist er seinem Alter entsprechend vorgeschritten. Er macht einen ernsten, gesetzten, wenn auch in mancher Hinsicht noch unreifen Eindruck. Seine Energie ist gut entwickelt, seine Bekannten behaupten, er sei ehrgeizig und herrschsüchtig, sein Vater findet ihn etwas verschlossen, er selbst bezeichnet sich als stolz. Ich fand ihn an- fangs recht zurückhaltend, dann aber, nachdem er zum Arzte Vertrauen gefaßt hatte, aufrichtig, bescheiden und aufmerksam; er ist pünktlich, zuverlässig, ordnungsliebend, etwas eigenwillig. Gedächtnis ist gut, seine Lieblingsfächer in der Schule sind Physik und Deutsch. In seiner Kleidung zeigt er sich in keiner Weise auffallend. Die häusliche Erziehung war ziemlich streng. Was nun sein sexuelles Leben betrifft, so ist zu bemerken, daß vor 2*/2 Jahren die Geschlechtsreife bei ihm eintrat. In seinem 14. und 15. Lebensjahre hat er, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, etwas onaniert, anfangs alle 3 bis 4 Wochen, dann seltener. Er wurde dazu durch gleichaltrige Schüler und ein etwas älteres Mädchen verführt. Nachdem er damit aufgehört hatte, traten in den letzten Jahren dann und wann Pollutionen auf. Er träumte dabei von bekannten Mädchen. Ein Geschlechts- verkehr mit dem Weibe hat bisher noch nicht stattgefunden; dagegen fühlt er sich in seiner seelischen Geschlechtsneigung ausschließlich zu weiblichen Personen hingezogen, „jungen Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen". Im Jahre 19.. — er war damals 14 Jahre alt — wurde er zum ersten Male von Kameraden ge- küßt. Kurz darauf lernte er einen 17jährigen Jungen, namens Albert 0., auf dem Sportplatz kennen, der ihm Geld und Schokolade schenkte und ihn dann und wann innig küßte. Geschlechtlich berührt haben sich beide aber niemals. Da W. die Freund- schaft dieses 0. nicht erwidern konnte, war dieser sehr traurig und als bald darauf der V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 175 Krieg ausbrach, trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer und fiel in den ersten Kämpfen. Auf W. machte dies einen tiefen Eindruck. Fassen wir das bisherige Sexualleben W.s zusammen, so ist zu sagen, daß er lediglich im Beginn der Pubertät zeitweise Selbstbefriedigung ge- trieben hat, seitdem nur Pollutionen gehabt und sich jeder Geschlechts- betätigung enthalten hat. Sollte Hans S. in der Zeit, in der er mit W. ver- kehrte, wie behauptet wird, für sich onaniert haben, so kann W. dafür nicht verantwort- lich gemacht werden, zumal sich S. in dem Alter befand, in dem nach sexualwissen- schaftlichen Ermittlungen ein sehr hoher Prozentsatz (über 90%) dieser Jugendverirrung erliegen. Ich gebe demnach mein Sachverständigengutachten wie folgt ab: I. Der Vermerk auf W.s Abgangszeugnis, es liege bei ihm ein krankhafter Nervenzustand vor, entspricht nicht den ärztlicherseits festgestellten Tatsachen. II. Max W. ist ein gesunder, seinem Alter entsprechend körperlich und geistig gut entwickelter Jüngling. III. Insbesondere fehlen bei ihm alle Anzeichen einer homosexu- ellen Veranlagung. Das Sexualleben des 17jährigen W. zeigt keine Regelwidrigkeiten. Er hat zwar mit 14 und 15 Jahren zeitweise onaniert, seitdem aber nur normale Traum- pollutionen gehabt und niemals weder mit Personen des anderen noch des gleichen Ge- schlechts einen sexuellen Umgang gepflogen. IV. Sein Verkehr mit Hans S. trägt den Charakter einer überschwenglichen, aber reinen und idealen Jugendfreundschaft. Er ist bemüht gewesen, auf den Knaben günstig einzuwirken, hat ihn niemals geschlechtlich berührt, im Gegenteil ihnvorderOnanieeindringlichgewarntundihn Einflüssen zu entziehen gesucht, die er, ob mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt, für schädlich hielt. Dabei hat er einen etwas naiven jugendlichen Übereifer an den Tag gelegt, wie dies beispiels- weise der Brief an Ludwig M. zeigt, keinesfalls aber sich von unlauteren Be- weggründen leiten lassen. V. Die Verkennung der Beweggründe W.s, seine infolgedessen veranlaßte Entfernung von der Schule wenige Wochen vor seiner Kriegsreifeprüfung und dem beabsichtigten Eintritt ins Heer, der Vermerk auf seinem Zeugnis, er sei wegen eines „krankhaften Nervenzustandes" entlassen, sind geeignet, W. nicht nur äußerlich, son- dern auch innerlich schwer zu schädigen. Der unverdiente Ruf homosexueller Empfindungen und Verfehlungen haftet erfahrungsgemäß einem Menschen lange an, verletzt ihn seelisch tief und setzt ihn in den Augen anderer herab. Es ist daher wohl verständlich, daß nur wenig fehlte und es wäre durch das von unrich- tigen Voraussetzungen ausgehende Vorgehen gegen W. die Zahl der Schülerselbstmorde vermehrt worden. Ein Vorwurf gegen den Verhandlungsleiter oder die Schule, die sicherlich das Beste wollten, soll damit nicht erhoben werden. Doch machen meine Sachkenntnis und meine Erfahrung als Spezialarzt es mir zur Pflicht, im Interesse des seelischen Zustandes des meiner Begutachtung und Behandlung unterstellten Max W. den dringenden Wunsch auszusprechen, daß die in der Beurteilung W.s vorgekommenen Irrtümer und Fehler nach Möglichkeit berichtigt werden. VI. Irgendeine Gefahr, daß W. auf seine Mitschüler in sexueller oder moralischer Hinsicht nachteilig einwirken könnte, liegt nach seiner ganzen psychischen Individualität in keiner Weise vor. Die Wirkung, die dieses G utachten erzielte, war die beabsichtigte. Das Abgangszeugnis wurde entsprechend geändert. Außer von körperlich en spricht man auch von geistigen Abführmitteln sexueller Spannkräfte, den sexuellen Äquivalenten im Sinne Blochs, den Sublimierungen Freuds Bewegen wir uns hier auch noch sehr im Theoretischen und Speku- 176 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) lativen, so ist doch nicht zu leugnen, daß aus der seelischen Hingahe an die Schönheiten der Natur und Kunst, namentlich auch aus der tätigen Beschäftigung mit ihnen dem Nervensystem eine Menge Lustgefühle zuströmen können. Vermögen diese auch nicht die erotische Lust zu ersetzen, so sind sie doch geeignet, die Sinne zu erfreuen, den Geist mit Behagen zu erfüllen und die Wartezeit bis zum Liebeslustgewinn zu erleichtern. In ähnlicher Weise wirken gute Bücher, während schlechte namentlich unwissen- schaftliche und unkünstlerische der Seele einen erheblichen Schaden zufügen können. Zu den Hauptquellen der Onanie gehören Müßig- gang, Eins amkeitundLangew eile. Es ist eine Erfahrung, die man bei der Onanieverhütung nicht außer acht lassen soll, daß schon in den Schulstunden mit Vorliebe dann onaniert wird, wenn „langweilige Themen von langweiligen Lehrern" behandelt werden. Wenn aber auch jemand alle empfohlenen Regeln befolgt, wird während der Frist, die durchschnittlich von der Reife bis zur Ehe reicht, doch immer wieder die Frage nach der sexuellen Diä- tetik auftauchen. Vor einiger Zeit suchte mich einmal ein älterer Professor der Medizin mit seinem Neffen und Mündel auf, einem 19jährigen Soldaten von blühendem Aussehen. „Ich komme," sagte er, „um mich mit Ihnen zu beraten, wie das Geschlechtsleben meines Schutzbefohlenen am besten reguliert werden kann; ich habe mit ihm fünf Möglichkeiten erwogen: Die Ehe, die Enthal- tung, die Selbstbefriedigung, die Prostitution und den Präventivverkehr. Zur Ehe ist er zu jung. Bis zur Erledigung seiner Militär- und Studienzeit sind noch fünf Jahre erforderlich. Frühestens mit 25 Jahren wird er so- weit sein, sich vermählen zu können. Die Abstinenz behauptet er nicht durchführen zu können. Einige Wochen ginge es wohl, aber nicht Monate und Jahre. Er fühle, wie durch den gänzlichen Verzicht auf sexuelle Entspannung seine Lebensfreude verkümmere, seine Arbeitskraft erlahme. In die Onanie zurückzufallen, die er seit Jahresfrist glücklich überwunden habe, würde ihm höchst ent- würdigend erscheinen. Das käufliche Dirnentum sei ihm zu- wider, auch fürchte er die Ansteckung. Bleibe das Verhältnis mit einem gesunden Mädchen aus dem Volke. Es widerstrebe ihm, sich der Präventivmittel zu bedienen, nicht minder aber einem Mädchen und Kinde den Makel der Unehelichkeit aufzudrücken. Hier tut sich uns das ganze geschlechtliche Dilemma unserer Zeit auf : Abstinenz unerträglich, Prostitution und Onanie unbefriedigend und unhygienisch, die Ehe aus äußeren, das Verhältnis aus inneren Gründen unmöglich. Auch die gutgemeinte Forderung des edlen August Forel : durch den Gebrauch antikonzeptioneller Mittel die Zeugung von dur Befriedigung des Geschlechtstriebes zu trennen, hat ebenso viel gegen 177 wie für sieh. Und Steinbachers Ausspruch: „Es ist besser, die gesunde Frucht einer leidenschaftlichen Liebe in die Welt zu geben, als durch Sünden gegen sich, gegen die eigene Natur und Gesund- heit im Siechtum und Elend seine Jugend jähr e zu dem wider- lichsten Greisenalter zu stempeln", zeugt mehr von idealer Ge- sinnung, als praktisch-realem Sinn. Eine wirklich zufriedenstellende Sexuallösung dem erwähnten Professor und seinem Neffen vorzuschlagen, war auch ich nicht in der Lage. Wie stets in solchen Fällen ging ich die Vorteile und Nachteile aller Möglichkeiten durch. Die schließ- liehe Entscheidung aber und Verantwortung muß dem Menschen selbst überlassen bleiben, er allein ist es, der sich zwischen Scylla und Charybdis geschickt hindurchfinden und -winden muß. Wir können nichts anderes tun, als im allgemeinen einer Sexual- reform vorzuarbeiten, die endlich auf sexuellem Gebiet Biologie und Soziologie in Einklang bringt. Bis dahin muß Mann und Weib, jeder einzeln für sich die sexuelle Frage ohne Rechts- verletzungen dritter lösen. Nur wissend sollen sie sein. Noch eines sei kurz hervorgehoben. Man kann häufig von Ona- nisten boren, daß es schließlich eineideelleLiebe war, die sie von ihrer Schwäche geheilt hat. Über dien fünfzehnjährigen Goethe schreibt KarlHeinemann: „Daß Wolfgang dem prickelnden Beiz der Sunde widerstand, dafür sorgte ein unschuldiges Mädchen Eine neue Welt war dem Knaben erschlossen ... Das Sinnliche trat völlig zurück; er verlangte nur, sie zu sehen, ein Gruß, ein Neigen ihres Hauptes genügte ihm." Verglichen mit der psychischen und hygienischen Behandlung sind alle sonst gegen die Onanie empfohlenen Heilmethoden nur von untergeordnetem Wert. Es gibt kein spezifisches Medikament gegen die Onanie, auch keine Arznei, welche die von Onanisten an- gestrebte Eauschwirkung ersetzt, am ehesten noch solche, welche die nervöse Unruhe mildern, die Lust, die dem Akte vorausgeht herabzustimmen geeignet sind. Diese Mittel pflegen gewöhnlich auch das Lustgefühl, das im Orgasmus empfunden wird, sehr herabzu- setzen. Besonders von Morphinisten kann man hören, wie sehr bei ihnen die Libido zum und im Verkehr leidet. Von sedativen Mitteln eignen sich für Onanisten namentlich die zahlreichen Brom- und Baldrianpräparate. Mir bewährte sich in der Praxis am besten täglich zweimal ein Sedrobolwürfel von Roche in heißem Wasser dazu abends eine Tasse Speeles nervinae. Man hüte sieh vor Medi- kamenten, deren Nebenwirkungen für Körper und Geist schädlicher sein konnten als das Übel, dem man steuern will. Dazu gehören Morphium, Arsen, Kodein, Trional und die meisten anderen gegen Masturbation empfohlenen Arzneien. Dagegen können neben den beruhigenden Sedantien sehr wohl auch Eoborantien in An- Hirschfeld , Sexualpathologie. I. 1 _ 178 V. Kapitel: Die Onanie (lpsation) wendung gebracht werden, doch verdienen auch hier die diätetisch physikalischen Mittel hei weitem den Vorzug vor den medikamen- tösen. Von den Homöopathen werden nicht weniger als 61 ver- schiedene Arzneimittel gegen die Folgen der Onanie au gefuhrt Schon diese große Anzahl beweist, daß eine wirkliehenilte von keinem zu erwarten ist. , Noch weniger wie von der medikamentösen kann man sich etwas von der i n s t r u m e n t e 1 1 e n Therapie der Onanie versprechen. Alle diese Mittel, auf deren Erfindung man großen Scharfsinn verwandt hat, laufen darauf hinaus, die Berührung der Gesch echtsteile zu verhindern. Da hat man kleine Panzerplatten, Schutzschilde und Drahtnetze in den Handel gebracht, die vor die Geschlechtsteile geschnallt werden, „Pollutionsverhinderungsgürtel" und „Onanievor- beugungsbandagen" empfohlen, ja sogar Zwangsjacken für Ona- nisten wurden verfertigt und kleine verschließbare Käfige, deren Schlüssel die Väter an sich nehmen sollten, um sie nur zu ottnen, wenn die Kinder urinieren müssen. Alle diese Apparate er- füllen nur selten ihren Zweck und wirken auf das Nerven- und Seelenleben nichts weniger als vor- teilhaft Auch das Anbinden und Anschnallen der Anne und Beine an die Bettkanten, das Überziehen dicker Fausthandschuhe ist bei Onanisten oft in Anwendung gezogen, jedoch meist ohne Erfolg. Dagegen ist es eine zwar unscheinbare, aber gute Hilfe, wenn sich Mütter liebevoll abends an das Bett jugendlicher Onanisten setzen und still warten, bis sie einschlafen. Kann man sich auch von dieser Überwachung keinen durchschlagenden Erfolg versprechen, so ver- fehlen doch die Aufmerksamkeit und Ausdauer, welche die Mutter diesem Gegenstande der Erziehung widmen, selten ihren tiefen sug- gestiven Eindruck auf das empfängliche Gemüt der Jugendlichen. Sogar auf operativem Wege hat man der Ipsation beizu- kommen versucht. Eine sehr alte schon von Celsus beschriebene und noch von Fournier warm empfohlene Methode ist die In- fibulation. Nach Kohleder31) gibt Fournier folgende Be- schreibung dieser Operation: „Nach möglichst weiter Vorziehung des Präputiums wird dasselbe von innen nach außen beiderseits mit einer Nadel derartig durchstochen, daß die beiden Stichöffnungen ein- ander gegenüberstehen. Die Fäden werden solange liegen gelassen, bis die Ränder der Öffnungen vernarbt sind und einen gewissen Grad von Härte und Schwielenbildung erreicht haben. Dann wird der Faden herausgenommen und durch Silberdraht (oder einen anderen biegsamen Metallfaden) ersetzt." Es soll durch diese Sper- rung die Erektion verhindert werden, von der wir aber wissen, daß sie weder zur Lusterzeugung noch Samenentleerung unbedingt nötig st) H. Ro nieder: Die Masturbation S. 319. 179 ist. Verschiedene ältere Autoren berichten von guten Erfolgen dieser Operation. Noch weniger wie die Infibulation steht die für das weibliche Geschlecht angeratene Exstirpation der Klitoris die Klitoridektomie, im Verhältnis zu dem Leiden, dessen Be- seitigung bewirkt werden soll. Es geht viel zu weit, wenn sich der Gynäkologe Braun für sie einsetzt, indem er schreibt: „In dem Falle tief eingewurzelter Onanie bei jungen Mädchen und Frauen und besonders bei Witwen, wenn die Folgen allzu häufiger Wiederholung der Masturbation nicht allein in physischen Symptomen, sondern selbst in geistigen Störungen sich bemerkbar machen und die gewöhnlichen Hilfsmittel der Therapie ohne Erfolg gebheben sind, zögere ich nicht, die Ampu- tation der Klitoris und der kleinen Schamlippen vorzuschlagen." Eohleder empfiehlt statt der Ampu- tation Atzungen der Klitoris, und Für bringer berichtet von einer Onanistin, der er durch wiederholte Anätzungen der Vulva eine erhebliche Besserung verschaffte, während er „einen jungen Burschen, bei dem keine Belehrung und Strafe half, durch Abköpfen des vorderen Teiles seiner Vorhaut mit schartiger Schere dauernd geheilt haben will". L allem and führte Sonden in die Harnröhre der Onanisten ein, um schmerzhafte Entzündungen der Harnröhren- schleimhaut hervorzurufen. Im Sinne der Fließsehen Lehre vom Zusammenhang zwischen Geruchs- und Geschlechtsorgan hat man auch Atzungen der Genitalpunkte in der Nase vorgenom- men, um die Onanie und deren Folgen zu beseitigen. Endlich ist man sogar im Kampf gegen die Onanie bei beiden Geschlechtern bis zu der K a s t r a t i o n geschritten. Es wurde bereits oben ,n dem Kapitel „Geschlechtsdrüsenausfall" klargelegt, daß eine Unterdrückung des Geschlechtstriebes keineswegs durch die Ent- fernung der Keimstöcke und ebensowenig durch die Vasektomie m i t WM ^Ti216" W6rden kann- Richtiff ist' daß in einer größeren tf ..? ?allen eine starke Abschwächung der Libido eintritt, auch durfte die suggestive Bedeutung des Eingriffs nicht zu unter- schätzen sein. Mir sind nur drei Fälle begegnet, in denen sich Patien- ten wegen exzessiver Onanie kastrieren ließen. Der Ein- griff war nicht vom Arzte geraten, sondern von dem Onanisten erbeten oder kJZ° t 6r die Alteraative bellte, Selbstmord oder Kastration So suchte mich vor einigen Jahren ein Kollege mit einem 24jährigen Manne auf, einem Studenten der Jurisprudenz tiri-fZdTaTah ^ S[Ch in ti6fster Seelischer I^ion be-' tausend onanierte er täglich 5-6mal, „über achtzehn- tausendmal sei es nun schon vorgekommen," sagte er, „was möglich wäre habe er versucht; wenn ihn nicht der Arzt kas riere" wolle wurde er es selber tun." Die Operation wurde schließlich vorl.' nommen. Als ich zum letzten Male von dem Patienten hörte 1 12" 180 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) drei Jahre nach der Kastration — , erfuhr ich, daß die mit der Hoden- entfernung erloschene Onanie nicht wiedergekehrt sei; er habe sich körperlich nnd geistig gut erholt ; nur in seiner Stimmungslage sei er meist sehr verdüstert. Trotz leidlicher Erfolge würde ich die Kastration aber nur in den allerseltensten Ausnahmefällen für indi- ziert erachten. Selbst die schwersten Folgen der Onanie sin d nicht schwer genug, um einen Eingriff zu recht- fertigen, der einen Menschen für Lebenszeit zur Geschlechtslosigkeit verurteilt. VI. KAPITEL Automonosexualismus Inhaltsangabe: Unterschied zwischen Ipsation und Automono- sex u a 1 i s m u s — Der biblische 0 n a n und der griechische Narzissus — Das Ge- biet des Autoerotismus — Blochs sexuelle Äquivalente — Beobachtung eines Automonosexuellen vor dem Spiegel — S p i e g e 1 a k t e von Frauen — Das Spiegelzimmer des HostiusQuadra — Die photographische Platte an Stelle des Spiegels — Liebe zum eigenen nackten Körper — Fall von sexueller Entspannung durch Muskelspiel — Erregung durch eigene körperliche Ausschmückung — Beziehungen zwischen Automonosexualismus, Eitelkeit und Koketterie — Unter- schied zwischen Fetischismus und Automonosexualismus — Partieller Autismus — Fälle von Geschlechtserregung durch Aufsetzen von Perücken, Schminken, Nasen- plastik — Monosexuelle Tanzevolutionen — Tanzende Derwische und Auto- flagellanten — Automasochismus — Beobachtung sexueller Erregung durch Anlegen von Gürteln und Korsetts (sexuelle Schnürsucht) — Beobachtung eines Falles von Geschlechtserregung durch Anziehen eines Spitzenunterrocks — Zis- vesti tische und transvestitische Gestaltsveränderung — Schilderung eines auto- monosexuellen Transvestiten — Soziales Verhalten automono- s ex u eil er Personen — Ist der Narzißmus eine normalsexuelle Durchgangs- stufe? — Mangelnde Reaktion auf Außenreize — Ursachen dieses Defekts — Die Identifizierung der gleichen Person als Reizquelle und Lustquelle, als Subjekt und Objekt, als aktiver und passiver Teil — Spaltung der Persönlichkeit — Be- ziehungen des Automonosexualismus zu anderen Sexualstörungen — Schaulust und Automonosexualismus — Die n e g a t i v e Bedeutung des Automonosexualismus. Die Ipsation stellt nicht die einzige sexuelle Entspannung dar, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Geschlechtsbefriedigung ohnelnanspruchnahmeeinerzweitenPerson gewonnen wird. Sie wird jedoch nur am, nicht durch den eigenen Körper hervorgerufen. Das unterscheidet sie von der Entwicklungsstörung, mit der wir uns im folgenden zu befassen haben. Während sich die Ipsation nämlich, wie wir sahen, teils gänzlich ohne Vorstellungen vollzieht, teils m i t Gedanken an das a d ä q u a t e , sei es normale oder abnormale Ziel, welches die unerreichte Sehnsucht des Onanisten bildet, ist bei dem Autoerotismus die eigene Person nicht nur das leibliche, sondern auch das seelische Objekt der Geschlechtshandlung. Der Autist wird mit anderen Worten durch seine eigene Erscheinung, den Anblick, das Abbild seinerGestalt sexuell erregt. Trachtet demnach der Ipsant beim Akt im allge- 182 VI. Kapitel: Automonosexualismus meinen keineswegs danach, seiner Schamteile oder seines übrigen Leibes ansichtig zu werden, so ist beim Autisten das Gegenteil der Fall. Für ihn ist es die eigene nackte oder bekleidete Persön- lichkeit, die ihn mehr als irgendeine andere anzieht und fesselt. Wie man Onan aus dem Alten Testament zum Taufpaten der Onanie in Anspruch genommen hat, so hat man aus der grie- chischen Mythologie den Narzissus herangezogen, um dieser . Anomalie den Namen zu geben. Weil einst Narzissus, am Gestade ruhend, sich in die Schönheit seiner Züge und Gestalt verliebte, die ihm aus der spiegelnden Wasseroberfläche entgegenstrahlte, hat Näcke die sexuellen Empfindungen, welche bei manchen Menschen durch das Sehen der eigenen Erscheinung ausgelöst werden, nicht unpassend Narzissismus oder zusammengezogen Narzißmus genannt (zuerst in den „Psychiatrischen en neuro- logischen Bladen" 1899). E o h 1 e d e r hat dann, um das D o p p e 1 1 e über die Onanie Hinausgehende der Erscheinung sachlich zum Ausdruck zu bringen, daß der Geschlechtstrieb nicht nur an sich selbst befriedigt wird, sondern auch auf sich selbst gerichtet ist, die Bezeichnung Automonosexualismus ge- wählt, ein wenn auch nicht sprachlich glücklicher, doch dem Inhalt nach treffender Name. Er nimmt bei der erstmaligen Schilderung dieser Fälle Bezug auf eine Stelle in meinem „Urnischen Menschen" (S. 94), an der ich als m o n o s e x u e 1 1 „drei zur Einsamkeit und Eigenbewunderung neigende Onanisten mit ausgesprochener Antipathie gegen beide Geschlechter" erwähnte. Rohleder3) schreibt hierzu: „Diese Bemerkung Hirschfelds deckt noch am meisten das, was ich als Automonosexualismus bezeichne. Dieser Ausdruck sagt, daß es sich um eine Erscheinungsform des mensch- lichen Sexuallebens handelt, bei welcher der Trieb von dem Indi- viduum allein ausgeht und wiederum auf dasselbe zurück- strahlt, sodaß also das betreffende Individuum selbst den Aus- gangspunkt und das Endziel des sexuellen Triebes darstellt." Weitergehend ist, was Havelock Ellis Autoerotismus und Latamendi in Madrid Autoerastie genannt hat. Der ausgezeichnete englische Sexualforscher Ellis versteht unter den autoerotischen Äußerungen des Geschlechtstriebes alle spontanen sexuellen Er- regungen, die ohne einen äußeren Reiz entstehen, der direkt oder indirekt von einer anderen Person ausgeht. Danach fallen in das autoerotische Gebiet sowohl die onanistische Selbstbefriedigung, als der Narzißmus, außerdem aber auch die vielfach mit Pollutionen verknüpften sexuellen Nachtträume sowie die erotischen Tagträume, x) Dr. H. Rohleder: Vorlesungen über Geschlechtstrieb und Geschlechtsleben der Menschen. Bd. 2. S. 511. VI. Kapitel: Automonosexualismus 183 die mehr oder weniger mit gewissen Formen der früher besprochenen psychischen Onanie identisch sind. Ellis führt aus, daß diese ero- tischen Träume besonders häufig bei gebildeten und phantasiereichen jungen Männern und Frauen, die keusch leben, vorkommen, schließ- lich oft in Masturbation enden und unter gewissen Umständen als eine ganz normale notwendige Folge des Geschlechtstriebes an- zusehen seien. Noch ausgedehnter wie Ellis faßt Iwan Bloch das Gebiet des Autoerotismus. Er schreibt2): „Im weitesten Maße gehören zum Autoerotismus auch die normalen Äußerungen von Kunst und Poesie, insofern sie Ausfluß erotischen Empfindens sind, und alle jene Er- scheinungen, die ich als „sexuelle Äquivalente" bezeichnet habe, alle Verwandlungen sexueller Energie, wie die religiös-sexu- ellen Erscheinungen, die Umwandlung individueller Liebe in allge- meine Menschenliebe, die Modereize und jedestarkeTätigkeit, durchdiedieGeschlechtsspannungeine Art von Aus- lösung findet, wenn dieselbe auch meist unbewußt bleibt, wie beim Tanz, bei Gesellschaftsspielen und anderen Vergnügungen." So sehr wir mit Bloch die Bedeutung sexueller Äquivalente anerkennen als „natürliche Auswege für Spannungsgefühle und überschüssige Kräfte sexuellen Ursprungs, die man unnötigerweise nicht verprassen sollte, um nicht noch weit bösere gefährlichere Ablenkungen derselben hervorzurufen", so möchte ich doch nicht dafür halten, diese Erscheinung in das sexualwissenschaftlich enger zu umgrenzende Gebiet des Autoerotismus zu tun. Bei diesem kommt es darauf an, daß der eigene Körper Ausgang und Ziel der Libido ist, bei den sexuellen Äquivalenten hingegen handelt es sich um eine Vergeistigung, Verdrängung, Ablenkung, oder um mit Nitz- sche zu reden, um eine nicht sexuelle „Ausarbeitung" sexueller Drangzustände ganz im allgemeinen. In diesem Kapitel ist vom Automonosexualismus nur im Sinne der vom eigenen Körper ausstrahlenden Geschlechtserregung die Eede. Als Ausgangspunkt unserer Betrachtungen will ich einen typischen Fall dieser Anomalie schildern, den ich gemeinsam mit Dr. Burchard beobachtet habe. Es suchte uns ein 37jähriger großer kräftiger Mann auf, Landwirt von Beruf. Wie er angibt, steht er dem weiblichen Geschlecht vollkommen gleichgültig gegen- über; er hat nie ein Weib berührt, ist unverheiratet, auch gleich- geschlechtliche Neigungen fehlen gänzlich. Hingegen verursacht es ihm von jeher das größte sexuelle Lustgefühl, sich im Spiegel nackt zu betrachten. Das Gefallen, das er an seinem Anblick empfindet, ist um so schwerer ver- ständlich, als er weder einem Adonis noch einem Narzissus, 2) Dr. I w a n Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit S. 457. 184 VI. Kapitel: Automonosexualismus sondern mit seinein ungepflegten struppigen Bart und haarigen Körper eher einem Thersites gleicht. Er erinnert sich, daß spontan die erste sexuelle Erregung eintrat, als er sich im Beginn der Reifezeit das erstemal in ganzer Figur in einem Spiegel sah. Während der Untersuchung spielte sich der folgende Vorfall ab: Nachdem er sich entkleidet hatte, sah er sein Bild in einem langen Wandspiegel. Sofort trat eine Erektion ein, dabei wurde er sehr aufgeregt. Indem er sich entschuldigte, drückte er seinen Mund auf den im Spiegel und bedeckte seine Lippen mit Küssen. Als wir ihn in seinem seltsamen Gebaren gewähren ließen, nahm er den Spiegel von der Wand und drückte seine Gestalt an sein Spiegelbild, wobei ihn offensichtlich eine gewisse Übung und Geschicklichkeit davor schützte, den Spiegel zu zerbrechen. Nach sehr kurzer Zeit trat, während er die Genitalgegend vor ihre Wiederspiegelung preßte, Ejakulation ein. In den Aufzeichnungen, die ich später von diesem Patienten erhielt, heißt es: „I c h 1 i e b e m i c h s e 1 b s t b i s z u m W a h n s i n n. Mein Geschlechtsdrang bezieht sich auf mich selbst. Meum proprium membrum lambere, wäre mein höchster Genuß. Oft bin ich mir selbst im Traum mit erregtem Membrum erschienen, wobei Pollutionen ein- traten. Wenn ich nackt unter dem Spiegel liege, dann bin ich im Spiegel ich selbst, und mein Körper ist dann ein anderer, der den Akt mit mir ausübt. Bei den Szenen mit dem Spiegel ist die Speichel- absonderung oft so stark, daß der ganze Spiegel davon bedeckt ist; auch ist damit oft heftiges Kopfschütteln und starkes Herzklopfen verbunden. Der Spiegel soll möglichst leicht, schmal und so lang sein, daß man sich vom Kopf bis zu den Knien darin sehen und umarmen kann. Ich vollziehe den Spiegelakt seit vielen Jahren ein- bis zweimal wöchentlich. Ich fühle danach eine wohltuende Müdig- keit mit nachfolgendem angenehmen, festen Schlaf. Ein onanistischer Akt, den ich gelegentlich auch gern übe, ist, den Finger in recto* hin- und herzubewegen. Mein Ideal wäre es, immer nackt zu sein,, weil mich dies beruhigt, und zwar ganz allein draußen in der Natur. Überhaupt fühle ich mich am meisten zu einsamem Land- aufenthalt hingezogen. Sehr schön denke ich es mir, nackt unter Wilden zu leben. Ich liebe eng anliegende Trikots zu tragen, die meine Figur recht hervortreten lassen. Bei den Spiegelszenen bin ich so erregt, daß ich schon fürchtete, geisteskrank zu werden." Dies war wohl der klassischste Fall von Autismus, den ich sah, doch stehen mir eine Reihe ähnlicher Beobachtungen und Schilde- rungen sowohl von männlichen als weiblichen Patienten zu Gebote. Auch besitze ich die Photographie eines monosexuellen Mannes, die ihn in intimer Berührung mit seinem Spiegelbilde darstellt. Bei autistischen Spiegelakten von Frauen ist es oft schwer zu unter- scheiden, w o d i e E i t e 1 k e i t a u f h ö r t u n d d i e S i n n 1 i c h k e i t VI. Kapitel: Automonosexualismus ^§5 anfangt. So zitiert Ell is den spanischen Schriftsteller Valera (m Dr. Moll s Handbuch der Sexualwissenschaften S. 616), welcher die Heldin einer seiner Novellen nach ihrem Bade sagen läßt: „Ich verfalle in eine Kinderei, die unschuldig oder lasterhaft" sein mag" ich kann es nicht unterscheiden. Ich weiß mir, daß es eine beschauliche Handlung ist, eine uninteressierte Bewunderung der Schönheit. Es ist nicht grobe Sinnlichkeit, sondern ästhetischer Piatonismus. Ich ahme Narzissus nach und lege meine Lippen an die kalte Oberfläche des Spiegels und küsse das Bild." Es scheint, als ob in manchen Fällen die Neigung besteht, die auf artistischem Wege durch die Bewunderung der eigenen Person im Spiegel gewonnene Erregung für den normalsexuellen Verkehr mit dem anderen Geschlecht auszunutzen, ähnlich wie manche die zur Kohabitation notwendige Libido aus dem vorangegangenen An- blick ihres Fetischs schöpfen, der dann keinesfalls ein Bestandteil der Person zu sein braucht, mit der sie verkehren. So wurde in einem Ehescheidungsfalle mein Gutachten erfordert, in dem ein Offizier, der im übrigen seiner Frau auch sonst allerlei merkwürdige Dinge zumutete, von Beginn der Ehe an sein Schlafzimmer mit vielen Spiegeln versehen hatte, die ihm ermöglichten, sich vor und im Aktus genau zu beobachten. Die feinsinnige Frau, der diese Prak- tiken ihres Mannes sehr fremd und peinlich waren, fühlte sich da- durch sehr abgestoßen, doch war sie machtlos dagegen. Im übrigen ist der Gebrauch des Spiegels auch ohne artistischen Beigeschmack ein ziemlich verbreitetes Mittel, die sexuelle Libido zu stei- gern. Paare, die dazu neigen, sich bei ihren Umarmungen, Küssen bis zu jeder Form sexueller Betätigung im Spiegel zu beobachten, wobei es vor allem reizt, wenn das Abbild sich bewegt, sind keine Seltenheiten, doch ist es gewöhnlich das Bildnis des Part- ners, dem sich die größere Beachtung zuwendet. Wie alt die Einrichtung von Spiegelzimmern zu erotischen Zwecken ist, bekunden uns überlieferte Vorgänge aus dem klassi- schen Altertume. So wird in den Fragmenten des Philosophen Seneca von einem zur Zeit des Kaisers Augustus lebenden reichen Geizhalse namens Hostius Quadra erzählt, der die Wände seines Schlafzimmers mit Spiegeln bedecken ließ, um sich an den Eeflexen seiner Geschlechtsakte zu erfreuen. Er ließ bei diesen meistens auch andere Personen, Männer und Frauen, mitwirken und pflegte dann zu sagen: „Wenn alle Teile meines Körpers in Lust schwelgen, warum sollen meine Augen denn nicht auch einen Genuß haben". Als be- sonders raffiniert wird hervorgehoben, daß der Wandbelag aus ver- größernden Hohlspiegeln bestand, welche die männlichen Glieder armdick erscheinen ließen. Hostius wurde schließlich von seinen Sklaven erschlagen, und „so groß war die Entrüstung über sein Treiben, daß der Mord ungesühnt blieb, nicht einmal eine Unter- 186 VI. Kapitel: Automonosexualismus suchung wurde angestellt". Professor Dr. Theodor Petermann- Dresden warft zu dieser Bemerkung Senecas die Frage auf: Worüber denn die Zeitgenossen des Hostius sich so sehr entrüsteten !" und antwortet: „Daß die öffentliche Meinung der Kaiserzeit im Punkte sexueller Exzesse Kamele hinunter- schluckte, ist bekannt. Die Sellaria des Tiberius, von der Sueton und Tacitus erzählen, war sicher nicht weniger an- stößig, als das Spiegelzimmer des Hostius. Von Mitleid mit den Sklaven wußte man erst recht nichts, denn der Sklave war eine Sache, der gegenüber dem Herrn das ius utendi et abutendi zustand.' Das Horrenduni muß wohl die Spiegelverwendung gewesen sein, die den Eindruck von etwas Übernatürlichem gemacht zu haben scheint." Manche Fälle von Automonosexualismus, die ich beobachtete, wurden nicht durch das Spiegelbild, sondern durch A k t b i 1 d e r aus- gelöst, welche die betreffenden Personen in allen möglichen Stel- lungen v o n s i c h hatten anfertigen lassen. So besitze ich viele Akt- photographien eines hochbedeutenden Mannes, der weder zu dem weiblichen, noch zu dem männlichen Geschlecht Zuneigung hatte und auch nie mit einem Menschen in Geschlechtsverkehr getreten ist. Nur der Anblick seines eigenen, nackten, allerdings sehr wohl- gebildeten Körpers in malerischen Stellungen und Umgebungen, viel- fach auf einem Tierfell gelagert, gewährte ihm sexuelle Befriedi- gung. Ein Automonosexueller, über den mir ein Kollege aus Glasgow Mitteilungen machte, befriedigte sich ausschließlich, indem er auf einem kostbaren Tigerfell ausgestreckt vor dem Spiegel masturbierte. Der Drang, sich völlig nackt photographieren zu lassen — eine nicht ganz seltene Liebhaberei — zeigt in diesem Falle eine gewisse Verwandtschaft zum Exhibitionismus, was daraus erhellt, daß dieser Patient die Akte, die er von sich hatte anfertigen lassen, gern einigen vertrauten .Personen zeigte und großes Wohlbehagen äußerte, wenn man seinen „Naturaufnahmen" Bewunderung zollte. Es gibt nun aber auch Fälle von Automonosexualismus, in denen es weder des vom Spiegel, noch des von der photographischen Platte aufgenommenen Abbildes zur Erweckung erotischer Lustvorstellun- gen bedarf, sondern wo die Betrachtung des nackten Kör- pers an und für sich den gleichen Zweck erfüllt. Auch hier möge ein Fall die bisher verhältnismäßig noch wenig beschriebene und gewürdigte Anomalie, die sicherlich früher vielfach als Asexualität angesehen wurde, illustrieren. Es suchte mich ein 40,jähriger Kunsthändler aus Ungarn auf. Er hatte infolge eifrig betriebener Leibesübungen einen athletischen Körperbau. Wenn jemand eine Bemerkung über seine kräftigen Muskeln, seine stattliche Figur machte, wurde er verlegen, errötete VI. Kapitel: Automonosexualismus 187 tief und schämte sich sehr. Der Mann gestand, daß seine starke Muskulatur die einzige erotische Lustquelle sei, die es für ihn gäbe. Er betätigte sich ausschließlich in der Weise, daß er sich in sein Badezimmer einschloß, seine Muskeln spielen ließ, sie be- tastete und liebkoste. Dabei stellten sich Erektionen ein. Er hantelte dann und machte an einer Reckstange Klimmzüge. Zwischen dem 2 0. und 3 0. Klimmzug trat dann ohne manuelle Be- rührung der Genitalien gewöhnlich ein heftiger Erguß ein. Ich gebe einige Sätze aus den Aufzeichnungen dieses merkwürdigen, nebenbei recht intelligenten Sonderlings wieder: W. stammt als einziges Kind aus einer erblich stark belasteten Familie, unter deren entfernteren Mitgliedern Geistesstörungen, Selbstmordversuche, kriminelle Hand- lungen ziemlich zahlreich vorgekommen sind. Die Großeltern waren Cousin und Cousine Bis zum 16. Jahre litt er an Enuresis nocturna, schrie oft im Schlaf auf, „nuckelte" an weißen Stoffen und fiel leicht in Ohnmacht. Er lernte abnorm früh sprechen und ent- wickelte sich zu einem Musterknaben, ja fast Wunderkind, das während der ganzen Schulzeit den ersten Platz behauptete. Er schreibt: „Mit 12 oder 13 Jahren hatte ich wahrend einer Eisenbahnfahrt die erste Pollution; das war mir unerklärlich und be- ängstigend. Bald darauf begann die Klimmzugonanie. Ich mache so lange Klimm- zuge, bis unter starkem Orgasmus die Ejakulation eintritt. Das wiederhole ich im Durch- schnitt alle 3 Tage. Der längste Abstand war einmal 14 Tage; zeitweise geschah es täg- lich. Aus dieser seltsamen Methode der Onanie leitet sich meine starke Brust- und Arm- muskulatur her. Mit einer Frau habe ich nie verkehrt, werde es auch nie zu tun wünschen. Ich bin von einem merkwürdigen Dualismus besessen. Vom rein geistigen Gesichtspunkt ist mir jeder Sport unsympathisch, ja abstoßend, in erotischer Hinsicht aber liebe ich sämtliche Methoden der Körperkultur inbrünstig; ich habe glühende Sehnsucht, Gymnastik aller Art zu treiben, nur nicht Tanz und Grazienhaftes; ich schäme mich aber, Körperkultur zu treiben vor Verwandten, Freunden und Leuten meiner Geistesrichtung. Daher kann ich es nur heimlich. Wenn ich hantele, so vollzieht sich das unter Vor- sichtsmaßregeln, wie wenn ich einen Einbruchsdiebstahl vorhätte. Ich schäme mich, meine Reize zu zeigen. Es wäre mir entsetzlich, wenn meine Umgebung wüßte, wie muskulös ich bin. Ich gebe mich dem Hochgenuß, stramm und elastisch zu gehen, nur dann hin, wenn ich genau weiß, daß kein Bekannter mich treffen kann. Das sexuelle Wertlegen auf stramme Haltung erkläre ich mir so: als ich nach Fiume in die Schule kam, stellte mich eines Tages der Lehrer, indem er mir sein Knie in den Rücken drückte und gleichzeitig meine Schulter mit seinen Händen zurückbog. Ich war 6 Jahre alt. Es tat mir sehr weh; ich dachte, er würde mich zerbrechen. Später erinnerte ich mich oft jenes kurzen Martyriums mit größter Wonne. Übrigens erlebte ich in derselben Stunde mein erstes Insuffizienzgefühl; ein adliger Mitschüler wurde wegen seiner geraden Haltung von jenem Lehrer gelobt. Seit diesem Tage enthalten die Begriffe stramme Haltung, elegante Figur oder Worte wie Brustkorb, Rücken für mich sexuelle Vorstellungen. Manchmal würde es mich reizen, Dienstlivree zu tragen. Alles zusammengenommen: mich erregt geschlechtlich weder Mann noch Weib, sondern nur meine Ferson, weniger mein empirischer Körper als die Wunschvorstellung' die ich von ihm habe." W. zeigt allerlei körperliche Degenerationszeichen: seit dem 20. Jahre ist er kahl- köpfig; er ist Gynäkomast und besitzt auffallend kleine Genitalien; er ist linkshändig sein Gesicht ist kindlich mit großen, schwärmerischen Augen. Er hat eine sehr schöne Handschrift, in die er, wie er sagt, verliebt ist. Ganz unentbehrlich ist ihm Sauberkeit- ohne sein tägliches Bad kann er nicht existieren. Ungeziefer, Mäuse, schlechte Gerüche schmutzige Kleidung, verstaubte Zimmermöbel, vor allem etwas Klebriges kann in ihm belbstmordgedanken hervorrufen. Auch sonst beherrschen ihn viel Zwangsvorstellungen 188 VI. Kapitel: Automonosexualisrous und Idiosynkrasien. Dabei besitzt er ein stupendes "Wissen, trotz allerlei abergläubischen Neigungen einen scharfen, sehr kritischen Verstand, einen brennenden Ehrgeiz und hat von sich selbst eine sehr hohe Meinung. In allen bisher genannten Fällen ist es der eigene unbeklei- dete Körper, der, sei es in seiner Totalität oder partiell, sei es in Buke oder Bewegung, sexuell anzieht und erregt. Dabei können nickt nur Gesicktseindrücke, sondern auck vomeigenenKörper ausgekende Gerüche und Geräusche — wie Schweiß, Smegma, Flatusgerücke und -geräusche, Leibgurren, die eigene Stimme — erotisch wirken. Nun gibt es aber noch eine beträchtliche Gruppe sexuell Abnor- maler, bei denen nicht der nackte, sondern der gesckmückte, verzierte Körper gescklecktlicke Empfindungen erzeugt. Wir berükren kier einen der verbreitetsten und tiefsten Instinkte im Menscken, den Hang und Drang, sick kübsck zu macken, sick durch allerlei Kunstgriffe reizvoller zu gestalten. Es ist nickt ricktig, wenn immer nock behauptet wird, namentlich in den Lehrbüchern der Hygiene, das Schutzbedürfnis und Schamgefühl seien die Wurzel der Be- kleidungssitte. Der Trieb, sich zu putzen, die Eitelkeit, ist eine zum mindesten ebenso starke Wurzel. In meinen „Transvestiten" sage ich darüber3): „Bei allen Völkern, selbst bei den Ureinwobnern der Urwälder, wo von Scham und Schutz keine Bede sein kann, sehen wir die Neigung, den Körper zu schmücken und zu zieren, den Trieb, die natürlichen Beize künstlich zu verstärken. Ob sich die Primi- tiven Muschelschalen oder die Zivilisierten ein kostbares Perlenhals- band umhängen, ob jene rohe Metallstücke oder wir goldene Binge und silberne Armspangen um Finger, Arme und Beine legen, ob sich das eine Volk Stifte, Binge und Knöpfe durch die Nase, ein anderes durch durchlöcherte Ohren zieht, ob sich die Wilden Vogelfedern direkt ins Haar stecken oder die Modernen noch ein Stück Stroh oder Filz, Hut genannt, dazwischen legen, ob jene sich einen größeren Teil der Körperoberfläche färben und bemalen, wir nur Gesicht und Haare schminken, ob die bunten Farbstoffe der Haut unmittel- bar aufgesetzt oder in bunten Tüchern oder zu Kleidern verarbeitet umgebunden werden, ob asiatische Völker sich nur die Füße ver- kleinern und zusammenzwängen oder europäische mit Hilfe fisch- beingesteifter Korsetts viel wichtigere und edlere Teile einschnüren und verengern, ja selbst die Narbenverzierungen von Südaustraliern, und die „Benommierschmisse" von Mitteleuropäern, kommen rein psych ologischgenommenaufdasselbeheraus. Es zeigt sich, daß wir heute noch wie in uralten Zeiten alle möglichen Gegen- stände aus den drei Naturreichen gebrauchen, um uns mehr Glanz und Ansehen zu verleihen." ») Dr. M. H i r s c h f e 1 d : Die Transvestiten S. 267. VI. Kapitel: Automonosexualismus 189 Zunächst geschieht alles dies aus Eitelkeit, man sieht sich so ausgestattet im Spiegel, fragt sich innerlich, ob es auch gut zu Gesicht steht, ob es verschönt und empfindet über die vorteilhafte Veränderung des Körpers dann ein gewisses Wohlbehagen, wenn auch ohne sexuellen Beigeschmack. Oft tritt allerdings, besonders beim weiblichen Geschlecht, bewußt oder unbewußt der Wunsch hinzu, durch die Ausschmückung auch in den Augen der anderen wohlgefälliger zu erscheinen, man putzt sich, um bewundert zu wer- den, um anzulocken, aus Koketterie. Nur selten besteht die Absicht, sich selbst durch eine bestimmte Bekleidung oder Ver- änderung der eigenen Gestalt sexuell zu erregen. Geschieht dies aber willkürlich oder unwillkürlich, so ist damit das Wesentliche des Automonosexualismus erfüllt. Wie der Normale der andern Person bald nackt, bald angezogen den Vorzug gibt, so liebt der in sich selbst Verliebte bald seine unverhüllte, bald seine bekleidete Gestalt. Es ist sein eigener, wenn auch etwas veränderter Leib, den er lustbetont empfindet, den er liebt, der schließlich sogar bei ihm Erektion, Orgasmus und Ejakulation bewirkt. Zunächst ist man geneigt, bei diesen A u t o e r o t i k e r n an Feti- schismus zu denken, es bestehen aber grundsätzliche Unterschiede. Der Fetischist liebt den Gegenstand seiner Neigung in erster Linie in Verbindung mit einer zweiten Person, in pathologischer liegenden Fällen auch wohl allein für sich (z. B. einen abge- schnittenen Zopf, ein entwendetes Taschentuch), keineswegs aber hauptsächlich als Teil von sich selbst. Auch der Fetischist nimmt den Frauenschuh oder Unterrock gelegentlich zwecks sexueller Er- regung zu sich ins Bett, legt wohl auch, um „das geliebte Wesen" in mögliehst enge Berührung mit sich zu bringen, unter seinem Anzug Frauenwäsche an — und zwar bevorzugt er bei weitem bereits von Frauen getragene — während der Autist charakteristischer- weise der neuen den Vorzug gibt, im allgemeinen bedient sich aber der Fetischist keineswegs im gewöhnlichen Leben der Kleidungs- stücke in der von ihm geliebten fetischistischen Form, im Gegenteil die Liebhaber von elegantem Schuhwerk, feinen Lackstiefeletten tragen oft unförmige Zug- oder Schaftstiefel, die Fetischisten für blon- des Frauenhaar pressen dieses wohl leidenschaftlich an sich, denken aber garnicht daran, sich eine Frauenperücke aufzusetzen, so wenig wie etwa Brustfetischisten sich die Brüste ausstopfen4). Der Autist um gekehrt betrachtet das, womit er sich gern schmücken möchte, bei anderen eher mit scheelen als mit verliebten Augen. Vor einiger Zeit hatte ich mich über zwei Personen zu äußern, die sich weibliche Perücken zu automon os exu el ] en ") Cf. Transvestiten S. 203. 190 VI. Kapitel: Automonosexualismus Zwecken verschafft hatten. Sie setzten sich den üppigen Haar- schmuck aufs Haupt, frisierten ihn und gerieten auf diese Weise in geschlechtliche Ekstase. Beide Leute waren in Kriegszeiten von Friseuren angezeigt, die vermuteten, sie verfolgten mit den Perücken unlautere Absichten als Spione. Der eine dieser beiden Autisten war Soldat. In anderen Fällen hatten Sexuopathen dieser Kategorie den un- widerstehlichen Drang, sich stark zu schminken. Trotzdem die An- gehörigen und andere sich mit aller Energie dagegen wandten, waren sie weder im guten, noch im bösen davon abzubringen. Ich hatte einen Fall, in dem ein 26jähriger Mann, Sohn eines Schlächter- meisters, erklärte, lieber auf sein Leben, als auf die Gesichts- bemalung verzichten zu wollen. Ein ganz seltsames Beispiel von Automonosexualismus beobachtete ich bei einem dreißigjährigen Schriftsteller, der sich nach Schauspielerart aus Wachs künstliche Nasen, besonders griechische, formte und ansetzte. Wöchentlich ein- mal schloß sich dieser Mann, dessen natürliche Nase nichts zu wün- schen übrig ließ, in sein Zimmer ein, vollzog diese Nasenplastik vor dem Spiegel und erregte sich an seinem umgemodelten Konterfei. Im Verlaufe dieser Sitzungen traten mit geringer manueller Nachhilfe Pollutionen ein. Anderweitigen Sexualverkehr hatten diese Personen nicht. Zahlreicher als die letztgenannten scheinen die Automonosexu- ellen zu sein, die sich mit Schleiern, Tüchern, faltigen Gewändern drapieren, wobei sie vor dem Spiegel allerlei Tanzevolutionen aufzuführen pflegen. Verschiedene Männer und Frauen gestanden, daß dies die einzige Art sei, die ihnen eine geschlechtliche Befriedigung gewähre. Ihre Mitteilungen kamen mir wieder in den Sinn, als ich zum ersten Male im Orient tanzende Derwische sah, wo ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, als ob auch hier bei manchen neben der religiösen und motorischen Ekstase die erotische eine gewisse, wenn auch den Tanzenden nicht ganz klare Rolle spiele. Wenigstens ließ die immer zunehmende Verzückung in den Mienen der Derwische diesen Schluß zu. Ähnliche Momente dürften auch bei den Autoflagellanten, die als Selbstgeißler im Mittelalter die Ortschaften durchzogen — man erinnere sich an das berühmte Ge- mälde des Wiener Malers M a r r • — , nicht ohne Einfluß gewesen sein. Allerdings sind unsere Kenntnisse über die Beziehungen zwischen Inbrunst und Brunst noch sehr beschränkt. Daß körperliche Selbstpeinigungen autoerotische Empfin- dungen auslösen können, wissen wir. So ist mir namentlich ein Fall in Erinnerung geblieben, in dem ein Mann aus bester Familie sich mit scharfen Säuren am ganzen Körper erhebliche Verätzungen bei- gebracht hatte und zwar aus sexuellen Motiven. Nebenbei war er ein ausgesprochener Masochist. Man könnte in solchen Fällen wohl VI. Kapitel : Automonosexualismus 191 von Automa sochismus sprechen. Da aber der Gepeinigte hier zugleich der Peiniger, der aktive Teil zugleich auch der passive ist, kann man mit demselben Kecht auch von Autosadismus reden. Im Zusammenhang dieses Kapitels ist das Bemerkenswerte für uns aber weder das Sadistische, noch Masochistische, sondern das Autistische der Erscheinung, das darin besteht, daß die Leidlust ohne Hinzu- ziehung einer zweiten Person an und aus sich selbst ge- wonnen wird. Nicht selten kommt der Automasochismus mit Autofeti- schismus vergesellschaftet vor. So sieht man Fälle, in denen Autisten sich sexuell erregen, indem sie sich selbst durch Gürtel oder Korsetts einschnüren. Ich will hier wiederum einem Patienten, einem russischen Theologen, selbst das Wort geben. Er schreibt: „Bereits in meiner frühesten Jugend (etwa im 5. Lebensjahre) machten Gürtel auf mich Eindruck, und zwar glaube ich mich zu entsinnen, daß es solche waren, wie sie die Schüler bei ihren russischen Uniformen tragen. Mein Streben ging nun darauf, auch einen solchen zu besitzen, ich glaube sogar, daß ich meine Mutter darum bat. Ich bekam auch wirklich eine Bluse und einen ledernen Gürtel, genierte mich aber meistens, ihn zu tragen. Auch machten lederne Frauengürtel auf mich Eindruck, und wo ich zu Hause einen solchen fand, versuchte ich, ihn mir umzulegen. Aus jener Zeit erinnere ich mich eines Falles, der einen nachhaltigen Eindruck auf mich machte : ein kleines Mädchen hatte sich beim Spiel mit einem Riemen um den Leib an einen Stuhl befestigt, um einen Stoffhund darzustellen. Ich fing an, mich auch zu schnüren, mit Gürteln, mit Riemen oder einfach mit Schnüren, je enger, um so angenehmer empfand ich es, später bemerkte ich auch, daß sich dabei Erektionen des Gliedes einstellten, wann, d. h., in welchem Lebensjahre, kann ich nicht angeben. Doch habe ich das Glied in der Kindheit weder mit der Hand gereizt, noch auch dabei eigent- liche Lustgefühle gehabt. Wann ich anfing, mich für Korsetts zu interessieren, weiß ich nicht; im 10. Lebensjahre etwa hatte ich eine Bonne, die ein enges Korsett trug; ich erinnere mich, daß ich mir darüber Gedanken machte, und daß ich versuchte, aus ihrem Schrank ein Korsett zu entwenden und es anzulegen. Die Ent- deckung fürchtete ich sehr, diese Neigung kam mir un- normal vor, doch konnte ich sie mir nicht erklären und grämte mich sehr darum. Als ich 14 Jahre alt war, hörte meine Mutter eines Nachts, wie ich aufstand, um mir einen Gürtel zu holen; sie fragte mich danach, und ich beichtete. Meine Eltern glaubten, ich sei Onanist und sprachen in diesem Sinne sehr ernst mit mir, brachten mir eine tief innere Scheu bei, meine Genitalien zu berühren oder zu reizen, was ich dann auch bis zum 20. Jahre nie getan habe. Die Folge dieser Unterredungen aber war, daß ich mich selbst für einen 192 VI. Kapitel: Automonosexualisnms Onani sten hielt und meine ganze Jugend unter diesem Gedanken schwer litt, ohne loszukommen. Als ich 15 Jahre alt war, hatte ich meine erste Pollution und zwar, als ich mit einem Gürtel geschnürt einmal eingeschlafen war; ich hatte aber gar keine Empfindung dabei und weiß nur, daß ich mir die Bettnässe nicht recht erklären konnte und mich darüber aufregte. Von dem Zeitpunkte an fanden Pollu- tionen ziemlich regelmäßig statt, zuweilen verbunden mit Träu- men, daß ich mireinKorsett anlegte, zuweilen aber auch unter ganz andersartigen Vorstellungen. Nicht lange nach der ersten Pollution wurde ich von meinem Vater über das sexuelle Leben auf- geklärt, und zugleich eindringlich vor der Onanie gewarnt, wobei ich zum ersten Male erfuhr, daß man es durch mechanische Reizung zum Samenerguß bringen könne. Als ich aus dem Hause kam, mußte ich meinem Vater versprechen, nicht zu onanieren; ich war bemüht, es in meinem Sinne zu halten, das heißt, mach nicht zu schnüren. Als ich Student geworden war, fielen die Skrupel, die mich durch mein Versprechen an der Ausübung meines Triebes gehindert hatten, und ich begann mich zu schnüren, indem ich mir Gürtel, Riemen, schließ- lich auch Korsetts kaufte." Patient schildert dann, wie er als Student geschlechtlichen Ver- kehr mit dem Weibe suchte, teils aus Neugierde, teils in der Hoff- nung, von seiner Schnür sucht loszukommen, wie er aber immer wieder, trotz starker religiöser Konflikte, in die Leidenschaft zurück- fiel, sich in Ledergürtel oder Korsetts einzupressen. Ein nicht weniger seltsamer Fall meines kasuistischen Materials betrifft einen Kaufmann, dessen sexuelle Sehnsucht ausschließlich darauf gerichtet ist, sich in gestärktem S p i t z e n u n t e r r o c k zu er- blicken. „Ich mache mir weder etwas aus der Frau, noch geschweige aus dem Mann, aber wenn ich den Unterrock vor dem Spiegel raffe und hebe, bin ich entzückt; ich fühle mich dann als Herrin und kenne keine Demut." Patient teilt mit, daß er nur Zimmer mietet mit Trumeauspiegel, die bis zur Erde reichen; in gewöhnlicher Tracht fühle er sich gedrückt und sähe nie in den Spiegel, um so mehr im steifen Spitzenunterrock, in dem „jeder Trübsinn schwände". Die Neigung, sich durch Anziehen bestimmter Kleidungsstücke erotische Lust zu verschaffen, trägt bald mehr einen zisvesti- tischen, bald mehr einen transvestitischen Charakter, je nachdem sich die Neigung auf Bekleidungen des eignen oder des anderen Geschlechts erstreckt. So gibt es Autisten, die im stillen Kämmerlein mit gespornten Kürassierstiefeln umherlaufen und andere, die Damenknöpfstiefel mit hohen Hacken anlegen. Es könnte den Anschein haben, als ob diejenigen, die sich dadurch erregen, daß sie Gegenstände ihres Geschlechts anlegen, verkappte Homo- sexuelle sind, während die Personen, welche Sachen des anderen Ge- schlechts anziehen, im Grunde heterosexuell sind, gleichsam das Weib VI. Kapitel: Automonosexualismus ^93 lieben, das sie aus sich heraus projizieren. Dieser Schluß ist aber nicht zulässig, da bei dem Autisten der Gedanke an eine zweite Person ganz fortfällt und nur die eigene Beschaffenheit sexuelles Interesse ablockt. Besonders gilt dies auch für diejenigen Automonosexuellen, welche eine ganze Tracht anlegen, sich also behufs geschlecht- licher Lustgewinnung verkleiden. Auch hier sehen wir solche, welche die Kleidung anlegen, die, wenn auch nicht ihrem Alter, ihrer Stel- lung, ihrem Berufe, so doch ihrem Geschlechte entspricht und andere, die sich von Kopf bis Fuß in ein Kostüm des anderen Geschlechts werfen. Da gibt es Autisten, die sieh in allen möglichen Volkstrachten gefallen, andere, die sich als Lakaien oder Pagen anziehen, als Matrosen, Soldaten oder Jockeis, die sich als Pierrots oder in „Vagabondenkluft" am wohlsten fühlen, oder die sich gar als Schüler verkleiden, Fälle, in denen sich dann der Automonosexualismus mit Infantilismus vermischt. Von monosexuellen Trans vestiten, die in der weib- lichen ümkleidung ihr Genüge finden, suchen einige die elegante Weltdame, andere die auffällige Halbweltdame und wieder andere die Hausfrau oder das bescheidene Dienstmädchen oder Landmädchen zu markieren. Oft geht hier mit dem autistischen ein gewisser e x - hibitionisti scher Zug Hand in Hand, indem es den gleich- geschlechtlich oder andersgeschlechtlich Verkleideten einen Reiz ge- währt, sich in der Gestalt, die sie vorspiegeln möchten, unter Menschenzu mischen, wobei sie dann große Freude empfinden, wenn niemand merkt, daß der Mann eigentlich ein Weib, der an- scheinende Diener ein Herr, der Fünfzehnjährige ein Dreißigjähriger ist. Ich will aus dem Gutachten über einen automonosexuellen Transvestiten einige Hauptstellen wiedergeben, die uns einen Einblick in das seltsame Doppelleben dieses eigen- artigen Menschen gewähren: T. stammt aus einer angesehenen rheinischen Familie. Die Mutter, deren franzö- sische Vorfahren infolge der Revolution nach Deutschland kamen, lebt und ist gesund- sie ist eine hochintelligente, energische, im öffentlichen Leben tätige Frau. Der Vater starb mit 52 Jahren an einer Rippenfellentzündung. Die aus einer Neigungsheirat her- vorgegangene Ehe der Eltern war ungemein glücklich. Wie seine drei Geschwister genoß er die sorgfaltigste Erziehung; er bestand das Abiturientenexamen an einem humanistischen Gymnasium und widmete sich dann wie sein Vater der Versicherungsbranche, in der er es durch Fleiß und Tüchtigkeit nach und nach zum Abteilungsvorsteher und Organisa- tionschef brachte. Als er aus der Versicherungsgesellschaft schied, um sich dem national- ökonomischen Studium zu widmen, erhielt er ein geradezu glänzendes, zwei Schreib- maschinenfolioseiten umfassendes Zeugnis über seine Leistungen und Fähigkeiten Übrigens war T., ehe er in das Versicherungsbureau seines Vaters trat, kurze Zeit Jahnenjunker, weil er Offizier werden sollte, bzw. wollte; doch ließ ihn sein Vater nach halbjahriger Dienstzeit als Fahnenjunker in die Kategorie der Einjährigen überschreiben. Es mag auch erwähnt sein, weil er selbst Wert darauf legt, daß sein Vater sich vor seiner Geburt ein Mädchen, die Mutter einen Jungen wünschte, ferner, daß er geistig Hirachfeld, Seiualpathologie. I. 194 mehr der Mutter ähnlich zu sein glaubt und daß es in der Familie des Vaters mehrere Hagestolze, darunter einige katholische Geistliche, gab. Von nervösen Kindheitsstörungen ist zu bemerken, daß er bis zum 17. Jahre an Enuresis nocturna (Bettnässen) litt; er war sehr zurückhaltend, nahm an Kinderspielen wenig Anteil, begnügte sich vielmehr nur mit Zusehen war aber weder ängstlich, noch schreckhaft oder verschüchtert. Mehrere Momente aus frühester Kindheit und vorpubischer Zeit verdienen hervorgehoben zu werden: schon ganz früh inter- essierten ihn, wenn er Kindern zusah, die Kleider der Mädchen außerordentlich. Wiederholt träumte er, die Behörde habe verfügt daß an einem bestimmten Tage alle Männer als Frauen und alle Frauen als Männer gehen sollten. Dieser Traum, der sich auch später sehr häufig ein- stellte, verursachte ihm ein großes Behagen. Mit 11 Jahren klärte ihn ein Mitschüler sexuell auf; dieser behauptete von einem anderen Mitschüler, der sich durch einen sehr zarten Teint auszeichnete, dieser sei gar kein Knabe, sondern ein Mädchen, eine Mit- teilung die ihn stark interessierte und erfreute. Als er 20 Jahre alt war, suchte er als Fahnenjunker auf Ansuchen von Offizieren ein Bordell auf, fand aber - wie er sich ausdrückt — „nichts Besonderes dabei". Wie sich nun der transvestitische Drang von leisen Anfängen immer starker und deutlicher in ihm entwickelte, schildert T. in so anschaulicher, überzeugender und charak- teristischer Weise, daß wir ihn am besten selbst zu Worte kommen lassen. Er erzahlt: ,Ich erinnere mich noch ganz gut, daß ich im Alter von etwa 9—15 Jahren schon gern Kleidungsstücke meiner Mutter in unbewachten Augenblicken angezogen habe. Zu solchen Zeiten zählten die Abende, an welchen meine Eltern zu Festlichkeiten oder_ im Sommer auch zu Abendspaziergängen unser Haus verließen. Schon in diesem Alter zeigte sich die List, die ich bei der Realisierung meiner Wünsche nach weiblicher Kleidung an- wandte Wenn die Eltern ausgegangen und wir Kinder zu Bett gebracht waren, schlief ich absichtlich nicht ein, sondern wartete einige Zeit, bis ich annahm, daß meine Ge- schwister schliefen. Die Überzeugung darüber, daß dies der Fall war, verschaffte ich mir dadurch, daß ich meine Geschwister aus irgendeinem Grunde anrief, etwa um noch nach etwas zu fragen. Erhielt ich Antwort, so fiel das nicht auf, weil ich als ältestes Kind «chon die Berechtigung zu meiner Anfrage geltend machte, ich mußte dann eben warten. War aber alles ruhig, dann schlich ich leise aus meinem Bett und begab mich in das nebenanliegende Schlafzimmer meiner Eltern, wo ich die gewünschten und nicht ver- schlossenen Kleidungsstücke meiner Mutter fand und anzog. Hier seien einige eigen- tümliche Vorkommnisse und -Kunstfertigkeiten bei meiner damaligen Bekleidung erwähnt. Das Korsett meiner ziemlich korpulenten Mutter war mir natürlich zu weit. Da nun diese Korsetts wohl immer etwas knapp gemessen waren, klafften sie hinten und ließen sich weiter zusammenziehen. Dies richtete ich jedoch so ein, daß die frühere (reguläre) Weite unschwer und genau hergestellt werden konnte. Damals begnügte ich mich noch mit dem Anziehen eines Unterrockes, eines Überrockes mit Taille oder Bluse; hin und wieder zog ich vielleicht auch eine Jacke oder einen Mantel an und setzte einen Hut auf, letzteren natürlich ohne die Unterlage einer Perücke. Mit dem Anlegen der Mutter- kleider beschäftigte ich mich im allgemeinen nicht lange. Ich legte mich meistens bald wieder zu Bett in derselben Weise, wie ich daraus mich entfernt hatte, und zwar mit einem heute nicht mehr beschreibungsmöglichen Gefühl der Zu- friedenheit. Einmal, als feststand, daß meine Eltern vor dem anderen Morgen nicht zurückkehrten und als deswegen unser zuverlässiges, aber harmloses, und lange bei uns angestelltes Dienstmädchen ausnahmsweise in der Wohnung schlafen mußte, jedoch nicht gleichzeitig mit uns sich schlafen legte, sondern las, überraschte ich es in meiner Kostümierung. Zunächst großes Erstaunen, das sich aber bald legte. Dann lud mich 'das Mädchen ein, mich zu ihr zu setzen, indem sie mich (zu meiner Freude) Fräulein Anna nannte. Obwohl ich diese Besuche später noch einige Male wiederholte, scheint das Mädchen meinen Eltern nichts berichtet zu haben; ich wurde wenigstens nie wegen dieses Vorganges zur Rechenschaft gezogen, was sonst bei der gerechten Strenge meiner Eltern sicher der Fall gewesen sein würde. VI- Kapitel: Automonosexualismus ^gg daß Ä? hätt%die fKostümieruAn& für mi<* verhängnisvoll werden können dadurch, daß der fui meine Faust zu enge Ärmel einer neuen seidenen Taille meiner Mutter auf- riß und nicht mehr ausgebessert werden konnte. Ich beobachtete indessen nicht daß von meiner Mutter nachgeforscht wurde, worauf diese doch ärgerliche Beschtdicung zurückzuführen war; meine Mutter muß wohl angenommen haben, daß ihr das UngS selbst passiert war. Wasche und dergleichen zog ich damals noch nicht an, obwohl bereits fchTueß wohl'rn SChmUtTn Wfh%mir Z"r Verffl*u* standen hätten Ich muß wohl im Gegensatz zu den Fe tischist en (die das lieben) davor zurückgeschreckt haben, nicht mehr reine und den v^nT/M1?/ be+rührende Wäsche anzuziehen und dazu noch von der Mutter getragene. Der Drang nach der Frauengewandung führte so^ar einmal dazu, daß ich im Alter von etwa 15 Jahren in der Wohnung meine" Freundest ™Zs^u7e 8 ^ S° ^Mlenden R°<* seiner Schwester über Die Weiterentwicklung des Transvestitismus vollzog sich nun langsam, aber stetis langsam infolge meiner nicht starken Mittel. Zunächst beschaffte ich mir, indem ich zu" Einrichtung einer eigenen Garderobe überging, durch Bestellung bei einer großen aus wartigen Firma ein Korsett mittlerer Preislage. Leider hatte ich das für michln Betracht kommende Maß nicht richtig ermitteln können, so daß das Korsett viel zu eng dntraf lluH^l 68 n r^r6^1 abeDdS aUf kurZe Zdt Über das Nachthemd an. Darauf heß ich mir eine hellblaue seidene Bluse kommen, deren Größe ebenfalls für meinen Korper nicht zutraf. Ich war jedoch schon in der Lage, mich, wenn auch prim" iv, am Oberkörper etwas weiblich anzuziehen, und war damit zuers einigermaßen 2- frie engestellt. Damit wuchs der Wunsch, möglichst vollkommene Frauenkl! dung eigen- tümlich zu besitzen Ich ersparte mir in mehreren Monaten etwa 200 Mark, nachdem mein Einkommen sich inzwischen gehoben hatte. Diese für den fraglichen ZwecHicM große Ersparnis benutzte ich um mir zunächst billige, aber mir passende und mtli S d?^" anzuschaffen, fürs erste Hut, Stiefel, Schirm, Handtasche u. dgf Tl ch als Daml«gauf ^ Tt R l*™™1 ^ noch im RhdnIande verlebte> ko<^ cü als Dame auf die Straße gehen, wozu ich vom Friseur eine gutfrisierte Perücke lieh mich schminken ließ und mir ein Kopftuch lieh. Diese Garderobe gel mir zwar erschien mir aber nicht vollständig genug, so daß ich doch nicht so recht zufrSden wa^ und mich sogar entschloß, eines Tages, einer plötzlichen Eingebung folgend alles 2U veT- Mit dem Herannahen des nächsten Winters flammte die Glut von neuem auf und mit meiner inzwischen wieder angesammelten Ersparnis kaufte ich mir neue GarS robe stucke besserer Qualität, jedoch nur in einfacher Auflage. Ich hatte nuT schon Hut Schleier, Damenstiefel, Schirm, Handtasche, Handschuh! usw. und auch eTne e£ne Perücke, allerdings nur von Wolle. g e Hierauf ging die Liebe zu Frauenkleidern noch einmal zurück: Ich verkaufte alles angeblich im Auftrage einer in Geldnöten befindlichen Dame. Wenig genüg te ich dafür. Es folgte nun eine Pause, nach der sich der Drang, weiblich gel eTdet zu se n in seiner ganzen im folgenden zu schildernden Stärke gestaltete, die ansehe nenj e zt' andauernd ist: Ich ging dazu über, mir qualifizierte, gut passende und, was wäSS betrifft, mehrfache Sachen von neuem zu kaufen, m ö gl i c h s t a 1 1 e s was eine Dame ha insbesondere eine frisierbare und gut sitzende Haarperücke Auf Grund dieser Anschaffung baut sich mein derzeitiger, stets von mir ergänzter Besitz an weib- hchen Kleidungsstücken usw auf. Das schmutzig Gewordene! einschüeßh h weißer Blusen, wasche ich selbst, auch nähe ich selbst, was nötig ist fa w ?Ü ge?uren, ^ 12 Paar StrümPfe> teils bessere, teils geringere, schwarz und Ä' * tdUrchbr°cbene> 2 Paar Halbschuhe mit hohen Absätze!, 1 Lr rosa IW hellblaue Strumpfbänder mit Schleifen, 2 leinene weiße Unt rhoseZ 1 he llblZ Direktoirehose, 2 Anstandsröcke, 1 weißer Batistunterrock mit Banddurchzug I we ßer leinener Unterrock, 1 hellblauer seidener Unterrock, 1 dunkelroter se dener Unter 13 196 VI. Kapitel: Automonosexualismus rock, 1 leinener schwarzweißer Unterrock, 1 gewöhnlicher Unterrock, 2 Korsetts, eins für Sonntag, eins für Werktags, 1 rosa Korsettschoner, 2 Strumpfhalter, 4 weiße Damen- taghemden mit Achselschluß, 6 weiße Untertaillen, zum Teil mit Banddurchzug, 1 blaues Kostümkleid, 1 Extrarock dazu, modern mit Rückenschnalle, 1 schwarzes Kostumklcid, 1 hellblauer Damenmantel, 2 weiße Stickereiblusen, 1 schwarze Seidenbluse, 1 .grüne Seidenbluse, 1 Ecru-Bluse, 1 schwarzweiße Spitzenbluse, 1 weiße Batistbluse, 1 moderne blaue Frottebluse ohne Kragen, 1 moderne elfenbeinfarbige Bluse ohne Kragen, 6 Zier- und Hausschürzen, Reiher oder Bänder am Kragen selbst eingenäht, 1 Matinee, 1 moderner Damenschirm, 5 Gürtel, 2 Handtaschen, eine aus Samt, eine aus Leder (Besuchstasche), 1 Damenportemonnaie, 1 rosa seidener Ballbeutel, 1 Fächer mit Straußfedern, 1 Pelz- garnitur Muff, 1 geringerer Pelzkragen, 2 Winterhüte, ein größeres Format, 1 rund mit blauen Federn, verschiedene Schleier, 1 hellblaues Kopftuch, verschiedene Ruschen und Jabots, Damenhandschuhe für Sommer und Winter, für Straße und Ball, 1 weißes Spitzentaschentuch, 1 frisierbare Perücke, ziemlich entsprechend meinem Haar mit Kämmen und Pfeilen, 2 Armbänder, 1 Uhrkette, 2 MedaÜlons, 1 Paar Ohrringe (zum Anschrauben), 1 Ring. Sehr bemerkenswert für den transvestitischen Zustand T.s sind nun die folgenden Ausführungen: „Meine größte Freude, zu deren Gunsten ich auf vieles verzichte, ist, mög- lichst oft, vollständig und lange ganz Dame zu sein. An Werktagen kann ich mich leider nicht immer anziehen, weil ich oft erst spät abends aus dem Ge- schäft fortkomme. Dagegen befinde ich mich fast jeden Sonntag in meinen Kleidern, mit welchen ich abwechsle, Sonntags ziehe ich meist dasselbe an (meinen Sonntagsstaat). Ich bin alsdann von Kopf bis zu Fuß wie die anderen Frauen gekleidet. Das Korsett- tiagen (oft 12 Stunden lang) ist mir, was manche meiner Leserinnen interessieren wird, nie lästig, im Gegenteil angenehm. -Übermäßig brauche ich mich auch nicht zu schnüren, weil meine Figur (Größe 46) gut ist. Sonn- und Feiertags ziehe ich mich am liebsten gleich weiblich an, nachdem ich am Abend vorher alle Männerkleider beiseite und die Frauengewandung so zurecht gelegt habe, wie wenn ich mich am Abend vorher aus ihr entfernt hätte. Oft muß ich jedoch vor dem Anziehen zum Barbier gehen, selbst kann ich mich leider wegen meines starken Bartwuchses nicht rasieren. Bartanflug stört meine Empfindung, ich fühle mich dann nicht Weib ge- nug, zumal da ich jetzt öfters als solches ausgehe. Früher habe ich das letztere nicht getan! um aber doch einen Ersatz dafür zu besitzen, machte ich mich damals öfter ganz fertig, wie wenn ich ausgehen wollte. Jedenfalls beschäftige ich mich als „Frau" zu Hause gut und viel. Meine Veranlagung fesselt mich ja auch stark ans Haus. Ich lese sehr viel auf allen möglichen Gebieten, namentlich auf demjenigen meiner Branche und habe auf diese Weise meine Kenntnisse vielseitig vertieft." Sehr eingehende Mitteilungen macht T. über die Toilettenkünste, die er anwandte, um sich ein recht weibliches Aussehen zu geben: Im Schminken brachte er es zu ziem- licher Fertigkeit; die Haare betupfte er allabendlich mit Wasserstoffsuperoxyd, damit der Bartwuchs nachlasse. Vorher wandte er einen Harzstift an, der erwärmt flüssig wird und aufgedrückt die Haare durch Ausreißen mit Wurzel beseitigt. Dies verursachte ihm große Schmerzen. Ferner ließ er sich aus Frankreich eine Büstenvergrößerungs- einrichtung kommen, durch die er seine Büste merklich vergrößert haben will, so daß er sich jetzt nicht mehr „auszustopfen" braucht. Zur Beseitigung männlicher Röte am Hals bediente er sich eines Bleichmittels, um die Augen feuriger zu gestalten, eines Augenwassers. Daß neben Schminke auch Puder verwandt wurde, erscheint nach allem sehr naheliegend, ebenso daß er die Weiblichkeit des Gesichtsausdrucks durch Ohrringe unterstützte und sich reichlich mit Parfüm versah. Viel Sorge bereitete ihm das Frisieren seiner weiblichen Perücke. Er nahm zwar keinen Unterricht im Damenfrisieren, wie andere mir bekannte Transvestiten, brachte es aber durch stundenlanges Üben unter Benutzung verschiedener Kunstgriffe schließlich so weit, daß er imstande war, sich eine gut passende Coiffüre herzustellen. Uber seine Kleidereinkäufe berichtet er: VI. Kapitel: Automonosexualismus 197 „Kleider habe ich mir wie viele Transvestiten von auswärts nach Katalogen kommen lassen, wobei ich um Beifügung einer auf den Namen irgendeiner Dame ausgestellten Kecnnung bat (die Sachen kommen immer unter Nachnahme). Zum Teil habe ich die Einkäufe auch selbst besorgt, und zwar kurz vor Weihnachten, weil jedermann als natür- lich annahm, es handle sich um Geschenke. Um den Glauben des Verkaufspersonals an das Geschenkeeinkaufen zu stärken, brachte ich immer Zettel mit, die Maßangaben trugen, obwohl ich zuletzt auswendig ganz genau wußte, was mir paßt. Ich sprach auch stets von „der Dame" und fragte schließlich, ob die betreffende Sache umgetauscht werden könne, wenn sie nicht gefalle oder nicht passe." „So kann ich mich nun" — schreibt er an anderer Stelle — „nett, aber unauffällig als Dame anziehen und viele Stunden zu Hause, zeitweilig auch auf der Straße be- wegen. Da mein Auftreten, namentlich in Gang und Haltung (auch a conto der 'jetzt modernen engeren Röcke) durchaus weiblich ist, vermuten Vorübergehende in mir nicht eine zum männlichen Geschlecht zu rechnende Person." Er fährt dann fort: „Auf der Straße angelangt, entferne ich mich rasch ohne umzusehen. Überhaupt habe ich mir das Umsehen erst abgewöhnen müssen, denn viele Herren suchen bekannt- lich am Abend Anschluß und vermuten in umherblickenden Damen Gleichgesinnte. Trotzdem bin ich schon mehrere Male mit recht freundlichen Worten zum Mitgehen ein- geladen worden. Ich habe mich dann wie wirkliche Damen verhalten, mich einfach herum- gedreht und bin zunächst einige Schritte zurück und dann langsam meinen Weg weiter- gegangen, bis der Attentäter so oder auf andere Weise unschädlich für mich war Um solche Begegnungen zu vermeiden, pflege ich den Schritt zu verlangsamen, wenn ich in einer der von mir meistens aufgesuchten menschenarmen Straßen gehe und einen Herrn vor mir habe, zumal einen dahinschlendernden. Antworten könnte ich bei meiner ziem- lich tiefen Stimme nicht und mit ungekünstelter Fistelstimme, wie es die Damenimita- toren tun, sprechen habe ich noch nicht erlernt. Wegen der Tiefe meiner Stimme kann ich auch die Straßenbahn nicht benutzen, ich muß daher meine Wege ganz per pedes zurücklegen, wenn ich spazieren gehe oder raeine Bekannten besuche, Wege, die ich als „Herr" allerdings nur mit der Straßen- bahn machen würde. Vor der Polizei, insbesondere vor den nicht uniformierten Be- amten (ich verkehre sogar mit einigen, ohne daß sie von meiner Veranlagung etwas ahnen), habe ich naturgemäß viel Furcht. Denn als grundehrlicher Mensch habe ich noch nie mit der Polizei oder dem Gericht irgend etwas zu tun gehabt, und auch der Gedanke, in Verdacht, wenn auch nur dahin zu kommen, ich sei ein Verbrecher, der in Frauenkleidung seinem lichtscheuen Handwerk nachgehen will, ist für mich fürchterlich. Das Volk, das bei einer etwaigen Ergreifung herbeizuströmen pflegt, erblickt mit be- greiflicher Abscheu in einem als Frau gehenden Manne gleich einen Verbrecher oder womöglich gar einen auf Raub ausgehenden 175er. Zudem fürchte ich auch, daß auf diese Weise in meinem Geschäfte meine Veranlagung bekannt werden könnte, so daß ich mich dort nicht mehr würde halten können. Jedenfalls führe ich bei meinen Ausgängen m der Handtasche regelmäßig meinen Militärpaß, eine Paßkarte, eine Photographie und mehrere Visitenkarten, auch einen Brief von zu Hause mit Umschlag mit, um mich nötigenfalls gut legitimieren zu können." Wie vielen Transvestiten ist es T. besonders peinlich, daß von Unkundigen Trans- vestiten so häufig mit Homosexuellen „in einen Topf geworfen werden". Er versichert wiederholt, daß er vor Homosexuellen „großen Abscheu" hat. Sein normaler Geschlechtstrieb ist verhältnismäßig sehr schwach; „ich betrachte mich als homosexuelles Weib", meint er in ganz logischer Übereinstimmung mit seinem weiblichen Empfinden, das die Frau als ein gewissermaßen zum gleichen Geschlecht gehöriges Wesen erachtet. Am ehesten ziehen ihn noch trauen zwischen 25 und 40 Jahren an, sanftmütige Naturen mit „schönlinigen" echt weiblichen Figuren und femininen Gesichtszügen. Pollutionsträume beziehen0 sich auf Frauen, denen er ähnlich sein möchte. 198 VI. Kapitel: Automonosexualismus T. ist unverheiratet. Seine geschlechtliche Entspannung findet er, indem er „beim Anblick seiner Weiblichkeit" masturbiert. Dies geschieht durchschnittlich etwa jeden 8. bis 10. Tag. Wenn er den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe vollzieht, was äußerst selten vorkommt, ist conditio sine qua non, beim Koitus unten zu liegen. Im übrigen liegt ihm aber masochistische Unterwürfigkeit dem Weibe gegenüber voll- kommen fern. Die Hauptsache, um eine sexuelle Befriedigung herbeizuführen, ist bei ihm das An- legen von vollständiger Frauenkleidung. Schon die ' Vorstellung hiervon macht ihn glücklich. Früher ha.t er stark gegen seine Neigungen angekämpft; wie schon oben berichtet, hat er sogar einmal alle seine Frauensachen verbrannt, ein anderes Mal ver- kauft; er ließ sich auch einmal einen Kinnbart stehen, um sich ein möglichst männ- liches Aussehen zu geben. Aber je stärker er gegen den Drang anging, als Weib auf- zutreten, um so heftiger und unwiderstehlicher brach nach einiger Zeit die Leidenschaft wieder durch. Am liebsten möchte er überhaupt nicht mehr Männerkleider tragen. Er betrachtet die Männerkleidung für eine Art „Dienstkleidung", als eine „Uniform", wie er sagt; wenn er Frauenkleider anzieht, geht er, wie er sich ausdrückt „in Zivil". Deshalb kann er es auch nicht leiden, wenn man bei ihm von „verkleiden, das sei doch maskieren, vermummen" spricht. In seinem Testament hat er bestimmt, daß er in seinem „derzeitig schönsten weiblichen Staat, angetan mit weiblicher Perücke begraben werde". Unser Explorat lebt in peinlich geordneten Verhältnissen, ist sehr solide und auch religiös. Zu letzterem Punkt bemerkt er: „Ich bin froh darum, denn dieser Umstand allein hat mich bisher davon abgehalten, dem Willen meines Schöpfers vorzugreifen, d. h. meinem im Verhältnis zur Außenwelt nicht glücklichen Zustand durch Selbstmord ein Ende zu machen. Ich hoffe innig, daß mir dieser Geist Zeit meines Lebens erhalten bleibe"; in seinem Fragebogen bezeichnet er sich selbst als „überzeugte Katholikin, aber keine Betschwester". Sein Bildungsgrad ist ein hoher, namentlich interessiert ihn Volks- wirtschaft und Verkehrswesen. Politisch ist er gemäßigt, er nennt sich „eine große Verehrerin von Kaiser Wilhelm II". Sein liebster Beruf wäre „Generalsekretärin einer Frauenorganisation". Er ist schlechter Rechner, aber guter Korrespondent, er näht, wäscht und kocht gern, Sonntags stellt er sich sein Essen selbst her. Ein großes Inter- esse hat er für Modeberichte. Auch ist er ein großer Tierfreund, nur „vor Spinnen, Käfern und Mäusen" hat er „Angst". Als Mann raucht er Zigarren, als Frau nur Ziga- retten. Sehr angenehm berührt es ihn, wenn man ihn in Frauenkleidung bei dem Mädchennamen „Martha" nennt, den er sich selbst zugelegt hat. Seine Briefe an Per- sonen, die von seinem Transvestitismus wissen, unterzeichnet er mit „Martha Glücks", um durch den Nachnamen auszudrücken, wie glücklich er sich als Weib fühlt. Deshalb schließt er seine Darlegungen auch mit den Worten: „Ich möchte am Ende meiner Aus- führungen noch hervorheben, daß ich mich, so eigenartig es auch klingen mag, in der weiblichen Kleidung durchaus glücklich fühle, wenn ich auch weiß, daß dieses Glück ein Unglück ist und wenn ich im vollen Besitze des Bewußtseins auch nicht eine Sekunde die Wirklichkeit vergesse. Ich habe deshalb auch kein Interesse an einer Befreiung von meiner Veranlagung." „Ich kann es offen bekennen, daß ich es mit Befriedigung ver- nommen habe, daß es eine Heilung dieses Zustandes kaum gibt, höchstens mit zuneh- mendem Alter. Sollte ich wider Erwarten meine Veranlagung doch einmal verlieren, so würde ich die Zeit meines Transvestitismus als die glücklichste meines Lebens be- trachten, vielleicht auch unglücklich über den Verlust sein und doch — ." Die körperliche Untersuchung T.s ergibt keine nennenswerten Abweichungen vom männlichen Körperbau. Er ist von mittlerer Größe und mittelkräftiger Muskulatur. Sein Gang ist als Herr fest und schnell, als Dame macht er kleine trippelnde Schritte, was aber wohl im wesentlichen auf das Tragen des Korsetts und der engen Röcke zurück- zuführen ist. Der Teint ist mehr dunkel, die Haare sind dicht und hart, der Bartwuchs ziemlich stark. Er errötet leicht, seine Schmerzempfindlichkeit ist groß. Hände und Füße sind verhältnismäßig klein (Damenschuhe Größe 41, Handschuhnummer 8). Die Handschrift zeigt virilen Typus. Schulter- und Hüftbreite sind nahezu gleich; Korsett- weite 72 cm. Der Kehlkopf ist männlich gebaut, wenn auch wenig hervortretend, Stimme VI. Kapitel: Automonosexualismus 199 infolgedessen tief. Der äußere Genitalapparat zeigt gänzlich männliche Beschaffenheit. Körperliche Bildungsfehler sind auch sonst nicht nachweisbar, die inneren Organe sind gesund. T. macht den Eindruck eines kräftigen Menschen, der weiß, was er will; seine Willenskraft ist, soweit sie nicht die Feminierung betrifft, gut. Es seien im Anschluß an diesen Fall noch wenige Worte über das soziabile Verhalten automonosexue 1.1 er Personen vermerkt. Da sie fast ausschließlich mit sich selbst be- schäftigt sind, erotische Empfindungen für das männliche und weibliche Geschlecht vollkommen fehlen, auch Familieninstinkte kaum vorhanden sind, so ist es begreiflich, daß diese Men- schen im allgemeinen ganz ihre eigenen Wege gehen, oft ausgesprochen menschenscheu, Sonderlinge und Eigenbröd- ler sind. Manche leben ganz zurückgezogen, die meisten reiten irgendein Steckenpferd oder finden ihre Freude im Sammeln irgendwelcher mehr oder weniger seltenen Gegenstände. Dabei ist ihre Intelligenz durchschnittlich gut. Daß die ungünstigen Eigenschaften, die K o h 1 e d e r in dem ersten von ihm beobachteten Falle fand: „ganz krasser Egoismus und Selbstdünkel, Selbstüber- schätzung, verbunden mit einer bedauernswerten Herzlosigkeit gegen alles, was nicht die eigene Person betrifft" typische Begleit- erscheinungen jedes Falles von Automonosexualismus sind* kann ich nicht bestätigen. Die Freudsche Schule hat den Standpunkt vertreten, daß der Narzißmus eine normale Durchgangsstufe in der Sexual- geschichte aller Männer und Frauen sei. Dr. Heinrich Körber hat in einem sehr instruktiven Artikel: „Die Freudsche Lehre und ihre Abzweigungen" 5) erwähnt, daß Freud für die Libido bei n o r m a 1 e r Entwicklung folgende angeblich stets zu findende Reihe von Be- setzungen annimmt. Die sexuelle Libido beginne beim Kinde mit einem reinauto erotischen Zustand, in dem am eigenen Körper durch Beiben, Jucken, Lutschen Lust erzeugt wird, dann käme es etwa im z w e i t e n Lebensjahre zur erstmaligen Wahl eines Partners, und zwar müsse diese erste Liebesobjektwahl infolge der ge- gebenen Personalverhältnisse inzestuös ausfallen. Hierauf folge ein Stadium des Latentwerdens der Libido, in welchem die psy- chischen Energien des Kindes durch Erlernen des Sprechens, Schrei- bens und Lesens sowie durch Pflichtanforderungen der Realität voll beansprucht würden. Danach soll, und zwar noch vor Beginn der Ge- schlechtsreife, ein Stadium des Narzißmus folgen, als eine „Wiederaufnahme des primären Autoerotismu s". Dieser Narzißmus werde dann abgelöst durch die Pubertät, in welcher es zum zweiten Male zu einer Objektwahl kommt, und zwar scheine diese in der ersten Hälfte des Entwicklungsstadiums durch- 5) Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 3, H. 1, April 1916. 200 VI. Kapitel: Automonosexualismus gehend das eigene Geschlecht zu betreffen, um dann erst zu dauernder Fixation auf das andere Geschlecht überzugehen. So sei es „im normalen Verlaufe". Bei Psychoneurotikern aber könne diese Entwicklung auf jeder Stufe zu einem vorläufigen Ab- schluß gelangen. Darauf beruhten dann die sexuellen Anomalien. Dieses Schema wäre' ganz plausibel, wenn es einer objektiven Nachprüfung standhielte, was jedoch keineswegs zutrifft. Auf alle seine Irrtümer hier einzugehen, würde zu weit führen, nur hinsicht- lich des Narzißmus und Autoerotismus sei bemerkt, daß es durchaus nicht, wie behauptet, eine reguläre Begleiterscheinung der Vor- pubertät ist. Wohl kommt die Onanie in diesem Lebensalter in nahezu physiologischer Verbreitung vor, nicht aber ist damit ständig ein Verliebtsein in sich selbst, ein davon sehr zu unterscheidender Vor- gang verbunden. Kichtig ist, daß der Automonosexualismus — wie beiläufig bemerkt, fast alle sexuellen Anomalien — in der Puber- tätszeit zuerst in die Erscheinung tritt, anfangs unbe- wußt, um allmählich mehr und mehr in das Bewußtsein zu treten, richtig ist wohl auch, daß gelegentlich in der Keifezeit eine vorüber- geh ende autistische Periode auftritt, die nach einiger Zeit wieder verschwindet; unrichtig ist es aber, anzunehmen, daß der Auto- monosexuelle ähnlich etwa wie der Infantile, auf einer sexuellen Ent- wicklungsstufe stehen bleibt, die für ein bestimmtes Lebensalter die Norm ist. Die Norm ist, daß im Pubertätsalter das seelische Ver- langen erwacht, das man sprachlich so treffend als Neigung be- zeichnet hat, weil der Mensch sich eben einer zweiten Person in Liebe zuneigt, sich ihr zuwendet (im Sinne von Tropismus, was Wendung bedeutet); ihr folgen zielstrebig die Sinnes- und zu- meist dann auch die Bewegungsorgane (von sequi = folgen leitet sich das Wort sexus = Geschlecht her). Davon, daß zuvor die eigene Gestalt eine solche Keaktion hervorruft, ehe dies eine zweite tut, kann ganz und gar nicht die Rede sein. Der im Automonosexualismus zutage tretende Defekt, nicht auf Außenreize zu reagieren, der mangelnde Trieb, sich einem zweiten Wesen zu nähern und sich mit ihm zu verbinden, stellt einen schweren Ausfall dar, dessen Ursachen wir nicht kennen, die aber sicherlich von erheblichem Gewicht sein dürften. Entweder kann es sich um einen angeborenen Bildungsfehler im zerebralen Sexualzentrum handeln, oder um eine Störung in der inneren Sekretion, die das Zentrum nicht so speist, daß es katalytisch von außen beeinflußt wird oder es könnten auch wohl abnormale Verhältnisse in den Eindrucks-, Assoziations- und Hemmungsbahnen vorliegen. Vielleicht wirkt auch mehreres zu- sammen, jedenfalls stellt der Automonosexualismus, bei dem die eigene Person Subjekt und Objekt, aktiver und passiver Teil, Reizquelle und Lustquelle zugleich ist, unter den sexuellen Perversionen eine gut abgegrenzte VI. Kapitel: Automonosexualismus 201 Gruppe für sich dar. Wir stimmen hierin E o h 1 e d e r vollkommen bei, wenngleich wir diese Anomalie nicht für so ungemein selten an- sehen können, wie er es tut. Man könnte vermuten, daß bei dem Automonosexuellen eine Art Spaltung der Persönlichkeit eintritt, er also in sich selbst nach der philosophischen Maxime: „ich setze mich und habe ich mich gesetzt so habe ich ein nicht- ich gesetzt" (setzen hat hier die Bedeutung von vorstellen), im Grunde nicht sich, sondern einen an- dern liebt So glaubt Petermann in seiner Arbeit über Phan- tomenliebe ), daß es sich bei dem erotischen Gebrauch des Spiegels um die Schaffung eines „ideellenPartners" handle; er sagt: Tiere kleine Kinder nehmen das Spiegelbild für Wirklichkeit. Stubenvögel hacken nach ihrem vermeintlichen Eivalen, Kinder unterhalten sich mit ihrem Spiegelbilde, das sie je nach Laune schlagen oder küssen. Allen, Naturmenschen, die schon das Wesen des Glases erkannt haben suchen hinter demselben einen wirkliehen anderen. Daß die Erkenntnis von der Identität des Spiegelbildes mit der eignen Person verhältnismäßig so schwer Eingang findet, liegt wohl darin, daß der Mensch sein Gesicht niemals direkt sieht, also ohne Unter- stützung durch den Spiegel meist nicht nur vergißt (Jacob I ?3 *4) sondern überhaupt nie erfährt, wie er gestaltet ist." Ob Narziß sich der Identität der vom Wasser reflektierten Person mit seinem eigenen Ich überhaupt bewußt war, hält Petermann nicht für geklart. Es ist deshalb keineswegs so schwer, die so mühsam ge- wonnene Einsicht aus dem Bewußtsein wieder auszulöschen, und die eigene Person gleichsam in zwei Hälften zu spalten, von denen die eine handelt und die andere, wenn schon die nämlichen Be- wegungen vollführende, gleichsam als Objekt des Handelns gedacht ist. Daß es sich im Automonosexualismus bei dem Ich als Subjekt und bei dem Ich als Objekt bis zu einem gewissen Grade um zwei verschiedene Wesen handelt, ist zuzugeben, es ist aber nicht einzu- sehen, weshalb Personen, denen reale Partner außerhalb Ihrer selbst genügend zur Verfügung stehen, sich in ihrem Spiegelbild einen „ideellen" Partner suchen. Gerade in dieser Identifizie- rung des Reizabsenders und Reizempfängers liegt das Absonderliche und Pathologische der Erscheinung. Dieser Umstand hindert allerdings nicht, daß der Narzißmus zu allen anderen sexuellen Störungen Beziehungen aufweisen kann Das haben die oben angeführten Beispiele deutlich gezeigt. Wir sahen den Automonosexualismus auf transvestitischer, zis- vestitischer und hier wiederum auf inf antilistis'cher Grundlage, wir sahen ihn in Verbindung mit dem Sadismus und Masochismus. Wir erwähnten seine Verwandtschaft zum Feti- schismus und die exhibitionistische Komponente, die ihm ß) Zeitschr. f. Sexualw. 1908, S. 295. 202 VI. Kapitel : Automonosexualismus innewohnt. Selbst eine Neigung zum Inzest könnte man im Auto- monosexualismus erblicken. Ist es doch sozusagen der nächste Bluts- verwandte, welcher geschlechtliche Empfindungen auslöst. Die engste Verbindung zeigt der Automonosexualismus natur- gemäß mit der S c h a u 1 u s t. Auch hier im gleichzeitigen Drange sich zu zeigen und sich zu sehen, sehen wir, wie er das sonst Ge- trennte vereint, das Gegensätzliche zusammenfaßt. Dieser monistische egozentrische Charakter ist es, der die automono- sexuelle Selbstliebe in so scharfen Gegensatz bringt zur Liebe über- haupt, deren Wurzel und Wesen gerade der Dualismus und Alt- ruismus ist. Hierin liegt aber, auch zugleich die verhältnismäßige Harm- losigkeit dieser Anomalie begründet. Es wird durch ihre Betäti- gung niemandem ein Schaden zugefügt, wenigstens kein positiver, höchstens ein negativer, indem anderen etwas entzogen wird, was ihnen eigentlich zukäme. Doch auch hier ist es noch fraglich, ob diese ausbleibende Benutzung von Keimzellen nicht im Interesse der Degenerationsprophylaxe erfolgt. Wenigstens ist bei ausge- sprochenen Automonosexuellen eine neuropathische Färbung unver- kennbar und eine konstitutionell psychopathische Grundlage sehr wahrscheinlich. In der Behandlung des Automonosexualismus muß neben dem Angehen gegen die nervösen Ursachen, Beigaben und Folgen, neben der Kräftigung der Willensenergie Ablenkung der Geistestätigkeit und Regulierung der Lebensweise vor allem die Frage entschieden werden, ob und inwieweit dem autistischen Drange nachgegeben werden soll. Hier wird zweierlei zu berücksichtigen sein. Zunächst ob noch Aussicht vorhanden ist, die Triebrichtung von der eigenen Person auf andere abzulenken. Bis in die Mitte der zwanziger Jahre wird man solche Hoffnung wohl hegen dürfen. Dabei wird man auch prüfen, ob anzunehmen ist, daß der abgeleitete Trieb die normal- sexuelle Richtung einschlagen wird. Andernfalls wäre nichts ge- wonnen. Wenn diese Vorbedingungen gegeben sind, kann mit Zuhilfe- nahme der Psychotherapie alles versucht werden, die Patienten von dem autistischen Verliebtsein in sich selbst zu befreien. Hat man sich aber von der Unmöglichkeit der Unterdrückung und den schädlichen Folgen der gewaltsamen Verdrängung überzeugt, dann wird man sich den Satz vor Augen halten, den Eduard von Hart- mann in seiner „Philosophie des Unbewußten" vertritt, „daß die Nichtbefriedigung eines Triebes für das betreffende Individuum ein größeres Übel sei, als die maßvolle Befriedigung". Die Frage, was maßvoll ist, was das Maß überschreitet, wird im Einzelfalle ver- schieden zu beantworten sein. Wir haben aber weder das Recht, noch einen ausreichenden Grund, einem Menschen etwas zu versagen, was ihn selbst erleichtert und beruhigt, ohne daß er das Rechts- gut eines anderen verletzt. Namen» Register Abölard 17. Adler, Otto 137. A n c e 1 39. Anton 42. Aristoteles 24. Arumugam 85. Asch, Robert 74. Askanasy 73. Augustus, Kaiser 185. Back, Georg 145, 154. B a e c h i e , B. 144. B a r a d u c 145. Barati er, Job. Philipp 81, 82, 85. Benninghoven 75. Berger, Oskar 131. B i e d 1 6, 69. B i s s i n g , von 163. Bloch, Iwan 121, 127, 168, 175, 183. Bottermund 26. B o u i n 39. Brandes 10. Braun 179. B r o c c h i , Carlo 17. Brown Sequard V, 111. Brück 147. Burchard, Ernst 31, 45, 74, 98, 115, 183. Burs 160. Campe, J. H. 82, 168. Car u s 77. C a s p e r 147. C e 1 s u s 178. Cohn, Herrn. 171. Colburn 85. Conty 67. Cortenajera 67. Crescentini 14. Dalberg, v. 168. Darwin, Charles 3. D a s e , Job. Mart. Zacharias 84—85. Deslandes 152. D e v o y 145. Diogenes 137. Donner 132, 136, 146. D o u s s i n 151. Diamant 67. D ü c k , Johannes 131. Dukes 131. Dürer, Albrecht 81, 85. E 1 i n g e r 160. Ellis, Havelock 120, 129, 182, 183, 185. Eulenburg, Albert 129, 152. Faust, Bernh. Christian 168—169. Fecaube 151. Feuchtersieben, E. v. 171. F i n o 1 1 i 39. Fließ, Wilhelm 88, 179. Fournier 145, 178. Fr an kl, Moritz 84, 85. Freud, Sigm. 80, 124, 145, 159, 161, 175. F r i e d r e i c h , 146. Fürbringer 179. G a s i o , Demetrius 144. Gattel 159. Gebhardt 67, 68. G e r v a i , Laura 97. Glaevecke 27. G 1 y n n 69. G o e r k e 75. Goethe IX, 168, 177. Grassmann, Robert 171. Groß, Siegfried 7, 9, 26, 39. Grünbaum 27. Hagenbach 160. Hahnemann 170. 204 Namen-Register H a 1 b a n 75, 76. Haller, A. v. 67, 77. Hammond 129. Hartmann, Eduard von 202. Heck er 105. Hegar, Alfred 3, 26. Heineken, Christian Heinrich 81, 82, 85. Heinemann, Karl 177. Heller 112. Herder 168. H e r f f 27. Herz, Max 159. Hess, A. 81. Hippokrates 161. Hirschfeld, Magnus 5, 8, 14, 16, 21, 30, 31 ff., 41, 43, 44, 45 ff., 52 ff., 54 ff., 58 ff., 61 ff., 64, 71 ff., 74 ff., 79 ff., 91, 95, 98 ff., 108, 115 ff., 122 ff., 130, 131—132, 134 ff., 138 ff., 141, 148 ff., 153, 159, 172 ff., 179, 182, 183 ff., 186 ff., 188, 189 ff., 191 ff., 193 ff., 201. Hitzig 113. Hochenegg 7. Hof meier 68. Holländer 110. Hoven, von 152. Hufeland 129, 168. Hyrtl, Jos. 140. I n a u d i , Jacques 84, 85. Juliusburger, Otto 48. Kaan, Heinrich V. Kant, Immanuel 152. Kellner 40. K e p p 1 e r 26. Kisch, E. H. 67, 77, 108. K o e r b e r , Heinrich 199. Kötscher, L. M. 105. Kowalewski 108. Kraepelin,E. 105, 106, 160. Krafft-Ebing,v. V ff., 51, 61, 64, 65, 78, 111, 112, 113, 140. Kurkiewicz 120. Kußmaul, A. 67, 68, 77. Lall em and 152, 179. Landau, Theodor 27. L a n t i e r 77. L a s e" g u e 30. La tarnend) 121, 182. Lepinasse 21. Leppmann, Fritz 61, 04. L e y d i g , Franz 5. Lichten stern 10, 18—21. L i e s a u 27. L i n s e r 73. L ö w e n f e 1 d , L. 25, 160. Mantegazza, Paul 136. M a r c u s e , Julian 101. M ar c u s e , Max 80, 110, 111, 127. M a r i q u e , L. 144. Marr 190. Martin, Aug. 26, 77. Meirowsky 131. Meisel-Heß, Grete 97. Mendel, Kurt 110. Michaelis, Karin 107. Molitor 77. Moll, Albert 80, 185. Monillac, Valletau de 110, 111. M o n t g o m e r y 77. Moreechi 14. Mozart, W. A. 81, 85. N ä c k e , Paul 15, 121, 182. Napoleon I. 14. Narcissus 182, 185. Nietzsche, Friedrich 167. N i k i s c h , Arthur 81. O b m a n n 67, 69—73. Oestreich-Stawyck 73. Onan 120, 182. i O r i g i n e s 17. d ' O u t r e p o n t 77. Pellici 69. Peretti 160. Petermann, Theodor 186, 201. P e y e r , Alexander 142. Placzek 97. Ploß, H. 67, 77. Plyette 68. P öhler 82—83, 85. Poll, H. 4. Q u a d r a , Hostius 185. Rank 145. Reik, Theodor 161. Ribbing 160. Robinson, Julian 49. R o e m e r , v. 167. Rohleder, Hermann 119, 129, 131, 136, 143, 148, 178- 179, 182, 199. Namen-Register 205 Rossini 14. Rousseau, J. J. 49. Sacchi 73—74. Sa dg er, J. 124. Scheuer, Oskar 74. Schiller, Friedr. v. 168. Schimmelbusch 156. S c h 1 e i d t , Josef 6. Schmutz, Gregor 82. Schrenck - Notzing, v. 163. Seerley 131. Seneca 185—186. Stabel 10. Steinach, E. VI, 6, 10, 20. Steinbacher 176. S t e k e 1 , Wilhelm 124, 131, 156, 159, 164. Strohmayer 39. Stumpf, C. 82—83. Sueton 186. T a c i t u s 186. Tandler, Julius 7, 9, 26, 39. Tausk, Viktor 124. Teßmann, Günther 138. Tissot, Simon Andre 120, 151, 152. Tolstoi 150. Tschisch 105. Valera 185. V e 1 u 1 1 i 14. Weiß mann, August 3. W es ton 80. Ziehen, Theodor 126. Sach=Register Aborte, kriminelle 115 — 117. Absenzen, epileptische 92 — 93. Abstinenz, und Onanie 127 — 128, und Angst 159, und Blasenneurose 159—160. Äquivalente, sexuelle 175 ff., 183. Atzungen, bei Onanie 179. Aknepusteln, bei Frühreife 70. Akromegalie 7, 30, 69. A k t b i 1 d e r 186 ff. Alkoholismus, bei Infantilen 59 ff. Altern, bei Infantilismus 41. A n a 1 z o n e , Reizung 124 — 125. Anandride 9, infantiler 11 — 12, Typen des 12. A n d r i a 5. Angstneurose 87, 158 — 159. Aplasie, genitale 12, 13, 25, 29 bis 65. Ascaris 125. Askese, als Motiv der Kastration 14. Asthma 158. Atrophie, der Genitalien 6 — 7, der Hoden 7—8. Aufklärung, geschlechtliche 163 bis 165. Ausdrucksbahn, sexuelle 5. Ausfallserscheinungen 6 ff. A u t i s m u s 120. Autoerastie 121, 181—202. Autoerotismus 120, 181—202. Autofetischismus 191. Autoflagellanten 190. Automonosexualimus 181 bis 202. Autosadismus 191. Autosuggestion, und Impotenz 155. Azoospermie, bei Kryptorchis- mus 31. Baby -Bälle 44. Bartwuchs, Fehlen bei Infantilis- mus 41, bei weiblicher Frühreife 74, 75. Beckenmaße, nach Kastration der Frauen 26, bei Infantilismus 41. Bettnässen 146. Bildersammlungen, erotische 49, 63, 186. Blasenneurose, bei Onanie 159, bei Abstinenz 159—160. Blutänderung, toxische 112. Briefe, Infantiler 49, von Onani- sten 150. Brüste, Veränderung bei kastrier- ten Frauen 27, bei Infantilismus 41, bei Frühreife 75, 77, Reizzustände 125, Onanie an 141. Bucklige, Genitalien der 40. Charakter, und Onanie 145. Cheiromanie 119. Chemismus, sexueller 87. Chorea minor 90 — 91. Clitoris, peniformis 76, Sensitivi- tät 122, Reizzustände 125, Exstir- pation bei Onanie 179. C o i t u s , interruptus s. reservatus 120. Colliculus seminalis, bei Ona- nie 146. Cunnilinctio 79, 128. Dämmerzustände, in der Pu- bertät 93. Dementia praecox 105 — 106. Diät, bei Onanie 167 — 169, seelische 170—171. Sack-Register 207 Differenzierung, sexuelle 2 — 3. Digitatio 128. Dipsomanie 93. Doppelgeschlechtliche An- lage 3. Dromomanie 93. Druck, als Form der Onanie 130 bis 131, 139. Effemination 110. Eierstock s. Ovarium. Eierstocksgeschwulst, als Ursache vorzeitiger Menstruation 68. Eifersucht, im Klimakterium 109, 110. Eindrucksbahn, sexuelle 4 — 5. Ejakulation, Fehlen der 8, prae- cox 128, 155. Ekzem 125. Endokrine Drüsen 25. Epilepsie 61, und Pubertät 92 bis 93. Epiphyse 6, 69, bei Frühreife 73. Erektion, bei Kastraten 24, als veranlassendes Moment der Onanie 122. Erotisierende Substanz, Zu- sammensetzung der 25. Erpresser, hysterosexuelle 97. Erregungszustände, sexuelle, bei Epilepsie 92. Errötungsfurcht 91. Erschöpfbarkeit, bei Genital- atrophie 9. Eunuchen 13 — 14, Arten der 24. Eunuchoidismus 9. Exhibitionismus, bei Infantilen 61 ff., in der Pubertät 93 und Auto- monosexualismus 186. Facies anorchistica seu ca- stratica 18. Felddienstunfähigkeit, der Kastraten 18. Femorale Onanie 138 — 139. Fetischismus, bei Infantilen 61 ff. und Narzißmus 189. Fettverteilung, bei Genitalatro- phie 9, bei Kastraten 16, 19, 23, 27, bei Infantilismus 41. Fingernägel, Abknabbern der 91, 146. Frühreife 66—85, Formen 67, ge- nitale 67 — 76, Erkrankungen der Zirbeldrüse 69, 73, der Nebennieren 69, 73, der Hypophyse 72, körper- liche 76 — 77, psychosexuelle 77 bis 80, Geschlechtstrieb 77 ff., bei Tie- ren 80, psychische (Wunderkinder) 81—85. Geburt, bei sexueller Frühreife 77. Gedankenonanie 129. Gedankenunzucht 129, 161—162. Gefährliches Alter 107. Gehirnerweichung, angeb- liche, durch Onanie 151. Geistige Fähigkeiten, bei Eu- nuchoidismus 11. Geschlechtscharaktere, Vierteilung der 4. — primäre 3. — sekundäre 3 — latente 3. — essentielle 4. — akzidentelle 4. — subsidiäre 4. — extragenitale 4. — ' innere 4. — äußere 4. — Vermischung der männl. u. weibl. 74. — der Kastraten 19—20. G eschlechtsdrüsenausfall 1—28, Arten 27—28. Geschlechtsentwicklung, Perioden der 1 — 3, bei Frühreife 66 ff., 77 ff. Geschlechtstrieb, Einteilung seiner Phasen 4 — 5, bei Eunuchoidis- mus 10, bei Kastraten 17, 24, bei In- fantilismus 30, bei Frühreife 77 ff. Geschlechtsunterschiede, Entwicklung der 1 — 2. Geschwister, Geschlechtsverkehr 79. Gerontophilie, bei Infantilen 48 ff. Gerüche, als Lustquelle 188. Gigantismus infantilis 30. G y n ä z i n 5. Haar, Ausfall bei Kastraten 19 bis 20, 22; Haarbildung bei weib- lichen Kastraten 27, bei Infantilis- mus 41, 44, Abrasieren des 44, bei Frühreife 70, Ausfall bei Onanie 145. Hämmlinge 24. Harnbrennen, bei Onanie 146. 208 Sach-Register Harndrang, bei Onanie 146. Haut, kastrierter Frauen 26, -af- j fektionen als Ursache von Onanie 124—125. Heminungsbahnen, sexuelle 5. Herzneurose, bei Onanie 158. Hoden, Hypoplasie der 8 ff., Schüsse 17—20, Kryptorchismus 7, 31 ff.; ; Bauchhoden 38 ff., Leistenhoden 38 ff., bei Frühreife 69 ff., Alveolar- karzinom 73. Hoden, retention, Schwachsinn bei 40. Hoden sack, Herabhängen 146. Homosexualität, angebliche, nach Onanie 156. Hosen, und Onanie 168—169. Hypertrophien, genitale 154. Hypnose, bei Onanie 162—163. Hypochondrie, bei Onanie 145, 150—153. Hypophyse, Beziehung zur Sexu- alität 6—7, 25, bei Infantilismus 30, bei Frühreife 69. Hypoplasie, genitale 8 ff., 12 — 13, 29 — 65, kardiovaskuläre bei Infanti- J lismus 41, bei Frühreife 72. Hypospadie, bei Infantilismus 40. 52. Hysterie, in der Pubertät 96 ff. Ideelle Kohabitation 129. Impotenz, nach Hodenschüssen 19 bis 21, ohne frühere Onanie 132, nach Onanie 155—156, Formen 155. Indifferenz, sexuelle 2 3. Infantilismus 29—65, beim Manne 11—12, beim Weibe 12—13, Formen des 30 ff., genitaler 30—40, somatischer 40 — 41, psychischer 41 bis 47, psychosexueller 47 — 51, und Kryptorchismus 31 ff., körperlich- geistiger Merkmale 40 — 41, juveniler 42 ff., Gerontophilie 48, Masochis- mus 48—49, Briefe 49, senilis 58 ff., Alkoholismus 59, Attentate auf Kin- der 58 — 65, Exhibitionimus 61. Infibulation 178. Innere Sekretion, der Keim- drüsen 5 — 6, anderer endokriner Drüsen 6 — 7, bei Infantilismus 39, 59, bei Frühreife 76, und Dementia praecox 105 — 106, und Menstruation 111 ff., und Onanie 121. Instrumentelle Behandlung, bei Onanie 178. Intellekt, bei Infantilismus 30. Intertrigo 125. Involution s. Rückbildungsvor- gänge. Inzest 79—80. I p s a t i o n 120, im übrigen s. Onanie. Jucken, nach Onanie 158. Jugendliches Aussehen, bei Infantilismus 40. Juveniler Infantilismus 42 ff. Kastration, bei Tieren 13, beim Manne 13—25, beim Weibe 25—28, therapeutische und prophylaktische 14—15, Felddienstfähigkeit bei 18, Spätkastraten 21—24, Geschlechts- trieb nach 24, Erektionsfähigkeit bei 24, Arten der 24, vorzeitiges Kli- makterium bei 26, bei Dementia praecox 105, bei Onanie 179—180. Kehlkopf s. Stimme. Keimdrüsen, extrasekretorischer und innersekretorischer Anteil der 5—6. Keimschlaf 2. Keimstöcke, erstesAuftreten der 2. Keuschheitspickel 145. Kinder, Attentate Infantiler auf 58 bis 65, Geschlechtstrieb und Ge- schlechtsbetätigung 77 ff., Psycho- pathie 78, Onanie 132—134. Kindesmord 115. Kirchenstaat, Kastraten im 14. Kleidung, der Infantilen 44 ff., und Onanie 168—169, und Narzißmus 192. Kleptomanie 93. Klimakterium 2, vorzeitiges bei Kastration der Frauen 26, Störungen im 107—109, virile 110— 111. Klitoridektomie 179. I Knaben, Frühreife 69 ff. I Knochengerüst, bei Infantilis- mus 41, bei Frühreife 71, 73, 75. Kör. perÜbungen 167. Kohabitoide Onanie 139—140. Kolik, bei Onanie 159. Kopftraumen 61. Korsett 191—192. Kotschmieren 102. Krieg, Genitalverletzungen im 17 i bis 18. Sacli-ßegisfer 209 K riegsverwendungsfähig- keit, bei Eunuchoidismus 11. Kryptorchismius 7, infantilisti- sfher Charakter 31 ff., Spermatoge- nese und Zwischenzellen bei 39, Schwachsinn bei 39 ff. K otseher, weibliche 49. Labien, Sensitivität der kleinen 122^ Eeizzustände 125. Latenz, Stadium der sexuellen 3. Leistenbruch 8. Libido 25, bei Frühreife 77 ; Ent- wicklungsgeschichte nach Freud 199 bis 200. Liehen ruber 125. Liebeshaß 96—97. Lipo w an er s. Skopzen. Macrogenetosomia praecox 69. M a d c h e n , Frühreife 67 ff. Malerei, Begabung von Wunder- kindern für 81. Mammillare Onanie 141. Mann, Klimkaterium des 110—111. Manuelle Onanie 137—138. Maskulierang 6. Masochismus, und Infantilismus 48, in der Pubertät 99, und Onanie 141, und Autoerotismus 190—191. Mastodynie 107. „Masturbantenherz" 158. Masturbation s. Onanie. Medikamente, bei Onanie 177 bis 178. Menstruation Verhalten nach Ka- stration 26, vorzeitige 67—68, Sexu- alstörungen und Krisen 111—114, als Ursache der Onanie 123 — 124. Migräne 91—92. Monosexuell 182. u s i k , Begabung von Wunderkin- dern für 81. Muskulatur, erotische Bedeutung 187. Muttergefühle, bei Kastraten 17. Narzißmus 121, 181—202. Nase, Ätzung der Genitalpunkte 179. Nebennieren 6, 69, bei Frühreife 73. Neuralgien, im Klimakterium 107. ' Hirsehfeld, Sexualpathologie. I. Neurasthenie, sexuelle 157 bis 158. N y m ii h o in an i e 109. Objekt wähl, erotische 199—200. Onanie 118 — 180, Kastration bei 15, bei Ovarienmangel 25, angebliche Ursache der Dementia praecox 106, mutuelle 120. Name und Begriff 119 bis 121. Ursachen 121—130, Verbrei- tung und Häufigkeit 131 — 137, Ipsa- tionsformen 137 — 143, Diagnose 143 bis 147, Ipsationsfolgen 148—162. Behandlung 162—180. O n a n i a incompleta 143, i n t e r- rupta 142 — 143. prolongata 142. Onaniekalender 134—135. Operative Therapie, der Ona- nie 178—179. O r a 1 e Onanie 140 — 141. Orgasmus 25. Ovarine 111. Ovariura, Verkümmerung 12 — 13, Veränderungen bei Menstruatio praecox 68. < > xyuris 125. Pädophilie 31 ff., 48, 51 ff. Paradoxia s e x u a 1 i s 78. 1' a r a n o i a c 1 i m a c t e r i c a 107 bis 109. Pedikulosis 125. Periodizität, sexuelle, bei Ka- straten 17. Perücken 189—190 . Perversion, sexuelle, Ursache von Onanie 128. Phallusimitationen 128. Phantomenliebe 201. P i g m e ii t a t i nri , Verschwinden bei kastrierten Frauen 26. Pollution 130. Populäre Literatur, über Ona- nie 151—152. Prolongierte Onanie 142. Prostata, Sekret der, im Ejakulat 21, erotisierende Bedeutung 24, im Klimakterium 110. Prostitution in der Pubertät 104. Pruritus genitalis 107, 125. Pseudohomosexualität 127. Pseudologia phantastica 93 bis 96. 14 210 Sach- Register Psychopathische Konstitu- tion 93, als Ursache der Onanie 126—127, 157, hei Narzißmus 202. Psychosen, klimakterische 107 ff., angebliche, nach Onanie 160 — 161. Psychotherapie 202. Pubertätsdrüse 6, 21. Pubertätskrisen 88—106, 135. Pupille, bei Onanie 145—146. Quartalstrinkerinnen 113. Rechenkünstler, Kinder als 81 bis 85. Eeflexe 158. Reizerscheinungen, bei Ona- nie 146, 158. Reizstellen, erogene 126. Riesen, Genitalien der 30. Riesenwuchs s. Akromegalie. Rückbildungsvorgänge, se- xuelle 2, 58 ff. N lickenmarkssch windsucht, angebliche durch Onanie 151. Säuglingspflege, angebliche Ursache der Onanie 124. Samen flecke, Diagnose 143 — 144. Samenkanälchen.in kryptorchi- schen Hoden 39. Schaulust 202. Schilddrüse 6, 25. Schlaf, und Onanie 167—168. Schlaflosigkeit, und Onanie 127. Schluckhemmungen 91. Schmerzempfindlichkeit. bei Genitalatrophie 9. S c Ii m i n k e n 190. Schmuck, als Lustquelle 188. Schrift, bei Infantilismus 41. Schuldbewußtsein, bei Onanie 153. Schwachsinn, bei Kryptorchis- mus 39 — 40, bei Frühreife 80, bei Wundeikindern 85, und Menstruation 113. Schwangerschaft, bei sexuel- ler Frühreife 77. Schwindler, pathologische 93 bis 96. Selbstbefriedigung 119. Selbstmord, in der Pubertät 97 bis 98, und Onanie 148 ff. Sella turcica, Vergrößerung der 7, bei Frühreife 71, 75. Seniler Infantilismus 58 ff. Sexualkrisen 86—117. Pubertät i 88—106, Klimakterium 106—111. Menstruation 111 — 114, Schwanger- schaft und Geburt 114—117. Skabies 125. S k o p z e n 14. Soziabilität, bei Automonosexu- alismus 199. S p a d o n e s 24. Spätreife 66, Spermatogenese, Fehlen bei Kryptorchisinus 39. Spiegel, Rolle beim Automono- sexualismus 183 ff. Spiegelzimmer 185 — 186. Statistik, der Onanie 131 — 132. S t e r i 1 i s i e r u n g 8, der Geistes- kranken und Verbrecher 15—16. Sterilität 10, 12—13. S t i m m e , und Kehlkopf bei Genital- atrophie 9, bei männlichen Kastra- ten 14, bei kastrierten Frauen 26, bei Infantilismus 43. bei Frühreife 70. 72, 74, 75. Stottern, in der Pubertät 91. „Strohwitwen", Onanie 128. Sturm- und Drangperiode, sexuelle 89. Sublimierung 175. Tagtraum, sexueller 129. Taktische Reize 122—123. Tanz 190. Thibii s. Hämmlinge. T h y m u s d r ü s e 6, 25. Tiere, infantile Sexualität bei 80. Onanie 124, 136. Tiks 91. Transplantation, der Hoden 10. 20—21. Transvestiti smus 192—199. T yph.us 61. Unbewußte Onanie 129—130. Unfruchtbarkeit s. Sterilität. Unterbrochene Onanie (O. in- terrapta) 142—143. ..Unwohlsein" 112. Urethrale Onanie 141. Urtikaria 125, 158. Sach- Register 211 Vasektomie 15. Vasomotorische Störungen 107, 112, 158. Veitstanz 90—91. Verbrecher, Sterilisierung der 15 bis 16, jugendliche 98—103. Vererbung, des Verbrechens 15. Verführung, zur Onanie 121—122. Vogel schädel 52, 63. Wallungen, bei kastrierten Frauen 27, im Klimakterium 107. Wasserbehandlung 166 — 167. Weib, Onanie beim 135—136. Weißer Fluß 125. Willenserzieh u ng bei Onanie 171 ff. Wunderkinder, Infantilismus 41, Sexualleben der 80, Seelenleben und künstlerische Begabung 81 ff., Lü- becker 81—82, fränkisches 82, Braun- schweiger 82. Zentraler Sexualdrang 5. Zeuginnen, menstruierende 113 bis 114. Zirbeldrüse s. Epiphyse. Zuhälter, in der Pubertät 103 bis 104. Zurechnungsfähigkeit, bei Infantilismus 55, 58, 59, der Kinder- schänder 64, in der Menstruation 112 ,bis 114, in Schwangerschaft und Ge- burt 114—117. Zwangszustände, krankhafte 93. Zwerge, Genitalien bei 40, Zwerg- wuchs bei Infantilismus 41. Zwischenzellen, Leydi g'sche 5—6, 9—10, 20—21, 25, bei Kryptor- chismus 39, im Klimakterium 111. ' Zwittertum, und Frühreife 74—76. A.JMarcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende von Dr. MagllUS HirSCllfeld, Sanitätsrat in Berlin Zweiter Teil: Sexuelle Zwischenstufen Das männliche Weib und der weibliche Mann Mit 20 Photographien auf 7 Tafeln Preis einschl. Teuerungszuschlag geh. M. 24.65, geb. M. 28.15 Inhalt: Hermaphroditismus, Androgynie, Transvestismus. — Homosexualität und Metatropismus Dritter Teil Störungen im Sexualstoffwechsel mit besonderer Berücksichtigung der Impotenz Mit 5 Tafeln (Photographien, Kurven und einem Innervationschema) Inhalt : Fetischismus. y — Hypererotismus. — Impotenz. — Sexualneurosen. — Exhibitionismus.. Preis einschl. Teuerungszuschlag geh. M. 48.40, geb." M. 50. 10 Auszüge aus Besprechungen: Wer sieh also auf dem in Rede stehenden Gebiete Rat erholen will, kann sicher sein, in dem Buche befriedigende Auskunft zu erhalten. Man lese z. B. das Kapitel Uber „bexualkrisen", deren Darstellung nach der Meinung des Referenten kaum ii'her- troffen werden kann. Derniatologiselies Centraiblatt. c-- a *,fie einzelnen Kapitelüberschriften andeuten, sind mancherlei Beziehungen zur Kinderheilkunde vorbanden. Es mag betont sein, daß der Verfasser — wo das Kindes- alter in trage kommt - im allgemeinen kritisch und vorsichtig verfährt und sich von Übertreibungen fernhält, die manchen anderen der Sexualpathologen den Kredit bei den Kinderkliniken! verdorben haben. Monatsschrift für Kinderheilkunde. Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende Von Dr. med. Magnus Hirschfeld Spezialarzt für nervöse und psychische Leiden in Berlin Zweiter Teil BONN 1918 A. Marcus & E.Webers Verlag Dr. iur. Albert Ahn Sexuelle Zwischenstufen Das männliche Weib und der weibliche Mann Dr. Magnus Hirschfeld Sanitätsrat in Berlin lit zwanzig Photographien auf sieben Tafeln BONN 1918 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. iur. Albert Ahn Nachdruck verboten. Alle Kechte, besonders das der Übersetzung m fremde Sprachen, vorbehalten." Copyright by A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn 1918. Druck : Otto Wigand'sche Buchdruckerei G. m. b. H. . Laipzig. Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel. Herinaphroditisnius Die Trennung der Geschlechter — Unterschied männlicher und weib- licher Keimzellen in B a u und Bewegung — Samen und Ei als S y m b o 1 von Mann und Weib — I s o g a m e t e n in Empfängnis- und Angriffs Stellung — • Urgeschlechtszellen — Das interstitielle Laboratorium - Vndrin und Gynäz.in — Die Wanderung der Geschlechtsdrüsen — Ektopie und Kryptorchismus — Die tubulären Ausfuhrorgane (Müller -che, Wölfische und Thiersche Gänge) — ■ Verdoppelung von Gebär- mutter und Scheide — Die Urogenital v e rb r ü c k u n g — Die E r Schließung des Weibes — Außere Geschlechtsdifferenzierung — Weibliche Quer- und männliche L ä n g s entwicklung — Glanduläre tubuläre und konjugale Geschlechts w e r k z e u g e — Hermaphroditische ßildungs e x z e s s e und -defekte ■ — Vergleichende Tabelle der ungeschlechtlichen, männlichen, weiblichen und zwitterhafte)! Genitalformation — Ist Zwitterbildung zentral oder peripher bedingt? — Mechanische, trophische und psychische Erklärungen des Hermaphroditis- mus — Hermaphroditische Geschwister — Das degenerätive Moment — <Y 1 1 e Geschlechtsvermischungen beruhen auf Funktionsstörungen im polyglandulären System — Befunde an den Nebennieren ■ — Ein Khemann und angeblicher Vater dreier Kinder stellt sich nach seinem Tode als Frau heraus — Vorstufen des Hermaphroditismus — Beim Manne Kryptorchismus und Hypospadie — . Beim Weibe Klitoris hyperplasie und Uterus h y p o plasie — Männliches Mädchen mit Ober entwicklung der äußeren und Unter entwicklung der inneren Geni- talien (Bild) — IrrtümlicheGeschlechtsbestimmung — Eier stocke hinter männlicher und Hoden hinter weiblicher Fassade — Men struation aus dem Penis — Menschen unbestimmbaren Geschlechts - Eine als Frau lebende Person mit nachgewiesenen Samenzellen — Krankenschwester heiratet eine von ihr gepflegte Patientin, deren mann liches Geschlecht sie entdeckt — Hermaphroditismus und Militär- untauglichkeit — Spermasekretion bei äußerlich weiblicher Genital und Körperbeschaffenheit — Aus eines Mannes Mädcheniahren und aus eines Mädchens Mannesjahren — Zwei Schwestern werden Brüder - Drei hermaphroditische Geschwister — Geschlechtsberichtigung im drit t en Lebenssiebentel — Bertha wünscht als Berthold getauft und eingesegnet zu werden — Ein Dienstmädchen, die sich dreimal als Kriegsfrei- willige meldete, wird vom Garnisonarzt dem Verfasser überwiesen und als männlich festgestellt ■ — ■ Ein fälschlicherweise als Spion festgenommenes Mädchen wird Soldat — Scheu der Eltern vor der Geschlechtsberichtigung ihrer Kinder — Ein Vater schlägt seine Tochter, die in Wirklichkeit ein Sohn ist, wegen ihres jungenhaften Benehmens — Ein Arzt be- handelt die hermaphroditischen Geschlechtsorgane eines Neugeborenen mit Seite 1 VI Inhaltsverzeichnis Seite Bleiwasserumschlägen — Anmeldung eines Neugeborenen beim Standesamt als Kind zweifelhaften Geschlechts — Anfänglich richtig und später falsch bestimmtes Geschlecht — Schicksale des Zwitters Elisabeth Wilhelm Moll — Ein als Mann berichtigtes Mädchen wird in ein Weib zurückverwandelt, weil sie sich in einen Mann verliebt hat, den sie heiratet— Schwangere Soldaten und Matrosen — Sind Hermaphroditen gebär fähig? — Zeugungsfähige Hermaphroditen — Ein Gatte und Vater, der bis zu seinem 23. Jahre als Frau lebte — Personen, die ihr Leben ohne Kenntnis ihres wahren Geschlechts verbringen — V e r breitung des Zwittertums — Hermaphroditen, die eine Geschlechtsberich tigung ablehnen — Unzulänglichkeit der bisherigen Eintei- lungen des Hermaphroditismus- — Der neutrale und duale Herm- aphroditismus — Künstliche Hermaphrodisierung — Die zwittrige Pubertätsdrüse (Steinach) — Die Zwitterdrüse als Grundursache aller Arten von körperlichem und seelischem Zwittertum — Menstruierende Männer — Der Hodeneierstock (ovotestis) — Verkehr von Zwit- tern mit Personen beiderlei Geschlechts — Angebliche wechselseitige Befruchtung von Ehegatten — Selbst befruchtung — Unbefleckte Empfäng- nis — Nachweis von Sperma und Menstruation bei der gleichen Person — Beweisen menstruelle Blutungen weibliches Geschlecht? ~ Morphologisches und funktionelles Zwittertum — Eferstocks hoden in Leistenbrüchen — Nachweis männlicher und weiblicher Keimzellen bei Augusta Persdotter — Hodengeschwulst im Eierstock (Adenoma tubuläre testiculare ovarii) — Rückgang der männlichen Sexualcharaktere durch operative Entfernung einer testikulären Eierstocks- geschwulst — Vermischung oder Verwischung der Geschlechts- unterschiede — Verschiedene Formen der Zwitterdrüse — Die v i e r Hauptgruppen der Geschlechtsübergänge — Unhaltbare Unter- scheidung von echtem und falschem Hermaphroditismus — Ein- seitiges und doppelseitiges Zwittertum — Supra Position und J u x t a Position männlicher und weiblicher Geschlechtsorgane — V e r doppelung der äußeren Schamteile. Zw eites Kapitel. Androgynie 93 Die Hermaphroditendarstellungen antiker Künstler — Diskongruenz ist nicht immer Disharmonie — Enge und weite Fassung des Z w i 1 1 e r b e g r i f f e s — H y p o p 1 a s t i s c h e , m e t a p 1 a s t i s c h e und aktivierte Androgynie — Endokrine Zusammenhänge — Propter andrinum vir id est, quod est — Propter gynaecinum mulier id est, quod est — Die von Steinach experimentell bewirkte Ver- männlichung, Verweiblichung und Zwittrigkeit — • Die geschlechtsspezifische Beschaffenheit der Gonaden — Männ- liche und weibliche Erotisierung — Antagonismus der Sexual- hormone — Tabellarische Gegenüberstellung der Geschlechts- typen: Mann, Weib, weiblicher Mann, männliches Weib (M., W., \vM., mW.) — Unterschiede in Körpergröße, Knochenbau, Schädel, Becken, Ge- lenken, Muskulatur, Händen, Handschrift, Mimik, Gestik, Gang, Gruß, Fett- gewebe, Haut, Kreuzbeingrübchen, Ausdünstung, Haarkleid, Milchdrüsen. Kehlkopf, Stimme, Atmung — Weiblicher a r c u s und männlicher a n g u - 1 u s — Geschlechtliche Verschiedenheiten der inneren Organe — Uber- gewicht der Brust organe beim Manne und Bauch organe beim Weibe — Differenzen in der Zusammensetzung des Blutes — Die Vasomotoren femininer Männer — Geschlechts Charakter der inner sekreto- VII i- 1 s c h e n Drüsen (Schilddrüse, Hypophyse, Zirbel, Nebennieren, Thymus, Pankreas und Epithelkörperchen) — Die größere Häufigkeit der B a s e d o w - sehen Krankheit beim Weibe und Addison sehen Krankheit beim Manne — Hypophysenveränderung durch die S c h w a n g e r s c h a ft — Geschlechts- eigentümlichkeiten der Gehirnstruktur — Stärkere Entwicklung des Muskelzentrums beim Manne und Sprachzentrums beim .Weibe — Die größere Nervenmasse des weiblichen Rückenmarks — Ver- schiedenheit der Gefühlsbetonung und Geschmacksrichtung — Farbenblindheit zehnmal häufiger bei Männern als bei Frauen — Die weibliche Labilität — Gemütsbewegungen und Mienenspiel der Yndrogynen — Uberempfindlichkeit femininer Männer und Unterempfindlichkeit viriler Frauen — Männliche Hysteroneurasthenie als Folge der femininen Konstitution (gut achtliehes Beispiel) — Parallelismus zwischen „femininen Einschlägen" beim Manne und „eingesprengten" Eierstocksgeweben, sowie „virilen Einschlägen" beim Weibe und eingesprengten Hodenzellen im im Eierstock — Unbegrenzte Mannigfaltigkeit androgyner Varianten — Besonders häufige Kombinationen androgyner Einzelerscheinungen — Uber das Verhältnis genitaler körperlicher, seelischer und psychosexueller Ge NChlechtsatypien — Diagnostische Bedeutung des Geschlechts gefühls und Geschlechtswillens — Irrtümlicher Homosexualitätsverdacht - Der androgyne Drang — Außenprojektionen des endokrin be dingten Feminismus und Masculismus - Übergewicht der sexuel - lenPsycheüberdas S o m a g e s c h 1 e c h t — Androgyne Wunsch- und Phantasie Vorstellungen — Barthaß femininer Männer und Brust- haß viriler Frauen — Der androgyne Wahn — Beispiel eines an seine Weibbrüstigkeit fixierten Mannes mit charakteristischen i Briefstellen. tt es Kapitel. Trans Yestitisiuus . . . .139 Definition des Transvestitismus — Der psychologische Kern dieser Erscheinung - Ver- oder U m kleidungslrieb — Geschlechtliche Ver- hüllung oder Enthüllung — Einfluß der Gewandung auf Stimmung und Leistungsfähigkeit der Transvestiten — Abgrenzung des Transvestitismus von der Homosexualität — Metatropische Trans- vestiten — Zu b e i d e n Geschlechtern neigende Transvestiten — Auto- monosexuelle Transvestiten — Gestellungspflichtige in Frauenkleidern — Ein Oberingenieur mit 15 Korsetts — Oberlehrer Klara — Beklemmungs- und Depressionszustände bei gewaltsamer Unterdrückung des transvestitischen Dranges — Femininer Mann, welcher seine Gattin um ihre Schwangerschaft und Entbindung be- neidet — Der Transvestitismus und die Bestimmungen über groben Unfug und Erregung öffentlichen Ärgernisses — Drang vieler Transvestiten in andersgeschlechtlicher Tracht spazieren zu gehen — Ein Damen- schneider, der seine „männliche Existenz" als Verkleidung betrachtet — Ein anderer Damenschneider mit Menstruationsäquivalenten — Verhältnis des männlichen zum weiblichen ' „Ich" — Der Mann als Freundin seiner Frau — Häufige Kombination von Androgynie, Transvestitismus, Homosexualität und Hysteroneurasthenie — Transvesti- tismus und Militärtauglichkeit — Ein transvestitischer Haupt- mann — Ausführlicher Bericht einer Frau über den Transvestitismus ihres Mannes — Urlauber in Frauenkleidung — Frauen als Soldaten- Notwendigkeit der Befragung jedes Patienten nach seinem Geschlechts- VII I Inhaltsverzeichnis Seite leben - Neigung zu weiblichen Handarbeiten - Transvestitismus und Beruf — Der Trommler und der Pfeifer einer Kompagnie verheiraten sich — Ein Mädchen, die a n S t e 1 1 e i h r e s B r u d e r s ins Feld will — Uniformliebe transvestitischer Frauen — Sehnsucht der Transvestiten. sich in der Tracht des andern Geschlechts photographieren zu lassen — Die Neigung, Zwischenstufentrachten zu z e ich n en — Trans- vestiten, die Gravidität vortäuschen — Transvestiten träume — Übergang vom androgynen zum transveslitischen Drang — Nam ens - transvestitismus — Frauen mit männlichen und Männer mit weib- lichen Pseudonymen — Selbstmeldungen von Transvestiten bei der Polizei unter Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses — Transvestitis- mus und Spionageverdacht — Partieller und kompletter Transvestitismus — Weibliche Unterkleidung unter männlicher Oberkleidung und umgekehrt — Einzelne Kleidungsstücke, die beim Manne einen femininen oder beim Weibe einen maskulinen Einschlag ver- raten — Männer, die sich in Frauentracht und Frauen, die sich in Männer- tracht töten — Behandlung des Transvestitismus — Organ- therapie — Soll der Arzt den Transvestiten die Umkleidung raten oder wider raten? — Die Ehefrage — Vererbung des Trans vestilismus. Viertes Kapitel. Homosexualität Ableitung der konträren Sexualität vom männlichen Feminismus und weiblichen Virilismus — Ursprung und Bedeutung des Wortes „homo- sexual" — P 1 a t o n als Quelle des Begriffes Uranismus — Das kon- stitutionell Wurzelhafte und charakterologiseh Triebhafte als Kennzeichen echter Homosexualität — P s e u d o homosexuelle Akte (aus Not, Gefälligkeit und Eigennutz) — Das Wesen der Bi sexual i- t ä t — Die p u b i s c h e Bisexualitätsperiode — Differential- d i a g n o s e zwischen Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualitäl bei Jugendlichen — Liebe zu Geschwisterpaaren — Er- scheinungsformen männlicher und weiblicher Bisexualität — Tar- d i v e und periodische Homosexualität — Die negative Seite der Homosexualität — Das Ausbleiben der heterosexuellen Affini- tät — Die s e e 1 i s c Ii e Fesselung an das gleiche Geschlecht — Die intersexuelle Konstitution — Das Bewußtwerden der Triebinversion — Nervenstörungen durch erzwungene helero ■ sexuelle Betätigung — Homosexuelle Ehefrauen — Heirats- gründe homosexueller Männer und Frauen — Brautstandsleiden urnischer Personen — Mysogynie und Androphobie — Das urnische Kind -- Die Anhänglichkeit urnischer Söhne an die M u 1 1 e r und urnischer Töchter an den Vater — Die gleichgeschlechtliche Gebundenheit — Homosexuelle Schüler als Sexualziel heterosexueller Kameraden — Die Ein- stellung des Sexualzentrums auf das adäquate Geschlechts- ziel — Die Eifersucht der Homosexuellen — Wesens änderung Homosexueller in Gesellschaft ihrer Typen — Ästhetische Objek- tivierung homoerotischer Strömungen — Das Traumleben der Homosexuellen — Diagnostische Verwertung des Schamgefühls — Der sexuelle Treppenreflex — Fehlerhafte Einteilung der Homosexuel- len in Aktive und Passive — Die vier Hauptformen homosexueller Betätigung — Die manuelle, orale und femorale Verkehrsform — Die Analogie zwischen weiblichem Instrumental - und männlichem Anal verkehr — Die Ajülinctio — Stereotypie der Verkehrsweise — Inhaltsverzeichnis IX Uni erdrück barkeil des konlrärsexuellen Triebes - Die Er ^ Ziehung urnischer Kinder - Bedeutung der Kinderspiele - Die R eifezeit homosexueller Knaben und Mädchen - Die Einteilung homo sexueller Männer und Frauen in die zwei Hauptgruppen der Feminineren und Virileren - Die relative Konstanz des anziehenden Typu - Einteilung der Homosexuellen in Ephebophile und Androp h i 1 e - Nebengruppen der Pädophilen und G e r o n t o p h i 1 e n - Homo- sexueller Fetischismus - Homosexuelle mit t abilerem und u, iYr Ne-«e-- • Verhältnis der P s y c h o pa t h i s c h e n zur intersexuellen Konstitution - Die Homosexualität als V o i b u g;u n g s m , 1 1. e 1 der Degeneration - Die e r b 1 i c h e Belastung zum Uranismus - Die urnische Familie - Um i sc he Ge nlt w 1 s 1 ^ r ^5 t !i o 1 o g i s c h e Anatomie der Geschlechtsdrüsen Homosexueller - Die Unmöglichkeit, die Homosexualität auf psychi- schem Wege zu beseitigen - Dürfen Homosexuelle heiraten - Aus bed,üerrr,°Prra1tiVr *ehandh^ Objektive Heilungs- bedurftigkeit und subjektives Ueilungs b e d ü r f n i s. Fünftes Kapitel. Metatropismus nZ<!lT*lS ^ W,erbende' keimst reuende, die Frau als der 004 , 1 , » u c ji u e . nie rrau als rier ptv wartende und empfangende Teil - Männliche Aggression und werbliche Anlockung - Wirkung des Andrins auf das Muskel gewebe und der Einfluß des Gynäzins auf die F e ( t bildung — Der 1 n v P rV;'Ir°P,SrS rd,der M 6 1 a ,r0pismus oder die A g g r e s s i 0 n Inversion - Der Trieb zu leiten und zu leiden 1 Leid u Leidsucht und Leidenschaft - Der feminine Masochismus des Mannes und der virile Sadismus des Weibes - Beziehungen d s Met Iropismus zur konträren Sexualempfindung - Das masochisüsche Wen, und der sadistische Mann als Trieb Steigerungen, der m och s< sc Mann und das sadistische Weib als Trieb umkehrung™ - S persönlicher Termini (Sadismus und Masochismus) durch sachliche - -Wendungen gegen die Bezeichnung A lgolagnie (Schmerz ü^tern- e,t) - Einste lung aller Sinnesorgane des metalropischen Mannes auf m s s , v e r e Jrritamenle - P a s s i 0 p h i 1 i e der Neurotiker - Kontra zwischen sozialer Stellung und sexuellen Neigungen - Mit i als Lustquelle - Freude der II y p e r a k t i vis t e n und H y p e r > a s s h-oni ln an ^^^.Vorgängen aller Art - Eigenschaften, die den Mela- üopisten am Weibe objektiv anziehen - Vorliebe für starke Frauen - R feTer T tCren - ™d Prostitution - Die Pol e der Masseurin Kleidungssymbole des Metatropislen - zu sein? - Erniedrigung im Stand (Servilismus) - Erniedrigung im v sV; U sVl e M f ttatl0I,iSTS) - E™ed"^ - Geschlecht J ran s mU, 1 J rf « Metatropismus) - Erniedrigung zum Tier (zoomi- m s c Ii e r Metatropismus) - Erniedrigung zur Sache (impers 11 r Metatropismus) - Metatropische Verkehrs formen — - Anbahnu - Schriftwechsel Wortwechsel - Verlangen nach strenger Erziehung nach erniedrigenden Arbeiten, nach Freiheitsberaubung (LTga sme atrop.smus), nach Tritten und Schlägen (F 1 a g e 1 1 a n t i s - mus) - Pikazismus - Kopro- und ürolagnie - Sukkubis- m u s - V e r k a p p t e r Metatropismus - Der tiefe Sinn der Worte Passion und Leidenschaft - Visueller Metatropismus - Die meta Pi sehe Frau - Vorliebe der Metalropislin für den femininen Männer- X tvo — George Sand — Was wünscht die melalropische Frau selber zu sein? - Der weibliche Inkubismus und andere Verkehrsformen meta- tropischer Frauen - Metatropismus h e t e r o sexualis und horoo- sexualis - Erotisch betonte Selbstquälereien - Bespiele sexueller Selbstverstümmelung — Beziehungen zwischen religiöser und sexueller Passiophilie- Abteilung des Fleisches als Fleischeslust- Die a 1 1 g e m e i n e Bedeutung der Passiophilie — Metatropisten b -riefe. Verzeichnis der Tafeln /.wischen Seite Tafel I. Vorstufe zum Hermaphrodiusmus ^ ^ II. Geschlechlsberichügung im U. Lebensjahr o*— &ö "„ Hl. Geschlechtsberichtigung im 1. Lebensjahr in/Zinr l IV. Metaplaslische Androgynie iS_i«r V. Feminismus beim Manne im—TM „ VI. Virilismus beim Weibe • • ^ »Jj „ Vli. Metatropismus • • ^ dil I. KAPITEL Hermaphroditismus Die T r e n n u n g der Geschlechter — Unterschied männlicher und weiblicher Keim- zellen in Bau und Bewegung - Samen und Ei als Symbol von Mann und Weib — Isogameten in Empfängnis- und Angriffsstellung - Urgeschlechtszellen — Das interstitielle Laboratorium — Andrin und Gynäzin — Die Wan- derung der Geschlechtsdrüsen — Ektopie und Kryptorchismus - Die t u h u 1 ä r e n Ausfuhrorgane (Müllersche, Wolffsche und Thiersche Gänge) - Verdoppelung von Gebärmutter und Scheide — Die Urogenital v e r b r ü c k u n g — Die Er Schließung des Weibes — Äußere Geschlechtsdifferenzierung - Weibliche JÜm'm mä,nnliche Längsentwicklung - Glanduläre, tubuläre und konjugale Geschlechts Werkzeuge- Hermaphroditische Bildungs e x z e s s e und - d e f e k t e - Vergleichende Tabelle der ungeschlechtlichen, männlichen, weiblichen k a- ztwoltt^rh^en Genitalformation - Ist Zwitterbildung zentral oder peripher bedingt? - Mechanische, trophische und psychische Erklärungen des Hermaphroditis- mus - Herraaphroditische G e s c h w i s t e r - Das degenerative Moment - Alle Geschlech tsverrmschungen beruhen auf Funktionsstörungen im polyglandu- Vater dreier Kinder stellt sich nach seinem Tode als Frau heraus - Vor- w .J^He^aphroditismus - Beim Manne Kryptorchismus und Hypospadie - Beim Weibe Klitoris h y p e r plasie und Uterus h y p o plasie - Männliches Mädchen mit über entwicklung der äußeren und U n t e r entwicklung der inneren Genitalien - sT Irrtumllche Geschlechtsbestimmung — Eierstöcke hinter mannheher und Hoden hinter weiblicher Fassade - Menstruation aus dem Penis - Menschen unbestimmbaren Geschlechts - Eine als Frau lebende Person mit nflätP TT"?11 S/m enzeilen - Krankenschwester heiratet eine von ihr T- Ui! täruft'au^r11 rinnlf GS ^SChleCht Sie entdMkt - Hermaphroditismus und ™i v ■- u u i llLchkeit - Spermasekretion bei äußerlich weiblicher Genital- rhet JP SCiaffenheU ~ AUS dnes Mannes Mädchenjahren und aus eines ml chens Mannesjahren - Zwei Schwestern werden Brüder - DrSThemL ÄÄ^S^hm G(escfhleChtSberichÜgunB ™ dritten Lebenssfeb nte ™ dÄTetlr^i??" getauft und eingesegnet zu werden _ Ein Dienstmädchen, vL!l l 3 Kriegsf rei willige meldete, wird vom Garnisonarzt dem Verfasser uberwiesen und als männlich festgestellt - Ein fälschlicher* eisTals Spfon SSTSTKe? MChZ Vr,d SOlKat 7 SCh6U EUem VOf d6r «eXhtsbericr Snhf^t ~ Em Vater schlägt seine Tochter. die i n W i r k 1 i c h k e i t e i n PhrodrtiscLnWT^hfLJUngenhaften Ben6hmenS ~ Ein Arzt Gehandelt die hei Anme Wut Ges£hlechutsorgane eines Neugeborenen mit Bleiwasserumschlägen - sch echtreS NrfbTfn b?m Standesamt als Kind zweifelhafte^.- H l , / - Anfänglich richtig und später falsch bestimmtes Geschlecht - w in ein W h T~ WÜhelm MoL1 ~ Ein als Mann beri htfg es MädcheT l^Jet S ^uruckverwandelt, weil sie sich in einen Mann verhebt hat den sie h! rS cht ffWang<fe Soldaten ™* Matrosen - Sind Hermaphroditen g bär- Hirschfeld, Sexualpathologie. II. s I. Kapitel: Hermaphroditismus fähig ? - Zeugungsfähige Hermaphroditen - Ein Gatte und Vater, der bis zu seinem 23, Jahre als Frau lebte - Personen, die ihr Üben ohne Kenn n.s i h r e s w a hren Geschlechts verbringen -Verbreitung des Zwit ertums - Hermaphroditen, die eine Geschlechtsberichtigung ablehnen - Unzuläng- lichkeit der bisherigen E i n t e i 1 u n g e n des Hermaphroditismus - Der neu- trale und duale Hermaphroditismus - Künstliche Hermaphrodisierung - De zwUtrige P u b e r t ä t s dr ü s e (Steinach) - Die Zwitterdrüse als Grund- u sache aller Arten von körperlichem und seelischem ZwUtertum - Menstruierende Männer - Der II o d e n e i e r s t o c k (o v o t e s t i s) - Verkehr von Zwittern mit Personen beiderlei Geschlechts - Angebliche wechselseitige Befruchtung von Ehegatten - Selbstbefruchtung - Unbefleckte Empfängnis - Nachweis von Sperma und Menstruation bei der gleichen Person - Beweisen menstruelle Blutungen weibliches Geschlecht ? — Morphologisches und f u n k 1 1 o n e 1 1 e s Zwittertum - Eierstockshoden in Leistenbrüchen - Nachweis männlicher und weiblicher Keimzellen bei Augusta Persdotter — Hodengeschwulst im Eier- stock (Adenoma tubuläre testiculare ovarii) - Rückgang der männlichen Sexualcharaktere durch operative Entfernung einer testikulären Eierstocksgeschwulst — Vermischung*oder Verwischung der Geschlechtsunterschiede — Ver- schiedene Formen der Zwitterdrüse — i Die vier Hauptgruppen der Ge- schlechtsübergknge — Unhaltbare Unterscheidung von echtem und fal- schem Hermaphroditismus — Einseitiges und doppelseitiges Zwitter- tum — S u p r a Position und J u x t a Position männlicher und weiblicher Geschlechts, organe — Verdoppelung der äußeren Schamteile. Die menschliche Entwicklung erzielt im Gegensatz zu vielen zwitterhaft gebildeten und eingeschlechtlich sich fortpflan- zenden Lebewesen zwei getrennte Geschlechter: die in körper- licher und seelischer Beschaffenheit mannigfach voneinander unter- schiedenen Geschlechtsgruppen der Männer und Frauen. Beide sind aus der Verschmelzung zweier Keimzellen entstanden, einer männlichen und weiblichen Gamete, der Samen - und der Eizelle. Männlich pflegen wir Menschen zu nennen, in deren Körper auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung Samenzellen reifen; weiblich solche, die Eizellen hervorbringen. Die Zahl der Eier, welche in einem Weibe zwischen Pubertät und Klimakterium keimen und den Eierstock verlassen, beträgt mehrere Hunderte, die Menge der Samenzellen, welche in einem Manne entstehen und abgestoßen werden, beläuft sich auf viele Hunderte von Millionen. Im Ver- gleich zu dieser ungeheuren Anzahl ist es ein verhältnismäßig- seltenes Vorkommnis, fast könnte man sagen ein Ausnahmefall, wenn zwei der unendlich vielen Keimzellen sich begegnen und ver- binden, um ein neues Leben zu begründen, als die gemeinsame Frucht von Vater und Mutter mit den ererbten Eigenschaften beider, aus der dann wieder in nahezu der einen Hälfte der Fälle ein männliches Wesen, ein Sohn, in der anderen ein Mädchen, eine Tochter, wird. Die männliche und weibliche Keimzelle, jede für sich eine einzige vom Elternorganismus abgespaltete Körperzelle, zeigen sehr bedeutsame Verschiedenheiten. Schon ihr Umfang ist ungemein 3 verschieden. Die Eizellen sind bei weitem die größten, die Samenzellen die kleinsten unter allen Zellenarten des Organis- mus. Auch in ihrer Form unterscheiden sie sich sehr. Die Eizelle ist kugelrund. Sie enthält einen bläschenförmigen, von Chromatin- strängen durchsetzten Eikern. In ihm sieht man eine matte Scheibe, den Keimfleck. Um den Eikern ist das aus Dotterkörnchen be- stehende E ipl asm a' gelagert. Am Plasmarande findet sich als Eihülle ein hellerer Hof, die Zona pellucida. Wie ganz anders sind die Samenzellen gestaltet. Ursprünglich zeigen sie als Hoden- zellen oder Spermiden genau so wie die Eizelle noch ganz das Aus- sehen gewöhnlicher tierischer Zellen mit konzentrischem Kern, Plasma und Hof. Verlassen sie aber ihre Ursprungsstelle, wandeln sie sich dergestalt um; daß aus dem Zellkern der fast ganz aus kom- paktem Chromatin bestehende Kopfabschnitt des Samenfädchens wird, an den sich der plasmatische Teil, dünn in die Länge gezogen, als schlängelnder Schwanzabschnitt anschließt. Treffend unter- scheidet auf Grund dieser Beschaffenheit Schau dinn den Kopf- abschnitt der Samenzelle als lokomotorischen Kern von dem trophischen Kern der weiblichen Zelle. Mit dieser Benennung wird schon dem dritten und vierten wichtigen Unterschied Rechnung getragen, der neben Größe und Form zwischen Ei- und Samen- zelle besteht, ihrer Loslösung und Fortbewegung. Die Ablösung eines Eies erfolgt ,beim Menschen der W i 1 1 - kür entzogen, periodisch, durchschnittlich dreizehnmal in einem Jahre, im ganzen Frauenleben drei- bis vierhundertmal. Die Abstoßung des Samens aber ist nicht an die Zeit gebunden, sie unter- liegt der Willkür in hohem Grade und findet im a k t i v e n Vorgehen statt. Freilich treten, wenn willkürliche Ejakulationen unter- bleiben, auch unwillkürliche Samenabgänge — Pollutionen auf, aber sie bilden für den geschlechtsreifen Mann nicht eine Norm, wie für die Frau die mit der monatlichen Regel verbundene Ovu- lation. Die Eiabstoßung steht demnach auch nicht wie die Samen- absonderung mit der Begattung in unmittelbarem Zusammenhang. Die Abtrennung des Eies vom weiblichen Körper vollzieht sich ganz unabhängig von dem Geschlechtsverkehr und sehr zum Unter- schied von der Samenabstoßung unmerklich und ohne orgastische Lust. In hohem Maße weicht endlich auch die Weiterbewegung der Keimzellen, nachdem sie die Eibläschen und Samenbläschen ver- lassen haben, voneinander ab. Hat in einem Eibläschen des Eier- stocks der Innendruck des Liquor folliculi einen so hohen Grad er- reicht, daß die gedehnte Hülle platzt, was bei dem jeweils reifenden Ei 28 Tage zu dauern pflegt, so wird es herausgeschleudert und ge- langt durch Aspiration auf das einschichtige Flimmerepithel der Tube. Durch die Flimmerströmung gebärmutterwärts getrieben, 1* 4 I. Kapitel: Hermaphroditismus macht es zunächst in einer Tubenausbuchtung, die wir Ampulle nennen, halt. In diesem Warteraum harrt es einige Tage passiv der Dinge, die da kommen sollen. Tritt Befruchtung durch Ein- dringen einer männlichen Keimzelle ein, so tragen die schwingenden Flimmerhärchen das befruchtete Ei weiter, bis es sich in den blut- strotzenden weichen Schleimhautteppich am Gebärmuttergrund ein- bettet und einnistet. Bleibt es aber unbefruchtet, so geht das Ei, ebenso wie der sich immer wieder erneuernde Brutapparat, in der Gebärmutter zugrunde. Beide verlassen dann unverrichteterweise durch den Muttermund den Körper des Weibes. Ganz anders verhalten sich die aktiv vom Manne aus den Samenbläschen geschleuderten Samenzellen. Hat, wie wir sahen, bei der Periode jeweils nur eine einzige Eizelle den Eierstock ver- lassen, so sind in einem Kubikzentimeter Samen von Lode nicht weniger als 60 Millionen Samenzellen, und demientsprechend in einem ergiebigeren Ejakulat von 5 ccm 300 Millionen männlicher Keime ermittelt worden. Fast alle führen mit ihrem schlängelnden Geißelfaden rudernde Bewegungen aus; die Samenelemente mancher Tierformen bewegen sich sogar kriechend fort. In selb- ständigerLokomotron durchdringen sie den Muttermund und bahnen sich, vom Ei vermutlich chemotaktisch angezogen, im Dunkel durch den Uterus und die enge Tubenostie ihren Weg, bis sie die harrend ruhende weibliche Keimzelle gefunden haben. Diese wird umschwärmt, aber nur einer einzigen Spermie, nämlich der, welche vermöge irgendeiner Tüchtigkeit vor den übrigen einen Vor- sprung gewinnt, sendet die Rindenschicht des Eis einen plasma- tischen Fortsatz entgegen, den Empfängnishügel, in den sich der Kopf der Samenzelle einbohrt. Gleichzeitig hebt sich von der Ober- fläche des Eiplasmas eine festere Membran ab, wodurch es den anderen Samenfädchen unmöglich gemacht wird, sich mit dem Ei zu verbinden. Millionen von ihüen gehen dann un verrichteter Sache zugrunde. Wenn wir in den vereinigten Keimzellen den primären mann- weiblichen Grundstock erblicken, um den sich durch Zellteilung das übrige Weib und der übrige Mann gruppieren, so tritt uns in dem Verhalten der männlichen zu der weiblichen Urzelle bereits sehr vieles entgegen, was später körperlich und seelisch den ganzen Mann und das ganze Weib kennzeichnen: im Ei die erwartende, lockende, empfangende, aufnehmende, passive Wesenheit, im Samen die suchende, angreifende», motorische und aktive Wesenheit. Wie sehr der aktive und passive Drang als primärer Faktor die Form beeinflußt, lehren jene tierischen Protisten, bei denen sich zwei herumschwärmende Keimzellen von völlig gleicher Gestalt, sogenannte Isogameten, durch Kopulation verschmelzen, um aus sich ein neues drittes zu erzeugen. Ohne irgendwelche Formunter- I. Kapitel: Hermaphroditismus 5 schiede bewegen sie sieh anfangs durcheinander. Selbst mit den schärfsten Vergrößerungsgläsern ist nichts zu entdecken, was als männlich oder weiblich gedeutet werden könnte. Eines Tages aber heften sieh einige von ihnen auf einer festen Unterlage an, ziehen die Geißelfäden, mit denen sie sich bewegen, in ihren plasmatischen Körper ein. Lediglich durch diese Empfangsstellung kennzeichnen sie sich als weibliche Gameten, die nun auf die übrigen sich frei bewegenden eine starke Anziehungskraft ausüben. Hunderte dieser unruhig vibrierenden Gameten, die wir nun als die männlichen zu betrachten haben, umdrängen und umwerben die ruhende Ei- zelle. Nur eine dringt in sie hinein und vollzieht die Befruchtung. Auch die menschliche Ei- und Samenzelle sind ursprünglich Isogameten. Sie entwickeln sich aus den Zellen des Keimepithels, dessen Anlage bei beiden Geschlechtern völlig gleichgeartet ist. Niemand vermag im Anfang diesen Zellen anzusehen, ob sie später einmal Ureier oder Ursamenzellen liefern werden. Von dieser wie überhaupt von der ganzen ursprünglichen ein- heitlichen üranlage der Geschlechtsorgane und ihrer allmäh- lichen Auseinanderentwicklung nach der männlichen oder weib- lichen Seite, müssen wir uns ein recht klares Bild machen. Denn nur so können wir die Entstehung und das Wesen der Geschlechts- unterschiede verstehen und die hier zahlreich vorkommenden schwächeren und stärkeren Abweichungen von der Norm begreifen. Das Keimepithel, von dem wir ausgehen, ist zunächst nichts weiter, als eine ziemlich erhebliche Verdickung des Epithels der hinteren Wand der Leibeshöhle. Die Stellen, an denen wir diese Vorwölbungen in der fünften Fötalwoche erblicken, befinden sich rechts und links vor der Wirbelsäule, in der Höhe der Urnieren; an diese im Embryonalleben stark entwickelten Ausscheidungs- organe, welche später durch die bleibenden Nieren abgelöst werden, lagern sich die embryonalen Geschlechtsdrüsen an. Die Urnieren, welche von hinten viel tiefer in die Bauchhöhle hinein- ragen wie die Keimdrüsen, erstrecken sich bis an die seitliche Bauch- wand, wio sie Ausführungsgänge nach unten entsenden, die als „Urnierengänge" oder „ Wolf f sehe Gänge", auch wohl als „primäre Harnleiter" bezeichnet werden. Ehe wir uns dem Schicksal dieser Ausführungsgänge, die beim Manne später zum Samenstrang wer- den, während sie beim Weibe als Gartnersche Gänge ein rudimen- täres Dasein fristen, im einzelnen zuwenden, ist esi nötig, über das Keimepithel selbst noch einiges zu sagen. Durch starke Zellenwucherung entwickelt es sich zu einer sich wulstartig in die Bauchhöhle hineinwölbenden Drüse, dem Wal- terschen Keimepithelwulst. Die Urgeschlechtszellen fallen in dieser^Erhebung schon frühzeitig durch ihre Größe, ihren be- 6 L Kapitel: Hermaphroditismus deutenden Protoplasmagell alt und die stärkeren ehromatinreichen Kerne auf. In ihrem Wachstum stetig voranschreitend, läßt die Keimdrüse in der sechsten Embryonalwoche ihren Geschlechts- charakter erkennen, indem sich die Urgeschlechtszellen im Hoden zu unregelmäßig gewundenen Strängen ordnen, während sie im Eierstock im getrennten Haufen zwischen den kleineren Zellen des Keimepithels liegen. Den zwischen den Samenkanälchen und Eizellen liegenden Zellen schenkte man lange- Zeit keine Beachtung. Man hielt sie für Bindegewebszellen, einige Autoren glaubten auch, daß sie Nähr- stoffe, namentlich Fett, für die Keimzellen lieferten. Nach Franz Leydig, der sie 1850 zuerst genauer beschrieb1), nannte man sie Leydigsche Zellen. Je mehr man sich aber mit dem mikroskopischen Bau und dem wechselnden Verhalten dieser interstitiellen, durchschnittlich 20 P großen Zellen beschäftigte, um so deutlicher erkannte man, daß es sich hier doch um bedeutend mehr als um einfaches Stützgewebe oder Nährgewebe handelte. So warf schon Reinke2), der 1896 kristalloide Bildungen in den Zwischen- zellen des menschlichen Hodens beschrieb, die Frage auf, ob diese nicht möglicherweise mit dem Geschlechtstrieb in Zusammen- bang ständen. Der verstärkte Geschlechtstrieb der Tuberkulösen, meinte er, sei vielleicht darauf zurückzuführen, daß die inter- stitielle Kristallbildung, wie er nachgewiesen hat, in den Ge- schlechtsdrüsen dieser Kranken besonders reichlich ist. Seit etwa 10 Jahren wissen wir nun, dank der experimentellen Untersuchungsreihen von Stein ach und anderen, daß diese Zwischenzeiten in den Geschlechtsdrüsen eine Art chemisches Labo- ratorium bilden, in denen die sexuellen Hormone bereitet werden: beim Manne das Andrin und beim Weibe das Gynäzin, Stoffe, welche für die Entwicklung der sekundären männlichen und weib- lichen Geschlechtscharaktere und auch des Geschlechtstriebs von größter Bedeutung sind. Weil die Zeichen der Reife von ihnen ab- hängig sind, hat Steinach vorgeschlagen, diese Zellen Puber- tätszellen zu nennen und ihre Gesamtheit als Pubertäts- drüse von der Keimdrüse zu unterscheiden, die beide eng mit- einander verbunden die Gonaden bilden. Ich nehme den physio- logischen Ausdruck Pubertätsdrüse an, ohne zu verkennen, daß die Bezeichnungen der beiden Komponenten der Geschlechtsdrüse als generativer und innersekretorischer Anteil in mancher Beziehung zweckmäßiger wären. *) Zur Anatomie der männlichen Geschlechtsorgane und Analdrüsen der Säuge- tiere in der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Leipzig 1850. -) Reinke, Beitrag zur Histologie des Menschen. Aich. f. mikrosk. Anat. 47. 1896. I. Kapilel: Hermaphroditismus 7 Da die Pubertätsdrüse für die p r i m ä r e n Geschlechtscharak- tere, dem Hauptgegenstand dieses Kapitels, nur von untergeordneter Bedeutung", für die sekundären Geschlechtsmerkmale aber von um so größerer Wichtigkeit ist, gedenke ich auf sie und die von ihr ausgehenden Wirkungen erst im nächsten Kapitel näher einzugehen, in dem von der Androgynie — den Normabweichungen der sekundären, in der Pubertätszeit sich bildenden Geschlechtsunter- schiede — die Kede ist. Für das Verständnis der hermaphroditischen Anomalien ist dagegen noch ein anderer, die Geschlechtsdrüsen betreffender Unterschied von hohem Belang, ihre bei Mann und Weib erheblich voneinander abweichende Lage Veränderung, der sogenannte Des zensus der Ovarien und Testikel. Wir erwähnten, daß ur- sprünglich bei beiden Geschlechtern die Geschlechtsdrüsen neben der Wirbelsäule in der Lendenregion belegen sind. Durch das Bauchfell sind sie mit den benachbarten Urnieren verbunden, die ihrerseits durch ein derbes Band an die Leistengegend geknüpft sind. Es ist das Leistenband, das benn Manne unter dem Namen Gubernaculum Hunteri, beim Weibe als Ligamentum rotundum oder teres uteri bekannt ist. Indem dieses Band im embryonalen Leben viel langsamer wächst als die sich an ihm vorüberschiebenden Nach- bargebilde, bleiben auch die Geschlechtsdrüsen verhältnismäßig tiefer unten in der Leibeshöhle liegen. Soj befinden sich die Eier- stöcke im dritten Monat bereits im großen Becken neben dem Mus- culus psoas; im sechsten Monat stehen sie in der Höhe der Ftmdus uteri, senken sich dann noch mehr in das kleine Becken, nähern sich aber nicht dem Leistenkanal, sondern bleiben inj breiten Mutter- band rechts und links von der Gebärmutter liegen. Ganz anders verhalten sich die Hoden. Bei ihrem Deszensus kann man zwei Perioden unterscheiden. In der ersten verhalten sie sich wie die Ovarien. Im dritten Monat liegen Hoden und Eier- stöcke an derselben Stelle im großen Becken; im sechsten Monat dagegen finden wir die Hoden an der Innenseite der Bauchwand bereits dicht über dem Leistenring. Im achten Monat tritt der Hoden in diesen ein und imi neunten dürch ihn hindurch in die an- fangs eng aneinander gelagerten, später ganz zusammenwachsenden Geschlechtswülste, in welche sich vorher schon mit dem Bauchfell die Muskel- und Faszienschichten der Bauchwand ausgestülpt hatten. So entstehen die beiden Skrotalbörsen, die, durch die Hodensack- naht (raphe) vereinigt, das Skrotum bilden. Sind die Hoden in di ese Sacktaschen herabgewandert, so wächst der Leistenkanal zu, so daß normalerweise die Testikel in einem abgeschnürten Peri- tonealfortsatz liegen. Sehr häufig jedoch bleibt dieser Verschluß des Leistenkanals aus. Dann besteht die Kommunikation mit der Bauchhöhle weiter. Eine Folge hiervon ist der Leistenbruch, 8 I. Kapitel: Hermaphroditismus das Hindurchschlüpfen von Darmschlingen aus dem Abdominal- in den Skrotalsack. Tritt die normale Herabwanderung der männlichen Geschlechts- drüsen nicht ein, so sprechen wir von Kryptorchismus, wan- dern dagegen die weiblichen Geschlechtsdrüsen zu weit nach unten, bezeichnen wir dies als Eierstockshernie oder labiale E k t o p i e der Ovarien. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die in das Skrotum herabgleitenden Hoden die in unmittelbarer Verbindung mit ihnen stehenden Nebenhoden, ebenso wie den an diesen sich anschließenden Samenstrang mit sich nach unten ziehen. Wir kommen damit zu der zweiten Gruppe der primären Geschlechtsorgane, dem Kanalsystem, welches bei beiden Ge- schlechtern die Keime und beim Weibe auch die Früchte fortleitet und aufbewahrt. Sie gehen aus den W o 1 f f sehen und Müller- sehen Gängen hervor. Den Wolffschen Gang lernten wir bereits früher als den Ausführungsgang der sich in der dritten Fötalwoche bildenden Urnieren kennen. Einen ähnlichen Ausführungsgang be- sitzt auch die Keimdrüse selbst. Er verläuft dicht neben dem Wolffschen Gang, ganz diesem parallel nach abwärts und wird nach seinem Entdecker, dem berühmten Berliner Physiologen Johannes Müller, der Müllersche Gang genannt. Die linken und rechten Wolffschen und Müllersehen Gänge nähern sich, schräg nach unten ziehend, und vereinigen sich schließlich in der Mittellinie des Beckens zu einem gemeinsamen unpaaren Hohlstrang, den man auch als Thier sehen Genitalstrang bezeichnet findet. Sein unteres, sich im Sinus urogenitalis ein wenig vorwölbendes Ende heißt Müllerscher Hügel. Vom Urnierengang unterscheidet sich der Müllersche Gang durch eine dickere Wandung und feinere Lichtung. Auch steht das obere Ende des Müllersehen Ganges nicht mit der Keimdrüse so unmittelbar in Verbindung, wie der Wolf f sehe Gang mit der Ur- niere, sondern mündet in unmittelbarer Nachbarschaft der Keim- drüse frei in einem mit Flimmerepithel ausgekleideten Trichter in die Bauchhöhle. Der Wolffsche und der Müllersche Gang sind die gemeinsame einheitliche Ausgangsform, aus der sich durch Stärkewachstum einiger und Kückbildung anderer Partien die tubulären Organe des männlichen und weiblichen Geschlechtsappa- rates entwickeln. Wenn die sexuelle Differenzierung der Geschlechtsdrüsen abgeschlossen ist, gestalten sich in der zweiten Hälfte des dritten Embryonalmonats die Müllerschen Gänge weiter, doch nur beim weiblichen Geschlecht, während sie beim männlichen ver- kümmern. Aus dem Flimmertrichter am abdominalen Ende wird der Tubentrichter; der sich anschließende Teil des Müller- I. Kapitel: Hermaphroditismus 0 scheu Ganges wird zur Tube. Der uupaare Geschlechtsstrang, in dem die Müllerschen Gänge verschmelzen, wird in seinem oberen Abschnitt zum Uterus, in seinem unteren zur Vagina. ' Gelegentlich kommt es auch vor, daß diese Verschmelzung ganz oder teilweise ausbleibt. Dann entstehen die doppelte oder zweihörnige Gebärmutter, die doppelte Scheide und ähnliche Hemmungsbildungen (Uterus duplex, didelphys, bicornis, incudiformis usw.), ganz selten ' unterbleibt auch die Entwicklung des Thier sehen Geschlechts- strangs gänzlich, woraus sich dann ein völliger Mangel des Uterus (Anhysterie) ergibt. Beim männlichen Geschlecht verkümmert der Müllersche Gang; nur kleine Reste läßt er zurück. Es sind dies an seinem ursprünglich abdominalen die ungestielte Hydatide dies Hodens (Appendix testis Morgagni), ein kleines lappenförmiges Gebilde am oberen Ende des Hodens, das bisweilen eine trichterförmige Einziehung zeigt. Das Endstück des Müllerschen Ganges finden wir in jenem kleinen Hohlraum der Prostata wieder, den man Utriculus mas- c u 1 i n u s genannt hat. Einige Zeit, nachdem sich dergestalt beim Weibe die Müller- schen Gänge vorwärts und beim Manne rückwärts gebildet haben, vollzieht sich an den W o 1 f f sehen Gängen das Umgekehrte, sie bilden sich beim Weibe zurück und beim Manne weiter. Vorher entsteht jedoch die Urogenitalverbrückung. Die der Keim- drüse benachbarten Teile der Urniere verbinden sich durch ein Kanalnetz mit den aus Samenzellen bestehenden Röhrchen der Hoden und den entsprechenden Eifollikelzellen der Ovarien. Beim Manne entwickelt sich aus diesem Teile der Urniere die Epididymis, der Nebenhode; beim Weibe bleiben von diesen Teilen der Urniere nur Reste übrig, das Epoophoron oder Rosenmüllersches Organ, auch Parovarium genannt; auch die in den Hilus ovarii hineinwuchernden Markstränge stammen aus der Urniere. Aus den unteren oder Ur- nierenteilen der Urniere werden bei beiden Geschlechtern schließlich nur verkümmerte, funktionsunfähige Organe; es sind dies beim Manne die Vasa aberrantia des Nebenhodens, sowie die Paradidymis, auch Giraldes Organ oder corps innomine benannt, ein kleines aus blinden Kanälchen bestehendes Körperchen am unteren Ende des Samenstrangs, und beim Weibe das Paroophoron, ein aus Kanälchen und Glomeruli zusammengesetztes Knötchen etwa in der Mitte des breiten Mutterbandes. Was wird nun aus dem der Urniere sich anschließenden Wolff- schen oder Urnierengangl Beim Manne entwickelt sich aus ihm der vom Nebenhoden ausgehende canalis epididymidis, sowie das Vas deferenö, beim Weibe dagegen verschwinden die Wolffschen Kanäle bis auf die gelegentlich einmal in der Uteruswand nachweisbaren Gartnerschen oder Malpighischen Gänge. I. Kapitel: Hermaphroditismus Noch auf zwei beachtenswerte Geschlechtsunterschiede ist hier hinzuweisen. Beim weiblichen Geschlecht sind die Müllerschen Gänge unten durch ein Häutchen verschlossen, das Hymen. Es bewacht den Eintritt in die Pforte, durch welche später die männ- lichen Keimzellen einströmen, um sich den Weg zur Eizelle zu bahnen. Erst durch den ersten Geschlechtsverkehr wird das Hymen gesprengt und der weibliche Geschlechtsapparat erschlossen. Die Geschlechtsorgane des Mannes erleiden durch den ersten Ver- kehr keine entsprechende Veränderung. Sitte und Sprache tragen diesem Um stände Rechnung. Die Defloration ist ein Eingriff, der das Leben des Weibes in zwei Abschnitte teilt; aus der Jungfrau wird die junge Frau. Auch die in fast allen Sprachen vorhandene Doppelbenennung des Weibes als Fräulein und Frau, für die es beim Mann kein Seitenstück gibt, hängt letzten Ende« nicht sowohl mit der Eheschließung, als mit der Entjungferung zusammen. Der andere wichtige Geschlechtsunterschied liegt im Sinus uro- genitalis und in dem Verhalten der Harnröhre zum männlichen und weiblichen Geschlechtskanal. Beim Manne nämlich münden erstens der Urnierengang und das später aus ihm hervorgehende Vas defe- reus, zweitens aber auch das rudimentäre Ende des Müllerschen Ganges, und drittens die Harnröhre in einem gemeinsamen Kanal aus, der sich als einheitlicher Weg für Harn und Samen durch den ganzen Penis bis zur Fossa navicularis fortsetzt. Beim Weibe dagegen mündet die kurze Harnröhre ganz selbständig über dem Scheidenkanal in den vom Sinus urogenitalis abstammenden Vorhof der Scheide (vestibulum vaginae). Damit sind wir nun bereits zu der dritten Gruppe der primären Geschlechtscharaktere gelangt, den äußeren Scham- h'ilen. Auch sie sind zunächst bei beiden Geschlechtern ganz gleich beschaffen. Anfangs bis zum Ende des ersten Embryonalmonats sehen wir zwischen den unteren Gliedmaßen am Ende des Rumpfes nichts als eine gemeinschaftliche Ausgangsöffnung für das Darm- und Harnrohr, die sogenannte Kloake. Im Beginn des zweiten Fötal- raonats wölbt sich dann etwas oberhalb der Kloake ein kleiner Haut- hügel vor, der Geschlechtshöcker oder Phallus, das erste äußerlich sichtliche Geschlechtszeichen. Von ihm zieht abwärts, nach der Kloake zu, eine schmale Vertiefung, die als Geschlechts- rinne bezeichnet wird. Die Seitenwände dieser Rinne nennen wir Geschlechtsränder oder auch Geschlechtsfalten. Diese wiederum sind von einem Hautwall umgeben, den Geschlechts wülsten, die von unten ausgehend die Rinne bogenförmig auf beiden Seiten umgreifen und nach oben bis zu dem Geschlechtshöcker reichen, neben dem sie nabelwärts verstreichen. Währenddem sich diese indifferente Grundform bildet, ist in der Kloake selbst eine wesentliche Veränderung eingetreten, indem L Kapitel: Hermaphroditismus sich ihre ursprünglich einheitliche Öffnung in zwei Ausgänge verwandelt hat, von denen das eine die nach rückwärts gelegene Afteröffnung, das andere die sich mehr nach vorwärts verschiebende Blasenöffnung ist. Diese Scheidung ist dadurch hewirkt worden, daß die innere Trennungswand zwischen Darm- und Harnrohr nach außen vorwächst. Die so entstehende schmale äußere Hautbrücke wird breiter und bildet den Damm, welcher den analen Ausgang des Darmkanals immer weiter nach hinten drängt, während das Orificium urogenitale nach vorne an die Geschlechtsrinne zu liegen kommt. Von der achten Embryonalwoche ab beginnt sich nun diese ein- heitliche Uranlage zu differenzieren; erst von diesem Zeitpunkt ab können wir angeben, welchem Gescblechtc die Frucht voraussicht- lich angehören wird. , Beim weiblichen Geschlecht ist die Veränderung eine ver- hältnismäßig geringe. Sie besteht in der Hauptsache in einer Dehnung der embryonalen Anlage in der Richtung von hinten nach vorne, wodurch eine sagittal gestellte Tasche — das bereits erwähnte Vestibulum vaginae — entsteht. Aus den sie umgrenzenden Ge- schlechtsrändern oder -falten werden die kleinen Schamlippen, die nach dem Geschlechtshöcker zu in einem Bändchen (Frenulum) zu- sammenlaufen. Der Höcker selbst wächst wenig. Wir finden ihn in der Klitoris oder dem weiblichen Gliede wieder, in dessen Innern sich, wie im Penis, Schwellkörper bilden. Auch eine Eichel mit Vorhautduplikatur — die Glans clitoridis — setzt sich ab. Die Ge- schlechtswülste, in die sich viel Fett ablagert, werden in ihrem vorderen Teile zum Möns veneris, in ihren Seitenteilen zu den großen Schamlippen, während der hintere Teil in den Damm über- geht, der beim Weibe eine verhältnismäßig nur kleine Hautbrücke zwischen After und Schamspalte ist. Wird somit bei der weiblichen Differenzierung, um mit Eichard W e i ß e n b e r g zu reden, die gemeinsame Anlage „dorsoventral aus- einandergezogen", so geschieht beim Manne die Fortentwicklung wesentlich in der Längslinie des Körpers; dementsprechend wird aus dem kleinen Geschlechtshöcker der schon bei der Geburt ziem- lich ansehnliche und nach der Reife noch viel stärker in die Länge wachsende Penis. In ihn hinein verlängert sich weit über den Sinus urogenitalis hinaus der Urethralkanal bis an die Kuppe der Glans. Nach Fleischmanns Auffassung schiebt sich dabei das primäre Ori- ficium urogenitale von der Phallusbasis an die Penisspitze vor, wo wir es als Orificium urethrae (oder Fossa navicularis) wiederfinden. Auch die Geschlechts wülste ziehen sich beim Manne in die Länge. Während sie sich beim Weibe, wie wir sahen, nur mit Fett wattieren, sind sie beim Manne bestimmt, die aus der Bauchhöhle hernieder- 12 kommenden Geschlechtsdrüsen aufzunehmen. Dadurch werden sie zu den Skrotaltaschen, die in der großen Mehrzahl der Fälle nicht voneinander getrennt Weihen, sondern in der Mittellinie zusammen- wachsen. So bildet sich aus ihnen der im Septum scroti verbundene einheitliche Behälter der Testikel, der Hodensack. Veranschaulichen wir uns die geschilderten drei Gruppen der primären Geschlechtscharaktere — die glandulären, tubu- lär e n und externen — in ihrem Werdegang, so verliert das früher so dunkle, vielen förmlich unheimliche Gebiet des Herma- phroditismus bald alles Mysteriöse und Merkwürdige und erscheint verhältnismäßig einfach. Seine Erklärung lautet wie folgt: Jedem Wesen, ob männlich oder weiblich, liegt dieselbe Urform zugrunde. Vieles, was bei dem einen Geschlecht weiterwächst, bleibt bei dem anderen zurück und umgekehrt, Darauf beruht der Unterschied zwischen Mann und Weib. Nun kommt es aber vor, daß das, was bei dem einen Geschlecht zuzunehmen pflegt, ausnahmsweise bei ihm zurückbleibt und was ansonsten zurückbleibt, zunimmt. Dies trifft bald diese, bald jene Kegion der einheitlichen Grundform. Da die Anzahl der in Betracht kommenden analogen Geschlechtsteile" recht ansehnlich ist, entstehen infolgedessen sehr viele Kombi- nationen. Sie werden noch dadurch vermehrt, daß irregulärerweise die entsprechenden Anlagen beiderseits nebeneinander zur Entwick- lung oder Verkümmerung gelangen. Auf diesem genitalen Plus oder Minus in der Ausbildung beruht der Hermaphroditismus. Der besseren Übersichtlichkeit halber seien in der folgenden Tabelle nochmals kurz die" homologen Bil- dungen gegenübergestellt (siehe S. 14 und 15). Früher glaubte man, daß die mangelhafte Differenzierung der Geschlechtsorgane eine mechanische rein örtlich periphere Ent- wicklungsstörung sei, eine recht naive Vorstellung, wenn man be- rücksichtigt, wie komplizierte innere Strukturverhältnisse hier in der Mehrzahl der Fälle vorliegen. Schon Kudolph V i r c h o w wies daher diese Anschauung zurück, indem er ausführte, daß zum Unter- schied von vielen Mißbildungen, die man auf mechanische Hem- mungen in der normalen Fötalentwicklung zurückführen könne, die Zwitterbildung ihrer ganzen Natur nach nur von zentralen Einflüssen abhängig sein könne, welche für die Geschlechts- bestimmung maßgebend seien. Allerdings dürfte er dabei schwer- lich an innersekretorische Einwirkungen gedacht haben, ein zu seinen Lebzeiten noch unerforschtes Gebiet, eher wohl an trophische Ursachen im allgemeinen. Auch von Neugebauer meint noch in seinem großen Werke: „Aller Wahrscheinlichkeit nach spielen unter den Ursachen des Scheinzwittertums nutritive Verhältnisse die Hauptsache, im Zusammenhang mit der Anordnung der arteriellen Blutgefäße." Wir können unserem leider zu früh verstorbenen I. Kapitel: Hermaphroditismus 13 Freunde hierin nicht folgen, ebensowenig, wenn er auch der psychischen Beeinflussung in der Entwicklung eine Bedeutung zumißt. Von ihr bis zum „Versehen", von dem früher so viele, und zwar nicht bloß „weise Frauen", fabelten, wenn vom Zwittertvmi die Rede war, ist nur ein kleiner Schritt. Auch die mit erstaunlicher Häufigkeit von sämtlichen Arten körperlicher und seelischer Zwit- ter, von Hermaphroditen und Androgynen ebensowohl wie von Homosexuellen, Transvestiten und Metatropisten vorgebrachte Er- klärung, ihre Mutter habe sich, als sie mit ihnen schwanger ging, ein Kind entgegengesetzten Geschlechts gewünscht, ist nicht mehr wie ein unerwiesener Glaube. Immerhin, ist hier zu erinnern, daß sich übertriebene Skepsis in der Wissenschaft schon ebenso häufig als fehlerhaft erwiesen hat, wie Leichtgläubigkeit und scheinbarer Aberglauben. Als feststehend kann jedenfalls angesehen werden, daß die Heredität bei der Entstehung hermaphroditischer Bildungen ein sehr wesentlicher Faktor ist. Das lehrt zunächst die Tatsache, daß diese Anomalien unverhältnismäßig oft bei Geschwistern und unter nahen Verwandten vorkommen. Neugebauer hat hierüber eine eigene Arbeit veröffentlicht: „Über Vererbung von Hypospadie und Scheinzwittertum" 3), und auch in seinem Hauptwerke4) hat er zahl- reiche Fälle von Pseudohermaphi'oditisinus unter Geschwistern an- geführt. In meiner selbst beobachteten Hermaphroditen-Kasuistik befinden sieh ebenfalls unter 24 Zwittern 6mal Geschwister. Meine letzte, weiter unten beschriebene Beobachtung betrifft drei als Schwestern aufgewachsene Brüder mit hermaphroditischer Bildung. Taruf f i5) erwähnt sogar eine Beobachtung von 5 Schwestern, von denen „vier im Pubertätsalter Männer wurden". Auch der Umstand, daß sehr häufig der Hermaphroditismus mit anderweitigen körperlichen und seelischen Störungen endogener Natur vergesellschaftet ist, beweist, daß es sich hier um nichts weniger als einen örtlichen Genitaldefekt handelt, sondern vielmehr um die Teilerscheinung eines degenerativen Zustandsbildes. Zwar sind, wie meine Kasuistik zeigt, diese Begleiterscheinungen nicht durchgängig vorhanden, doch gehen wir wohl nicht fehl, wienn wir annehmen, daß an und für sich schon einer so hochgradigen Sexual- störung ein degenerativer Charakter innewohnt. Den eigentlichen Ursprung dieser Genitalabweichungen aber haben wir in Funk- tionsstörungen des polyglandulären Systems zu suchen. 3) Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 15. H. & 1902. 4) Neugebauer, loc. cit. S. 689, Abschnitt LXVIII : Männliches oder weib- liches Scheinzwittertum bei mehreren Geschwistern mit teilweise . irrtümlicher Ge- schlechtsbestimmung. 5) T a r u f f i , Journ. de la Soc. med. d'Emul. Voc. V. p. 150. I. Kapitel: Hermaphroditismus CD CD CSJ ü TD -S 8 £ -a CD a- a a 03 T3 CD — -S « g II a S cd — 03 03 X !t0 1 s- 03 "O p - 03 -C Q. .. a .2 lg > O 'S JD 'S _o ^ •2 " a e <D Ol Ol CD C5 s ■* s s :§ La "** 8 *> -Sä £ 8 ••e © et, -'S TS -8 8 8 0} Je fei 'S £ 'S rQ OD B a -3 a a cd J3 03 cd iscli ~S ■ß. <$ © — a a — a CS z es zelle — . subst _0> (A Ü .c ü 0) <u O c <x> i_ :Cd E co | O Co <D •^3 —~ ■ O C £ SD c2 I cd ? ^a ■5 C £ I ■g 8 o 5 -S a-« S «o o B,a "S* ^ ° o v2 ■» -R ^ CCS fei a a c -g CD o o O CO Jp 'S.-0 <U _ ü K c« S C CS CS ' CO CD 2 ^ ö CD CD T3 6JC a ■g :n! :o$ •^3 CD C -Ö a s CS a> >> 'S« "2 u i CD < es s *Sd es .22 tS .'S a . a so s - CS — c« S o r -SS e e 'S ^ S 03 ■od a cq -a o :cS a O * r ' CV <i) FtS S © m ■ SS ciS a CD — Ü c5 <ü "2 CD IS — Cfi -O CS CO CD a 'S co o :ö CO tS3 0) -a CL Q. 3 o :(0 3 3 cU »~ © ~ _a ^ a 03 03 ^o rzi St 14J -C> ß •2 S ^ 2 .1^ CD SS <4> 8 ß CC a CD ^3 O CO i2 a CD a CO CO cv 03 n© CS 8Cb ß 8 S C3 Ä S CO Co s ^ 5^ ■2 "5 ß s -2 -SS — ^ CS es •iß* in © <5 - L Kapitel: Hermaphrodilismus 15 — bo &■ ^ c ^2 <n a b ä a 5 £ = | S .2 — J=> — oT « .5 c P =» § s ■Ii - 3 E a 5 CS -3 .5 — ' ZJ 1> — a v a ja CS bC P — e ~ a a> ~ ^5^6 c o 03 — c .s S s — 3 - so 9 5 CS o a u 5 a .25 ps "3 '-5 ."2 o "o g o co 3 « S ^ 0 .2 2 ^ es p o co .a cq a bo .2 •- >« 2 p§ -2 Q. CS a ü a a '5b P es £ 3 M H <U .= P O t> K 8 £ a SO a CD » o ^3 S PH ü O PL, a a <x> es a a 0) ja CD 3 «3 -a PQ '-3 a o JO := 'S bb £ 5 co -g a bo "g 3 P ra i I ja es rS C-> P P CS Ol o CS « 2 ■J- CS H CS es S X CO o © a o CO r/3 r/3 y) CS CS CS CS P PL, p_| Ph PL, r s CO CS CS CS IG Doch sind hier keineswegs die Geschlechtsdrüsen ausschließlich be- teiligt; das erkennen wir daran, daß dort, wo die Gonaden fehlen, sei es von Geburt an, sei es infolge eines Eingriffs in früherem oder späterem Lebensalter, also bei K a s t r a t e n , Mikrorchisten (Eu- nuchoiden) und Kryptorchisten der tubuläre und externe Ge- schlechtsapparat oft im starken Gegensatz zu den sekundären Ge- schlechtscharakteren nur verhältnismäßig wenig verändert ist. Auch fand St ein ach, daß, wenn er Tiere, denen er vorher die eigenen Geschlechtsdrüsen exstirpiert hatte, durch Einsetzen der entgegen- gesetzten Gonaden feminierte oder maskulierte, die somatischen und psychischen Geschlechtscharaktere eine sehr hochgradige, die primären aber nur eine ganz geringfügige Veränderung erfuhren. Neben der Hypophyse, von der wir schon im ersten Teil aus- führten, wie oft Veränderungen ihrer Struktur mit solchen der Genitalien verbunden sind, dürften hier vor allem die Neben- nieren von Bedeutung sein. So fand Joh. Fibiger6) bei drei von ihm sezierten Pseudohermaphroditen eine ganz beträchtliche Hyperplasie der Nebenniere. In einem Falle waren die Nebennieren 8 cm breit, 5 cm hoch und 3 cm dick, ihr Gewicht war 20 bis 30 g; an der Kapsel der linken Nebenniere befand sich noch eine akzesso- rische Nebenniere. Es handelte sich hier um einen 47jährigen Gartenaufseher, der drei Kinder hatte. Ob sie allerdings wirklich von ihm stammten, ist mehr wie fraglich. Zu seinen Lebzeiten hatte niemand an seiner Zugehörigkeit zum männ- lichen Geschlecht gezweifelt. Nach seinem Tode — er starb an einer Lungenentzündung — ergab sich folgender Befund: Blonder, graumelierter Vollbart, Mammae von männlichem Typus, zierlicher Körperbau; bei der militärischen Musterung wurde er für untauglich befunden, die äußeren Genitalien erschienen atrophisch; der ziemlich kleine Penis zeigte eine Hypospadie zweiten Grades; das Skrotum hatte oben ebenfalls einen Spalt. Es war leer. Das Glied hatte drei Corpora cavernosa. Die Prostata war gut ent- wickelt. Im Prostatateil der Urethra mündet eine Scheide, die 71/2 cm la n g ist. An diese Vagina schloß sich ein Uterus an, 51/« cm lang, mit Vaginalportion und Mutter- mund. In den Uterus mündeten 10 cm lange Tuben mit Morgagni- scher Hydatide. Unter dem abdominalen Ende der Tuben befanden sich jederseits deutliche Parovarien und Ovarien; in den Ovarien sind weder Corpora lutea, noch aberrentia, noch Zysten nachweis- bar. Dagegen fand sich in der Rindenschieht eines Eierstocks ein unzweifelhafter Follikel; niemals Menstruation. Becken männlich, Kehlkopf weiblich, jedoch männlicher Typus in der Ver- 6) Beiträge zur Kenntnis des weiblichen Scheinzwittertums in Virchows Arch. f. pathol. Anat. Bd. 181. 1905. I. Kapitel: Hermaphroditismua yj knocherung der Cartilago thyreoidea; der Geschlechtstrieb mannhcliundsehrstark. Selbst während der letzten Krank- heit verlangte er noch oft den Koitus von seiner Frau, mit der er 19 Jahre verheiratet war. Die Frau beschuldigte ihn sogar, mit anderen Frauen intime Beziehungen gepflogen zu haben. Jedoch gab sie zu, daß ihre drei Kinder von anderen Männern, mit denen sie im Verkehr stand, herrühren könnten. Was sich beim Manne aus dem Membrum ergoß, konnte nicht mehr festgestellt werden Ich vermute Prostatasaft. Der Gatte selbst war von seiner Männ- lichkeit überzeugt, erst nach seinem Ableben soll seine eigene Mutter der Schwiegertochter mitgeteilt haben, ihr Sohn sei nach ihrer •Meinung überhaupt kein Mann gewesen. Die postmortale Unter- suchung des Arztes bestätigte zum größten Erstaunen, ja zum Ent- setzen der Witwe, die Vermutung der Mutter. Wie in diesem Fall, der so recht ein Beispiel gibt für die oft so überaus seltsamen Lebensschicksale der Hermaphroditen, fand Fibiger auch bei seinen beiden anderen Sektionen von Zwittern eine ungewöhnliche Ausbildung der Nebdnnieren. Auch Mar- chand beobachtete in seinem Falle eine kolossale Hyperplasie beider Nebennieren und eine sehr große akzessorische Nebenniere im Ligamentum latuni. Ähnliche Angaben finden sich noch wiederholt in der Literatur; dieses Zusammentreffen zwischen Veränderungen an den Nebennieren und dem Genitalapparat kann nicht als Zufalls- befund angesehen werden, wenn man die relative Seltenheit von Scheinzwittersektionen in Betracht zieht und berücksichtigt, daß man dabei sicherlich in früheren Zeiten den Nebennieren oft nicht genugende Beachtung gewidmet hat. In einem gewissen Widerspruch mit der Lehre von dem Einfluß der inneren Sekretion steht die Anschauung Haibans, daß alle Geschlechtscharaktere im Ei, zum mindesten im befruchteten, bereits angelegt seien. Er unterscheidet demnach männliche, weibliche und hermaphroditische Eier. „Das hermaphroditische Ei besitzt von vornherein den doppelten Geschlechtsimpuls und von einem späteren f o r m a 1 1 v e n Einfluß der Keimdrüse auf das übrige Genitale könne keine Rede sein ')." Dieser Widerspruch scheint mir jedoch kein absoluter zu sein, denn es wäre sehr wohl denkbar, daß der doppelte Gesehlechtsimpuls im hermaphroditischen Ei sich zunächst in einem doppelgeschlechtlichen Chemismus endokriner Organe äußerte welcher dann erst seinerseits das latente Zwittertum zutage fördert' Im übrigen werden wir zu einer völligen Lösung der letzten Gründe dieser Erscheinung schwerlich eher gelangen, als bis wir mit Sicher- heit wissen, wovon es abhängig ist, daß bei der Befruchtung das eine Mal, und zwar in nahezu der einen Hälfte der Fälle Knaben, das ?) Neugebauer, loc. cit. 55. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. n 18 I. Kapitel: Hermaphroditismus andere Mal Mädchen geboren werden. Dieses Geheimnis zu lüften sind wir vorderhand, so viele sich auch schon daran versuchten, noch weit entfernt. Bis wir so weit sind, werden wir uns an eine möglichst genaue Erforschung, Schilderung und Sichtung der Einzelfälle zu halten haben." Auch hier — vor allem bei einer scharfenEinteilung des Hermaphroditismus — begegnen uns noch genug Schwierig- keiten. Bevor wir uns diesen zuwenden, seien aber noch kurz einige Störungen erwähnt, die wir gewissermaßen als Vorstufen des Hermaphroditismus anzusehen haben, es sind dies beim Manne vor allem der Kryptorchismus und die Hypospadie, beim Weibe die Klitorishypertrophie und Uterusatrophie. Vorstufen des Hermaphroditismus. Über die Bedeutung und die pathologische Anatomie des Krypt- orchismus simplex und duplex haben wir uns bereits in dem Kapitel „Infantilismus" (vgl. Bd. I, S. 38) geäußert. Die Hauptsache ist, daß der kryptorche Hoden nicht nur, wie sein Name besagt, im Bauch oder Seitenkanal verborgen ist, sondern auch im Bau und in der Beschaffenheit der Gewebe wesentlich vom normalen Hoden ab- weicht. Ich halte es für wahrscheinlich, daß diese abweichende Struktur, welche auch infolge geringeren Volumens seine Schwer- kraft vermindert, der primäre Grund ist, daß er nicht so tief nach unten sinkt, wie der normale Testikel. Als Vorstufe des Herma- phroditismus können wir ihn aus verschiedenen Gründen bezeichnen: Einmal ist er in Verbindung mit der Hypospadia penisscrotalis eine der allerhäuf igsten Teilerscheinungen des ausgebildeten männ- lichen Scheinzwittertums; des weiteren ist die Her ab Wanderung der Geschlechtsdrüsen aus der Leibeshöhle in die Geschlechtswülste ein spezifisch männlicher Geschlechtscharakter. Demzufolge stellt der ausbleibende Deszensus einen erheblichen Mangel von männ- lichem Geschlechtsimpuls dar. Dies tritt auch darin zutage, daß in Verbindung mit ihm oft feminine, noch häufiger allerdings infantile Züge auftreten, was auf innersekretorisch wirksame Hormondefekte schließen läßt. Ob diese von der Geschlechtsdrüse allein ihren Aus- gang nehmen, oder ob eine gemeinsame Störung im inneren Chemis- mus der genitalen, somatischen und psychischen Atypie zugrunde liegt, ist noch nicht sicher. Ganz ähnlich wie bei dem Kryptorchismus liegt es bei der Hypospadie. Schon vor vielen Jahren wies ich auf Grund eigener Beobachtungen darauf hin, wie oft selbst bei leichten Graden der Hypospadie andere Anzeichen vorkommen, die auf ein inner- sekretorisches Manko hindeuten, schwacher Bart, hohe Stimme, ' _JJ^Pite^Hermaphroditismus kleines Glied scheues, namentlich auch weiberscheues Wesen Er- scheinungen die sich auch nach operativer Beseitigung des örtlichen Übels nicht bessern. Dies spricht dafür, daß aucn hfer nicht etwa wie man früher meinte, peripher mechanische, sondern lediglich zentrale Einflüsse in Frage kommen. Auch der Umstand daß die taffi h°hem familiä- Erkrankung i'sMeutt unterem rt!" ™? t^f^^^™^** Bdspiel Lingards Fal1 anführen (der Slf^ Tltel,rTheTheredltary transmission of hypospadias and its transmission by 2« i , alauSm' im LanCGt Vom 19" APril 188* ^schien). Da heißt es 7 M des 19. Jahrhunderts heiratete ein Hypospade, dessen Vater' und Groflva er" auch Hypo Tet Lse7vLem r8eS Mf Ch6n' mÜ d6m 6r in kdner Weise verwand war Me drei dieser Ehe entspringenden Söhne waren Hypospaden. Der älteste dieser drei Sohne erzeugte in seiner Ehe vier Söhne, sämtlich Hypospaden; zwei d eSer vie Sohne heirateten: der erste von ihnen hatte zwei Söhne, darunter einen Hy osLden der zweite einen Sohn, der ebenfalls Hypospade war. Die b den and r In Brtäer ZI^Zmüs^ der drei Brüder aus der vierten Generaüon^LdSs Ta sacl e iin" Sofine' Hypospaden. Noch merkwürdiger aber ist folgende Sohnes 1 S Tl n n ^ u Hypospaden sta* ^ der Geburt des dritten Mann ur/ ^ Semem T°de heiralele die Witwe einen normal gebauten ei sen Vter £1^7 ^T' Z™ --der von v e Söhne • dir ä " tt hypo:lPadfS m ,helr lurnS'' Einer Vün ih"en ***** Mei bohne. der älteste war Hypospade, die jüngeren drei waren normal gebaut. Entwicklungsgeschichtlich beruhen die leichteren Grade der Hypospadie, ebenso wie der viel selteneren Epispadie, auf einer mangelnden Durchbruchsenergie infolge derer der vorwachsende Urethralkanal, bevor er das an der Spitze der Glans penis befind- r tl f Sr U ^ °ben °der uuteü abbie»t- D^ stärkeren Grade der Hypospadie stellen sich nicht als Loch, sondern als eine Rinne an der Unterseite des Gliedes dar, die sich häufig von der Wurzel bis zur Spitze erstreckt und dadurch verursacht wird, daß die embryonalen Geschlechtsränder nicht zum normalen Verschluß gelangen. Den gleichen Vorgang an den Geschlechtswülsten nennt man bkrotal-, weniger präzise, namentlich dann, wenn die Rinne nich den Damm erreicht, Perinealspalt. Betrifft die Spaltbildung Gesch echtshocker und Geschlechtswülste zugleich, so bezeichnen wir diese beim männlichen Hermaphroditismus sehr häufig vorkommende Entwicklungshemmung als Hypospadia peniscr otalis. Handelt es sich bei dem Kryptorchismus und der Hypospadie wie bei dem männlichen Zwittertum überhaupt im wesentlichen um' em Bildungsminus, so haben wir es bei . den Vorstufen des weiblichen Hermaphroditismus und in diesem selbst bald me^Tifmem,E^WicklungSpluS und Hyperplasien, bald mehr mit Defekten und Hypoplasien zu tun. - An erster Stelle steht hier die Klitorishypertrophie, die man in geringerer oder stärkerer Ausdehnung (bis Fingerdicke und -länge ist sie beobachtet) 20 bei sonst relativ normaler Genitalbeschaffenheit finden kann. In dieser Deformität dokumentiert sich ein männlicher Entwick- lung« drang. Tatsächlich pflegen auch Frauen mit großer Klitoris oft eine tiefe Stimme und schwache Brüste zu haben, am Körper reichlich behaart zu sein und ansonsten viel männliche Züge auf- zuweisen, die bis zu einem auf Frauen oder sehr feminine Männer gerichteten Geschlechtsempfinden gehen kann. Seltener verbinden sich mit der Klitorishypertrophie anderweitige angeborene Genital - anomalien, wie ein vollständiger oder teilweiser Scheidendefekt, totale oder partielle Verwachsung der großen Schamlippen oder Ovarialektopie, ein Herabwandern der weiblichen Geschlechtsdrüsen in die Labia majora, Hier haben wir es mit einem Vorgang zu tun, der beim Weibe dem entspricht, was beim Manne der Kryptorchis- mus ausmacht, einen nicht dem eigenen, sondern in der Regel nur dem anderen Geschlecht zukömmlichen Impuls; doch ist die Ektopie der Eierstöcke viel seltener, als ihr männliches Seitenstück. Um so häufiger finden wir aber beim Weibe als Eutwicklungs- def ekt den Uterus rudimentarius in seinen verschiedenen Ab- stufungen. Neben den Doppelbildungen, auf die wir bereits oben bei Besprechung der Müllerschen Gänge hinwiesen, verdient hier vor allem die Uterushypoplasie unsere Aufmerksamkeit. Man unter- scheidet den Uterus foetalis von 2 bis 4 cm Sondenlänge vom Uterus infantilis, dessen Sondenlänge 4 bis 7 cm beträgt. Beim fötalen Uterus fehlen die Menses stets, beim infantilen häufig, oder treten erst sehr spät, oft nach dem 20. Jahre, ein. Die Geschlechtsdrüsen zeigen dementsprechend eine mehr oder weniger mangelhafte Ent- wicklung; aber auch der ganze übrige Körper läßt bei kongenitaler Hypoplasie dieser Organe infantile Einschläge erkennen, neben denen sich nicht selten, aber auch im Bereich der sekundären Ge- schlechtscharaktere, männliche Anklänge vorfinden. Auch bei einer anderen Anomalie der weiblichen Genitalien habe ich diese Mischung von Infantilismus und Vir ilis- mus nicht selten beobachtet, nämlich bei der einseitigen oder doppel- seitigen Überentwicklung der kleinen Schamlippen. Ich halte es für völlig irrtümlich, diese Abweichung von der Norm mit Onanie in Zusammenhang zu bringen; diese sich auch noch in neueren Sexualschriften vorfindende Angabe trifft ebensowenig zu, wie die Behauptung, daß die Klitoris, der Penis, das Skrotum oder andere Teile des Genitalapparates — das Hymen natürlich aus- genommen — durch Selbstbefriedigung Veränderungen erleiden; be- sonders von unförmigen Vergrößerungen ist die Rede. Ob ver- längerte kleine Labien auch ohne sonstige körperliche oder seelische Abweichungen von der Norm vorkommen, ist noch nicht klargestellt, wennschon nicht unwahrscheinlich. Wird doch berichtet, daß sie Der Fall ist eingehend im Text Seite 21 u. ff. beschrieben. Die oberen Aufnahmen stellen die Patientin in ihrer früheren weiblichen und jetzigen männ- lichen Tracht dar. Man beachte den Gesichtsausdruck, welcher gut die Verschieden- heit der Stimmung wiedergibt. Das untere Bild zeigt ihre äußeren Geschlechtsorgane, deren Hauptmerkmal äußere Ü b e r e n t w i c k e 1 u n g (Hyperplasie) und innere Unterentwickelung (Hypoplasie) ist. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn. I. Kapitel: Hermaphroditismus 21 bei einigen Völkerstämmen die Regel ist, wie dies die Bezeichnung „Hottentottensehürze" lehrt. — In einer gewissen entwicklungs- geschichtlichen Verwandtschaft zu den eben genannten Hyperplasien der embryonalen Geschlechtsfalten steht auch ein anderer Bildungs- exzeß, dem wir beim männlichen Geschlecht sehr häufig begegnen, die Phimose. Wir werden diese, keinen hermaphroditischen Charakter tragende Anomalie, wie noch einige andere im Bereich der männlichen und weiblichen Genitalien liegende jedoch besser dort behandeln, wo von den Störungen der Geschlechtsfunktionen die Rede ist. An dieser Stelle sei, ehe wir auf die Schilderung des eigent- lichen Hermaphroditismus übergehen, wenigstens ein Beispiel der Vorstufen des Hermaphroditismus angeführt, das zugleich kenn- zeichnet, welchen äußeren Dissonanzen diskongruente Personen dieser Art ausgesetzt sind. „Im Frühjahr 1917 suchte mich die jetzt 27jährige Amanda B. auf, die ich be- reits seit mehreren Jahren beobachten konnte. Die Person leidet unter dem zwangs- mäßigen Drang, Männerkleidung tragen zu müssen, da sie trotz ihrer Erziehung als Mädchen sich in ihrem ganzen Wesen als Mann fühlt. Diesen ihren Bedürfnissen ent- sprechend, befürwortete ich vor mehreren Jahren, daß dem Patienten die Erlaubnis gewährt werden sollte, dauernd Männerkleidung tragen zu dürfen. Der Antrag wurde genehmigt, Amanda B. lebte seitdem als Mann im Berufe eines Postbeamten. Der Grund seines erneuten Kommens ist der, daß er, vorzugsweise durch die strenge Personalkontrolle, wie sie der Krieg in verschiedenster Hinsicht, infolge der Lebensmittelkartenlisten, polizeilichen Meldungen und Eintragungen, häufiger Prüfung der Ausweispapiere, mit sich bringt, sich weitgehend gehemmt fühlt, und diese Be- schränkung seiner persönlichen Freiheit ihn seelisch überaus bedrückt sowie seine Arbeitslust und Arbeitsfähigkeit in hohem Maße herabsetzt. Alle diese Hemmnisse im Leben der Amanda B. würden sofort vermeidbar werden, wenn neben der Erlaubnis, die Kleidung des anderen Geschlechts tragen zu dürfen, auch einer Namensände- rung im Standesregister oder wenigstens in seinen Ausweispapieren stattgegeben werden könnte. Ich habe nun, dem Wunsche des Patienten gemäß, ihn wiederum seit mehreren Monaten, in Gemeinschaft mit meinem Kollegen Hodann, auf das ge- naueste untersucht und beobachtet; wir kamen zu folgendem Ergebnis: Amanda B. ist am 7. April 1890 zu St. als uneheliches, jedoch später legitimiertes Kind des Bahn- arbeiters Alexander B. und seiner Ehefrau Emma geboren. Betreffs der geschlecht- lichen Zugehörigkeit bestanden bei der Geburt keine Zweifel,' das Kind wurde unter weiblichem Namen eingetragen. Jedoch sollen sich schon in früher Kindheit die Leute über den Patienten auf- gehalten haben, daß er „so was Jungenhaftes an sich habe" — er selbst glaubt dies an sich seit dem 7. Lebensjahre bewußt empfunden zu haben, im Gegensatz zu den Mädchen, mit denen er, da angeblich keine Jungen in der Nachbarschaft waren, spielte. Für Puppen oder Kochen hat er sich nie interessiert, dagegen gern „Familie" gespielt, wobei ihm stets die Bolle des Vaters zufiel. Er war dabei „sehr wild". Die Bemerkungen anderer über sein abweichendes Wesen lösten bei ihm keinerlei unangenehme Gefühle aus, im Gegenteil, er empfand sie als willkommene Be- stätigung des von ihm Empfundenen. Nach seiner Einsegnung, wohl auch schon vorher, fühlte Patient sich sehr einsam. Er lebte unbefriedigt im Hause der Mutter. Mit 17 Jahren sollte er Buchführung lernen, da ihm aber das Bechnen nicht zusagte, gab er diese Beschäftigung nach einem halben Jahre wieder auf, lernte dann mit 19 Jahren die Blumenbinderei, da hierbei, wie er glaubte, mehr „männliche Arbeit" zu leisten sei. In diesem Berufe blieb er bis zum Kriegsausbruch; seit der I. Kapitel: Hermaphroditismus Umwandlung seiner Tracht ist er im Postbetrieb tätig, in dem er sich beruflich sehr befriedigt fühlt. Der Trieb, die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, trat bereits in der Kindheit bewußt zutage ; bei der Konfirmation gab es Auseinander- setzungen in der Familie, weil sich Patient weigerte, lange Kleider anzuziehen. Er fühlte sich als Junge und wollte sich demgemäß tragen. Nach der Einsegnung machte sich in der weiblichen Kleidung starkes Unbe- hagen bemerkbar, das erst wich, als dem Patienten mit 2i Jahren die Erlaubnis zum Tragen männlicher Kleidung erteilt wurde. Das Bewußtsein der Männlichkeit ist stark ausgeprägt und wird mit Sicherheit vertreten. Auch macht Patient in Männerkleidung, wie sich aus dem beigefügten Bilde ergibt, durchaus keinen auffälligen Eindruck. Bezüglich des körperlichen und seelischen Befundes konnten wir folgendes fest- stellen : Die äußeren Geschlechtsteile machen einen mehr weiblichen Ein- druck. Urethralmündung und Vaginalmündung sehr klein und eng. Von der Klitoris geht eine im erigierten Zustand 3V3 cm lange Hautfalte aus, die sich nach rechts nur durch einen flachen Sulkus getrennt, in die rechte kleine Schamlippe fort- setzt. Dieses Gebilde wird alle 5 Tage gleich einem erigierten Penis steif, gleichzeitig tritt starke Libido auf, eine Absch wellung erfolgt unter ruckartigen Bewegungen und Lustempfindungen. Die inneren Geschlechtsteile sind weiblich, jedoch besteht in allen Teilen eine hoch- gradige Hypoplasie, die es begreiflich erscheinen läßt, daß im ganzen Ge- baren des Patienten so gar keine femininen Charaktere zum Ausdruck kommen. Man fühlt rektal einen kleinen hypoplastischen retroflektierten Uterus, der gegen den Douglas frei beweglich ist. Adnexe sind nach keiner Richtung hin mit Sicherheit ab- zugrenzen. Das Becken weist folgende Maße auf : Distantia iliaca 25,9, Distantia spi- nata 23,0, Distantia trochanter. 30,0. Dagegen die Akromialbreite 28,9. Die geringere Breite der Dist. spin. gegenüber der Dist. iliaca ist als weibliches Merkmal zu deuten, während an die männlichen Maße der geringe Unterschied der Schulter- zur Hüft- breite erinnert (28,9—60,0). Die Haut ist von guter Turgeszenz, ihre Farbe nach der v. Luschanschen Farben- tafel 3. Das Fettpolster ist mäßig entwickelt. Der Knochenbau ist kräftig, die grobe Kraft der Extremitäten gut. Die Behaarung ist kräftig, in der Schamgegend dem sonstigen körperlichen Befund entsprechend nach weiblichem Typus mit der Querfalte des Möns veneris ab- schneidend. Der sonstige Körper wenig behaart, Achselhaare und Kopfhaare schwarz, schlicht. Die Brüste erscheinen, was das Fettpolster und die Mammillä anbetrifft, zwar weiblich, jedoch ist keine Spur von Drüsenpolster zu fühlen. Die Pekto- rales sind gut entwickelt. Der Kehlkopf springt nicht vor, ist aber kräftig ent- wickelt. Das Organ klingt beim Sprechen mehr m ä n n 1 i c h als w e i b 1 i c h. Die Stimme eine Singstimme tiefer Frauenlage. Der Thorax ist gut gewölbt, die inneren Organe zeigen keine Besonderheiten. Patient imponiert als durchaus gesunder Mensch, ist auch früher nicht krank ge- wesen, abgesehen von einer diphtherischen Infektion im 18. Lebensjahre. Psy- chischer Befund: Der Patient ist psychisch, im Gegensatz zu seiner in vielen Stücken überwiegend weiblich anmutenden Erscheinung, ausgesprochen viril. Die Männlichkeit des Patienten zeigt sich unter anderem darin, daß er, soweit er Dinge intellektuell erfaßt hat, sie mit . Konsequenz und Beständigkeit durchführt. Die Affektlage ist, obwohl Patient, wie er zugibt, wohl hin und wieder depressiven Anwandlungen nachzugeben in Versuchung kommt, eine gleichmäßige, es besteht keinerlei Launenhaftigkeit. Er besitzt einen starken Willen, im Beruf etwas zu erreichen, verbunden mit dier Überzeugung, dazu die Fähigkeiten zu haben. Ebenso ist bei völligem Fehlen einer Anlehnungsbedürftigkeit die Selbständigkeit seines 22 I. Kapitel: Hermaphroditismus 23 Wesens und der Wille, diese Selbständigkeit geltend zu machen, stark ausgeprägt. Patient lehnt für sich jeden Schmuck ab, liebt ihn aber, wie eine gewisse Weichheit und Schmiegsamkeit, bei seinen Liebesobjekten; raucht täglich 6 — 7 Zigarren, trinkt mäßig. Der Tascheninhalt besteht aus Streichhölzern, Zigarrenetui, Messer, Notizbuch. Geschlechtstrieb: B. hat sich als Kind nicht viel Gedanken über geschlechtliche Dinge gemacht, trotzdem die Anregung dazu nahelag, da die Mutier Hebamme war. Horte wohl mit 10 — 11 Jahren von ,, schweren Geburten", ließ sich dadurch aber zu keinerlei Fragen hinleiten. Pubertät setzte mit ungefähr 13 Jahren ein, eine Blutung hat nie stattgefunden, dagegen trat mit 15 — IG Jahren ein crektionsartiges Anschwellen der genitalen Mißbildung auf. Gleichzeitig verspürte er einen Trieb, der ausschließlich auf das weibliche Geschlecht gerichtet w a r ', und es heute noch ist. Mit IS Jahren setzte ein gewisser Stimmwechsel ein; die Stimme wurde merk- lich tiefer. Schon mit Ii — 15 Jahren zeigte sich ein leichter Flaum der Oberlippe, je- doch ist ein stärkerer Bartwuchs bis heute nicht aufgetreten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß im Falle von A. B. eine gewisse Dis- kongruenz der körperlichen und seelischen Geschlechtsmerkmale vorliegt. Seinem ganzen Verhalten und Auftreten entsprechend ist er mehr dem männlichen Ge- schlechte zuzurechnen. Aus diesem Grunde scheint uns der Wunsch des Patienten Berechtigung zu haben, bei seiner bereits gestatteten Lebens - w eise als Mann auch seinen Namen aus Amanda in Amandus ändern zu dürfen, wenn man die anfangs erwähnten Schwierigkeiten berücksichtigt, die sich in das Leben des Patienten dauernd einschieben. Irrtümliche Gesehleehtsbestiimn img. Findet sich bei einem Neugeborenen eine Hypospadie mit Krypt- orehismus vor, so kann es recht schwierig sein, die unmittelbar nach der Geburt auftauchende Schicksalsfrage: Knabe oder Mädchen, mit einer die Eltern vollkommen beruhigenden Be- stimmtheit zu beantworten. Da die erste Diagnose sich lediglich auf die äußerlich sichtbaren Werkzeuge der späteren Konjugation stützt, wird man bei dem Anblick eines Spaltes zunächst an eine Vagina denken und in dem anfangs nur kleinen, oft noch dazu von den Ge- scblechtswülsten bedeckten Phallus eher eine Klitoris als einen Penis zu sehen geneigt sein. Die Hebamme und auch der Arzt sind bestrebt, schnell das entscheidende Urteil abzugeben aus begreif- licher Rücksicht auf den Seelenzus.tand der Antwort heischenden Wöchnerin. Auf diese Weise sind eine Anzahl irrtümlicher Geschlechtsbestimmungen zustande gekommen, die sich später als reebt verhängnisvoll herausgestellt haben. Denn es ist keineswegs selten vorgekommen, daß im Grunde des für eine Scheide gehaltenen Spalts ein Samenleiter mündete, der von einem krypt- orchen oder nachträglich deszendierten Hoden seinen Ausgang nahm, so daß an dem männlichen Geschlecht der als Weib lebenden Person nicht der geringste Zweifel bestand. Haben doch solche Indi- viduen verschiedentlich selbst Kinder gezeugt. (Vgl. Seite 76 meiner Kasuistik.) 24 I. Kapitel: Hermaphroditismus Nicht ganz so oft, aber immerhin noch häufig genug, hat sich aber auch das Gegenteil ereignet. Der ziemlich ansehnliche Phallus wurde, als man ihn zuerst wahrnahm, nicht für eine Klitoris, son- dern für ein männliches Geschlechtsglied gehalten; in dem von der Phallusbasis ausgehenden Schlitz sah man keine Vagina, sondern eine Hypospadia scrotalis. In Wirklichkeit aber führte diese Öffnung in einen Scheidenkanal, in dessen oberem Gewölbe sich ein Mutter- mund befand, welcher zum Uterus, zu Tuben und Ovarien führte. Ich erwähnte bereits ein solches Weib, das als Gatte und angeblicher Vater verstarb, ohne daß ihm jemals Bedenken über seine an- scheinend männliche Geschlechtszugehörigkeit aufgestiegen waren. Auch Arnold Heymanns8) Fall eines 17jährigen Gymnasiasten, der aus einem regelrecht von der Harnröhre durchzogenen Penis menstruierte, gebort hierher. Der Katheter führte geradeaus in die Blase, an der hinteren Harnröhrenwand entlang gleitend, aber auch in eine Scheide, über welcher man vom Bektum aus einen Uterus mit Adnexen fühlen konnte, hingegen keine Prostata. Der junge Mann wollte die Blutungen aus1 dem Penis beseitigt haben und Professor Zuckerkandl exstirpierte ihm aus diesem Grunde die weib- lichen Organe; ob er hierzu befugt war, bleibe dahingestellt, uns interessiert hier besonders, daß er beim Bauchschnitt Uterus und die rechten Adnexe normal befand, links eine langgestreckte Tube, aber kein Ovar, statt dessen ein haselnußgroßes Gebilde an der inneren Mündung des Leistenkanals, das keine Spur von weiblichen Keim- zellen aufwies, dagegen fibrinöses Gewebe mit zahlreichen Spindel- zellen, wie man sie im Ovarialstroma findet. Das rechte Ovar war normal mit Graf f sehen Follikeln und einem frischen Corpus luteum. Der Geschlechtstrieb dieses Patienten war aber trotz Eier- stöcke auf weibliche Personen gerichtet, er glich darin also einer homosexuellen Frau, wodurch sein Wunsch, den Penis zu be- halten, die Blutungen aber zu verlieren, verständ- lich wird. Neben den eben angeführten Befunden, aus denen hervorgeht, daß sich hinter nahezu gleicher äußerer Genitalbeschaffenheit Hoden oder Ovarien verbergen können, liegt noch eine dritte Möglichkeit vor und auch sie gehört nicht zu den Ausnahmen. Sie besteht darin, daß die Geschlechtsdrüse, die sich hinter der zweifel- haften Fassade aufhält, gleichfalls zweifelhaft ist. Entweder ist sie dann rudimentär und in ihrem Gewebe so geartet, daß weder in vivo, noch post mortem festgestellt werden konnte, ob die Person männlich oder weiblich war, oder sie ist dies beides zu- gleich, indem sie deutlich nebeneinander männliches und weibliches ' ' ; I \ -' M 1 i 8) Wien. klin. Rundschau 1906. Nr. 26: Heterotypischer Hermaphroditismus femininus externus. I. Kapitel: Hermaphroditismus 25 Geschlechtsdrüsengewebe zeigt. In beiden Fällen sind wir ' berechtigt, zu sagen, daß es sieh hier um einen Men- schen neutrius generis handelt. Aus diesen kurzen Bemerkungen erhellt schon, daß wir mit der alten Einteilung von Klebs in Hermaphroditismus masculinus und femininus nicht ausreichen, da der ebenso wichtige und häufige Hermaphroditismus neutralis (oder incertus) keine Berücksichtigung findet. Schon Virchow hatte einst gesagt, man würde nicht um- hin können, zuzugestehen, daß bei einer gewissen Anzahl von Herma- phroditen überhaupt keine ausgeprägte Geschlechtsdrüse vor- handen ist, und der größte Hermaphroditenforscher, v. Neugebauer, bemerkt: „Wiederholt habe ich den Statistikern und Juristen vor- gehalten, daß wirklich ein Individuum neutraler Art existiert, ein Individuum neutrius generis. Man kann sich dabei anstellen wie man will, so wird man eben doch nicht mit Sicherheit sagen können, es ist eine Frau, oder es ist ein Mann. Steht nun die Tatsache fest, daß es homines neutrius generis gibt und daß wir in vielen Fällen trotz Mikroskops außerstande sind, das Geschlecht zu ent- scheiden, so würde sich als logische Konsequenz ergeben, im Standes- amte in der Metrik eine Rubrik einzuführen: „Geschlecht zweifelhaf t". Neugebauer hält diese Forderung allerdings nicht für praktisch durchführbar, weil die Eltern wissen wollen, ob das Kind eine Knabe oder ein Mädchen ist und ob sie das Kind als Knabe oder als Mädchen erziehen sollen. Aber nicht nur die Einteilung des Hermaphroditisnius in männ- lich und weiblich, sondern auch die andere allgemein verbreitete, in Hermaphroditismus verus und falsus, wahres und Schein- zwittertum hat der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnis und Forschung nicht standhalten können. Bevor ich aber zu dieser und weiteren theoretisch und praktisch bedeutsamen Fragen dieses Gebietes kritisch Stellung nehme, empfiehlt es sich, zunächst einmal einen Überblick über die von mir selbst beobachteten Fälle von Hermaphroditismus zu geben. Aus dieser lebendigen Quelle schöp- ; fend, gewinnt der Leser am ehesten Klarheit und kommt dadurch in die Lage, einer Mensehengruppe in ihren eigenartigen Schicksalen gerecht zu werden, die — man möge mir dies Wortspiel verzeihen — mehr noch wie unter eigenen Bildungsfehlern, unter Fehlern in der Bildung anderer gelitten hat. Der erste der von mir beobachteten und veröffentlichten Fälle betrifft die jetzt 5(3 Jahre alte Friederikes.9) Als ich sie kennen lernte, war sie 43 Jahre all. Sie wurde im Frühjahr 1861 auf einem Dorf in Bayern geboren. Die Eltern, welche sich mit Landwirtschaft beschäftigen, leben noch, sind über 70 Jahre alt und gesund. Sie sind nicht blutsverwandt, die Mutter ist 2 Jahre älter, als der Vater, beide sind.sitten- 9) Dieser Fall wurde zuerst von mir in der „Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene", 2. Jahrgang 1905, Heft 1 beschrieben. 2Q I. Kapitel: Hermaphroditismus strenge sehr fromme und biedere Leute und führen eine glückliche Ehe. Friederike hat zwei Geschwister, die verheiratet sind, Kinder haben und stets kräftig und gesund gewesen sein sollen. In ihrer engeren und weiteren Familie sind ihr keine Falle von geistigen Störungen, mangelhafter Körperentwicklung, Bruch, Kropf, Lues, Alkoholismus, Tuberkulose bekannt, auch kamen in der Verwandtschaft keine Selbstmorde vor. Eine Belastung im d e g e n e r a t i v e n Sinne ist nicht nachweisbar. Friederike lernte rechtzeitig gehen und sprechen. Die erste und zweite Zahnung verlief normal; sie litt weder an Kopfschmerzen, noch an Krämpfen, Bettnässen oder anderen Störungen. Von den Eltern, die niemals mit ihr über geschlechtliche Verhält- nisse sprachen, wurde sie streng, man kann sogar sagen prüde, erzogen Besonders wundert sie sich, daß die Mutter sie niemals „nach dem Unwohlsein ge- fragt hat". Sie zog im allgemeinen Knabenspiele vor, kletterte gern auf Bäume lernte aber auch alle Handarbeiten. In der Schule machte sie gute Fort- schritte- große Vorliebe hatte sie für Naturwissenschaften und Geographie. Im 13. Lebensjahr zeigten sich die Pubes, die Brüste blieben völlig unver- ändert, Menses traten nicht ein, im 17. Jahr veränderte sich die Stimme. Im be- ginne der zwanziger kamen Barthaare an Oberlippe und Kinn, welche sie anfangs mit der Scheie, später mit dem Rasiermesser entfernte. Ziemlich früh, ihrer Erinnerung nach schon vor der Reife, begann sie durch Friktionen an der „Klitoris" zu mastur- bieren; sie hat diese Manipulationen, allerdings vielfach mit monatelangen Unter- brechungen, bis in die jetzige Zeit fortgesetzt. Status praesens, a) Geistige Eigenschaften: Die Patientin macht einen ernsten, ruhigen Eindruck, sie lacht wenig, ist sehr schamhaft miß- trauisch und ängstlich. Anderseits liegt aber auch viel Liebenswürdigkeit und Gut- mütigkeit in ihrem Wesen, Sie gibt an, daß sie ziemlich leicht heftig wird und — wenn sie verletzt ist — sehr rachsüchtig sein kann. Abergläubisch ist sie gar nicht, sie kann sich „ordentlich aufregen", wenn ihre Mitarbeiterinnen vom Traum- deuten und Kartenlegen sprechen. Familiensinn ist nur in geringem Grade vorhanden, c i n K i n d m ö c h t e s i e n i c h t b e s i t z e n. Sie ist sehr opferwillig und konnte für eine Freundin „ihren ganzen Verdienst hingeben". Sie trinkt und raucht gern und kann 4 halbe Liter „Echtes" oder eine Flasche Wein gut vertragen. Ihre Intelligenz ist bedeutend, sie besitzt eine für ihren Stand umfangreiche Bildung. Das Gedächtnis ist gut, sie beobachtet und prüft scharf. Sie interessiert sich für Altertümer, auch für Kriege und Politik, in der Zeitung fesseln sie am meisten die Selbst- mord e. Für die Mode hat sie gar kein Interesse, sie liest gern wissenschaftliche Werke, niemals Romane. Sie kann kochen, versteht Haus- und Handarbeiten, doch gi-bt sie männlichen Beschäftigungen den Vorzug. Sie besitzt einen Revolver und scharfe Patronen, schießtgern, kann auch reiten und rudern. Sie wäre am liebsten Kunstreiterin geworden, sie zeichnet häufig Damenkopfe, auch hätte sie gern als Soldat gedient, sie liebt aber das Militär nur im Ausmarsch - a n zur, nicht im ..Sonntagsstaat", In ihrer Kleidung zieht sie einfache, anliegende Gewänder vor, am angenehmsten ist ihr die englische Fagon (Reitkleid), sie hat Ab- neigung gegen Schmuck, Vorliebe für hohe Kragen und Herrenhute, dech trägt sie, um weiblicher auszusehen, einen großen Federhut, ein Samtband um den Hals, das den Adamsapfel verdeckt, Bluse mit Brosche, Korsett mit Brusteinlage und Tournüre. Auf Maskenbällen ist sie zu ihrer großen Freude einige Male als Mann gegangen. Ohrringe, die sie ebenfalls früher ge- tragen hat, sind ihr verhaßt, ebenso Armbänder, Fächer, Parfüms, Puder und Schminke. Wegen ihres bescheidenen, liebenswürdigen Charakters ist sie überall wohl gelitten, doch sind ihr größere Gesellschaften unangenehm, am liebsten ist sie zu zweren. Ihre Schriftzüge sind groß, fest und sicher. b) Der Geschlechtstrieb. Die eisten geschlechtlichen Regungen traten im 13. Lebensjahr auf. Die Richtung des Geschlechtstriebes war immer dieselbe, und zwar wandte sie sich von Anfang an dem weiblichen Geschlecht zu. Die Liebes- l räume bezogen sich stets auf das Weib, sie träumte, daß sie ein Mädchen küßte und I. Kapitel: Hermaphroditismus 27 an sich drückte, wobei Erektionen der „Klitoris" eintraten. Dieselben bemerkte sie auch schon früh beim Berühren oder Umarmen ihrer Schulfreundinnen. Dem Manne gegenüber besteht in sexueller Hinsicht Gleichgültigkeit, vor dem Koitus mit ihm Widerwillen. Vier Heiratsanträge, welche ihr im Laufe der Jahre ge- macht wurden, lehnte sie ab, zweimal gab sie dem Verlangen von Männern, welche mit ihr kohabitieren wollten, nach, fühlte sich aber nach dem „inter feinora" vorge- nommenen Akt sehr unbefriedigt. Auf die Frage, was sie am Manne abstößt, ant- wortete sie : „es ist kein Reiz d a". Ihre Neigung erstreckt sich besonders auf 18— 24jährige Mädchen mit vollen Brüsten und runden Armen, und zwar mehr sanftmütige und gebildete Personen. Eine große Vorliebe hat sie für schöne Hände. Zweimal hatte sie ein Freundschaftsbündnis von -längerer Dauer, jedesmal etwa 3 Jahre, sie war sehr eifersüchtig, bezeichnet aber diese Jahre als die glücklichste Zeit ihres Lebens. Die Art ihres Begehrens ist männ- lich aktivisch, die Stärke ihres Geschlechtstriebes groß, nach dem Verkehr mit einer Frau fühlt sie sich erfrischt und gesundheitlich gefördert. Sie warder Meinung, daß sie homosexuell veranlagt sei. Wenn die Gelegenheit zum sexuellen Verkehr mit einem Weibe lange fehlte, griff sie zur Selbstbefriedigung. Sic fühlte sich oft sehr unglücklich, litt an Lebensüberdruß, kaufte sich daher einen Revolver, hat aber keinen Selbstmordversuch gemacht. Am liebsten wäre sie „als Mann geboren", angekämpft gegen ihre Natur hat sie nicht, weil sie es für aussichtslos hielt. Trotz sehr religiöser Erziehung hat sie ihren Glauben verloren, weil „in der Bibel steht, Ihr sollt Euch vermehren und sie nicht an einen Gott glauben kann, der so unvollkommene Geschöpfe geschaffen habe, wie sie eines sei". c) Körperlich erBefund: Patientin ist 1,72 m g r o ß , wiegt 156 Pfd., ihre Knochen sind stark, die Körperkonturen nicht abgerundet, sondern eckig, Oberarm und Oberschenkel abgeflacht, Fettpolster sehr gering, Muskeln abgesetzt und kräftig, sie hebt mit einer Hand Ufa Zentner, trägt 2 Zentner auf dem Rücken, mich selbst (85 Kilo) hob sie ziemlich leicht empor, Hände und Füße sind groß, besonders die Hände ungewöhnlich kräftig, das Fleisch fühlt sich fest an, sie turnt gern, tanzt auch gern „als Herr", ihre Schrille sind ziemlich kurz, ihr Gang ist gerade, doch dreht sie sich etwas in den Hüften, schon als Kind konnte sie „wie ein Bube" pfeifen. Der Kehlkopf ragt sehr stark hervor, was durch ein Samtband sehr ge- schickt verborgen wird. Die Stimme 'ist tief und rauh, Halsumfang 37 cm, die Länge Halses beträgt, von der Incisura thyreoidea bis zum Manubrium slerni 10 cm. Die Schlüsselbeine ragen vor. Thoraxumfang über den Mamillä gemessen, bei der In- spiration 98, in Exspirationsstellung 91 cm. Der Atmungstypus abdominal. Der Warzenhof hat einen Durchmesser von l»/2 cm, ist ein wenig umhaart. Mamma - sewebe nicht nachweisbar. Auf der linken Seite befindet sich, genau in der Mitte der 28 cm langen Verbindungslinie, welche von der Brustwarze bis zum Nabel gezogen werden würde, eine kleine überzählige Brustwarze. Die Hüflbreile ist bedeutend schmäler wie die Schulterbreite; der Schulterumfang beträgt — unter dem „Akromion" genommen — 106 cm, der Hüftumfang dagegen, am oberen Endpunkt der Rima pudendi gemessen, 98 cm, zieht man nur die Vorderseite in Betracht, so ist die Schulter vom Akromion zum Akromion 50 cm, die Hüfte in der Mitte zwischen Nabel und Symphyse von einem Oberschenkel zum anderen 44 cm breit. Das Becken selbst hat einen völli'g männlichen Charakter. Der Schädel ist kräftig, die hohe Stirn wird durch die nach unten gekämmte Haarfrisur um ein wesentliches verkürzt; das Kopfhaar reicht jetzt aufgelöst bis zur Mitte der Schulterblätter und ist nicht sehr dicht, bis zum 20. Jahr wurde es in zwei Zöpfen getragen, welche damals bis zur Taille reichten. Jetzt wird es in moderner Damenfrisur getragen. Der Bartwuchs ist sehr stark; der Bart wird an der Oberlippe und am Kinn täglich rasiert, die Superzilien sind ziemlich stark. Der Gesichtsausdruck ist im ganzen männlich, besonders die Nasen- und Mundrartie, die Züge grob, nur der Blick ist innig, mehr weiblich, ihre Bekannten 28 sagten, sie hätte einen „verliebten Blick", in der Wange befinden sich tiefe Grübchen, die Ohren sind zierlich, die Ohrläppchen von kleinen Löchern durchbohrt. Die Haut ist ziemlich zart und fast unbehaart, nur am Unterarm und Unter- schenkel befindet sich ein leichter Flaum Die Schambehaarung trägt mehr weiblichen Typus; nur bei genauem Hinsehen bemerkt man Spuren des für Männer charakte- ristischen Haarstrichs zwischen Nabel und Symphyse. Die Schmerzempfindlichst der Haut ist groß. Patientin will immer gesund gewesen sein, so daß sie noch nie- mals einen Arzt konsultiert hat. ...» d) Die Geschlechtsteile: Die äußeren Geschlechtsteile zeigen a u f oberflächlichen Anblick eine weibliche Form. Man sieht zwei stark entwickelte große Labien, welche sich nach dem Damm zu verbreitern, ziemlich reichlich behaart sind und an der Innenseite prominente Talgdrüsen aufweisen.- Die hintere Kommissur der großen Labien grenzt sich nach oben zu scharf ab, wah- rend die Labien nach dem Damme zu ineinander übergehen. Der letztere ist ziemlich lang und ist an seinem analen Ende mit Hämorrhoidalknoten besetzt. In der oberen Schamlippe ist ein h ü h n e r e i g r o ß e s , hodenartiges Ge- bilde deutlich palpabel. Von demselben geht ein Strang aus, der sich wie ein „Vas deferens" anfühlt. Kremasterreflex nachweisbar. Die linke Scham- lippe ist leer, doch gelingt es, von der Unterleibshöhle aus durch den linken Leisten- kanal ein hodenartiges Gebilde von der Größe eines Taubeneies herabzudrucken Es wird angegeben, daß bei dem Geschlechtsverkehr mit Weibern, welcher teils nach Art des normalen Koitus, teils als Kunniüngus vorgenommen wird, im Orgasmus ein schleimiges Sekret „etwa ein Fingerhut voll" entleert wird, welches aus einer anderen Öffnung als der Harn hervorquillt. Dasselbe geschehe bei der Masturbation. Das Ejakulat wurde von dem Privatdozenten der Berliner Universität, Herrn Dr. H. F r i e d e n t h a 1 mikroskopisch untersucht. Es fanden sich dann sehr zahlreiche völlig normale Spermatozoon. In dem zwischen den großen Labien befindlichen Spalt treten die stark ent- wickelten Schleimhäute der kleinen Labien zutage. Oben bilden sie ein weithervor- ragendes Präputium, nach dessen Zurückstreifen erst die undurchbohrte Klitoris sicht- bar ist. Diese ist von Smegma bedeckt, zeigt deutlich eine Glans, einen Sulcus coro- nanus, ist in der Ruhe 4, in statu crectionis 7 cm lang. An der Spitze findet sich ein seichtes Grübchen, welches sich nach unten in einer Furche fortsetzt, die in den schmalen Schcidenspalt übergeht. 6 cm unterhalb der Penisspitze mündet in diese Rinne der Uretnralkanaij Hymen ist nicht vorhanden, in die Scheide kann weder mit dem Finger, noch mit einer Sonde eingedrungen werden, da diese Manipulationen mit zu großen Schmerzen verknüpft sind, und in Chloroformnarkose nicht untersucht werden konnte. ZieM man die kleinen Labien weit auseinander, so scheint es, als ob die blutigrote Scheide in einer Tiefe von 3 cm blind endigt. Bei der rektoabdominalen Untersuchung fand ich nichts, was als Uterus, Tube oder Ovarien gedeutet werden konnte, dagegen einen walnußgroßen Körper, der nach Form und Lage den Eindruck einer I rostala hervorrief. . C Epikrise: Bei der 40jährigen Friederike Schmidt, die seit ihrer Geburt als Weib lebt, zeigt sich ein absolut männlicher, stark auf das Weib gerichteter Ge- sell 1 e c h t s t r i e b , der sich in seiner Richtung niemals verändert hat. Ihre geistigen Eigenschaften und Neigungen sind von Jugend an überwiegend männlich, trotzdem sie im Laufe der Jahre mancherlei weibliche Gewohnheiten angenommen hat. Die sekundären Geschlechtscharaklere sind fast ausnahmslos rein männlich, nur die Scham- und Kopfbehaarung zeigt weiblichen Typus, doch besteht daneben reichlicher Bartwuchs. Kehlkopf, Brüste, Becken sind ab- solut viril. Menses waren nie vorhanden. Was die primären Geschlechtscharaktere anlangt, so läßt sich, entsprechend dem Geschlechtstrieb und den Geschlechtszeichen zweiter Ordnung, ein hodenartiger Keimstock nachweisen, von dem ein s a me n s t r a n g ar 1 1 g e s Gebilde 29 ausgeht; im linken Leistenkanal steckt ein atrophischer Keimstock unbestimmten Cha- rakters. Der Geschlechtshöcker nimmt eine Mittelstufe zwischen Penis und Klitoris ein. Große und kleine Schamlippen sind vorhanden, welche eine kurze, blind endigende Scheide begrenzen. Im übrigen sind weibliche Organe, vor allem ein Uterus, nicht nachweisbar, dagegen scheint eine Prostata vorhanden zu sein. Da die Untersuchung des Sexualsekrets zweifellos Spermatozoen er- geben hat, so läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß es sich hier um eine irrtümliche Geschlechlsbrslimmung (erreur de sexe) handelt, indem die als Weib lebende Friede- rike Schmidt in Wirklichkeit männlichen Geschlechtes ist, die Kinder zu zeugen sehr wohl imstande ist. Der Irrtum wird dadurch verständlich,' daß wahrscheinlich bis zur Pubertät doppelseitiger Kryptorchismus bestand, so daß die leeren großen und kleinen Schamlippen oder richtiger Geschlechtsfalten und Wülste in Verbindung mit dem hypospadäischen, sehr kleinen Membrum in der Tat den ab- soluten Eindruck weiblicher Geschlechtsteile hervorriefen, zumal ja die bei der Geburt noch völlig indifferenten sekundären und tertiären Geschlechts- charaktere für die Diagnose nicht in Betracht kommen konnten. Meinen Vorschlag, ihre Metrik zu ändern und als Mann weiter zu leben, lehnte die Patientin ab, da sie das mit dieser Umänderung verknüpfte Aufsehen scheute und fürchtete, die ihr angenehm gewordene geschäftliche Stellung zu verlieren. In den 12 Jahren seit dieser Schilderung hatte ich Gelegenheit jährlich einige Male die Patientin zu sehen. In den ersten Jahren war sie sehr zufrieden. Sie hatte sich in ein Weib verliebt oder vielmehr ein Weib hatte sich in sie verliebt, und da sie diese Neigung in hohem Grade erwiderte, verbanden sie sich und zogen zusammen. Dieses Weib war eine Masseurin, die von der Befriedigung maso- chistischer Männer lebte. Selbst wohl etwas sadistisch veranlagt, jedenfalls mit vielen männlichen Eigenschaften wie Kraft, Ge- schäftssinn, Herrschsucht versehen — in Zeitungsanzeigen bezeich- nete sie sich als „sehr energische Masseurin" — spielte sie völlig die Eolle des Hausherrn, während Friederike die Wirtschaft führte und überhaupt die Stellung der Frau im Hause einnahm. Eines Tages aber heiratete ihre Freundin einen ihrer Kunden, wie sie sagte einen wirklichen Mann, nicht aus Liebe, sondern um äußerer Vorteile willen. Unsere Patientin war darüber seelisch tief be- troffen. Ich sah sie in dieser Zeit sehr häufig. Hochgradigste Er- regungszustände wechselten mit starken Depressionen und Selbst- mordgedanken, so daß man zeitweise den Eindruck einer klimak- terischen Psychose in voller Ausbildung hatte. Nach einigen Jahren klang dieser Zustand ab; jetzt ist sie wieder ziemlich ruhig, nur an die Episode mit ihrer Freundin darf man nicht rühren. Sie ernährt sich schlecht und recht als Wäschenäherin. Den Gedanken, sich jemals auf ihr wirkliches Geschlecht überschreiben zu lassen, hat sie völlig aufgegeben. Nur im Beginn des Krieges erwog sie noch einmal ernstlich ihre Umwandlung, da sie sich gern als „Kriegs- freiwilliger" gemeldet hätte, ließ aber den aus vaterländischer Be- geisterung geborenen Gedanken nach kurzer Zeit doch wieder fallen. Besteht in diesem Fall an der Diagnose: irrtümliche Ge- schlechtsbestimmung auf Grund von Pseudoherma- 30 I. Kapitel: Hermaphroditismus phroditismus maseulinus nicht der geringste Zweifel, so liegen die Verhältnisse in dem folgenden Fall 10), den man nur als Sexus incertus bezeichnen kann, ungleich verwickelter. A. Vorgeschichte: Franz K. wurde 1873 als jüngstes Kind eines Fürsters in Weslpreußen geboren und als Knabe getauft. Der Vater starb in hohem Alter an unbekannter Krankheit, die Mutter in ihrem 40. Lebensjahre, angeblich an Gehirn- erweichung. Der Vater hatte mit 31 Jahren die damals 22jährige Mutter geheiratet, und entstammten der 18jährigen Ehe außer Franz noch 2 Söhne und eine Tochter. Die beiden älteren Brüder starben zwischen ihrem 20. und 30. Jahre, der eine an Magenblulen, der andere an unbekannter Krankheit. Die Eltern und Großeltern waren nicht blutsverwandt. Abgesehen von der angebüchen progressiven Paralyse der Mutter sind weder bei den Vorfahren noch bei den Seitenverwandten Fälle von Geisteskrankheilen, körperlichen Abnormitäten, Alkoholismus, Lues, Tuberkulose oder anderen Leiden beobachtet worden, von denen man annimmt, daß sie zur Degeneration einer Familie führen. Soviel unser Patient weiß, befinden sich in seiner Verwandtschaft keinerlei ge- schlechtlich absonderliche Persönlichkeiten, auch nicht auffallend weibliches Aussehen männlicher oder männliches Aussehen weiblicher Familienmitglieder. Er selbst ähnelt in hohem Grade seiner Muller. Die Kindheit des P. bot wenig Besonderes; außer leichten Kinderkrankheiten war er stets vollkommen gesund, so daß nie ärztliche Hille in Anspruch genommen zu werden brauchte.' Er war auch nicht ängstlich oder schreckhaft, fühlte sich aber mehr zu Mädchen hingezogen, mied die wilden Knäbenspiele und erkannte früh, daß er „anders war, als andere Kinde r". Anfangs im Ellernhause erzogen, kam er mit 12 Jahren in die Stadtschule und verbrachte von dieser Zeit ab nur, mehr die Ferien bei den Eltern. Diese sowohl wie die älteren Geschwister wußten von seiner zwitterhaften Beschaffenheit, vermieden es aber, mit ihm darüber zu sprechen. Im 15. Jahre machte sich die Geschlechtsreife bemerkbar, es traten die Pubes auf, gleichzeitig wuchsen die Brüste stark, während ein deutlicher Stimmwechsel nicht beobachtet wurde. Ein schwacher Bartflaum über der Oberlippe machte sich zuerst im 20. Jahre bemerkbar. Nach beendeter Schulzeit lernte P. Kaufmann. Mit '19 Jahren stellte er sich frei- willig zum Militär, um nicht bei der Aushebung in Anwesenheit der anderen Rekruten untersucht zu werden. Der Militärarzt erklärte ihn für dauernd untauglich. Er nahm dann Stellungen als Buchhalter an, die er stets lange und zu großer Zu- friedenheit seiner Vorgesetzten inne hatte. Augenblicklich hat er einen Vertrauens- posten inne, auf dem jährlich mehrere hunderttausend Mark durch seine Hände gehen. B. Status praesens, a) Körperlicher Zustand. Patient suchte mich auf behufs Ausstellung eines Gesundheitsattestes, welches seitens einer Behörde von ihm erfordert wurde. Es hatte ihn große Überwindung; gekostet, sich zu einem Arzte zu begeben, und war schließlich seine \v"ahl auf mich gefallen, da er erfahren hatte, daß ich Personen seiner Art, die er als „Lebewesen letzter Klasse" bezeichnete, besonderes Interesse entgegenbrächte. Das Auffallendste beim ersten Eindruck war, daß es fast unmöglich schien, über das Aller der sich vorstellenden Person ein Urteil zu fällen. Man konnte ihn ebensogut für 17, wie für 40 Jahre hallen. Er erzählte mir, daß er sehr häufig, wenn er Besucher seiner Firma herumzuführen und ihnen Auskünfte zu erleilen hätte, von diesen während der Unterhaltung gefragt würde: „wie alt sind Sie denn eigentlich?" worauf er dann humorvoll zu antworten pflege: 10) Dieser Fall wurde von mir zuerst in der „Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene" (herausgegeben von Dr. med. Karl Rieß, Stuttgart, Verlag von W. Malende, Leipzig), II. Jahrgang, Heft 5, veröffentlicht. I. Kapitel: Hermaphroditismus 31 „17 durch" oder „17 gewesen". Sein Alter verberge er, damit die Leute ihm nicht zum Heiraten zureden. Patient trägt einen Anzug, der in keiner Weise von der bei Herren üblichen Tracht abweicht. Sein hellblondes Haupthaar ist kurz, struppig, ungescheitelt. In seinem zarten hübschen Gesicht findet sich ein spärlicher, flach sfar bener Schnurrbart. Nachdem der jetzt 32 Jahre alte, 1,69 m große und 148 Pfd. schwere F. K. sich entkleidet hat, zeigt sich ein prachtvoller weiblicher Körper. Der Brust- umfang ist 90, der Hüftenumfang 98 cm. Die Mammae treten als zwei pralle volle Halbkugeln hervor. Die Brustwarzen sind ziemlich groß und von einem rosa gefärbten Warzenhof umgeben, dessen Durchmesser 5 cm beträgt; in demselben sind einige Montgomerysche Knötchen deutlich sichtbar. Bei der Pal- pation fühlt man unter der Haut der Brüste ein Gewebe, das vom weiblichen Mamrha- gewebe nicht zu untei scheiden ist. Die Haut ist sehr, zart, reiri und vollkommen glatt. Die Körperlinien sind abgerundet, namentlich die Schulter-, Oberarm-, Hüft- und Oberscherjkelkonturen absolut feminin. Die Hände sind weich und zierlich (Handschuhnummer 7), die Füße ldein. Das Fleisch fühlt sich teigig und schwellend an, die Muskulatur ist schwach entwickelt. Die Schritte sind klein und kurz, doch findet beim Gehen kein Drehen in den Schultern und Hüften statt. Patient kann nicht pfeifen. Es besteht keine Neigung zu kräftiger Muskeltätigkeit, Turnen, gymnastischen Spielen, aber auch nicht zum Tanz, dagegen zum Wandern und Badfahren. Der Atmungstypus ist koslal. Der Kehlkopf tritt am äußeren Halse nicht hervor; die Stimmlage ist mittel; wie Patient angibt, ist sie durch Übung tiefer geworden. Die Sprache ist einfach, nicht geziert; Neigung in Fistelstimme zu sprechen ist nicht vorhanden, eher das Gegenteil. Der Gesichlsausdruck ist weder ausgesprochen männlich noch weiblich, jeden- falls aber mehr weiblich als männlich. Die schönen, blauen Augen haben einen ruhigen, sanften, leicht melancholischen Ausdruck. Patient fühlt sich außer seiner Anormalität vollkommen gesund. Es bestehen keinerlei Störungen des Nervensystems, auch keine Migräne und Neurasthenie. Patient hat bisher niemals ärztlichen Beistand nötig gehabt. Die Untersuchung der Lungen, der Zirkulationsorgane, des Verdauungsapparates sowie die Analyse des Harns ergeben völlig gesunde Verhältnisse. b) Genitalapparat: Bei dem ersten Anblick der Genitalien kann man sich des Erstaunens nicht erwehren, was die Eltern und die Hebamme wohl veranlaßt haben mag, in diesem Falle einen Knaben zu diagnostizieren. Man muß jedoch be- rücksichtigen, daß die genitale Formation neugeborener Individuen viel leichler zu einem Zweifel und Irrtum in der Geschlechtsbestimmung Anlaß geben kann, wie die definierte postpubische Gestaltung. Bei den Neugeborenen kommen die sekundären Geschlechtszeichen außer Betracht, die charakteristischen Pubes sind nicht vorhanden; die unmittelbar post partum fest aneinandergepreßten, die Nymphen überdeckenden großen Labien sehen einem kryptorchistischen Skrotum, bei dem die Baphe ein- gesunken ist, zum Verwechseln ähnlich. Findet sich nun oberhalb dieser Bildung ein deutlich hervorstehender Bürzel, so wird der Laie leicht zu der Diagnose „Mann" kommen, da er in einem wenn auch noch so kleinen Membrum virile das entscheidende Zeichen der Männlichkeit sieht und über das weibliche Analogon des Geschlechts- höckers gewöhnlich nicht genügend unterrichtet ist. Die makroskopische und mikroskopische Untersuchung ergab bei K. folgenden Befund: Die Schambehaarung ist typisch weiblich. Es sind zwei gut entwickelte Labia majora vorhanden. In die rechte Schamlippe läßt sich ein kleines, taubeneigroßes, in die linke ein haselnußgroßes Ge- bilde vom Leistenkanal aus nach unten drücken. Die Berührung derselben ist mit Schmerzen verbunden. Es ist unmöglich, bei der Palpation zu beurteilen, ob 32 es sich bei diesen Organen um Hoden, Eierstöcke (oder um Ovotestes) handelt. Beim Herunterziehen scheint es, als ob diese Gebilde mit einem bindegewebigen, runden Strang von geringem Durchmesser in Verbindung stünden, der sich weder wie ein Vas deferens, noch wie eine Fallopische Tube anfühlt. Zentralwärts von den großen sind die kleinen Schamlippen sichtbar, die ca. 4 cm lang sind und durch eine reichliche Anzahl von Schleimhautfalten auf- fallen. Streift man sie nach oben auseinander, so erblickt man einen Bürzel, der 2 cm breit und 1 cm lang ist. In der geschlechtlichen Erregung soll derselbe etwa 1J cm breiter und ein wenig länger werden. Dieser stumpfe Höcker zeigt keine Mündung eines inneren Kanals, dagegen an seiner Oberfläche eine nach unten ver- laufende flache Binne, an deren vaginalem Ende die Urethra mündet. Die unterhalb derselben gelegene hymenlose Öffnung der Scheide ist für eine bleistiftdicke Sonde durchgängig. In einer Tiefe von Ii cm stößt diese Sonde auf den Grund des häutigen Kanals, der keinerlei Vorwölbungen und Öffnungen zeigt, welche man als Portio und Muttermund ansprechen könnte. Die digitale Untersuchung per vaginam ist nicht möglich. Per anum fühlt man keine Prostata. Rektoabdominal ist k e i n e Resistenz p a 1 p a b e 1 , die als Uterus gedeutet werden könnte. Die Monatsregel war nie vorhanden, auch keine vikariierenden Menses oder menstruelle Äquivalente. Patient gibt an, daß sich bei dem meist durch Masturbation herbeigeführten Orgasmus etwa 2 Gramm weiß- lichen Schleims entleeren, welche er für Samenflüssigkeit hält. Die zu zwei verschiedenen Malen vorgenommene mikroskopische Untersuchung des Ejakulats ergab in bezug auf Samenfädchen ein negatives Resultat. Kollege Dr. M. Z o n d e k , welcher die Untersuchung ausführte, berichtete mir: „Ich habe die schleimige, grau aussehende Flüssigkeit sofort nach Empfang frisch untersucht, einige Trockenpräpa- rate gemacht und dieselben nach einiger Zeit gefärbt. Es zeigten sich beide Male Plattenepithelien, sehr groß mit verhältnismäßig kleinem, zentral gelegenem runden Kern, ferner Bakterien, amorphe Massen, geronnener Schleim. Spermatozoen waren nicht Vorhände n." c) Der Geschlechtstrieb. Im Gegensatz zu der bisexuellen Mischung der somatischen Geschlechtsmerkmale zeigt der Geschlechtstrieb keine Spur von Bi- sexualität, ist vielmehr — wie bei einem normalen Weibe — ausschließlich auf den Mann gerichtet. Nach der Geschlechtsreife, die im 15. Lebensjahre eintrat, trat immer deutlicher ein lebhaftes sexuelles Interesse für männliche Personen hervor; für Mädchen und Frauen bestand niemals auch nur die geringste sexuelle Neigung. Der Gedanke, mit einem Weibe geschlechtlich zu verkehren, ist ihm „widerwärtig". Pollutionsträume hatten stets Berührungen mit Personen männlichen (Patient sagt „desselben") Ge- schlechts zum Inhalt. Auf dem Theater fesselten ihn Herren mehr wie Damen. Patient fühlt sich von kräftigen, recht männlichen Typen angezogen; zarte, weibliche, namentlich auch die meisten Homosexuellen lassen ihn kalt; uniformierte Stände, besonders Soldaten, bevorzugt er. Es ist ihm außerordentlich peinlich, wenn jemand seines absonderlichen Baues gewahr wird. Vor allem meidet er deshalb auch die virileren Homosexuellen, die sich am ehesten zum Verkehr mit ihm bereit finden, weil die meisten von ihnen, wenn sie den Mangel des Membrum virile wahrnehmen, enttäuscht sind, einige sogar „direkt grob" geworden seien. Die Art seines Begehrens ist weiblich passivisch. Er möchte sukkubus, der Ge- liebte soll inkubus sein. Der Geschlechtstrieb ist stark, ein Akt konnte bisher aber nur selten (immer mit Männern) ausgeführt werden. Er fühlt sich daher unbefriedigt und unglücklich: wünscht, daß, wenn dies möglich wäre, seine Natur geändert würde. Wenn andere Männer und Frauen das geschlechtliche Thema berühren, kann er sich eines Neidgefühles nicht erwehren. Er hat Kinder gern; er verkehrt täglich in der Familie seines Chefs und es macht ihm besondere Freude, mit dessen Kindern, die ihn sehr lieb haben, zu spielen I. Kapitel: Hermaphroditismus 33 und zu musizieren, der Wunsch, ein eigenes Kind zu besitzen, ist aber gar nicht vor- handen. d) Geistige Eigenschaften. Es überwiegen die männlichen Charakterzüge. Von seinem Gemüt sagt Patient, daß es weder hart noch weich sei, „ein undefinierbares Gemisch". Starke Affekterregbarkeit ist nicht vorhanden; Tränen fließen fast nie; er kann dagegen leicht zornig werden. Ehrgeiz, auffallende Selbstsucht sind wenig ausgesprochen, jedoch starkes Mißtrauen. Patient ist weder launenhaft, noch besitzt er Hang zum Aberglauben und sagt von seiner Religiosität, sie sei gleich null. Er hat ziemlich starken Willen, keine Furchtsamkeit und ist von sittlichem Ernst und großer Ordnungsliebe. Er liebt geistige und körperliche Arbeit, ist in bezug auf seine Lebensbedürfnisse anspruchslos; raucht nurviel, und zwar starke Zigarren, kann auch viel Alkohol vertragen. Er besitzt ein gutes Gedächtnis, hat viel gelesen und gelernt und ist von umfassender Bildung. In erster Linie interessiert ihn Politik; er ist ein großer Verehrer von Bismarck. Musik liebt er sehr. Er spielt sehr gut Klavier. Aus Plastik macht er sich nichts. Dagegen beschäftigt er sich gern mit Blumenpflege. Es besteht nicht der geringste Drang, in Kleidern des weiblichen Geschlechtes zu gehen. Er hat weder Neigung für Schmuck, noch für Parfüms, Puder u. dgl. Er liebt einfache Gewandungen, hohe Kragen, doch spielen die Kleidungssorgen keine Rolle in seinen Gedanken. Hang für weibliche Handarbeiten, Kochen, Putzen ist nicht vorhanden. Seine Schriftzüge sind groß und sicher und erwecken zweifellos den Eindruck, daß sie von einem Manne herrühren. Sein Grundtemperament ist heiter, doch hat sein Humor oft etwas Sarkastisches, namentlich wenn er über seine Person scherzt. So schrieb er mir einmal in einer von kaustischem Witz erfüllten Schilderung ausführlich, „was er bereits im Geiste über sich nach seinem Ableben in der Morgenpost las". C, Epikrise. Die Geschlechtsdiagnose Läßt sich bei dem 32 jährigen, seit seiner Geburt als Mann lebenden Franz K. intra vitam nicht stellen, ja es erscheint sogar fraglich, ob es post mortem möglich sein wird, zu entscheiden, ob diese Person ein Mann oder ein Weib gewesen ist. Als Mann, wie die Behörden und seine Umgebung annehmen, kann er wissen- schaftlicherseits bei der überwiegenden Anzahl weiblicher Geschlechtscharaktere, dem Mangel männlicher Keimzellen und dem ausgesprochen weiblichen Geschlechtstrieb nicht angesehen werden. Auch nicht als homosexueller Mann, unter welche Kategorie er sich zu rubrizieren geneigt ist. Aber auch dem weiblichen Geschlechte können wir ihn nicht zuzählen, da er nicht nur niemals menstruiert hat, sondern auch zahlreiche Geschlechtscharaktere zweiter und dritter Ordnung besitzt, welche eine weit über das weibliche Stadium hinausgehende, männliche Entwicklung aufweisen. Auch für ungeschlechtlich kann man ihn nicht erklären, da Geschlechtsstigmata in großer Fülle vorhanden sind, und der Geschlechtstrieb in vollkommener Ausbildung. besteht. Ebensowenig ist er aber doppelgeschlechtlich, da aus der Amenorrhoe und Azoospermie hervorgeht, daß weder männliche noch weibliche Fortpflanzungszellen produziert werden. Die nachweisbaren Keimstöcke machen bei der Palpation den Eindruck rudi- mentärer Gebilde, jedenfalls nicht normaler Ovarien oder Testes. Aus der fehlenden äußeren Sekretion kann man folgern, daß weder fortpflanzungsfähiger Same noch Eier in ihnen vorhanden sind. Aus der inneren Sekretion, deren Folgeerschei- nungen in den weiblichen und weibischen Geschlechtscharakteren zutage tritt, kann man aber schließen, daß die Geschlechtsdrüsen . sowohl männliches wie weibliches Pubertätsgewebe enthalten dürften. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 3 34 I- Kapitel: Hermaphroditismus Der Patient, der sich erst nach großem Widerstreben zu den wiederholten Unter- suchungen entschlossen hatte, war nicht wenig enttäuscht, als ich ihm die Antwort schuldig bleiben mußte, ob er dem» nun eigentlich ein Mann oder einölt, se^ ihn also wie er in der ihm eigentümlichen Art meinte, „auf die Sektion ver- trÖSFurdie sexuelle Psychologie und Physiologie ist der Fall in verschiedener Hin- sicht beachtenswert; einmal zeigt er, daß ein vollkommen determinierter Geschlechts- trieb bei gänzlichem Mangel von Fortpflanzungszellen bestehen kann. Ferner sehen wir, im Gegensatz zu der Erfahrung, wie man sie bei femininen Homosexuellen so oft macht, trotz ganz weiblichem Geschlechtsempfinden ausge- sZZlT Antipathie gegen weibliche Gewohnheiten (Abneigung gegen weibliche Tracht und Beschäftigung, Vorliebe für Tabak, Alkohol usw.) «gentümhch ist auc h, daß die sekundären und tertiären Geschlechtscharaktere in nahezu umgekehrtem Vei- S tr^ zueinander stehen, indem auf somaüschem Gebiet etwa zu 75 Proz^ weibhche und zu 25 Proz, männliche, auf psychischem etwa zu 75 Proz männliche und zu 25 Proz weibliche Geschlechtszeichen miteinander verbunden sind Auffallend ist endlich auch so hochgradige Gynäkomastie und weibliche Beckenbildung bei g 1 e i c h z e i 1 1 g e m V o r h a n d e n s e i n von Bart und männlicher Stimme. Für die forensische Medizin bietet der Fall sowohl ein strafrechtliches wie ein zivilrechtliches Interesse. Strafrechtlich insoweit, als er die Frage nahelegt ob diese Person, welche als Mann lebt und als solcher getauft ist, sich im Sinne des § 175 RStGB. vergeht, wenn sie, wie wiederholt geschehen, mit einem Manne in geschlecht- liche Beziehung tritt, weiter auch, ob der normale oder homosexuelle Mann sich strafbar macht, wenn er mit einer derartigen Person eine Imitatio coitus vollzieht Zivilrechtlich zeigt der Fall recht deutlich, daß in bezug auf den Hermaphrodi- tismus unser neues Bürgerliches Gesetzbuch keinen Fortschritt, sondern einen Ruck- schritt vollzog, als es die vernünftigen Bestimmungen des alten preußischen Land- rechts über die Zwitter gänzlich eliminierte, mit der apodiktischen Begründung, es gäbe keine Personen unbestimmten oder unbestimmbaren Geschlechtes. Unseres Erachtens hat man unter die Personen zwitterhaften und zweifelhaften Geschlechtes nicht nur solche zu rechnen, die gleichzeitig Ovarien und Testes besitzen sondern auch solche, die keines von beiden besitzen, mit anderen Worten: nicht nur solche, die sowohl Mann als Weib sind, sondern auch solche, die weder Mann noch Weib sind. Im Laufe der letzten 12 Jahre habe ich Franz K. zwar nicht so oft wie Friederike S aber immerhin einige Male zu sehen Gelegenheit gehabt. Sein körperlicher und psychischer Status hat während dieser Zeit auch nicht die geringste Veränderung dar- geboten Er machte heute mit 40 Jahren einen ebenso juvenilen und indifferenzierten Eindruck, wie damals als ich ihn zuerst sah. Beruflich hat er weiter gute Fortschritte gemacht. Er; nimmt jetzt in einer großen Süddeutschen Verwaltung einen leitenden Posten ein und füllt ihn, wie mir berichtet wurde, vortrefflich aus. Es folgen nun drei weitere Fälle von Hermaphroditismus, in denen auf mein Gutachten hin eine Berichtigung der Ge- schlechtszugehörigkeit im Standesregister erfolgte. Die äußere Veranlassung war in den drei Fällen die gleiche. Es handelte sich scheinbar um junge Mädchen, die sich um das zwanzigste Jahr herum sehr stark mit allen An- zeichen der Eifersucht in andere Mädchen verliebt hatten. Man mußte daher zunächst an homosexuelle Neigungen denken. Da die Paare sich sehr gern geheiratet haben würden, glaubten sie zunächst vor schier unauflöslichen Konflikten zu stehen I. Kapitel: Hermaphroditismus 35 und waren von Doppelselbstmord nicht weit entfernt. Bemerkens- wert ist es, daß die wirkliehen Frauen die Hermaphroditen bereits ehe sie deren Körperbeschaffenheit genauer kannten, als völlig männlich empfanden. Für die Differentialdiagnose Hermaphroditis- mus oder Homosexualität sind die Fälle von grundlegender Be- deutung. In dem ersten der Fälle trug sich der Vorgang folgendermaßen zu. T. war an einer Lungenentzündung erkrankt. Eine schwedische Krankenschwester pflegte sie. Die Pflegerin sagte, wie sie mir später selbst mitteilte, zu ihrer Kollegin: „Ich pflege jetzt eine reizende junge Dame; ich habe aber ganz die Empfindung, einen jungen Mann zu pflegen; ihre Stimme und ihr Wesen haben es mir angetan: ich bin darüber sehr verwundert, da ich doch sonst alles gleichgeschlechtliche direkt verabscheue." Während der Rekon- valeszenz verliebte sich die Krankenschwester immer mehr in ihre Patientin. Trotzdem diese ihr gestand, daß sie bereits mit Männern geschlechtlichen Verkehr gepflogen hatte und tatsächlich eine kohabitationsfähige Vagina besaß, wuchs die Über- zeugung in ihr immer mehr und mehr, daß die Freundin ein Mann sei. Sie sandte sie nun zu mir und erstattete ich mit Dr. Burchard das folgende Gutachten: Die Prokuristin Elisabeth T., geboren den 17. August 1883, hat sich an uns mit der Bitte gewandt, auf Grund unserer langjährigen Beschäftigung mit sexualwissen- schaftlichen Fragen ein sachverständiges Gutachten über ihre wahre Geschlechts- zugehörigkeit abzugeben, da infolge einer Beihe körperlicher und seelischer Besonder- heiten, die sie an sich wahrgenommen hat, erhebliche Zweifel bei ihr darüber entstanden sind, ob sie tatsächlich dem weibüchen Geschlechte zugehört. Nach ein- gehender Beobachtung und wiederholten Untersuchungen der E. T. haben wir uns ein klares, eindeutiges Urteil über diese Frage gebildet und geben unser Gutachten darüber im folgenden ab. . . Die Entwicklung der T. in den Kinderjahren nahm in gesundheitlicher Beziehung einen normalen und günstigen Verlauf; doch merkte sie selbst schon mit 6 Jahren, daß sie von andern Mädchen in körperlicher und seelischer Hinsicht verschieden war. Die Spiele und Beschäftigungen der Mädchen boten ihr keinerlei Interesse, dagegen raufte und tollte sie gern mit Knaben. Es wurde häufig gesagt, daß ein Junge an ihr verdorben sei. Jn der Schule lernte sie gut und zeigte besonderes Interesse für Schreiben, Rechnen und Naturkunde. Mit 13 Jahren hatte sie Stimm- wechsel; gleichzeitig trat Bartwuchs und K ö r p e r b e h a a r u n g auf. Die Menstruation stellte sich nicht ein und hat sich auch bis heute nicht gezeigt; ebensowenig machte sich ein Anschwellen der Brüste bemerkbar. In dem von ihr gewählten kaufmännischen Berufe erwies sich E. T. sehr tüchtig und brachte es zur Prokuristin. Ihre Neigungen und Gewohnheiten blieben die des männlichen Geschlechts. Sie interessiert sich für Politik und wissen- schaftliche Fragen, namentlich Mathematik und Naturwissenschaften, und treibt mit Vorliebe Sport, besonders Reiten und Radfahren, doch läßt ihr Beruf, in dem sie völlig aufgeht, ihr wenig Zeit zu Nebenbeschäftigungen. Häusliche weibliche Arbeiten sind ihr zuwider. Befund: Elisabeth T. ist von kleiner Figur und kräftigem Körperbau. Die Körperlänge beträgt 148 cm, das Gewicht kaum 1 Ztr. Die Körperhaltung 3* I. Kapitel: Hermaphroditismus ist stramm und gerade, die Muskulatur kräftig entwickelt und fest. Brust und Becken- gürtel sind von annähernd gleicher Breite. Die Brust ist flach, die' Brust- warzen sind von völlig männlicher Bildung mit kleinem, mäßig pigmentiertem Warzenhofe ohne irgendeinen Ansatz von weiblichem Drüsengewebe. Die Atmung zeigt deutlich abdominalen, männlichen Typus. Der Adamsapfel tritt etwas hervor. Hände und Füße sind klein, aber kräftig und sehnig gebaut. Das Haupthaar istt weich, nicht sehr lang und vorn etwas spärlich. In Frauentracht ist E. T. genötigt, eine Perücke zu tragen. Es besteht starker Bartwuchs, der regelmäßiges Rasieren erforderlich macht. Am Körper sind Arme und Beine, namentlich auf den Innenseiten, stark behaart. Die S c h a m b e h a a r u n g ist von vorwiegend weiblichem Typus, doch verläuft sie wie beim Manne in der Mediallinie des Bauches zum Nabel hin. Die nähere Untersuchung der Geschlechtsorgane ergibt folgenden Befund: Der Geschlechtshöcker (Penis) ist von etwa 3 cm Länge, undurchbrochen, erektil. Glans und Praeputium sind von männlichem Typus. Die Geschlechtsrinne verläuft medial. Die Genitalschleimhaut ist stark gerötet. Eine Untersuchung pervaginam ist leicht möglich. Es sind Reste des Hymens fühlbar. Die Scheide ist kurz. Man tastet den Muttermund und einen rudimentären, walnußgroßen Uteruskörper. Keimdrüsen sind per vaginam nicht fühlbar. Die kleinen Labien sind äußerst klein, die großen sehr hart. Beim Orgasmus soll aus der Geschlechtsrinne nach Angabe der Untersuchten ein reichlicher Erguß einer schleimig - milchigen Flüssigkeit erfolgen. Krankhafte Erscheinungen bietet der körperliche Befund nicht. Insbesondere liegen keine nachweislichen Zeichen von Degeneration und keine Störungen der ner- vösen Funktionen vor. Der Gesichtsausdruck der E. T. ist ernst und wenig veränderlich. Ihre Bewegungen sind kurz, rasch und bestimmt. Die Stimme ist tief und einfach. Beim Gehen macht sie, feste und rasche, aber kurze Schritte und bewegt den Körper dabei in etwas femininer Art, die aber! den Eindruck des An- gewöhnten, Gezwungenen macht. Der Handschlag ist kräftig und fest. Das Wesen der T. zeigt eine gleichmäßige Ruhe und einen gemessenen Ernst. Obwohl sie ihrer Angabe nach mehr zu trüber Stimmung neigt und das Leben nicht leicht nimmt, läßt sie sich in keiner Weise von seelischen Schwankungen beherrschen und unterdrückt jede Äußerung exaltierter oder sentimentaler Art.' Sie ist reserviert, bleibt auch in lebhafter Unterhaltung streng sachlich und beschränkt sich in ihren Aus- führungen auf das Notwendigste. Wir erwähnten bereits, daß ihre Neigungen und Gewohnheiten durchaus die des männlichen Geschlechts sind. In zahlreichen Explorationen konnten wir uns davon überzeugen, daß der Kreis ihrer Interessen ein für ihre Erziehung ungewöhnlich weiter ist, daß ihre Urteile und Schlüsse zwar vor- sichtig und zurückhaltend, im Ausdruck aber doch durchdacht und bestimmt ist. In ihren Handlungen bekundet sie große Entschiedenheit, Konsequenz und Energie. Die. geschlechtlichen Neigungen der T. sind völlig männ- liche. Sie fühlt sich in sexueller Hinsicht ausschließlich zu Personen weiblichen Geschlechts hingezogen, mit denen sie den Beischlaf in vollkommen normaler Weise vollzieht, was ihrer Körperbeschaffenheit nach durchaus mögüch ist. Der Penis be- fähigt sie, in erigiertem Zustande durch Einführung in die' Vagina und Vollziehung des Koitus ihre weibliche Partnerin sexuell zu befriedigen. Auch ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß die beim Orgasmus entleerte Flüssigkeit, wenn sie auch nicht in normaler Weise aus dem Penis, beziehungsweise der ihn durchbrechenden Harnröhre, sondern aus der Geschlechtsrinne unterhalb des Gliedes entleert wird, an den Ort ihrer Bestimmung gelangt, daß E. T. mithin als Mann zeugungsfähig ist. Rein physisch ist auch der sexuelle Verkehr per vaginam mit einem Manne möglich, und E. T. hat sich einige Male zu einem solchen Verkehr verstanden aus Motiven der Dankbarkeit und freundschaftlichen Sympathie, sowie in Unklarheit über ihr wahres Geschlecht, den allgemein verbreiteten Anschauungen und Gewohnheiten 37 folgend. Im Gegensatz zu dem für E. T. völlig normalen Ge- schlechtsverkehr mit dem Weibe gewährten ihr diese ihrer Natur widersprechenden Akte nicht die geringste sexuelle Befriedigung und hinterließen naturgemäß nur Abspannung und Unbehagen. Gutachten: Es liegt bei der E. T. zweifellos ein Fall von irrtümlicher Ge- schlechtsbestimmung (erreur de sexe) vor. Die Persistenz der Geschlechtsrinne, eine totale Hypospadia peniscrotalis täuscht eine Vagina vor, die in Verbindung mit den nach weiblichem Typus gebildeten Geschlechtswulsten und dem rudimentären Uterus- körper den Anschein weiblicher äußerer Genitalorgane erweckt. Das Bild der Geschlechtsteile zeigte wahrscheinlich bei der Geburt ein noch weit ausgesprocheneres weibliches Gepräge, da der infantile Penis damals noch weit leichter in seiner mangelhaften Entwicklung eine Klitoris vortäuschen konnte. Neben dem Genitalbefund entspricht auch die Entwicklung der sekundären Ge- schlechtscharaktere, die in1 Abhängigkeit von der spezifischen inneren Sekretion der Keimdrüsen steht und demnach sexognomisch für die Geschlechtszugehörigkeit der Geschlechtsdrüsen und damit für die des Individuums ist, dem männlichen Habitus. Die wesentlichsten sekundären Geschlechtscharaktere des weiblichen Geschlechts: Menstruation, Brustentwicklung, femininer Fettansatz und weibliche Behaarung (langes Haupthaar und fehlende Körperbehaarung) finden sich bei E. T. auch nicht einmal angedeutet, während sich ihre männlichen Gegenstücke: Stimmwechsel, Körperbehaa- rung und Bartwuchs mit der Pubertät einstellten. In Übereinstimmung mit der Entwicklung der sekundären körperlichen Sexualität in männlicher Bichtung tragen die psychischen Anlagen der E. T. ausgesprochen männliches Gepräge. Das Überwiegen des Intellekts über das1 Gefühl, die Entschieden- heit im Urteil und Handeln, die starke Ausprägung der Willenstätigkeit in Konsequenz und Energie zeigen dieses ebenso wie das männliche Auftreten und Gebaren, die männlichen Gewohnheiten und Neigungen, von denen wir uns bei E. T. in jeder Be- ziehung überzeugen konnten. Endlich steht auch der völlig männliche Geschlechtstrieb, der nur im normalen Koitus mit einer Frau seine volle Befriedigung findet, im Einklang mit der aus- gesprochen männlichen Gesamtpersönlichkeit. Unser Gutachten geht demnach dahin: 1. Es liegt bei der E. T. ein Fall irrtümlicher Geschlechtsbestimmung, bedingt durch eine partielle Umbildung der äußeren Genitalien im weiblichen Sinne, vor. 2. Das wahre Geschlecht der E. T. ist, wie eine genauere Untersuchung der Genitalien und der Befund der sekundären Geschlechtscharaktere einwand- frei ergibt, in Übereinstimmung mit ihrer Gesamtpersönlichkeit und ihrem Geschlechtstrieb das männliche. 3. Die entsprechende Berichtigung in den Standesregistern ist daher ge- boten. Der Vorname Elisabeth soll nach dem Wunsche der E. T. in Erhard umgewandelt werden. Auf dieses Gutachten traf nach einigen Monaten vom Amts- gericht die Mitteilung ein, daß dem Antrag auf G eschlechts- umsch reihung stattgegeben sei. Noch an demselben Tage fand die Verlobung T.s mit seiner ehemaligen Krankenpflegerin und bald darauf die Hochzeit beider in Schweden statt. Trotzdem die Gattin fast doppelt soviel wiegt, wie ihr jetziger Mann, sind beide ein sehr glückliches Paar geworden. Das ehemalige Fräulein Elisabeth füllt sowohl ihren Platz als Ehemann, wie als sehr tüchtiger selbstän- 38 diger Geschäftsmann zu höchster Zufriedenheit seiner Frau aus. Zu- letzt hesuchten mich beide wegen seiner Musterung. Trotz der Be- stimmung in der D. A.Mdf. Anlage IU, Nr. 58, war T. für feld- dienstfähig erklärt worden. Auf sein Ersuchen erstatte ich das folgende Gutachten: Unter Bezugnahme auf mein früheres Gutachten vom 27. November 1915 be- scheinige ich, daß der jetzt 38 Jahre alte Kaufmann Erhard T. infolge irrtümlicher Geschlechtsbestimmung bis zu seinem 29. Jahre als Mädchen gelebt hat. Er führte bis dahin den Namen Elisabeth T. Vor 3 Jahren erfolgte auf mein eingehendes Gutachten die Umschreibung zum männlichen Geschlecht. Trotz des Überwiegens der männlichen Geschlechtscharaktere, namentlich des Vorhandenseins männlichen Samens, und eines männlichen Geschlechtstriebs — T. ist seit seiner Umwandlung verheiratet — bestehen auch jetzt noch weibliche Geschlechtszeichen, die offenbar hauptsächlich bei seiner Geburt zu der irrtümlichen Geschlechtsbestimmung führten, und von denen jetzt noch namentlich eines von entscheidendem Einfluß auf die Lebensführung T.s ist. Diese Geschlechtszeichen sind: a) Die Hoden liegen in keinem Skrotum, sondern innerhalb der Leibeshöhle an der Eierstocksstelle. , b) Es ist eine ziemlich tiefe Scheide vorhanden, die es ermöglichte, daß T. in seiner Mädchenzeit während mehrerer Jahre regelrechten Verkehr mit einem Manne hatte. c) Vor allem ist das Glied nicht von einer Harnröhre durch- bohrt, vielmehr mündet der Harnröhrenkanal, wie bei einer Frau, oberhalb der Scheidenöffnung. Infolgedessen kann T. nicht wie ein Mann austreten, sondern muß wie eine Frau urinieren. Die Erfahrung zeigt, daß diese abweichende Art der Bedürfnisverrich- tung in männlicher Umgebung sehr auffällt und den Betreffenden bald zur Zielscheibe von Bemerkungen macht, die geeignet sind, ihn seelisch tief zu deprimieren. Im Zusammenhang mit seiner zwitterhaften Beschaffenheit und seiner Erziehung als Mädchen und Frau während eines Zeitraums von 29 Jahren, hat die männliche Entwicklung T.s sowohl in körperlicher als seelischer Hinsicht im allgemeinen stark gelitten. T. ist mit 32 Jahren nur 1,47 m groß, wiegt nur 45 kg, hat sehr schwach entwickelte Muskulatur, kleine Extremitäten, ist im allgemeinen zart und wenig widerstandsfähig und auch in bezug auf sein Nervensystem sehr sensitiv. Die zusammenfassende Diagnose lautet: Erhard T. leidet I. an einer erheblichen Mißbildung der Geschlechtsorgane, welche andauernd Beschwerden verursacht, und zwar an einer Zwitterbildung im Sinne der Nummer 58, Anlage 1 U der D. A. Mdf. ; II. speziell an der Unfähigkeit, wie ein Mann zu urinieren; III. an allgemeinef Körperschwäche; er ist bei 33 Jahren 1,47 m groß und 90 Pfund schwer. Wir berühren hier einen Punkt, der für die männlichen Herma- phroditen auch nach ihrer Umschreibung von nicht zu unterschätzen- der Bedeutung ist: die Unmöglichkeit nach Männerart die Harnblase zu entleeren. In fast allen Fällen kommt der Urin bei ihnen aus der mehr oder weniger rudimentären Scheide, in deren vorderen Wan- dung der Harnleiter zu münden pflegt. Daher kann der männliche Zwitter seine kleinen Bedürfnisse nur nach Frauenart verrichten, er I. Kapitel: Heimaphioditismus 39 ist, wenn beispielsweise die Soldaten zu diesem Zwecke auf Märschen Halt machen, nicht in der Lage, sein Membrum einfach aus dem Hosenschlitz herauszuziehen, sondern muß erst den Tornister ab- schnallen, die Beinkleider abknöpfen, und sich dann wie ein Weib niederhocken. Daß er dadurch alsbald für die spottlustigen Kame- raden eine Zielscheibe von Scherzen wird, die, wenn sie auch harm- los gemeint, doch für ihn verletzend und erbitternd sind, liegt auf der Hand. Die Spottlust steigert sich bei der regelmäßigen Genital- untersuchung, die beim Militär zwecks Feststellung von Geschlechts- krankheiten vorgenommen wird und vor allem bei dem gemeinsamen nackten Baden. Auch die mit anderen vorgenommene Musterung ist für diese Leute, wie übrigens auch für die Eunuchoiden, peinlich und bei ihrer seelischen Empfindsamkeit geeignet, weitgehende Ver- stimmungen hervorzurufen. Nach allem kommt die Ausbildung der Hermaphroditen, sei es für den Garnison- oder Felddienst, kaum in Frage, wohl aber können die meisten von ihnen als arbeitsverwen- dungsfähig im Bureau oder im Beruf erachtet werden, doch müssen sie dann von jedem Dienst, der mit Entblößungen vor anderen ver- bunden ist, befreit werden. Man sollte dies eigentlich für selbst- verständlich halten, doch teilte mir erst vor kurzem ein Herma- phrodit, dessen Umschreibung zum männlichen Geschlecht ich ver- anlaßt hatte, und der kurz darauf als garnisondienstfähig eingezogen wurde, mit, wie sehr er seelisch darunter litte, daß seinem inständigen Bitten, vom Baden und der Genitaluntersuchung in Gemeinschaft mit den anderen befreit zu werden, nicht Folge gegeben würde. Erst als ich mich auf dringendes Ersuchen seiner Angehörigen mit der zuständigen militärärztlichen Stelle in Verbindung setzte, erfolgte Remedur. Die nächste Beobachtung ist von ganz besonderer Wichtig- keit, weil bei ihr der Abgang von Samenflüssigkeit mit vollkommen männlichen Sperrnatozoen aus einer weiblichen Harnröhre bei nor- malen weiblichen Genitalien nachgewiesen werden konnte. Auch diese Person kam zu mir, weil sie sich in ein Mädchen verliebt hatte. Als ihre Eltern sie mit einem Offizier, der um sie angehalten hatte, verloben wollten, war sie mit diesem Mädchen auf und davon- gegangen. Alles Nähere ergibt das folgende Gutachten Frl. Erna M., geboren am 11, Mai 1891 zu H>, suchte uns vor etwa fünf Wochen auf da das Gefühl einer ausgesprochen männlichen Persönlichkeit hinsichtlich ahrer Neigungen, Empfindungen und Anschauungen in ihr Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht erweckt hatte; besonderen Ausdruck fand dieser von ihr als Widerspruch zwischen Sein und Schein empfundene Zustand l n d e m f a s t u n - widerstehlichen Drange, ganz als Mann leben zu können FrL M. ersuchte uns auf Rat ihres Anwalts im Einverständnis mit ihrer Mutter, ein sachverstan- diges Gutachten über sie abzugeben, durch das ihre eigenartige Lage geklart werden könnte Wir haben seitdem Frl. M. fortlaufend beobachtet, sie wiederholt eingehend unter- sucht und exploriert, bei ihren Angehörigen Erkundigungen über ihr Vorleben, ihr Wesen 40 I. Kapitel: Hermaphroditismus und ihre Lebensgewohnheiten eingezogen und geben, nachdem wir auf Grund der Er- mittlungen und unserer eigenen Wahrnehmungen zu einem einwandfreien Resultat und abschließenden Urteil gelangt sind, unser Gutachten im folgenden ab. Vorgeschichte: Vater und Mutter des Frl. M. waren rechter Cousin und Cousine. Bei ihrer Geburt war der Vater, ein hoher Staatsbeamter, 55 Jahre alt, 20 Jahre älter als die Mutter. Sie ist das jüngste von fünf Geschwistern, 8 Jahre nach dem nächstjüngsten Bruder geboren; die vier älteren Geschwister folgten sich in Zwischenräumen von je zwei Jahren. Ein Vetter der Eltern erschoß sich während der Pubertätsjahre aus gekränktem Ehrgeiz; die Schwester der Mutter und verschiedene Verwandte 2. und 3. Grades, die das 30. Lebensjahr überschritten haben, sind un- verheiratet. Im übrigen liegt eine erbliche Belastung, insbesondere in psychischer oder nervöser Hinsicht, nicht vor. Die körperliche und geistige Entwicklung des Frl. M, verlief ohne Störungen, doch machten sich bei ihr von frühester Jugend an charakteristische Eigenarten des männlichen Geschlechts bemerkbar, die uns von der Mutter in den folgenden anschaulichen Mitteilungen ge- schildert werden: „Meine Tochter Erna zeigte schon im Alter von drei Jahren knaben- hafte Neigungen, die sich von Jahr zu Jahr steigerten. Sie spielte niemals mit Puppen, nur mit Zinnsoldaten, Kanonen und Festungi Sie erkletterte Bäume,' übersprang große Gräben, war mit allen Kutschern, die Lieferungen für unser Haus hatten, befreundet, wurde von ihnen auf ihre Pferde gesetzt und weite Strecken mitgenommen. Alljährlich, zur Zeit des Blankenburger Schützenfestes, kam ein Hippodrom nach dort; darauf freute Erna sich schon das ganze Jahr. Schon als Kind von vier Jahren jagte sie mit solcher Unerschrockenheit auf ihrem Pferde einher, daß alle Zuschauer bravo riefen, und mir der Besitzer erklärte, sie wäre eine geborene Reiterin. Ihr größter Wunsch war von jeher, ein Junge zu sein. Oft trug sie tagelang die Anzüge ihres älteren Bruders, was ihr den Zorn ihrer Großmutter eintrug. Radfahren, Rodeln, Turnen (obwohl ihr letzteres ihrer Augen wegen verboten war), Schwimmen, Rudern usw. waren ihre Passion, und sie leistete darin Hervorragendes. Als sie älter wurde, haßte sie schön garnierte Hüte und Kleider; ich habe da manchen Ärger mit ihr gehabt, denn sie zog die schönen Sachen nicht an. Je älter sie wurde, um so mehr trat das Männliche, Bestimmte in ihrem Wesen hervor. Sie erregte viel Auf- sehen dadurch und Anstoß. Man fand meine Tochter unweiblich, ihr oft schroffes Wesen unangenehm. Trotz aller Mühe und Ermahnungen vermochte ich sie nicht liebenswürdiger und verbindlicher zu machen. Ich litt darunter; es tat mir leid, daß man sie scharf beurteilte. Sie war auch so wenig graziös, so r e k e 1 h a f t , jede Eitel- keit war ihr fremd, sie gab sich immer gerade wie sie war. Handarbeiten haßte sie, d. h. weibliche; in männlichen Handfertigkeiten zeigte sie sich dagegen sehr geschickt. Sie reparierte elektrische Klingeln, Uhren, fertigte Metallarbeiten u. dgl. an. Als die Zeit kam, daß sie Bälle besuchen sollte, erklärte sie sich mit großer Bestimmtheit dagegen, was mir von Seiten meiner älteren Kinder und Anverwandten viel Ärger eintrug. Herren waren ihr voll- kommen gleichgültig, doch für einige Damen hatte sie im Laufe der Zeit kleine Schwärmereien. In den zwei letzten Jahren nahm ihr männliches Wesen derart über- hand, daß ich fast verzweifelte und mit großer Sorge an die Zukunft meiner Tochter dachte. Die beständigen Vorwürfe, die man mir meiner Tochter wegen machte, wurden mir immer unerträglicher und waren auch mit ein Grund, daß ich von Blankenburg fortzog. Auch erregte sie hier in unserer Pension Aufsehen und Anstoß." Mit diesen Ausführungen der Mutter decken sich im wesentlichen die Angaben, welche Frl. M. selbst uns über ihren Entwicklungsgang macht. Sie wurde bis zum 12. Jahre zu Hause erzogen, kam1 dann in die „Kaiserin-Augusta-Stiftung" zu Potsdam und von dort in eine andere Pension zur Vorbereitung auf das Abiturium. Sie lernte spielend und bekundete besonderes Interesse für Geschichte, Anatomie, Physik, Lite- ratur und Mathematik. In beiden Pensionen fanden vielfach körperliche Liebkosungen I. Kapitel: Hermaphroditismus 41 der Mädchen untereinander statt, von denen sich Frl. M. kotz vielfacher Verführung fernhielt. Dagegen verliebte sie sich seit ihrem 12. Lebensjahre wiederholt in weibliche Personen, ohne daß es zu geschlechtlicher Be- tätigung kam. Diese Neigungen waren oberflächlicher Art, bis Frl. M. im ver- gangenen Jahre eine heftige Liebe zu einer Freundin faßte, von der sie auch heute noch völlig beherrscht wird. Es kam jetzt auch zu geschlechtlicher Betätigung, bei der Frl. M. sich vollkommen als Mann fühlt und, so- weit es ihre körperliche Beschaffenheit zuläßt, einen dem normalen Beischlaf mög- lichst ähnlichen Akt vollzieht. Es kommt dabei ihrer Angabe nach zu einer Erektion der Klitoris und beim Orgasmus zum Erguß einer schleimig-milchigen Flüssigkeit aus der Harnröhre. Die erotischen Träume bezogen sich von jeher ausschließlich auf weibliche Personen. Das männliche Geschlecht spielte im Sexualleben des Frl. M. niemals — weder im Wachen, noch im Träumen — irgendeine Rolle. Sehr wichtige Erscheinungen begleiteten die körperliche Geschlechtsreife. Zu- nächst blieb das wesentlichste Symptom der weiblichen Sexualität aus; es stellte sich keine Menstruation ein, von der Frl. M. auch bis heute völlig frei geblieben ist. Auch irgendwelche periodische Beschwerden oder auffällige Erschei- nungen, die ein gewisses Äquivalent der Menstruation darstellen könnten, traten nicht auf. Dagegen überraschte Frl. M. mit 14 Jahren ihre Angehörigen dadurch, daß sich Stimmwechsel bei ihr einstellte. Bald darauf sproßte an Lippen und Kinn auch Bartflaum, der Frl. M. nötigte, sich regelmäßig zu rasieren, bis sie die Haare in einem kosmetischen Institut entfernen ließ. Mit fortschreitendem Alter ge- wann das Bedürfnis, in jeder Beziehung als Mann zu leben, sich männlich zu kleiden, männlichen Beschäftigungen in Beruf und Sport nachzugehen und männliches Be- nahmen zeigen zu dürfen, immer mehr an Intensität. Die Unmöglichkeit, diesem Drange folgen zu können, verstimmte Frl. M. tief, ließ sie ernst und verschlossen werden. , , ' KörperlicherBefund: Frl. M. ist eine 1,71 m große, grazil gebaute Person, von brünetter Hautfarbe, kräftigem Knochenbau, mäßig entwickelter, aber recht straffer Muskulatur und sehr geringem Fettpolster. Die Körperlinien sind weich und weiblich, wenn schon die eckig hervortretenden Schul- tern, der Ansatz der Anne und die säulenförmig schlanken, geraden Beine sich mehr dem männlichen Typus nähern. Auch fallen die Beckenschaufeln, obwohl die Hüften ziemlich stark hervortreten, steiler ab, als man es beim weiblichen Geschlecht normaler- weise zu finden pflegt. Das Haupthaar ist straff und schlicht, der Adamsapfel tritt etwas hervor, die Stimme ist tief. Demgegenüber sind die Brüste stark entwickelt, die Hände und Füße, Knöchel und Handgelenk zierlich und feminin, die Körper- und speziell die Schambehaarung ausgesprochen weiblich. Die sekundären körperlichen Geschlechtscharaktere entsprechen demnach vorwiegend dem weiblichen Habitus. Die äußeren Geschlechtsteile zeigen normal weibliche Entwicklung. Die Scheide, mit unverletztem Hymen, die — ziemlich großen — Schamlippen, Klitoris, Praeputium clitoridis, Harnröhrenöffnung zeigen weder nach ihrer Beschaffenheit, noch nach ihrer Lage irgendwelche Ab- ■ weichungen von den normal weiblichen Verhältnissen. Bei einer vaginalen Unter- suchung, die außer von uns auch von dem Gynäkologen Dr. Robert M ü 1 1 e r h e i m ausgefühit wurde, konnte man einen anteflektierten, hypoplastischen Uterus- körper von Pflaumengröße mit einer kleinen Portio uteri im oberen Scheidengewölbe, deren quergespaltener Muttermund etwas nach vorn steht, fühlen; Eierstöcke bzw. entsprechende drüsige Gebilde ließen sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Rechts vom Uterus konstatiert man ein kleines, festes Gebilde, dessen Verbin- dung mit dem Uterus sich wegen der Schwierigkeit der Untersuchung nicht genau fest- stellen läßt. Bei der rektalen Untersuchung fanden sich gewisse Resistenzen, die 42 aber nicht mit Sicherheit als Prostata oder Samenbläschen angesprochen werden """soweit es sich bei den körperlichen Geschlechtscharakteren um den Ausdruck der psvchischen Persönlichkeit handelt, zeigen sie absolut männlichen Typus. Der Blick ist fest und ruhig, der Gesichtsausdruck ernst, bestimmt) und entschlossen. Die Be- wegungen sind entschieden und energisch, die Schritte groß und fest. Der Hände- druck ist kräftig. Die kräftigen Schriftzüge zeigen einen durch- aus männlichen Charakter. Die Sprache ist ruhig, laut und tief. Auf beiden Augen besteht mäßige Kurzsichtigkeit. Im übrigen sind irgendwelche krank- hafte Erscheinungen bei den körperlichen Untersuchungen nicht festzustellen. Ins- besondere liegen keine Entartungszeichen und keine Störungen der nervösen Funk- tionen vor. Auch der Befund der inneren Organe entspricht der Norm. Psychischer Befund: Das seelische Verhalten des Frl. M. ist, wie wir in langer gründlicher Beobachtung feststellen konnten, ein gleichmäßig ruhiges. Der Druck' der erklärlicherweise infolge ihrer eigenartigen Lage auf ihr lastet, äußert sich in durchaus angemessener, normaler Weise. Sie ist frei von Exaltationen und Stim- mungsschwankungen nicht unterworfen, zeigt eine ungezwungene Selbstbeherrschung und männlich gefaßtes Wesen. Ihr Handeln ist zielbewußt und be- kundet Energie und Willensstärke. Sie ist ernst, wohl etwas ver- schlossen, sachlich und frei von jeder Phantasterei. Ihre intellektuelle Begabung ist reich und vielseitig; sie ist logisch in ihren Schlüssen, faßt neue Eindrücke rasch und leicht auf, verarbeitet sie gründlich und überrascht oft durch originelle Einfälle und treffende Bemerkungen. Sie hat weitgehendes Interesse für alle Fragen des geistigen Lebens, wissenschaftliche, künstlerische und poli- tische Probleme, ist stetig und ausdauernd in geistiger Arbeit. Alles in allem ist sie eine nüchterne, aber doch vielseitige und produktive Natur. Von ihren Lebensgewohnheiten wäre noch zu erwähnen, daß sie ein großes Interesse für Sport hat und sich auf den verschiedensten Gebieten desselben mit Eifer und Erfolg betätigt. Sie reitet, schwimmt, radelt, rodelt, läuft Schlittschuh und boxt. Alle weiblichen Beschäftigungen sind ihr verhaßt; eine ganz besondere Abneigung hat sie gegen weiblichen Putz und Schmuck. Sie verträgt Alkohol gut und raucht gern, am liebsten Zigarren. Alles in allem zeigt ihre Persönlichkeit das Bild einer stark ausgesprochenen männ- lichen Individualität. Beobachtungsverlauf: Wir glaubten zunächst, es bei Frl. M. mit einer weiblichen homosexuell empfindenden Transvestitin zu tun zu haben, die außerdem gewisse gynandrische Erscheinungen bot. Drei Momente aber machten den Fall zu einem besonders eigenartigen: das vollige Fehlen aller Menstruationserscheinungen, der Stimmwechsel und endlich ganz besonders der angebliche Erguß eines schleimig-milchigen Sekrets beim Orgasmus aus der Harnröhre. Dieser letzte Umstand konnte von so fundamentaler Bedeutung für die Beurtei- lung der ganzen Sachlage sein, daß er eine gründliche Prüfung mit Notwendigkeit er- forderte und eine Untersuchung des in Frage kommenden Sekrets auf seine physiologische Beschaffenheit hin unerläßlich erscheinen ließ. War forderten deshalb zunächst Frl. M. auf, uns die betreffende Flüssigkeit zwecks Untersuchung zur Verfügung zu stellen. Das geschah, und die mikroskopische I ntersuchung ergab das Vorhandensein von Spermatozoen. Wir konnten uns natür- lich! bei diesem Resultat nicht beruhigen und veranlaßten Frl. M. gelegentlich eines Besuchs in der Sprechstunde, den Erguß des Sekrets nochmals durch Masturbation . hervorzurufen. Aus Gründen selbstverständlicher Dezenz, sowie auch in Anbetracht der sehr glaublichen und begreiflichen Erklärung des Frl. M., es könne in Gegenwart einer anderen, unbeteiligten Person nicht zum Orgasmus kommen, mußten wir sie allein im Zimmer lassen. Das Ejakulat, das sie uns nach etwa 10 Minuten übergab, zeigte 43 Körpertemperatur und enthielt nach der etwa 2 Stunden später vorgenommenen Unter- suchung noch lebende Spermatozoen. Nunmehr hatte eine Annahme, der wir bisher sehr skeptisch gegenüberstanden, so sehr an Wahrscheinlichkeit gewonnen, daß eine letzte, entscheidende Feststellung des Befundes unter Wahrung aller irgend möglichen Kautelen zum Ausschluß jeder Täuschung gemacht werden mußte. Nach reiflicher Überlegung gingen wir zu diesem Zwecke in folgender Weise vor. Wir baten eine Reihe ihrer Vorbildung nach besonders geeigneter Kollegen, die Gynä- kologen Dr. Stabel und Dr. Robert Müllerheim, den Biologen Dr. R'. Weißen- berg, Assistenzarzt am anatomisch-biologischen Institut von Geheimrat Prof. Dr. Hertwig, sowie Dr. Iwan Bloch, zur Kontrolle des Vorgangs und Sicher- stellung des Befundes dem Versuche beizuwohnen. Nachdem sich nun Frl. M. völlig entkleidet hatte, und von Dr. Stabel und den beiden Unterzeichneten durch eingehende Inspektion festgestellt war, daß sie an ihrem Körper nichts verborgen hatte, wurde sie, nachdem wir ihr ein gereinigtes Reagenz- glas zur Verfügung gestellt hatten, in einem Zimmer, das sie bis dahin nicht betreten hatte, ohne ein Stück ihrer Kleidung eingeschlossen. Nach nahezu 15 Minuten rief sie uns wieder herein. Das Reagenzglas enthielt etwa ccm einer milchig- schleimigen Flüssigkeit, auf dem Fußboden befanden sich vor dem Sessel, auf dem sie gesessen hatte, einige charakteristisch verlaufende Spritzflecke. Frl. M. machte einen etwas erregten Eindruck; ihr Puls zeigte eine Beschleu- nigung von 116 Schlägen in der Minute. In ihrem Wesen war eine gewisse Gereizt- heit und Verstimmung, wie sie nach masturbatorischen Akten gewöhnlich einzutreten pflegt, trotz ihrer Selbstbeherrschung unverkennbar. Die Klitoris war gerötet, an der Harnröhre ließen sich Spuren der Flüssigkeit feststellen. Die Untersuchung des Sekrets — denn um ein solches konnte es sich nunmehr doch zweifellos nur han- deln — ergab charakteristischen Spermageruch und im mikro- skopischen Bilde das Vorhandensein lebender menschlicher Spermatozoen von zum Teil lebhafter Beweglichkeit. Sonstige charakteristische Formelemente fehlten, womit auch jeder freilich an und für sich schon gänzlich unwahrscheinliche Verdacht, die Flüssigkeit hätte irgendwie in einer Körperöffnung, Mund, Nase, After oder Scheide bereit gehalten sein können, schwand. Es sei auch noch besonders erwähnt, daß nach der von Dr. Weißenberg vorgenommenen Untersuchung es sich zweifellos um einwandfreies Sperma und nicht etwa nur um eine Spermatozoen enthaltende Flüssigkeit handelte. Somit war nach der übereinstimmenden Uberzeugung aller anwesenden Sach- verständigen der einwandfreie und lückenlose Beweis erbracht, daß Frl. M. aus ihrer Harnröhre Sperma, zeugungsfähige männliche Keimstoffe ejakuliert hatte, mithin im Besitze von Spermatozoen produzierenden Drüsen ist. War der Beweis schon durch die angewandte Versuchskontrolle gesichert, so schlössen zum Überfluß noch alle Begleitumstände jede Möglichkeit einer Täuschung aus. Wir erinnern nur an die charakteristischen Spritzflecke auf dem Fußboden, die Pulsbeschleunigung und das Verhalten unmittelbar post actum. Gutachten: Nachdem somit in einwandfreier Weise nachgewiesen ist, daß Frl. M. aus ihren Genitalien Sperma,, zeugungsfähigen männlichen Keimstoff, entleert, können wir uns in unserm Gutachten kurz fassen. Daß sich Keimdrüsen und Prostata durch die Untersuchung nicht mit Sicherheit feststellen üeßen, bleibt dieser Tatsache gegenüber ohne Bedeutung. Wo Sperma ge- bildet wird, muß auch Hodengewebe vorhanden sein, und es ist eine Frage von nur wissenschaftlicher, nicht aber praktischer Bedeutung, auf welchem Wege ihr Sekret beim Orgasmus in die Harnröhre gelangt. Frl. M. ist demnach nicht, wie wir an- fangs annahmen, eine weibliche homosexuelle Transvestitin; sie ist entsprechend ihrer gesamten Persönlichkeit ein Mann mit männlichen Keimdrüsen und Zeugungsstoffen, mit normal männlichem Geschlechtsemp- 44 I. Kapitel: Heimaphroditismus finden, aber mit völlig weiblichen äußeren Genitalien und vorwiegend weiblichem körperlichen Habitus. Unser Gutachten geht demnach dahin: ■ _ 1. Es liegt bei der p. M. ein Fall von irrtümlicher Geschlechts- bestimmung vor. Sie ist, da sie männliche Keimstoffe pro- duziert, eine Person männlichen Geschlechts. 2 Die Umwandlung der geschlechtlichen Zugehörigkeit der p. M. in ihr wahres, männliches Geschlecht • und die entsprechende Umschreibung im Standes- register ist unbedingt geboten, da ihre Gesamtpersönhchkeit eine aus- gesprochen männliche ist, und im besonderen noch deshalb, weil sie zeugungsfähig ist. Nachdem Fräulein Erna M. sich mit Zustimmung der Behörde auf Grund dieses Gutachtens in einen Herrn Ernst M. verwandelt hatte, heiratete sie alshald ihre Freundin. Diese war üher die Be- schaffenheit seines Körpers, vor allem üher den gänzlichen Mangel eines Membrum, unterrichtet. Wäre dies verabsäumt worden, hätte die Gültigkeit der Ehe später aus 1333 und 1334 B. G. B. an- gefochten werden können. Die kinderlos gebliebene Ehe, welche ich seit 8 Jahren verfolgt habe, hat sich im Gegensatz zu dem vorher- gehenden Fall nicht besonders glücklich gestaltet. Der infolge völliger Bartlosigkeit immer noch sehr weiblich aussehende Gatte steht völlig unter der Herrschaft seiner strengen Gemahlin. Zum Kriegsdienst wurde er infolge seines hermaphroditischen Baus und eines schweren Netzhautleidens nicht herangezogen. Der letzte Grund, der ihn zu mir führte, war recht eigenartig/ In seiner Familie gab es eine sehr alte Stiftung, aus der die männlichen Nachkommen in einem bestimmten Alter eine größere Summe ausgezahlt erhalten sollten. Man verweigerte ihm nun diesen Betrag, weil er nicht als Knabe, sondern als Mädchen zur Welt gekommen sei. Es bedurfte wieder eines fachmännischen Urteils, nach dessen Kenntnisnahme sich die Behörde zugunsten unseres Patienten entschied. Der nächste Fall betrifft einen als Mädchen verkannten Mann, dor unter dem Namen N. 0. Body (nobody = niemand) und dem Titel: „Aus eines Mannes Mädchenjahren"11) vor einigen Jahren seine aufsehenerregende und in der Tat recht lehrreiche Lebens- beschreibung veröffentlicht hat, Sie stand, bevor sie sich zu mir flüchtete, unmittelbar vor dem Selbstmord, den sie in Gemeinsam- keit mit ihrer damaligen Freundin und späteren Gattin, einer ver- heirateten Frau, beabsichtigte. Mein über sie erstattetes Gutachten, das ihre Verehelichung ermöglichte, lautete: Anamnese: Die am 20. Mai 1885 geborene Anna Laabs ersucht mich um Bi :.'utachtung ihrer Geschlechtszugehörigkeit, da ihr begründete Zweifel gekommen sind, ob sie, wie bei der Geburt angenommen, tatsächlich dem weiblichen Geschlecht zugerechnet werden muß. In bezug auf ihre Abstammung ist zu er- ") Erschienen im Verlag von Gustav Riccke (Nachfolger), Berlin; mit Vorwort von Rudolf Prcsber und Nachwort von Magnus Hirschfeld. wähnen, daß soweit ihr bekannt, Abnormitäten bei den Vorfahren nicht zu verzeichnen sind, abgesehen von einem doppelten Leistenbruch beim Vater, welcher, bei ihrer Geburt 46 Jahre alt, bis zum 53. Jahre gesund war und im 62. Lebensjahre an Knochen- tuberkulose starb. Die Mutter, eine gesunde, kräftige Frau, lebt noch. Verwandtenehen kamen in der Familie der Mutter wiederholt vor; sowohl die Eltern als auch die Großeltern mütterlicherseits waren Cousinund Cousine. Es sollen auch bereits vor diesen ähnliche Ehebündnisse in der mütterlichen Familie vorgekommen sein. Der Altersunterschied zwischen Vater und Mutter betmg 6 Jahre. Anna, die keinem ihrer Eltern ähnlich sieht, ist das jüngste Kind. Von fünf Ge- schwistern sind zwei in jugendlichem Alter verstorben, «ine Schwester und ein Bruder sind gesund und vollkommen normal; die Schwester, welche vor ihr geboren wurde, ist in ihrem Wesen ebenfalls sehr männlich. Aus ihrer Kindheit ist zu bemerken, daß sie rechtzeitig gehen und sprechen lernte und weder an Krämpfen noch an irgendwelchen nervösen oder sonstigen Krankheiten litt. Sie war als Kind sehr wild, zog es vor, trotzdem es ihr verboten wurde, mit Knaben zu spielen und beteiligte sich mit Vorliebe an Waldstreifereien, Raufereien, Schneeballwerfen usw., während sie es energisch zurückwies, mit Puppen zu spielen! Bei den „Theaterspielen", die unter den Kindern Sitte waren, übernahm sie stets die Männerrolle. Sie fühlte schon damals innerlich, wenn auch unbestimmt, daß sie anders war als die Mädchen, mit denen sie die höhere Töchterschule besuchte.' Auch äußerüch sah sie mehr knabenhaft aus und litt schon damals unter diesbezüg- lichen Bemerkungen und Neckereien ihrer Mitschülerinnen. Sie galt in der Schule als die befähigtste Schülerin, hatte besondere Vorliebe für Geschichte, Geographie und Rechnen, während ihr der Handarbeitsunterricht in hohem Maße zu- wider war, so daß sie zu Hause und_ in der Schule deshalb vielfach gescholten wurde. Im 13. Lebensjahre traten die ersten Zeichen der Geschlechtsreife ein. Mit 14 hatte sie Stimmwechsel. Bald darauf zeigte sich ein leichter Bartflaum, der sie sehr unglücklich machte, da er zu vielen Spöttereien Anlaß gab. Die Brüste ver- änderten sich nicht, auch trat keine Menstruation ein, dagegen konnte sie wahrnehmen, daß bald nach der Reife dann und wann nachts verbunden mit wollüstigen Träumen eine klebrige Flüssigkeit aus den Geschlechtsteilen unwillkür- lich sich entleerte. GegenwärtigerZustand: Die zu begutachtende Persönlichkeit ist 1,61 m groß, die Figur ist schlank, die Breite der H ü f t e n mit 81 cm wesentlich geringer als die Schulterbreite. Die Körperlinien sind eckig konturlert. Fettansatz gering, Muskulatur fest, die Hand ist kräftig und relativ groß, die Füße lang und schmal. Es besteht Neigung zu kräftiger Muskeltätigkeit und körperlich anstrengender Arbeit. Schon als Kind liebte sie Garten- und Feldarbeit, lernte später gut reiten, fahren,) rudern und schwimmen. Im Turnunterricht, den sie wie ihre gesamte Aus- bildung in einer Mädchenschule empfing, liebte sie besonders die Spring-, Lauf- und Reckübungen, während sie den mehr zur Ausbildung der Anmut und Grazie dienenden Spielen weniger Geschmack abgewann, deren Aus- führung bei ihren Kameradinnen zu beobachten, sie aber mit großer Freude erfüllte. Ihre Schritte sind groß, fest und schnell mit ruhiger Rumpfhaltung. Ein Drehen und Wiegen in Hüften und Schultern findet nicht statt, so daß die männliche Gang- art vielfach auffallend bemerkt wurde. Die Hautfarbe ist bräunlich hell. Körperbehaarung ist vorhanden, wenn auch schwach, besonders an den Beinen. Das Haupthaar ist ziemlich hart und dicht, wird zur Zeit nach Frauenart getragen, reicht aber aufgelöst nur bis zur Schulter. Der Bartwuchs ist zur Zeit ziemlich stark, so daß er mehrere Male in der Woche entfernt werden muß, was in der Weise geschieht, daß Laabs teils die einzelnen Haare auszieht, teils vorsichtig mit einem Streichholz' abbrennt. Die Schmerzempfindlichkeit ist nicht groß, auch die Reaktionsfähigkeit der Blutgefäßnerven ist nicht bedeutend, so daß Erröten und Erblassen selten sind. Die Ohren sind relativ groß, der Blick ruhig. Das Auge kurzsichtig, und zwar 6,5 D. Von dem Gesichtsausdruck läßt sich schwer sagen, ob er mehr männlich oder weiblich ist. 46 Namentlich von Frauen ist oft das Männliche desselben bemerkt worden, so daß es z. B. vorgekommen ist, daß wenn Frauen in Gegenwart anderer Frauen sich um- zogen, sie sie speziell baten, sich zurückzuziehen, weil sie sich, trotz sonstiger Sym- pathie mit ihr, durch ihre Anwesenheit geniert fühlten. Der Atmungstypus ist ausgesprochen abdominal, also männlich. Der Kehlkopf tritt in männlicher Weise hervor. Die Stimme ist tief und laut, so daß sie völlig viril wirkt; durch Bemühungen kann sie dieselbe künstlich um etwa eine Oktave erhöhen. Die Gesangsstimme ist ebenfalls tief und umfaßt Baßtöne. Im übrigen ist Laabs völlig gesund, auch in bezug auf das Nervensystem, nur besteht, wohl in Zusammenhang mit den aus ihrer Natur sich ergebenden seelischen Kon- flikten, oft Schlaflosigkeit. In bezug auf die geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten ist zu bemerken, daß der Grundzug ihres Charakters ein energischer ist. Sie ist einer- seits begeisterungsfähig, andererseits besteht keine Neigung zu Gemütsaffekten, wie Weinen. Es ist ausgeprägter Familiensinn vorhanden, so daß der lebhafte Wunsch besteht, sich als Mann ein Heim und eine Familie zu gründen. Unter Stimmungen leidet sie nicht. Ihr Wesen ist ziemlich gleichmäßig, ihr Wille stark und ausdauernd. Furchtsamkeit ist nicht vorhanden. Die Bildung, welche sie im wesentlichen auto- didaktisch erwarb, ist über ihr Alter hinaus gründlich. Sie hat ein starkes Bestreben, dieselbe zu erweitern und zu vertiefen. Gedächtnis und Aufmerksamkeit, sowie Beob- achtungsgabe sind über den Durchschnitt gut und scharf, Neigung zur Schauspiel- kunst ist nicht vorhanden, dagegen lebhaftes Interesse für abstrakte Aufgaben, Volkswirtschaft, Politik. Kraftvolle Naturen wie Napoleon und Bismarck interessieren sie aus der Geschichte am meisten. Arbeiten für das Gemeinwohl sind ihr für ihre eigene Person am sympathischsten. Sie liest viel wissen- schaftliche Werke, besonders nationalökonomische. Die Kleidung ist ihr gleichgültig. Jeder Schmuck erscheint ihr lästig, sie zieht dunklere Farben vor und hat Abneigung gegen Parfüms, wallende Gewandung, sowie überhaupt Toilettengegenstände, die einen mehr weiblichen Charakter tragen. Die Schriftzüge sind ebenfalls männlich, stark ausgeschrieben, und wenn auch nicht sehr fest, so doch in keiner Weise den Eindruck hervorrufend, als ob sie von einer Dame herrührten. Geschlechtsorgane und Geschlechtstrieb: Die Geschlechtsteile, welche außer von dem Unterzeichneten u. a. von Dr. med. G. M e r z b a c h zu Berlin und Dr. med. I. Bloch zu Charlottenburg inspiziert wurden, zeigen nach überein- stimmender Diagnose zur Zeit einen durchaus männlichen Typus. Es ist ein männ- liches Glied vorhanden, welches im erschlafften Zustande ca. 4 cm lang ist und ca. 3 cm im Durchmesser hat, während es im erigierten Zustande dreimal so lang und doppelt so breit ist. Der Penis ist nicht von einer Harnröhre durch- bohrt, dagegen geht von der Spitze der Eichel analwärts eine Binne, welche nach unten ziehend den Hodenbehälter in zwei seitliche Hälften teilt. Etwa im Mittelpunkt der Rinne, während ihres Hodenverlaufes, befindet sich die Öffnung der Harnröhre, durch die man in die Harnblase mit einem Bougie gelangen kann. In der linken Hoden- sackhälfte ist ein Hode nachzuweisen, welcher etwas- verkleinert ist, während in der rechten Hälfte kein Hode zu fühlen ist, so daß hier die! Vermutung nahe liegt, daß derselbe einen Teil des Leistenbruchinhaltes rechterseits bildet. Es ist nämlich auf beiden Seiten der Leistenkanal offen, so daß ein doppelter Leistenbruch vorliegt, welcher seit dem Jahre 1900 durch ein Doppelbruchband zurückgehalten wird. Nach der Analogie ähnlicher Fälle wäre eine genaue Untersuchung des Bruchinhaltes, die natürlich nur operativ vorgenommen werden könnte, für die genaue Feststellung der Keimdrüsen sehr wesentlich. In die Urethra müssen auch die Samen ausstoßenden Kanäle münden, was daraus hervorgeht, daß das Ejakulat, welches durch Automasturbation gewonnen wurde, wie Dr. Merzbach sorgfältig beobachtete, aus der Harnröhrenöffnung, hervor- quoll. Über die Beschaffenheit desselben äußert sich Kollege Merzbach wie folgt: „Das Ejakulat zeigt an Farbe, Geruch und Reaktion die Beschaffenheit der Sperma- L Kapitel: Hermaphroditismus 47 flüssigkeit. Seine Menge betrug ungefähr ein Drittel Teelöffel und gerinnt in der vor- her leicht angewärmten Glasschale zu einer Gallerte, die mit physiologischer Kochsalz- lösung verdünnt, zur Untersuchung gelangt. Es finden sich keine Sperma- tozoon und auch keine Fragmente derselben, ebenso keine Prostatakristalle vor. Die Prostata ist per anum nicht palpabel und ein Druck im Prostatateil des Rektum förderte auch kein Sekret zutage. Die Aspermie erklärt sich wohl aus der Verkümme- rung des linken palpablen Hodens und aus dem vermutlichen Fehlen des rechten Hodens, der auch möglicherweise als Bauchhoden unpalpabel sein kann. Die ersten geschlechtlichen Regungen traten im 25, Lebensjahre auf. S i e waren spontan und instinktiv auf das Weib gerichtet. Libidinöse Träume bezogen sich auf den Verkehr mit Frauen. Auf der Straße, der Bühne usw. wurde das Auge unwillkürlich mehr von Frauen angezogen. L. teilt mit, daß schöne Frauenkörper, etwa im Bade, stets ihre Bewunderung erregten, daß sie aber anfangs glaubte^ dieses Interesse sei ein rein ästhetisches. Erst ganz allmählich wurde es ihr klar, daß diese Anziehung auf den Geschlechtstrieb zurückzuführen sei. Andererseits bestand eine sehr ausgesprochene sexuelle Abneigung gegen den Mann. Der Gedanke, mit ihm geschlechtlich zu verkehren, ruft in ihr starken Ekel hervor. Sie hat mehrere Heiratsanträge, welche ihr eine gute wirtschaftliche Versorgung geboten hatten, wegen ihrer geschlechtlichen Abneigung zurückgewiesen ; als sie 17 Jahre alt war, machte ihr ein sehr reicher Mann einen Heiratsantrag, später ein Jurist und 1905 ein Postbeamter, alle wies sie ab, weil es ihr unmöglich erschien, mit einem Manne geschlechtlich zu verkehren. Der Geschlechtstrieb selbst ist stark. Sie ist überzeugt, daß sie auf die Dauer ihn nicht beherrschen kann; sie fühlt sich nach dem geschlechtlichen Verkehr mit einer weiblichen Person gekräftigt und befriedigt. Der Typus, welcher sie besonders anzieht, sind vollentwickelte Frauen zwischen 20 und 30 Jahren, und zwar ist dies seit dem Erwachen des Geschlechtstriebes stets unverändert. Namentlich sind es Brünetten mit ausgesprochen weiblichen Figuren, während Frauen, die männlichen Typus haben, Bartanflug oder tiefe Stimme besitzen, sie abstoßen. Eine schöne weibliche Altstimme oder Mezzosopran wirken erogen. Vor allem liebt sie bei der Frau das weiche hingebende Wesen. - Ein geschlechtlicher Verkehr mit einer Frau fand zuerst vor zwei Jahren statt, und zwar war das Begehren und die Betätigung eine aktive. Seitdem hat sie wieder- holt den Koitus in einer der normalen ähnlichen Art vollzogen. Als höchstes Ideal steht ihr eine dauernde eheliche Verbindung vor Augen. Sie beabsichtigt nach Umänderung ihrer Metrik mit einer Dame die Ehe einzugehen, mit der sie sich als verlobt betrachtet. ^ Konflikte erwuchsen ihr1 insofern, als, während sie eine beamtete Stellung mehrere Jahre zu großer Zufriedenheit ihrer Chefs versehen hatte, plötzlich das Ge- rücht entstand: „Anna Laabs ist ein verkleideter Mann." Vorher hatte sie sich schon einmal Zyankali besorgt, um mit ihrer Freundin aus dem Leben zu scheiden, weil ihr die Schwierigkeiten, dieselbe zu heiraten, unüberwindlich schienen. Epikrise: Es kann nach allem nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß es sich bei Anna Laabs um einen Fall von irrtümlicher Geschlechtsbestimmung handelt. Sowohl der Genitalbefund als die sekundären Geschlechtscharaktere, sowie der Ge- schlechtstrieb stellen es in ihrer Gesamtheit sicher, daß Laabs in Wirklichkeit Mann ist. Nach der ganzen Sachlage erscheint es daher dringend geboten, daß so rasch wie möglich die zu der Umänderung ihres Personenstandes nötigen behördlichen Maß- nahmen getroffen werden. Gleich nach seiner Umschreibung heiratete Herr Laabs — sein wirklicher Name ist natürlich ebensowenig Laabs wie Nobody — seine Freundin; ihre erste Ehe war geschieden worden, während er seine Geschlechtsberichtigung betrieb. Dabei war von dem Gericht 48 I. Kapitel: Hermaphroditismus die Frage erwogen worden, ob nicht der Beischlaf mit einer Person, die zwar für ein Weib gehalten wurde, in Wirklichkeit aber ein Mann war, als Ehebruch zu erachten sei. Der Ehemann hatte diese Frage aufgeworfen, als er mit Rücksicht auf einen von ihm be- gangenen Ehebruch als allein schuldiger Teil angesehen werden sollte; er gab als Grund seiner Untreue das Verhältnis seiner Frau mit ihrer Freundin an. Bald nachdem Laabs unter Überwindung so großer Schwierigkeiten seine Gattin heimgeführt hatte, traf ihn ein neuer Schicksalsschlag. Sie starb nach dreimonatiger Ehe an einer Lungenentzündung. Nun entstand ein neuer Prozeß. Die Familie der ziemlich wohlhabenden Frau focht die Gültigkeit der Ehe und die Erbberechtigung des Gatten an, weil er kein Mann, zum min- desten kein richtiger Ehemann gewesen sei. Sie drangen jedoch nicht mit ihrer Ansicht und Absicht durch. Wie ich höre, lebt Laabs, der seit Jahren eine Beamtenstelle bekleidet, bereits längere Zeit in einer zweiten glücklichen Ehe. Ich habe oben bereits auf die verhältnismäßige Häufigkeit hermaphroditischer Geschwister hingewiesen. War es in dem eben geschilderten Fall der Anna L. nicht möglich zu ermitteln, ob die Schwester nur äußerlich stark männlich oder ebenfalls von herma- phroditischer Beschaffenheit war, so konnte diese Feststellung bei den in dem nunmehr folgenden Gutachten geschilderten Ge- schwistern mit um so größerer Sicherheit vorgenommen werden. Zum Zwecke der Feststellung des Geschlechts und der Abänderung ihrer Ge- schlechtszugehörigkeit suchten uns Mitte Juli 1911 in Begleitung ihrer Eltern die 16jährige Charlotte L. und die 14jährige Gertrud L., aus Insterburg gebürtig, auf. Nach wiederholter genauer Untersuchung und eingehender Anamnese erstatteten wir das folgende Gutachten. , Vorgeschichte: Anna Louise Charlotte L. wurde als zweites Kind — das erste war ein völlig normaler Knabe — am 14. Mai 1895 geboren, ihre Schwester Gertrud Meta Hilde am 18. August 1897. Bei beiden bemerkte die Mutter kurz nach der Geburt eine Abnormität der Geschlechtsteile, über die sie aber von der Hebamme mit der Versicherung beruhigt wurde, das würde mit der Zeit verwachsen und dann der normale weibliche Zustand her- gestellt werden. Als Gertrud später an einem schweren Darmleiden erkrankte, machten die Eltern den Arzt gleichzeitig auf die angeborene Mißbildung der Geni- talien aufmerksam. Er untersuchte beide Kinder, kam aber hinsichtlich des wahren Geschlechts zu keiner bestimmten Entscheidung. So kam es, daß beide zunächst als Mädchen erzogen1 wurden und die Mädchenschule besuchten. Während der Schulzeit traten nun bei beiden Kindern Erscheinungen auf, die ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlechte sehr zweifelhaft erscheinen ließen und Anlaß zu fortwährenden Belästigungen und Verhöhnungen von Seiten der Mitschülerinnen gaben. Nachdem Charlotte mit 8 Jahren eine schwere Lungenentzündung durchgemacht hatte, deren Folgen noch heute nicht völlig überwunden sind, bekam sie im zehnten Lebensjahre plötzlich eine tiefe männliche Stimme, die bei ihrem ersten Auftreten als eine vorüber- gehende Heiserkeit aufgefaßt und behandelt wurde, bald jedoch als eine nicht krank- hafte, natürliche Erscheinung der beginnenden Mannbarkeit sich erwies. Bei der jüngeren Schwester Gertrud stellte sich diese tiefe Stimme schon im siebenten Lebens- L^Kapitel: Hermaphrodhismus 4g jähre ein, kurz vor Beginn des Schulbesuches. Sie wurde in der Schule viel ge- hänselt, z. B. vom Lehrer „Brummbär" genannt, was ihr viel Kummer ver- ursachte. Wegen ihrer tiefen Stimme wurde Charlotte nach Untersuchung durch den Schularzt von der Teilnahme am Gesangunterricht befreit, ebenso Gertrud. Gleichzeitig mit der Stimmveränderung machte sich eine stärkere Ent- wicklung der Geschlechtsteile bemerkbar, die mit starkem Haar- wuchs am Möns veneris einherging. Damals schon fiel Gertrud dem Arzt, der sie zu- fällig in einem Badeorte sah, derart auf, daß er ihre Mutter ausfragte; dann auch eine körperliche Untersuchung vornahm, ohne das wirkliche Geschlecht genau festzustellen Dies geschah erst von seiten eines Professors, den beide Kinder zwecks elektrolytischer Entfernung zahlreicher Barthaare konsultierten, nachdem sich bei Charlotte mit 12, bei Gertrud mit 10 Jahren ein starker Bartwuchs eingestellt hatte. Nach der Untersuchung der Geschlechtsteile erklärte der Professor, daß beide Mädchen Knaben seien, und er schlug schon damals eine Abänderung der Geschlechts- zugehörigkeit vor. Diese Mitteilung rief jedoch bei den Kindern eine große Nieder- geschlagenheit und Melancholie hervor, daß man auf Anraten einer zweiten ärztlichen Autorität beschloß, sie vorläufig noch als Mädchen leben zu lassen. Dieser mehrere Jahre durchgeführte Versuch erwies sich aber auf die Dauer als unmöglich, da der männliche Habitus bei beiden Kindern immer deutlicher hervortrat und so viele Un- annehmlichkeiten im Gefolge hatte, daß sie jetzt selbst zu der Erkenntnis der Not- wendigkeit der Umwandlung ihrer Geschiechtszugehörigkeit gekommen sind. Der Bartwuchs ist nämlich inzwischen derart stark geworden, daß die Kinder schon heute von der Mutter täglich sehr scharf rasiert werden müssen. Trotzdem fallen sie in der Öffentlichkeit unangenehm auf, werden überall mit neugierigen Blicken, auffallendem Anstoßen und Flüstern der Leute belästigt, können es nicht wagen, in Gegenwart anderer zu sprechen, weil ihre Stimme sofort größtes Aufsehen erregt. Der Zustand ist allmählich unerträglich geworden, „jede Freude am Leben den Kindern vergällt, jedes unbefangene Auftreten in der Öffent- lichkeit ihnen unmöglich gemacht", so daß sie jetzt selbst den einzigen Wunsch haben, baldmöglichst Knaben zu werden, als welche sie sich jetzt auch in jeder Beziehung fühlen. Die Mutter der Kinder macht noch die bemerkenswerte Angabe, daß eine Schwester ihres Gatten absolut viril und, eine ausgesprochene Männerfeindin sei. Auch soll eine Cousine der Kinder, Tochter ihrer Schwester, eine ganz ähnliche Anomalie der Geschlechtsteile haben. Tatsächlicher Befund: Die am 19. Juli 1911 vorgenommene Unter- suchung des Status praesens ergibt bei beiden Kindern das Folgende: Sowohl Charlotte als auch Gertrud L. machen beim ersten Anblick den Eindruck absoluter Männlichkeit. Im einzelnen wird dieser virile Habitus und weiter die Zu- gehörigkeit beider zum männlichen Geschlecht durch folgende Befunde sicher er wiesen: 1, Verhältnis der Schulter zur Hüflbreite. Charlotte: 39 crrt Schulterbreite, 30 cm Huftbreite. Gertrud: 36 cm Schulterbreite, 33 cm Hüftbreite. Dieses Überwiegen der Schulterbreite über die Hüftbreite ist ein ausschließlich männlicher Geschlechtscharakter, auch die übrigen Konturen lassen jede weibliche Bundung vermissen und zeigen vollkommen männlichen Typus. 2. Behaarung. Das ungeschnittene Haupthaar reicht bei Charlotte bis zur Brust- wirbelsäule, bei Gertrud bis zur Höhe des Schulterblattes, bei beiden also nur so weit, wie es den ausgesprochenen männlichen Kopfhaaren entspricht. Sodann ist bei beiden der starke Bartwuchs an Oberlippe, Wangen und Kinn sehr auffällig der trotz des Rasierens sofort in die Augen fällt. Ferner haben beide an den Unter- schenkeln sehr reichliche Behaarung, was ebenfalls ein typisch männ- licher Geschlechtscharakter ist. Endlich zeigt auch die Schambehaarung durchaus männlichen Habitus, der sich auch durch eine nach dem Nabel zu sich erstreckende Haarlinie bekundet. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 4 5q I. Kapitel: Heimaphioditismus 3. Stimme. Die Stimme ist auch bei leisem Sprechen bei beiden Kindern sehr tief und rauh, eine ausgesprochene Männerstimme., Ihr entspricht deutlich die Ent- wicklung des Kehlkopfes, der stärker vorspringt als bei weiblichen Personen. 4 Brüste. Auch diese zeigen bei beiden Kindern männlichen Habitus, sind flach und wenig ausgebildet. Bei Charlotte sind links zwei überzählige sehr kleine Brustwarzen unter der eigentlichen Mammilla zu sehen (sog. „Polytehe"). 5. Beschaffenheit der Geschlechtsteile. Sowohl bei Charlotte als auch bei Gertrud ist ein typisches männliches Glied vorhanden, das bei ersterer 4xj2 cm, bei letzterer 5 cm Länge hat. Die früher als Scheide angesehene Öffnung erweist sich bei beiden als eine ausgesprochene Hypospadia peniscrotalis. Hoden ließen sich nicht mit Bestimmtheit palpieren, es ist bei beiden ein Zustand von Kryptorchismus vor- handen. Für die Existenz der Hoden spricht aber die Tatsache, daß Gertrud wieder- holt denAbgangeinerklebrigenFlüssigkeit beobachtet hat. Vor allem ist von irgendwelchen weiblichen Charakteren an den Genitalien nicht das Geringste nachweisbar, weder Teile der äußeren noch der inneren weiblichen Geschlechtsteile. Irgendwelche Spuren der Menstruation haben sie nie gezeigt. 6. Psvchisches Verhalten. Auch das gegenwärtige Seelenleben ist du rchausdasvon Knaben gleichenAlters. Sie interessieren sich ausschließlich für männliche Beschäftigungen und Spiele, fühlen sich zu männlichen Berufen hingezogen. So will die Ältere jetzt Kaufmann werden. Beide Kinder äußerten auch bereits den Wunsch, Soldat zu werden. Auch ihr Geschlechtstrieb, soweit davon schon jetzt die Bede sein kann, zeigt eine Inklination zum weiblichen und nicht zum männlichen Geschlecht. Ergebnis: Aus der Vorgeschichte der Kinder und aus der von uns vorgenom- menen Untersuchung, die in allen wesentlichen Teilen übereinstimmen, so daß An- amnese und Untersuchungsbefund sich vollkommen decken, ergibt sich mit Sicherheit, daß sowohl Charlotte als auch Gertrud L. männlichen Ge- schlechts sind, und zwar handelt es sich um einen ausgesprochenen Fall von sog. „Pseudohermaphroditismus masculinus" bei überwiegend männlichem Habitus, also eine Entwicklungsstörung bei einem in allen Teilen männlichen Indi- viduum ohne Beimischung wesentlicher weiblicher Geschlechtscharaktere. So muß die Geschlechtszugehörigkeit beider Kinder als eindeutig männlich bestimmt werden. Es liegt im individuellen Interesse der Kinder und im sozialen Interesse, daß eine Umwandlung der beiden als Mädchen Erzogenen so bald wie möglich vorgenommen wird, da die Inkongruenz zwischen dem künstlich anerzogenen und dem wirklichen Geschlechte immer größer wird und zu schweren Ärgernissen Veranlassung gibt, die auf die Dauer eine gedeih- liche Entwicklung und Lebensführung der Kinder, sowie die Ausübung eines Berufes unmöglich machen, vor allem aber auch den Eltern und den Kindern dauernd so schwere seelische Leiden auferlegen, daß es bisher nur dem ärztlichen Zuspruche gelungen ist, sie vor verzweifelten Schritten zu bewahren. Was die Namensänderung betrifft, so geht der Wunsch der Eltern dahin, daß Anna Louise Charlotte in Ludwig, Gertrud in Gerhard umgeschrieben wird. Die Behörden trugen natürlich der in diesem Gutachten ge- zogenen Schlußfolgerung Kechnung. Äußerlich vollzog sich die Umwandlung, wie übrigens auch in den meisten anderen Fällen so, daß die Unikleidung in Verbindung mit der Änderung der Haar- tracht in meiner Wohnung vorgenommen wurde. Die Kinder be- traten dieselbe als Schwestern und verließen sie als Brüder. Wenn möglich, empfiehlt es sich auch, um dem Gerede der Nachbarschaft aus dem Wege zu gehen, gleichzeitig einen Ortswechsel oder wenig- stens Wohnungswechsel eintreten zu lassen. Ich verlegte deshalb Kapitel : Hermaphroditismus die Umwandlung meist in die Nähe eines Quartalstermins. Ludwig und Gertrud P. kamen von mir aus in Pension zu dem mir be- freundeten Pfarrer B. in V., welcher sieh der Kinder mit großer Liebe und Sorgfalt annahm. Sie wurden dort konfirmiert und ent- wickelten sich zu höchst fleißigen, braven und tüchtigen Menschen Auch ein Fall von drei hermaphroditisch en Ge- schwistern befindet sich in meiner Kasuistik. Bisher wurde allerdings erst die Umschreibung des ältesten Kindes veranlaßt. Mit der (xeschlechtsberichtigung der beiden jüngeren wollen die Eltern noch warten, bis sie sich überzeugt haben, ob und wie sich der be- deutsame Schritt in dem einen Fal}e bewährt hat. Phri™ LaU^ deSo, S°mmers 1917 suchte mich die zur Zeit 19jährige Karoline if r. ?n'n? d6S Eisenwarenfabrikanten Friedrich Ehrmann aus Berlin, / 'u 816 ZU untersuchen> da sie der sicheren Überzeugung sei, daß sie nicht dem weiblichen, sondern dem männlichen Geschlecht zugehöre. Ich habe K E. kngere Zeit zusammen mit meinem Kollegen Ho dann, beobachtet und körperlich wie psychisch untersucht. Wir kamen bezüglich des Zustandes der Patientin zu diesem Ergebnis: P«»,w£ bestanden im Hinblick auf die Geschlechtszugehörigkeit der Patientin offenbar keine Zweifel. Sie wurde unter weiblichem Vornamen in das K n^i r?nBe??en- Jed°Ch S0U SiG nach dgenen Angaben bereit* ^ «er Kindheit ein auffallend knabenhaftes Aussehen aufgewiesen haben, so daß sie dadurch auffiel und daraufdeuteride Bemerkungen des öfteren laut wurden. Sie war sich lt°^ frühHbewuJ\ anders zu ^in als ihre Altersgefährtinnen; sie hielt sich meist allein spielte im übrigen mit den Mädchen vorzugsweise Laufen Versteck- LDFrS /l1-6" 7? Sie V°n j6her für körPerliche Betätigung und Ausarbeitung im Freien mehr Sinn hatte als für Arbeit im Zimmer InteJS rrrdr,imAaUp deur.fern erzo*en' in der 'Schule wies sie bei stärkerem Interesse für Deutsch, Geschichte und Erdkunde durchschnittliche Leistungen auf Spater ging sie auf eine Berliner Handelsschule, um Stenographie und Schreibmaschine schreiben zu lernen, und nahm dann eine Bureaustelle an In der Familie, aus der Karo line stammt, s i n d d i e g 1 e i c h e n Erscheinungen wie die, die bei der Patientin beobachtet wurden, noch an den beiden Schwestern der Patientin zu ver- 26 ,2nen/ nDer Bmder ist gesund- Die Eltern sind Cousin und Cou- vn^LL ff" lmAFalle der beiden Schwestern ist Patientin in der Familie nichts ™5h i vu Anom*h,en' ernsleren Krankheitsfällen, insbesondere nichts von psychischen Krankheiten bekannt. Patientin selbst ist angeblich immer gesund gewesen. Ihre Vorgeschichte weist s^ch^N f1^1«6 *fr auf> ^ *> an irgendwelchen Verstimmung n geüuen Lbe ' " WedlSelnder Affeklla^> Ängstlichkeit, früher an Kinderfehlem Die Pubertät trat angeblich mit dem 13. Jahre ein. Von geschlechtlichen teEpn^JV6 v Z?i ZUm erStenmal aus der Zeitung ™d einem populär » k Jahre ab hat Sie in "»regelmäßigen Abständen onaniert. Angebhch will sie bereits im 12. Jahre Stimmwechselerscheinungen und Bartwuchs bemerkt haben. Eine M enstruation isf niemals eingetreten desgleichen keine ihr analogen psychischen Erscheinungen. Der Geschlechtstrieb war von jeher ausschließlich auf das weibliche 12) Es ist ein höchst beachtenswertes Moment, wie häufig in der Vorgeschichte unserer Hermaphroditen die Angabe : „Eltern : Cousin und Cousine" wiedikehrt 52 I. Kapitel: Hermaphroditismus Geschlecht gerichtet, seine Richtung ist unverändert dieselbe geblieben, übermäßig stark scheint er nicht entwickelt zu sein, Patientin scheut steh offenbar darüber Angaben zu machen. Jedenfalls hat sie den Koitus noch nicht vollzogen. Ist jedoch nach ihren Angaben völlig sicher, daß s i e i h re m W e s e: n n a c h männlich ist. Erotische Träume bezogen sich ausschließlich auf das Weib. Sie äußert daher nachdrücklich den Wunsch, daß ihr Name im Standesregister geändert wird und sie die Erlaubnis erhält, männliche Kleidung tragen und ihre Lebensweise nach männlicher Art einrichten zu dürfen, da sie dies als ihrer Veranlagung und ihrem Triebleben entsprechend als einzig ihr gemäß empfindet. Sie vertritt diesen Wunsch mit Zielsicherheit und Bestimmtheit. Körperliche Untersuchung: K. E. ist mit 20 Jahren 147 cm groß und wie«t 452 kg. Die Statur macht auch in weiblicher Kleidung einen durchaus männlichen Eindruck. Die Haut ist fest und straff gespannt, der Teint nicht ganz rein Hautfarbe nach der v. Luschanschen -Skala 3 bzw. etwas dunkler, im übrigen ebenso wie die Schleimhaut gut durchblutet. Fettpolster mäßig, dagegen außers kräftige und gut in Gruppen abgesetzte Muskulatur. Der Knochenbau ist sehr kräftig, in seinen Proportionen ausgesprochen viril. Dieses spricht sich vor allem in dem V e r h ä 1 1 n i s der größeren Achselbreite zur kleineren Hu f t - breite aus: Akromialbreite 36,0 cm, Distant iliaca 26, Distant spinata 25,0 cm, Distant trochant. 28,5 cm. • Die Brüste sind durchaus männlich geformt, die Warzen nach männlichem Typus rudimentär. Drüsenkörper sind nicht zu fühlen. Der Kehlkopf springt vor und ist hart zu tasten. Stimme männlich. Behaarung zeigt ausgesprochen männlichen Typus. Das Haupthaar, das Patient als Mädchen lang trug reicht bis zu den oberen Lendenwirbeln. Der B ar t w uc h s ist kräftig, Patientin entfernte bisher die Haare durch Ausziehen. Die Schambehaarung zeigt in ihrem Über- gang in die Körperbehaarung, in der Beschaffenheit des Einzelhaares und der Anord- nung der Haargruppen männlichen Typus. Es reicht, wenn auch schütterer ais auf dem Möns pubis rautenförmig längs der Linea alba bis zum Nabel hinauf. Die Extremitätenbehaarung ist ebenfalls in ihrer Stärke und Ausbreitung, sowie in der Natur der Einzelhaare, durchaus dem männlichen Typus entsprechend. Die inneren Organe sind gesund, das Nervensystem zeigt keine Be- sonderheiten, i Geschlechtsorgane: Von vorn, bei geschlossener Beinhaltung gesehen, macht die Regio pubis, abgesehen von der Haarverteilung, einen weiblichen Eindruck. Bei auseinandergehaltenen Beinen jedoch gewinnt man ein völlig anderes Bild. An der Stelle der Klitoris zeigt sich, fast völlig von der starken Behaarung überdeckt, ein 41/ — 5 cm langer penisähnlicher Körper, etwa von der Stärke des rechten Daumens der untersuchten Person. Die beiderseits von diesem Körper abwärts ziehenden Wülste gleichen hypotrophischen großen Labien; ein beweglicher oder unbeweglicher Körper ist in diesen Wülsten n i c h t zu fühlen. Medialwärts dieser großen Labien finden sich beiderseits die kleinen Labien, welche kulissenartig als zwei dünne Falten den stark geröteten Vorhof der Urethral- und Vaginalöffnung umgeben. Die ganze Gegend erscheint mit feiner Schleimhaut über- zogen und sieht blutig rot aus. Die Urethralöffnung befindet sich als ganz kleiner stecknadelkopfgroßer Punkt mit Schlitz an der Stelle, wo sich normalerweise die weibliche Urethralöffnung befindet. Durch einen hier unschwer einzuführenden Katheter entleert sich Urin. Von dieser Schlitzöffnung der Urethra zieht zu der Spitze der Glans clitoridis eine seichte Rinne bis dicht unter die Spitze des Gliedes, welches nicht durchbrochen ist. Dicht unter der Urethralöffnung befindet sich noch ein kleines Loch, das in einen ca. 5 cm langen Blindsack führt, welcher an seinem Grund keinerlei Öffnung noch Erhabenheit erkennen 'läßt. Von dem zuletzt erwähnten Loch erstreckt sich der Damm 3 cm zum Anus hin; von einem Hymen findet sich keine Spur. I. Kapitel: Hermaphroditismus 53 Die inneren Geschlechtsorgane können nur vom Anus aus bima- miell untersucht werden, und auch diese Untersuchung ist nur möglich, nachdem die Därme gründlich entleert sind. Nach wiederholten Untersuchungen ergab sich mit Sicherheit der folgende Befund, der von Geheimrat Wilhelm AI exander Freund in Dr. S e e 1 i g s Klinik wie folgt festgestellt wurde : Zwischen der absolut männlich geformten Blase und dem Rektum, in der Mitte etwa 1 cm über den beiden Enden des Vaginalschlauches, mit diesem aber ohne Ver- bindung, fühlt man einen Körper, der Größe und Form einer Saubohne hat. Er be- findet sich 5 cm über dem Anus und macht den Eindruck eines Utriculus prostaticus. Eine eigentliche Gebärmutter ist nicht vorhanden. Nach beiden Seiten von diesem medial gelegenen knopfartigen Gebilde ziehen Stränge, die sich wie Bindfaden an- fühlen und hart am Os ileum unter der Linea arcuata interna in spindelförmige Drüsen enden, die sich wie kleine Hoden ausnehmen. Psychischer Befund: In pathologischer Hinsicht zeigt die Psyche keiner- lei Anomalien: K. E. ist ein stiller, ruhiger Mensch von gleichmäßiger Affektlage. Da der sexuelle Trieb nicht übermäßig stark ist, verleiht er dem psychischen Bilde keine ausgesprochene Prägung. Immerhin ist wichtig, daß zweifelsfreie Rückwirkungen der Triebrichtung auf das psychische Geschehen in der Sphäre des Unterbewuß- ten in Form sexueller Träume, die ausschließlich das Weib als Gewinnziel aufweisen, zu verzeichnen sind, daß dieses Triebleben selbst eindeutig männlich ist, daß demzufolge die ihm entspringenden Willensmotive klar ihre männliche Natur darbieten. Intelligenz, Merk- und Orientierungsfähigkeit zeigen keinerlei Defekte. Gegen- über weiblichen Personen besteht starkes Schamgefühl. E. bestand darauf, daß sich die Schwestern während der Untersuchung aus dem Zimmer entfernten. Männern gegenüber schämt sich Patient nicht. Zusammenfassung: Für die männliche Geschlechtszugehö- rigkeit der Patientin sprechen eindeutig die Statur, der Knochen- bau, die Behaarung, die Stimme, die männliche Form der Brüste, dasVerhältnis der Schulter- zur Beckenbreite. See- lisch die gesamte T r i e b r i c h t u n g , sowie die Sexualsphäre des Unterbewußtseins. Auch im körperlichen Genitalbefund überwiegt der männliche Habitus: Der externe Geschlechtshöcker ist mehr penis- wie klitorisartig, intern befindet sich ein mehr prostata- als uterus- förmiges Gebilde. Der Finger stößt auf zwei mehrhoden - als eierstock- ähnliche Drüsen. Die Blase ist männlich. Ein Hymen fehlt, desgleichen Men- struation. An Stelle der Scheide liegt nur ein enger Blindkanal. Ein aktiver männlicher Koitus ist mit diesen Organen möglich, dagegen ist die Möglichkeit ausgeschlossen, sich wie ein Weib koha- bitieren zu lassen. Zusammenfassend ist also bei K. E. auf männliches Ge- schlecht zu erkennen. Aus diesem Grunde wird unsererseits der Antrag der Patientin, ihr Geschlecht im Standesregister aus weiblich in männlich, ihren Vor- namen aus Karoline in Karl ändern, männliche Kleidung tragen und eine männliche Lebensweise führen zu dürfen, dringlichst befürwortet. Ich will diesen Geschwistern noch einige weitere, ähnliche Fälle von irrtümlicher Geschlechtsbestimmnng- anfügen, in denen sich ebenfalls die Notwendigkeit der Geschlechtsumschreibung in der- selben Zeit, nämlich in dem für die Entwicklung des Menschen so bedeutsamen dritten Lebenssiebentel ergab. Trotzdem ich mir bewußt bin, daß diejenigen Leser, welche die Kasuistik mehr überfliegen als studieren, die Häufung der Fälle leicht eintönig empfinden werden, habe ich mich doch aus verschie- 54 f. Kapitel: Heimaphroditismus denen Gesichtspunkten entschlossen, meine einzelnen Fälle von Ge- schlechtsherichtigung möglich genau zu bringen, und zwar nicht nur, weil sie meines Erachtens als dokumentarisches Material von höchstem Werte sind, sondern weil sie neben großen Übereinstim- mungen stets auch ebenso große Verschiedenheiten aufweisen und vor allem, weil sie die unentbehrliche Grundlage für das Verständnis aller Abweichungen vom Geschlechts- typ u s bilden. Zunächst zwei Fälle, die dem letztbeschriebenen inso- fern verwandt sind, weil den Personen neben der sexuellen Anomalie ein sehr untersetzter, fast zwerghafter Körperbau und andere Pro- portionsanomalien eigen waren, die auf Normabweichungen im innersekretorischen System schließen lassen (vgl. Tafel II). Im Frühjahr 1916 suchte mich Frau Martha D., Ehefrau des in Rußland im Felde stehenden Landwehrmanns Karl D., mit ihrem einzigen Kinde Bertha D. auf, die damals 14 Jahre alt war. Die Mutter war vom nationalen Frauendienst an mich ge- wiesen, weil einer leitenden Dame die tiefe Stimme und die Bartstoppeln des Mädchens aufgefallen waren. Ich habe mich dann mehrere Monate mit dem körperlichen und seelischen Zustand der Bertha D. beschäftigt und stellte folgendes fest: Bertha D. ist von katholischen Eltern, 4 Jahre vor der Ehe geboren. Bei ihrer Geburt zweifelte niemand an dem weiblichen Geschlecht des Kindes. Ate Bertha 4 Jahre alt war, zogen die Eltern nach1 F. Sie besuchte hier die Mädchenschule bis zur ersten Klasse und wurde mit 13 Jahren als Mädchen konfirmiert. Sie lernte darauf die Wäscheschneiderei. Schon auf der Schule fiel ihre tiefe Stimme auf, s i e wurde von den anderen Kindern deswegen geneckt, beispielsweise oft „alter Brummbär", „Männerbart", „Junge" gerufen, was ihr das Leben verleidete und sie oft in Tränen ausbrechen ließ. Trotzdem kam ihr nicht der Gedanke, daß sie lieber ein Knabe sein möchte. Selbst als ich ihr nach der ersten Untersuchung mitteilte, daß sie eigentlich ein Knabe sei, und sie fragte, ob sie nicht vorziehen würde, als solcher zu leben, sträubte sie sich sehr. „W as würden dann die Leute sagen," meinte sie; auch überwog damals noch das Gefühl, ein Mädchen zu sein. — Als aber der Bartwuchs immer stärker wurde und tägliches Rasieren er- forderte, kam sie allmählich doch zu der Überzeugung, daß es für sie vorteilhafter sein würde, Männerkleidung zu tragen und einen männlichen Vornamen anzulegen, um nicht mehr kränkenden und sie beschämenden Bemerkungen ausgesetzt zu sein. Er- schwert wurde dieser Schritt dadurch, daß der Vater sich im Felde befand und die Mutter unterleibskrank (Gebärmuttervorfall) ist, außerdem die Mittellosigkeit so hoch- gradig war, daß die zur Umkleidung erforderlichen Mittel nicht zur Verfügung standen. Daher gab ich zunächst das folgende Vorgutachten ab, das an den Truppenkomman- danten ging: „Vorbehaltlich ausführlicher Begründung gebe ich mein Sachverständigen- Gutachten dahin ab, daß das am 19 . . geborene Kind des Malers und jetzigen Landwehrmanns Karl D. und Frau Martha, geb. G., welches bei der standesamtlichen Anmeldung den Namen Bertha erhielt, nicht weiblichen, sondern männlichen Geschlechts ist. Es ist daher unbedingt erforderlich, daß eine Umschreibung des Namens (stattBerthaD. inBerthold D.) erfolgt und daß das Kind Kleidung, Haarschnitt und Lebensweise nach der männlichen Richtung umändert. Damit un- nötiges Aufsehen vermieden wird, ist auch ein Wohnungswechsel geboten. Da Frau D. selbst unterleibsleidend und sehr schwach ist, kann sie allein ohne An- wesenheit und Hilfe ihres Mannes die zur Geschlechtsberichtigung er- forderlichen Schritte nicht unternehmen." Herr D. erhielt darauf Urlaub. Durch Wohltätigkeit (Hilfsstelle des Nationalen Frauendienstes für Bekleidung) konnten die erforderlichen Kleidungsstücke beschafft werden und wurde dann während der Beurlau- bung des Mannes der Wohnungswechsel in Verbindung mit der Umkleidung und Ab- Gresclilecktsberichtigung' im 14. Lebensjahr Tafel II. 5 6 Beschreibung des Falles findet sich im Text, Seite 54 bis 57. Bei der wiederholt gemeinsam mit dem Gynäkologen Prof. W. A. Freund vorgenommenen Exploration waren weder männliche noch weibliche Geschlechtsdrüsen, auch nicht Uterus ■oder Prostata auffindbar. Geschlechtstrieb fehlt. Somatisch und psychisch über- wiegen stark die männlichen Geschlechtscharaktere. Diagnose: Hermaphroditismus neutralis. Geschlechtsumschreibung aus praktischen Gründen geboten. Hirse Ilfeld. Sexualpathologie. II. A. Marcus & E. Webers Verlag', Bonn. 55 änderung des Haarschnitts — beides fand in meiner "Wohnung statt — vor- genommen. Da nun noch die Umschreibung im Standesregister und die gewünschte kirchliche Umtaufung aussteht, sei nun folgendes festgestellt. I. Die äußeren Geschlechtsorgane: Wie aus dem beigefügten Bilde ersichtlich, machen die Geschlechtsorgane, wenn D. sich entkleidet, zunächst einen völlig weiblichen Eindruck. Man sieht nichts von einem Penis, auch nichts von einem Hodensack. Die üppige* Schambehaarung zeigt allerdings mehr virilen Charakter. Ganz anders aber gestaltet sich das Bild, wenn man D- mit gespreizten Beinen untersucht. Da zeigt sich ein Gebilde, das äußerlich viel mehr einem Penis als einer Klitoris gleicht. Die Glans ist von einem Corpus Penis1 durch den deutlichen Sulcus coronarius geschieden. Die Mutter gibt an, daß dieses Gebilde in den ersten Monaten nach der Geburt nur ein kleines „Knöspchen" gewesen sei, das dann erst später größer und immer größer geworden wäre. Die Eichelspitze erscheint durchbohrt, sieht man aber genauer nach, so merkt man doch die Fossa navicularis nicht unmittelbar in die Harnröhre übergehen, son- dern in eine seichte Rinne verlaufen, die sich an der ganzen Unterseite des Penis herab- zieht und schließlich in einem Spalt endet, der sich scheidenartig vertieft. D. gibt an, daß der Höcker sich oft von selbst steift, Geschlechtsempfindungen werden dadurch nicht ausgelöst. Der Urin entleert sich aus dem Spalt. D. kann nur sitzend, nicht stehend im Strahl Wasser lassen. Man sieht auf dem Bilde deutlich, wie zwei nach unten konvergierende Wülste den taschenförmigen Spalt umgeben. Diese "Wülste sind leer. Sie entsprechen den großen Labien, entwicklungsgeschichtlich aber auch den beiden Skrotalhälften. Auch die kleinen Labien sind als zwei feine Falten neben und über der Klitoris andeutungsweise vorhanden. Möns veneris ist schwach ent- wickelt. Blutungen sind niemals vorgekommen. (Vgl. Tafel II.) II. Die inneren Geschlechtsorgane: Die interne Untersuchung nahm ich in Gemeinschaft mit Geheimrat Prof. Dr. W. Freund und dem Frauenarzt Dr. Seelig vor. D. hatte sich für die Untersuchung durch Entleerung von Darm und Blase vorbereitet. Ich gebe das Diktat des Geheimrats Freund bei der bimanuellen Untersuchung per anum wieder: „Ich fühle an der vorderen Beckenwand, beginnend in der Höhe des Arcus pubis, eine kleinfingerlange, fleischige, strangförmige Hervorragung, die von unten etwas schräg nach links aufsteigt, sich nach oben verjüngt und allmählich aufhört. Am rechten Beckenrande unter der Linea arcuata ist eine flache, dem Knochen anliegende Erhebung zu konstatieren. Druck auf diese Stelle soll empfindlich sein, doch zeigt das Gesicht bei stärkerer Betastung keine auf Schmerz hindeutende Verzerrung. Die Untersuchung mit dem harten Katheter führt durch die etwa 3 cm tiefe Scheide an den Anfangsteil dieses derben, fleischigen Organs, das an der Vorderwand des Beckens wie ein kleiner Finger ge- legen ist. In der linken Beckenseite ist nicht das geringste von einem derben Katheter zu fühlen." j Mit dem weichen Katheter gelangte Dr. Seelig nicht ohne Schwierigkeiten schließ- lich in die Blase. Die Urethralmündung befindet sich ganz am Ende der vaginalen Tasche, dicht unter dem derben, kleinfingerförmigen Körper. Sie zeigt nicht die ge- wöhnliche schlitzförmige Beschaffenheit der Harnröhrenmündung, sondern eigentüm- lich gewulstete und gefaltete Ränder. ni. Körperliche Geschlechtscharaktere: a) Gestalt. D. ist mit 15 Jahren 1,46 m groß und wiegt 50 kg. Er hat eine untersetzte, stämmige Figur. Die Muskeln sind kräftig. Das Fleisch fühlt sich hart und fest an. Die Armkraft ist bedeutender als die der Beine (viriles Zeichen). D. hat deutliche X-Beine. Die Wade ist viril abgesetzt. Füße und Hände sind relativ klein. Kopfform ist ebenso wie der Gesichtsausdruck männlich. Stirn ausgesprochen mas- kulin, dagegen Kinn1 feminin. Die Raute in der Kreuzbeingegend ist schmal (viriler Typus). Die Nates erscheinen mehr feminin. 56 I. Kapitel: Hermaphroditismus b) Becken. Dieses wichtige Geschlechtsmerkmal zeigt keinen ausgesprochen virilen, aber auch keinen femininen Typus. Als weibliches Becken muß es allgemein zu klein bezeichnet werden; Freund nannte es „infantil" und „unentschieden". Die Beckenmaße sind: Spinae 23l/s. cristae 25, Conjugata 16. c) B e h a a r u n g. Im 13. Jahre trat starker Bartwuchs auf; trotz „Enthaaiungs- pasten" wurde er immer stärker. In dem gleichen Alter entwickelten sich die Scham- haare, die nach dem Nabel zu längs der Linea alba in einem Haarstrich aus- laufen. Ober- und Unterschenkel sind ziemlich stark behaart; auch um den Brust- warzenhof finden sich Haare. Das Haupthaar reicht aufgelöst bis zum unteren Skapularrand. Das Einzelhaar ist dunkel und spröde. d) Die Mammen zeigen völlig männliches Verhalfen. Von einem Brustdrüsen- körper findet sich keine Spur. e) Der Kehlkopf ist ebenfalls viril gebaut. Die tiefe sonore Stimme ent- sprechend der Stärke und Länge der Stimmbänder, war das erste Zeichen, das ihrer Umgebung auffiel. IV. Seelische Geschlechtscharaktere: Hier findet sich eine innige Vermischung männlicher und weiblicher Züge. D. ist von weicher Gemütsart, ihre Stimmung ist gleichmäßig; an und für sich ist sie mehr lustig, nur beunruhigt und betrübt über ihr ungewisses Schicksal. Sie ist still, pünktlich, sparsam, zuverlässig und mutig. Ihr Wille ist stark zu nennen. Sie möchte sehr gern Soldat werden und wie ihr Vater in den Krieg ziehen. Aus diesem Grunde würde sie sich gern operieren lassen, damit sie nach Männerart harnen kann und unter den Kameraden, falls sie eingezogen werden sollte, nicht auf- fällt. Trotzdem hat sie aber kein ausgesprochenes Empfinden, ein Mann zu sein. Sie hat die Schneiderei erlernt, würde aber lieber Kürschner werden. Sie fühlt sich auch zur Hauswirtschaft hingezogen; namentlich mag sie „Reinemachen" gern. Im Trinken und Rauchen ist sie (im Gegensatz zum Vater) sehr mäßig. Sie liebt einfache Kleidung und hält sich sehr eigen. So lange sie Mädchenkleider trug, erklärte sie, sie bevorzuge für sich die weibliche Kleidung; seit- dem sie männliche Kleidung trägt, sagt sie, sie ginge lieber als Junge. Sie ist musi- kalisch. Ihre Intelligenz entspricht ihrem Alter. Auf die Frage, was sie vom Kriege denkt, antwortet sie: „Der Krieg ist eine fürchterliche Menschenschlächterei; Schuld hat England." Sie ist fromm und geht regelmäßig zur Beichte. V. Geschlechtstrieb: Geschlechtliche Regungen und Neigungen sind nicht vorhanden. Sie weiß nicht anzugeben, welches Geschlecht ihr sympathischer ist. Auf die Frage: ob sie später lieber einen Mann oder eine Frau heiraten möchte, entgegnet sie in der ersten Zeit: einen Mann. Jetzt weiß sie darüber keine Auskunft zu geben. Irgendwelche mastur- batorische Akte werden vollkommen in Abrede gestellt. Die Mutter sagt: „Sie ist noch sehr unschuldig." VI. Abstammung und Kindheit: Da man in Fällen ähnlicher Art dem degenerativen Faktor eine Be - deutung zugeschrieben hat, sei darauf hingewiesen, daß D.s Vater in früheren Jahren als Maurer sehr viel alkoholische Getränke zu sich ge- nommen hat. Die Mutter, welche einen sehr blutarmen und schwächlichen Eindruck macht, gibt an, „unterleibskrank" zu sein. Bertha ist die einzige Über- lebende von 11 Geschwistern; 10 verstarben klein an „Lebensschwäche". Dagegen sind die Geschwister der Mutter — ■ ebenfalls sieben an der Zahl völlig gesund; auch der Vater hat fünf gesunde Geschwister, 3 Brüder, die wie er an der Front sind und zwei Schwestern. Von Kinderkrankheiten hat Bertha nur zweimal Diphtheritis durchgemacht. Mit einem Jahre lernte sie gehen und sprechen. Sie war als Kind sehr ängstlich und scheu. An Kinderfehlern litt sie nicht. Sie bevorzugte weibliche Kinderspiele, vor allem auch Puppenspiele und weibliche Handarbeiten wie Sticken und Stricken. In der Schule war sie gut; besonders beanlagt war sie für 57 Rechnen und Geschichte. Sie singt gern, besonders Kirchen- und seit neuerer Zeit auch Kriegslieder. Der Stimmwechsel trat mit 12 Jahren ein; gleichzeitig wuchsen ihr die Bart- und Schamhaare. Zusammenfassung. A. Vollkommen männlich geartet sind : Bartwuchs, Körperbehaarung, Pubes, Stimme, in negativer Beziehung besonders die Brüste. Mehr männlich sind : Penis, Gesichtsausdruck, Becken, Bewegungen. Von männlichen Geschlechtszeichen sind nicht nachweisbar: Testes, Skrotum, Prostata, Ejakulation. , B. Weiblich geartet sind : Die Labia majora. Mehr weiblich sind : Harnröhre und Scheide. Von weiblichen Geschlechtszeichen sind nicht nachweisbar: Ovarien, Uterus, Tuben, Menstruation. C. Alle übrigen körperlichen und seelischen Geschlechts- merkmale sind gemischt. ' D. Überhaupt nicht vorhanden, also weder männlich noch weiblich, ist der Geschlechtstrieb. Auch fehlt bisher ein deutlich männliches oder weibliches Ge- schlechtsbewußtsein. Welche Folgerungen sind hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit aus diesen Prämissen zu ziehen? Ein generativer Geschlechtsdrüsenanteil ist weder organisch noch funktionell feststellbar. Dagegen muß entsprechend dem Prävalieren männlicher Geschlechts- charaktere der innere Chemismus überwiegend männlich sein. Es muß eine männliche Pubertätsdrüse mit männlicher Innensekretion angenommen werden. Da weibliche Geschlechtszeichen demgegenüber völlig zurücktreten, ist die bisherige Bertha D. dem männlichen Geschlecht zuzuzählen. Dementsprechend ist ihr Geschlecht im Standesregisler in männlich, ihr Name Bertha, ihrem Wunsche gemäß, in Berthold umzuschreiben. Kleidung, Haartracht und Aus- weispapiere sind entsprechend abzuändern. Ihr Verlangen, nochmals als Knabe getauft und eingesegnet zu werden, erscheint begründet. Die Behörde entsprach auch der in dem letzten Gutachten auf- gestellten Forderung. Muß diese Lösung vom praktischen Ge- sichtspunkt hei den zur Zeit herrschenden Anschauungen als die rich- tige erscheinen, so wollen wir uns doch nicht verhehlen, daß sie, theoretisch genommen, den Tatsachen insofern nicht Kech- nung trägt, als mangels auffindbarer Geschlechtsdrüsen im vor- liegenden Fall weder das männliche noch das weibliche Geschlecht als völlig sichergestellt gelten kann. Auch in dem folgenden Fall konnten bei wiederholten Unter- suchungen mit ausgezeichneten Fachärzten weder Testes und Prostata, noch Ovarium und Uterus nachgewiesen werden. Praktisch bietet er das höchste Interesse, weil er die Frage nahelegt, ob nicht in vielen Fällen, in denen Frauen sich zum Kriegsdienste drängten, Störungen der inneren Sekretion vorgelegen haben mögen, beispiels- weise bei der J ungf rau von Orleans, von deren überaus enger Scheide in alten Codices wiederholt die Eede ist. Im Frühjahr 1917 suchte mich die jetzt 21jährige K a r o 1 a H e f n e r auf. Sie hatte sich, da sie der sicheren Uberzeugung ist, daß sie dem männlichen Geschlecht angehört und den brennenden Wunsch hat, Soldat zu werden, jetzt, majorenn ge- worden, zum Militär gemeldet, nachdem eine diesbezügliche Meldung, die bereits zu Kriegsbeginn abgegeben wurde, abschlägig beschieden worden war. Von dem unter- I. Kapitel: Hermaphroditismus suchenden Herrn Garnisonarzt war sie zwecks spezialärztlicher Begutachtung 30 ""ich hat8 £Ä« hindurch in Gemeinschaft mit meinem Kollegen Hodann KarolaH beobachtet. Wir kamen bezüglich ihres körperlichen und seehschen Zu- "iÄ5tf«n als das dritte Kind des Schuhmachers Paul H. und seiner Ehefrau Anna geb. Müller geboren. Die Geburt soll normal verlaufen sein. Ä^irTeSSditlichen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht bestanden ^ damals kene Zweifel. Jedoch schon in früher K i n d h e it sollen ach die Leute über sie auf -ehalten haben, da sie einen knabenhaften Charakter zur Schau trug. D er Fat totin war das Gerede der Leute sehr unangenehm, doch begann sie sich sehr bald de Berechtigung dieser Bedereien bewußt zu werden; sie will schon se t der She eine t Stimme gehabt haben; sie trug sich auch schon damals mit ^dem sicheren Gefühl: „Ich bin kein Mädchen." Ob sie ein Junge sei, ist ihr jedoch damals iot : nicht völlig'klar gewesen, sie hat angeblich nur verspürt daß etwas ; mch in Ordnung sei". Dementsprechend blieb sie viel für sich; wenn sie mi -anderen Kindern spielte waren es stets Jungen. Sie fühlte sich aber diesen gegenüber durch fhre Seidun behindert und empfand infolgedessen oft eine Zurücksetzung. Dies steigerte ihre Zurückgezogenheit in späteren Jahren. In der Schule kam ihr die Klar- heitdarüber, daß ihre Entwicklung -eine völlig knabenhafte sei. Siehatni e einen KnixTemacht, stets nach Knabenart mit dem Kopf genickt und sich leicht ver- beugt Sie hat in dieser Zeit mit großer Begeisterung an allen Knabenprugeleien teil- l n und zumeist über die Gespielen den Sieg davongetragen. Viel Gedanken über ihre Knabenhaftigkeit machte sie sich nicht. Gelegentlich einer Magenunter- uchung fragte sie einmal nebenbei einen Arzt Sie empfand das Auftreten männlicher Merkmale im Laufe der Entwicklung als Selbstverständlichkeiten, überhaupt ist die schon sehr früh auftretende Sicherheit über »hre Geschlechts. Zugehörigkeit bemerkenswert, was bei derartigen Fällen in dieser Eindeutigkeit keineswegs immer zu beobachten ist. Nach der Konfirmation ging K^H. für drei Jahre als Hausmädchen zu den Wirtsleuten ihrer Eltern in Diens , die über ihren Zustand unterrichtet waren. Man wunderte sich jedoch in dieser Zeit oft über ihre auffallende Geschicklichkeit bei männlichen Arbeiten, wie beim Klempnern und Tischlern. Die Hausarbeit machte sie „so hin", fühlte sich aber sehr unbefriedigt davon; nach 3 Jahren verließ sie den Dienst, um von da ab bis jetzt ohne besonderen Beruf im Hause ihrer Eltern zu leben. Anfang des Krieges meldete sie sich zum Militär da sie durch die Auskunft einer Hebamme, die sie mit 17 Jahren kon- sultiert hatte, in ihrer Sicherheit, männlich zu sein, nur noch bestärkt worden war, um ,raus zu kommen", und weil es sie der verständnislosen häuslichen Umgebung gegenüber drängte, ihre Männlichkeit zu beweisen. Ihr Wunsch nach männ- licher Tätigkeit md demzufolge nach einer Umwandlung, was Namensfuhrung, Kleidung und Lebensweise anbetrifft, ist a u ß e r o r d e n 1 1 i c h r e g e und wird mit starkem, zielbewußtem Willen vertreten. - .. . Bezüglich des körperlichen und seelischen Befundes, unter besonderer Berück- sichtigung der sexuellen Merkmale, konnten wir folgendes feststellen: LÄußereGeschlechtsteile:Bei geschlossenen Beinen macht die Scham- gegend einen weiblichen Eindruck, abgesehen von der Schambehaarung, die stark ent- wickelt ist und nicht absolut mit der Querfalte des Möns venens abschneidet wie es dem rein weiblichen Typus entsprechen würde, sondern diese Falte überschreitet und, wenn auch spärlich, in Dreiecksform längs der Linea alba hinaufzieht. Bei gespreizten Beinen dagegen gewinnt man ein völlig anderes Bild. An Stelle der Klitoris zeigt sich ein nicht völlig abhebbarer, infolge einer tiefen Hypospadie an der Unterlage weitgehend fixierter Penis, der in nicht erigiertem Zustand o,7 cm lang ist. Die Glans penis, der Sulcus glandis und das Praeputium sind normal ausgebildet. An der Stelle, wo sich normalerweise beim Manne die Harnröhrenöffnung befindet, zeigt sich entsprechend der Fossa navicularis eine punktförmige Einziehung, von der I. Kapitel: Hermaphroditismus aus kein Gang in die Tiefe führt, dagegen verläuft oberflächlich längs der Unterseite des Penis ein nässender rötlicher Schlei mhau t streif en, der an der tiefsten Stelle der Radix penis auf das hierher verlagerte Orificium urethrae trifft. Auf beiden Seiten des Schleimhautstreifens sind entsprechend den großen Labien der Weiber stark gefaltete, pigmentierte, aber leere Skrotalwülste sichtbar, die normale Behaarung aufweisen. Sie umgreifen nach Art der großen Labien die Radix penis jedoch nicht vollständig. Das Skrotum ist in der Raphe gespalten, die Skrotalsäcke sind leer. Eine Tunica vaginalis läßt sich mit Sicherheit nicht palpieren. Der äußere Leistenring ist beiderseits vollkommen geschlossen und somit für den Finger undurchgängig. Der Damm ist normal gebildet, ebenso der After. Men- struation ist nie vorgekommen, desgleichen keine ihr entsprechenden psychischen Erscheinungen. Der Harn kann von K. H. nur im Sitzen, nach Art der Weiber, gelassen werden. Er entleert sich aus dem beschriebenen Orificium urethrae externum. IL Innere Geschlechtsorgane: Die interne Untersuchung per anum, die mit Stabsarzt Dr. Stabel vorgenommen wurde, ergab folgenden Befund- Man fühlt längs der vorderen Rektalwand keine Spur von Uterus, desgleichen nichts, wis mit Sicherheit auf Tuben und Ovarien zu schließen berechtigte; links am Rektum fühlt man 3 kleine, mit Schleimhaut bedeckte Knötchen harter Konsistenz, die näher zu identifizieren nicht gelingt. Hoden, Samenblasen oder Ductus deferentes nicht feststellbar, desgleichen keine normale Prostata. „o"1- KörPerbefund im allgemeinen: K. H. ist jetzt mit 21 Jahren 134,7 cm groß (angeblich seit dem 9. Jahre nicht mehr gewachsen) Sie wiegt 80 Pfund. Die ganze Statur macht einen durchaus männlichen Eindruck Die Haut ist fest, straff gespannt und an den meisten Stellen auffallend stark pig- mentiert. Nach der Hautfarbentafel von v. Luschan ergeben sich für die Stirnhaut Nr. 21, Innenseite des Unterarmes Nr. 7, Bauchdecken Nr. 10—12 als Werte Das Fettpolster ist mäßig entwickelt. Die Muskulatur ist sehr kräftig die einzelnen Muskelgruppen setzen sich deutlich ab. Der Knochenbau ist kräftig. ' Der Kopf wie der Gesichtsausdruck ist ausgesprochen viril. Das Becken zeigt einen virilen Charakter. Die Distantia iliaca mißt 215 die Distantia spinata ebenfalls 21,5; die Distantia trochanterica 26,5 gegen 30,2 Akromial- breite, was wiederum ein ausgesprochen männliches Zeichen ist, da bei Weibern die Huftbreite größer zu sein pflegt als die Schulterbreite. Die Conjugata externa er- reicht 17,5. Die Behaarung: Das Kopfhaar ist schwarz, fettig und strähnig, reicht bis zur Mitte der Lendenwirbelsäule. Die Oberlippe zeigt etwas Flaumhaar, das Gesicht ist rasiert, die Brauen sind gut entwickelt, schwarz. Die Arme zeigen männlichen Behaarungstypus in ausgesprochener Weise. Die Achselhaare sind schwach entwickelt. Die Schamhaare sind oben beschrieben. Die Behaarung der Beine zeigt ebenfalls männlichen Typus. Die Brüste sind ausgesprochen männlich, die Warzen in männlicher Wei«e atrophisch, keinerlei Drüsenkörper zu fühlen; dagegen starke Entwicklung der Pekto- rales, darüber mäßig starkes Fettpolster. Der Kehlkopf springt nicht vor, jedoch' besteht männlich-tiefe Stimme. Pal- pation zeigt widerstandsfähige Knorpelmassen. , Gesamteindruck: Der Thorax ist gut gewölbt, die inneren Organe ohne Besonderheiten, abgesehen von der Schilddrüse, deren rechter Lappen etwas ver- größert erscheint Dies läßt auf Anomalien im System der innersekretorischen Drusen — vielleicht im Zusammenhang mit der Anomalie der Geschlechtsdrüsen — schließen, was auch in der abnorm dunkel gefärbten Haut, sowie inbasedowoiden Symptomen zum Ausdruck gelangt, wie dem Exophthalmus, den maximal weiten Pupillen und dem positiven Stellwagschen Symptom, die sich beobachten lassen 6Ü I. Kapitel: Hermaphroditismus Desgleichen läßt das gehemmte Wachstum sowie die Pro- portionen der Arme zu deri Beinmassen (Arme unverhältnismäßig lang) Juf Normabweichungen im System de]r i n n e r s e k r e t o r , s c h e n DrÜSAbgnesSehCen1iö3nßdeiesen Anomalien und den Mißbildungen im Bereich der Genital- organe macht der Körper einen durchaus männlichen Eandruck. Auch die Be- w^ngen^d durchaus männliche, desgleichen läßt der kräftige Händedruck auf mannliche Geschlechtszugehörigkeit erkennen, Patient xst ursprünglich Links- händer, aber gewohnheitsmäßig weitgehend zur Rechtshändigkeit erzogen worden IV Psychischer Befund: Das Ergebnis der körperlichen Untersuchung wird durch den seelischen Status in jeder Hinsicht bestätigt. Die Psyche ist so ausgesprochen männlich, wie man es selten in Fallen nicht ganz eindeutiger Geschlechtsbestimmunjr, findet. Auffallend dabei ist, wie bereits er- wähnt, daß schon in früher Jugend bei der Patientin keine wesentlichen Zweifel an ihrer Geschlechtszugehörigkeit bestanden und alles, was andere Patienten in ähnlicher Lage peinlich oder wenigstens auffallend finden, ihr nur wohltuende und ihre » Sicher- heit stärkende Bestätigungen des von ihr längst Geglaubten oder Gewußten bedeuteten. Der Wille ist z i e 1 s i c h e r u n d s t a r k. Patientin hat trotz der hauslichen Widerstände ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen und ist entschlossen, ihren Willen unter allen Umständen durchzusetzen. Auch ihre Meldung zum Heeresdienst ist ein Indizium für diese durchaus viril zu wertende Entschlossenheit, desgleichen die Angabe, daß sie in einem Liebesverhältnis niemals zu einem Menschen neigen würde, der ihr etwas vorschreiben wollte: Sie müsse der „Herr ira Hause" sein und bleiben. Insgesamt zeigt die Psyche keinerlei Anomalien. Auch keine, wie ebenfalls bereits angedeutet, periodenmäßigen Reizerscheinungen, wie sie im allgemeinen die Menstruationstage der Weiber zu begleiten pflegen. Sie ist ein - wohl mit durch das Milieu und ihre erzwungene Zurückgezogenheit -' stiller, aber freundlicher Mensch. Im Verkehr mit Kameraden bestimmt und keinesfalls anlehnungsbedürftig. Im Gegen- teil zeigt sie ein auffallend scharfes Urteil und zeichnet sich durch eine recht be- merkenswerte Intelligenz sowie selbständiges Denken in jeder Hinsicht aus wenn sie auch in ihren Schulleistungen keine Erfolge aufzuweisen hatte., Vielleicht ist dies wesentlich durch die äußere Lage unter Mädchen, in der sie sich nicht wohl und zugehörig fühlen konnte, zu erklären. Bezeichnend für ihre ganze Konstitution ist auch, daß sie im freundschaftlichen Verkehr nur mit männlichen Freunden verkehrt. „Das Gequatsche mit die Weiber interessiert mich nicht, sagt sie im unverfälschten Berliner Volkston. Sie hat eine Abneigung gegen Schmuck, liebt, da sie zu ihrem Leidwesen noch gezwungen ist, Frauenkleidung zu tragen, eng anliegende und einfache Kleider. Der Tascheninhalt besteht zumeist aus Geld, Messer und Feuerzeug. S 1 e r a u c h t g e r n trinkt sehr wenig. Abenteuerlust besteht nicht, jedoch ein reger Unternehmungsgeist. Jedenfalls keinerlei depressiv zu deutende Erscheinungen; ist sich ihrer Sache m jeder Hinsicht sicher, macht sich um die Zukunft keinerlei Sorge. Ihre Antworten er- folgen prompt. Wenn es ihr nicht glückt, Soldat zu werden, so will sie Jockey werden, weil sie nach ihrem Körperbau und dem leichten Gewicht, verbunden mit starker Muskulatur und Widerstandsfähigkeit, dazu sehr geeignet erscheint. V. G e s c h 1 e c h t s t r i e b: Den Beginn der geschlechtlichen Reife verlegt Patien- tin ins 12. Lebensjahr. Menstruation war nie vorhanden, dagegen Pollutionen unter Erektion des Gliedes nach erotischen Träumen. Bartwuchs seit dem 18. Jahr. Be- dauert, daß sie sich, da sie als Frau leben muß, noch keinen Bart kann stehen lassen. Dem weiblichen Geschlecht gegenüber' früher befangen — was sich aber angeblich nur auf die Behinderung infolge der äußeren Verhältnisse zurückführen läßt, da sie selbst Kleider trage. Im übrigen verfügt sie über reges sexuelles Bedürfnis und ist keines- wegs von sexueller Schüchternheit oder Hypochondrie heimgesucht. I. Kapitel: Hermaphroditismus Q\ Der Trieb war stets mit seinem Bewußtwerden unverändert auf das weibliche Geschlecht gerichtet. Geschlechtsverkehr hat dementsprechend stattgefunden. Zusammenfassung: Es handelt sich um einen Fall von Hermaphroditis- mus, hervorgerufen durch eine hochgradige Hypospadie und beiderseitigen Kryplorchis- mus mit Sekundäratrophie der Geschlechtsdrüsen. Für die männliche Geschlechtszugehörigkeit sprechen ein- deutig die seelische Beschaffenheit der Patientin, der Körperbau, der Typus der Be- haarung (Bartwuchs, Pubes, Extremitätenbehaarung), die Brüste, die Beckenbildunir, die Art der Bewegung, die Stimmbildung, der stark entwickelte Geschlechtstrieb. Für eine weibliche Geschlechtszugehörigkeit ließen sich allenfalls die Haarlänge der Patientin anführen, sowie das Hinaufreichen der Skrotal- wülste über die Radix penis. Die Art des Urinierens ist mechanisch durch die Hypo- spadie bedingt und nicht als Charakteristikum zu werten. Nicht nachweisbar sind Testes, Samenblasen, Samenleiter, ebensowenig aber sind irgendwelche Anzeichen für das Vorhandensein der inneren weiblichen Genitalien vor- handen. Dagegen soll Erektionsfähigkeit und Ejakulationsfähigkeit bestehen. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß bei K. H. ein eindeutiges Vorwiegen männlicher Geschlechtscharaktere vorliegt und daß infolgedessen auf männ- liches Geschlecht zu erkennen ist. Aus diesem Grunde ist der Antrag der Patientin zu unterstützen, daß im Namen- register Karola in Karl umgewandelt wird, daß sie die Erlaubnis erhält, Männer- kleidung zu tragen und ihre Lebensweise der männlichen entsprechend einzurichten, schließlich, daß nach Maßgabe der zuständigen Stellen ihre Meldung zum Heeresdienst berücksichtigt wird, da nichts dagegen spricht, daß sie den im Heeresdienst gestellten Erfordernissen nicht gewachsen sein könnte. Allerdings wäre es wünschenswert, daß sie im Falle ihrer Einstellung von der gemeinschaftlichen Genitaluntersuchung befreit bliebe, damit gegenüber den Kame- raden der Patientin im Hinblick auf ihre etwas abweichende Körperbeschaffenheit keine Unannehmlichkeiten entstehen. Wie berechtigt dieser Hinweis ist, zeigt das Schicksal des folgen- den Hermaphroditen, der kurze Zeit nach seiner Geschlechtsberich- tigung Soldat wurde. Da man jedoch weder beim Baden, noch bei körperlichen Untersuchungen auf seine Anomalie die geringste Rücksicht nahm, verfiel er durch diese gröbliche Verletzung seines Schamgefühls in eine tiefe Depression, die ihn dem Selbstmord nahe brachte. Der Fall ist auch noch in weiterer Beziehung sehr beachtens- wert. Die Person hatte nämlich aus freien Stücken ihre Umkleidung als Dame vorgenommen, sich die Haare kurz schneiden lassen und die ihr verhaßte Frauentracht verbrannt. Die Eltern erklärten sich schließlich wohl oder übel damit einverstanden, nicht so die Behörde. Ihre Ungelegenheiten wurden noch vermehrt, als der von der Polizei um seine Meinung ersuchte Kreisarzt den eigenmächtigen Schritt der E. für nicht berechtigt erklärte. Wie sehr war doch in dieser Hinsicht das alte preußische Landrecht aus Friederizianischer Zeit dem jetzt gültigen Gesetz oder richtiger der jetzigen Gesetzlosigkeit überlegen. In dem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, welches am 1. Januar 1900 in Kraft getreten ist, sind nämlich die 62 L Kapitel: Hermaphroditismus Bestimmungen in Wegfall gekommen, welche sich im alten all- gemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (das seit 1. Juni 1794 Gültigkeit hatte) über Personen zweifelhaften Geschlechts be- fanden. Die 19—23 des alten preußischen Landrechts lauteten: § 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Eltern, zu welchem „Geschlecht sie erzogen werden sollen. § 20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem 18. Jahre die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle. . • « § 21. Nach dieser Wahl werden seine Recht© künftig beurteilt. § 22. Sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlecht eines ver- meintlichen Zwitters abhängig, so kann ersterer die Unter- suchung durch Sachverständige beantragen. § 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch gegen die Wahl des Zwitters und seiner Eltern. Dieser Abschnitt wurde im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch gänzlich eliminiert mit der Begründung, daß die Annahme der Existenz menschlicher Zwitter sich wissenschaftlich als ein Irrtum erwiesen hätte. Kaum drei Jahre waren nach dem Fortfall dieser Bestimmungen vergangen, als zum ersten Male auch für den Men- schen mit absoluter Sicherheit Fälle echten Zwittertums, also Hoden- und Eierstocksgewebe bei ein und derselben Person fest- gestellt wurden. Der Unterzeichnete ist aufgefordert worden, über die Geschlechtszugehö- rig k e i t des am 8. 12. 1899 zu Berlin geborenen Kindes des Restaurateurs Max Ritter und seiner Ehefrau Ursula, ein Gutachten abzugeben. Veranlaßt wurde dieses Gut- achten dadurch, daß die bis zum 5. 3. d. J. als Mädchen lebende Margarete Ritter über ihre Zurechnung zum weiblichen Geschlecht immer niedergedrückter wurde. Sie verließ seit bald 12 Monaten nicht mehr das Haus, fühlte sich tief unglücklich und war ent- schlossen, „aus dem Leben zu scheide n", wenn es ihr nicht endlich gestattet würde, als Mann weiterzuleben. Ganz besonders hatte sich dieses Verlangen verstärkt, seit sie im vorigen Sommer auf einer Erholungsreise im Riesengebirge vorübergehend an der böhmischen Grenze festgenommen wurde, weil man sie fälsch- licherweise für einen Spion in Frauenkleidung hielt. Schließlich gaben die Eltern dem stürmischen Drängen ihres Kindes nach; sie legte männliche Kleidung an, ließ sich die langen Haare abschneiden und nach männlicher Art stutzen und ver- tauschte ihren Vornamen Margarete mit Max. Der junge Ritter fühlte sich wie ver- wandelt, war mit einem Schlage, wie die Mutter sich ausdrückte, „ein ganz anderer Mensc h", und alles wäre in bester Ordnung gewesen, wenn nun nicht noch die Einwilligung der Behörde und die Umschreibung im standesamtlichen Register erforderlich gewesen wäre. Es wurde zu diesem Zweck von der Regierung in Potsdam ein kreisärztliches Attest gefordert. Dieses lautete nun aber dahin, daß der weibliche Anteil an der Geschlechtsbildung überwiege, die Beckenbildung sei eine weibliche, auch der Gesichtsausdruck und ebenso die Sprache seien weiblicher Natur, die1, großen weib- lichen Schamlippen seien vorhanden, nur münde die Harnröhre in der Scheide, die Schamhaare umgeben die Geschlechtsteile kreisförmig. Die Klitoris sei zwar ziemlich groß und erinnere an einen Penis; auch befände sich in der rechten Schamlippe ein t Kapitel: Hermaphroditisnius ß3 verschiebliches Gebilde, welches als Hode angesprochen werden könnte. Brüste seien nicht vorhanden. Da mithin, im ganzen genommen, die weibliche Geschlechtsbildung im Übergewicht sei, sähe sich der Kreisarzt nicht in der Lage, zu entscheiden, ob Fräulein R. berechtigt sei, in Zukunft einen männlichen Namen zu führen. R. gibt an, daß er bei der Untersuchung nach seinen seelischen Neigungen und Eigenschaften, sowie nach seinen sexuellen Empfindungen nicht gefragt worden wäre. Das kreisärztliche Attest stand im Widerspruch mit einem vorher von Sanitätsrat Dr. S c Ii. in Charlottenburg ausgestellten, das kurz und bündig lautete: „Fräulein Margarete Ritter, geb. 8. 12. 99, wurde heute ärztlich untersucht. Ich konstatierte, daß sie männlichen Geschlechts ist. Der rechte Hoden ist entwickelt in dem zur Hälfte vorhandenen Hodensack. Das männliche Glied ist vollständig ent- wickelt. Die Blasenöffnung ist am Damm und täuscht Scheidenöffnung vor. Eine Gebärmutter ist nicht vorhanden, j Ich bescheinige hiermit, daß das angebliche Fräulein Ritter ein Mann ist." Um die durch die beiden Atteste nicht beseitigten Zweifel, Widersprüche und Bedenken zu lösen, wurde ich nun mit Rücksicht auf die spezielle Erfahrung, die ich im Laufe vieler Jahre auf dem vorliegenden Gebiet gesammelt habe, aufgefordert, auch meine Sachverständigenmeinung zu äußern. Zu diesem Zweck seien, um über die Geschlechtszugehörigkeit des Exploranten ein abschließendes Urteil zu fällen, zunächst die Geschlechtsteile, dann die übrigen körperlichen Geschlechtsmerkmale, dann auch der Geschlechtstrieb und die übrigen seelischen Geschlechtscharaktere einer Prüfung unterzogen. Über die Abstammung R.s ist zu bemerken, daß sie von gesunden Eltern stammt; eine mir bekannte Schwester von 24 Jahren lebt und ist gesund, zwei Ge- schwister starben. Er wurde in Steißlage geboren. Es war eine schwere Ent- bindung, wie überhaupt von den vier Entbindungen der Frau R. drei abnorme Lage zeigten, nur das älteste Kind wurde in Kopflage geboren, das zweite befand sich in Quer-, das dritte in Steiß-, das vierte in Fußlage. Die Mutter der Mutter hatte 13 Kinder. Frau R. erinnert sich, daß sich nach der Geburt des Kindes der Arzt und die Hebamme besprachen und dann entschieden, das Kind sei ein Mädchen, wenn auch nicht völlig normal gebaut. So wurde denn das Kind als Mädchen aufgezogen, besuchte bis zum 15. Jahr die Mädchenschule und wurde auch als Mädchen in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche konfirmiert. Kinderkrankheiten machte sie nicht durch, nur schielte sie, was eine Augenoperation erforderlich machte, und hatte vom 10. bis 13. Jahr viel Kopfschmerzen. Das Kind entwickelte sich gesundheitlich gut, kam jedoch im Laufe des letzten Jahres, wo es wegen seines seelischen Zwiespalts nicht mehr das Haus verließ, sehr herunter. Seitdem er „um- gewandelt" ist und weiß, daß er nicht mehr auffällt, macht er täglich weite Spazier- gänge und hat sich schon gut erholt. Die erste und zweite Zahnung gingen normal vonstatten. ) Die eingehende Untersuchung ergibt zur Zeit folgenden Befund: a) Geschlechtsorgane:. Es findet sich bei R. ein Geschlechtshöcker von der Größe und Dicke eines mittleren Daumens. Derselbe zeigt eine deutlich abgesetzte Eichel; über dem Sulcus coronarius bemerkt man eine schnittartige Furche. Dieses Glied ist nicht durchbohrt, zeigt aber in der Mitte der unteren Fläche eine offene Rinne, die von der Eichelspitze nach dem Damm zu zwischen den beiden Scham- wülsten verläuft. Das Glied ist erektil, abends im Bett wird es oft fest und hart. Die Harnröhrenrinne mündet in einer Mulde, in welcher sie unmittelbar in die Harnröhre übergeht. Von den beiden Wülsten, deren Haut quergerunzelt und behaart ist, ist der linke leer, der rechte zeigt ein bewegliches Gebilde von der Form und Größe eines Hodens. Bei der Rektaluntersuchung ist kein Körper, der als Uterus oder Prostata gedeutet werden könnte, fühlbar. Der Ausscheidungsgeruch des Genitalapparates ist männlich, der Behaarungstypus dagegen triangulär. I 04 I. Kapitel: Hermaphroditismus b) Die übrigen körperlichen Geschlechtsmerkmale zeigen ein vollkommen männliches Gepräge. R. ist 1,69 m groß, wiegt 120 Pfd., Muskeln sind kräftig, er konnte mit Leichtigkeit 12 Klimmzüge machen, das Fleisch fühlt sich fest an, Fettpolster ist gering, die Schritte sind groß und fest. Seit früher Jugend pfeift er gern. Die Haut zeigt ziemlich viel Aknepusteln. Das Haupthaar steht dicht und fühlt sich hart an. Unterarm und Bein sind stark behaart, Seit kurzem wird auch ein Bartflaum sichtbar. Die Gefaßerregbar- keit ist gering. Er errötet sehr selten. Schmerzen werden gut vertragen. Hände und Füße sind verhältnismäßig groß, so daß er männliche Schuh- und Hand- schuh n u m m e r n (41,6 und 7*/2) trägt. Seine Handschrift ist sehr deutlich zeigt kräftige Abstriche und wurde von einem über den Fall ununtemchteten Schreibsach- verständigen männlich genannt. Er ist rechtshändig. Die Hüften sind im längsten Durchmesser etwas weniger breit wie die Schultern. Die Brüste sind platt, Brustwarzen klein; es besteht keine Spur eines weiblichen Brustdrüsenkörpers. Ohren sind mittelgroß, Blick ist fest, das Auge ist ein wenig träumerisch. Hinsichtlich des Geruchs besteht eine Ab- neigung gegen Parfüms, hinsichtlich des Geschmacks eine Vorliebe für stark «ewürzte Speisen. Den Gesichtsausdruck zeigt die beigefügte Photographie. Ich halte ihn im Gegensatz zu der Auffassung des Kreisarztes mehr für männlich als weiblich doch lehrt die Erfahrung, daß in dieser Hinsicht die Auffassungen vielfach divergieren. Der Kehlkopf tritt am Halse deutlich hervor. Die Stimme ist tiefer wie der weibliche, wenn auch etwas höher wie der männliche Durchschnitt. c) Die geistigen Eigenschaften zeigen in Übereinstimmung mit dem körperlichen Befund ein ganz männliches Verhalten. Schon als Kind wollte , Grete" nichts von Mädchenspielen, Kochen, Puppen, Handarbeiten wissen. Sie be- vorzugte Knabenspiele, wünschte sich vor allem Eisenbahnen, Sol- daten, Pferd und Wagen. Putz, weiblichen Zierat und Schmuck mochte sie nicht leiden; die Mutter erzählt, „daß sie furchtbar viel Wäsche (Untertaillen, weib- liche Hemden) zerrissen hat"; auch das Korsett ging immer rasch „kaput", er gab nichts auf seine weiblichen Kleider, sah nicht in den Spiegel und ließ andere das Nötige besorgen, jetzt, seitdem er „Mann" ist, kauft er sich alles selbst, ist eitel geworden und hält sich so adrett und sauber, wie er es als Mädchen nicht zuwege brachte. Seine Interessen nahmen eine ganz männliche Ent- wicklung. In der Schule war er sehr fleißig und gewissenhaft, saß immer in der ersten Reihe; seine Lieblingsfächer in der Schule waren Turnen, Rechnen, Schreiben, Naturkunde und Geographie. Für die Wirtschaft hatte er nichts übrig, dagegen lernte er früh Billard und Karten spielen, lief Rollschuh und interessierte sich sehr für Sport, besondersRennsport. Schon „als Mädchen von 15 Jahren" setzte er auf Pferde, die nach seiner Meinung gewinnen würden. Sein Gemüt ist gleichmäßig ruhig, er ist verschwiegen, neigt nicht zur Geschwätzigkeit ist aber etwas mißtrauisch und prüfend. Er ist sparsam, pünktlich, wahrheitsliebend und ordentlich. Sein Wille ist stark, er interessiert sich für wissenschaftliche Bücher, liest fleißig Zeitungen, verfolgt die Zeitereignisse. Er raucht gern. Im Trinken ist er mäßig. R., der die Handelsschule besucht, möchte gern einen kaufmännischen Beruf ergreifen; am liebsten Buchhalter oder Korrespondent. Er würde auch gern SoldatwerdenundhätteauchkeinBcdenkeninden Krieg zu gehen. Das einzige, was ihm unangenehm wäre, ist der Umstand, daß er nicht wie andere Soldaten austreten könnte, da er infolge der Mündung seiner Harnröhre nur sitzend oder hockend Wasser lassen könne; dies müßte den Kameraden auffallen. Er bevor- zugt in Farbe und Schnitt nicht auffallende Kleidung. Sein Tascheninhalt besteht aus Brieftasche, Feuerzeug .und Taschentuch. d) Eine sexuelle Betätigung mit einer zweiten Person hat bei dem im 17. Jahre befindlichen R. noch nicht stattgefunden, doch wurden gelegentlich ona- nistische Manipulationen an dem Geschlechtshöcker vorgenommen, bei denen unter Vorstellung der Umarmung eines Mädchens ein Orgasmus, aber keine Ejakulation ein- I I. Kapitel: Hermaphroditismus 65 trat. Die seelischen Liebesempfindungen sind deutlich auf das weibliche Geschlecht gerichtet. Namentlich zu 18- bis 20jährigen Mäd- chen, die, wie er sagt, „eine schlanke Figur, zierliche Hände und Füße, ein hübsches Gesicht, hübsche Augen und vor allem üppiges, dunkelbraunes Haar" haben, fühlt er sich hingezogen. Er möchte gern ihre Bekanntschaft machen und fühlt sich in ihrer Gesellschaft wohl. Vor Männern schämt er sich weniger als vor Frauen. Es ist sein Wunsch, sich später einmal zu verheiraten und ein glückliches Eheleben zu führen. Sein Sexualtrieb zeigt im übrigen keiner- lei Abweichung von der Norm und völlig das Verhalten, wie es einem Jüngling seines Alters entspricht. Wir gelangen zu folgendem Schluß: , a) Die Geschlechtsorgane R.s sind überwiegend männlich; er besitzt ein männliches Glied, einen Hoden, keine Gebärmutter, keine Eierstöcke und keine Scheide. b) Die übrigen körperlichen Geschlechtsmerkmale sind männlich; vor allem zeigen Körperbehaarung und Kehlkopf in positiver, Brust- und Beckenbildung in negativer Beziehung den virilen Typus. c) Das Geschlechtsempfinden und der Geschlechtstrieb ist männ- lich; R. fühlt sich geschlechtlich subjektiv als Mann und sieht die objektive Er- gänzung seiner Persönlichkeit im Weibe. d) Die übrigen seelischen Geschlechtsmerkmale sind männ- lich. Von Kindheit an bevorzugte er die Spiele und Gewohnheiten, Beruf und vor allem die Tracht männlicher Personen, während er Kleidung, Geschmacksrichtung und Lebensführung weiblicher Personen für seine eigene Person ablehnte. Hiernach kann es auch nicht mehr dem geringsten Zweifel unterliegen, daß bei der früheren Margarete Ritter eine irrtümliche Geschlechtsbestimmung vorliegt, deren schleunige Berichtigung im Standesregister ebensosehr vom Standpunkt der Wissenschaft, als dem der Menschlichkeit gefordert werden muß. In vieler Beziehung ein Seitenstück zu dem leztgeschilderten ist der folgende Fall, der namentlich auf psychologischem Gebiet viel Beachtenswertes bietet. Bezeichnend ist, wie der Vater, ein Haupt- lehrer, sich bemüht, seiner Tochter, die in Wirklichkeit ein Sohn ist, das jungenhafte Benehmen auszutreiben. Mitte Mai 1916 suchte mich Frau Emma Z. aus Berlin mit ihrer 15jährigen Nichte Maria Margarete (bisheriger Rufname Gretchen) auf, die seit einiger Zeit bei ihr zu Besuch weilte. Sie sei, wie sie mir mitteilte, von der Mutter des Kindes schriftlich ersucht worden, durch ärztliche Untersuchung feststellen zu lassen, ob ihr Kind ein Knabe oder Mädchen sei. Bis vor einem Jahre hätte sie niemals Zweifel gehabt, daß Margarete ein Mädchen sei; Arzt und Hebamme hätten es ja auch bei der Geburt als solches angegeben. Vor Jahresfrist etwa hätte sie aber das Kind im Schlaf aufgedeckt gefunden und dabei zu ihrem Schreck eine Entdeckung gemacht — vermutlich handelte es sich um nächtliche Erektion — die in ihr Bedenken erweckt hätten, die sie seitdem nicht mehr verlassen hätten. Margarete gab bald darauf der Mutter an, daß sie gelegentlich „Steifigkeiten" an ihrem Körper wahr- genommen hätte; man erklärte ihr, daß es sich da wohl um einen Bruch handelte; bei dieser Annahme hätte man sie bisher belassen. Dementsprechend habe man ihr gesagt, daß sie wegen der Wahl eines Berufs ärztlich untersucht werden sollte. Herr Sanitätsrat Dr. A 1 e s c h in Berlin, zu dem sich die Tante zunächst begab, gab der Meinung Ausdruck, daß nach dem Bau der Genitalien Margarete wohl ein anormaler Knabe sein dürfte, hielt es aber für ratsam, einen Arzt zu Rate zu ziehen, der sich speziell mit solchen Fällen beschäftigt hätte. Er wies sie deshalb an mich. Wie die Tante berichtet, scheut der Vater, welcher Hauptlehrer in einer kleinen schlesischen Ortschaft ist, sehr das Aufsehen, den Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 5 66 I. Kapitel: Hermaphroditismus ein etwaiger Geschlechtswechsel des Kindes in den ihm nahe- stehenden Kreisen verursachen könne. Aus diesem Grunde hätte er die Angelegenheit zur Erledigung nach hier überwiesen. Die Mutter schreibt, daß sie es nicht hätte über sich bringen können, zuerst mit dem Kinde davon zu sprechen, daß es möglicherweise kein Mädchen sei. Die Erziehung, die ganz auf die eines Mädchens zugeschnitten gewesen sei, hätte ihr oft genug Schwierigkeiten gemacht, weil das Kind so jungenhaft gewesen sei; sie werde froh sein, „wenn sie ihre Natur nicht mehr zu verleugnen braucht", '"in der Schilderung, die die Tante von Gretchen entwirft, heißt es: „Sie ist ein gutmütiger Kerl"; sie hat wenig Lust, zu den Eltern zurückzukehren. Bei uns kann sie mehr ihren Neigungen nachgehen. Wir sind Besitzer eines Luxusfuhrwesens, und es ist ihre größte Freude, meinem Manne behilflich zu sein. Da sie eine große Tierfreundin ist und eine spezielle Vorliebe für Pferde hat, findet sie hier immer Anregung sich zu betätigen. Als sie erst wenige Tage bei uns war und wir keine Ahnung von ihrer^Körperbeschaffenheit hatten, sagte mein Mann scherzend zu ihr: „Mädel, es ist schade, daß du kein Junge bist, du müßtest Inspektor bei mir werden." Sie hatte auch immer den Wunsch, die Land- wirtschaft zu lernen. Status praesens: Maria Margarete Z. wurde am 27. 5. 1900 zu Sch. als 5. Kind des Hauptlehrers Paul Z. und seiner Ehefrau Therese, geb. L., geboren und am 5. 2. 1910 katholisch getauft. Bei ihrer Geburt war der Vater 37, die Mutter 35 Jahre. Beide Eltern leben noch und sind gesund. Die 4 Geschwister, die vor ihr geboren wurden, waren Knaben. Daher wünschte sich die Mutter vor ihrer Geburt ein Mädchen, nach ihr wurden noch 2 Mädchen geboren. Sie gibt an, daß sie körperlich und geistig mehr der Mutter ähnlich sei, an der sie auch mehr hängt, als an dem- strengeren Vater. Dieser hat sie wegen ihres eigentümlichen Wesens und mangelhaften Lernens oft heftig geschlagen. Erbliche Belastung ist nicht nachgewiesen, die Lebens- weise der Eltern war auch in jeder Beziehung mäßig; namentlich ist weder Alkoholis- mus, Lues, noch sonst ein die Heredität im ungünstigen Sinne beeinflussender Um- stand vorhanden. Margarete wuchs im Elternhause auf, an Kinderkrankheiten und Kinderfehlern litt sie kaum, bezüglich der Kinderspiele bevorzugte sie Pferde - und Sol- datenspiele, war aber auch Mädchenspielen, wie Kochen und Puppen, nicht ab- geneigt; aus Handarbeiten machte sie sich weniger, am liebsten waren ihr Kreis- spiele, Greifen, Verstecken. Bis in die Reifezeit kam ihr nicht der Gedanke anders zu sein als andere Mädchen, immerhin fielen öfter Bemerkungen von Erwachsenen, daß an ihr eigentlich ein Junge verdorben sei. Die Frage, ob sie Soldat werden möchte, bejaht sie lebhaft unter dem Hinzufügen, „am liebsten Kavalleris t". , Gegen die Mädchenkleider bestand kein auffallender Widerwillen, sie hatte sogar „hübschen Staat" ganz gern, auch war Vorliebe für süße Speisen vorhanden. Ihr Wesen war gleichmäßig, ruhig; keinesfalls hätte man sie als nervöses Kind bezeichnen können. Sie ist weder eitel, noch ehrgeizig, weder redselig, noch neugierig. Ihr Ge- dächtnis ist leidlich gut, Phantasie gering. Körperliche Arbeit hegt ihr mehr als geistige. Bezeichnend ist auch, daß sie sich vor männlichen Personen, wie Ärzten, ungeniert nackt zeigt, während sie sich vor einer anwesenden Krankenschwester sichtlich schämt. Recht bemerkenswert war, wie sie bei der ersten Untersuchung mit höchster Spannung das Ergebnis erwartend mit der Frage herausstürzt: „,Herr Doktor, bin ich ein Junge?" Trotzdem sie der Entscheidung des Arztes in keiner Weise vorzugreifen suchte, tritt doch aus ihrem Verhalten unverkennbar zutage, daß das Gefühl, dem männlichen Geschlecht anzu- gehören, bei ihr das vorherrschende ist; so berichtet sie, daß sie sich für den Fall, daß sie ein junger Mann sei, bereits den Vornamen Günter ausgesucht habe. Ein eigentlicher Geschlechtstrieb scheint bisher bei ihr noch nicht vorhanden zu sein. Auf vorsichtiges Befragen äußert sie sich dahin, daß sie sich weder zu, männlichen, noch zu weiblichen Personen sexuell hingezogen fühlt. Auch autistische Handlungen, wie Onanie, Automonosexualismus, scheinen nicht vorzuliegen. Körperlicher Befund, a) Allgemeinzustand: Margarete Z. ist für ihr Alter sehr groß und stark. Die Körperlänge beträgt 17a cm, das Ge- wicht 120 Pfund, die Muskeln sind kräftig, das Fleisch fühlt sich fest an Ihre Be- wegungen tragen mehr männlichen Typus, ihr Gang ist gerade, stramm, Schritte fest, ein Drehen in den Schultern, Hüften oder in der Kopfhaltung findet nicht statt. Besonders die A u f s c h w u n g b e w e g u n g e n , wie sie sich bei- spielsweise mit einem schnellenden Ruck auf den Unter- suchungsstuhl schwingt, oder sich aufs Pferd setzt — sie reitet gern — zeigen unverkennbar männlichen Charakter. Sie pfeift gern und gut. Das Haupthaar reicht bis zu der Hüfte. Das einzelne Haar fühlt sich hart an. Hände und Füße sind groß; die Körperlinien mehr eckig. Die Brüste sind glatt, die Brustwarzen verhältnismäßig eckig. Ein Anschwellen der Brüste konnte bei Eintritt der Reifezeit — die sich durch das Erscheinen der Pubes kenntlich machte — nicht bemerkt werden. Ebensowenig trat eine Menstruation auf. Dagegen vertiefte sich um diese Zeit die Stimme merklich, was die noch ahnungslose Umgebung aber nicht für Stimmwechsel, sondern für Heiserkeit hielt. Die Hüften machen dem Augen- schein nach einen weiblichen Eindruck, man darf aber nicht außer acht lassen, daß die Kleine schon längere Zeit ein Korsett trägt, wodurch sich die Taille deutlicher abhebt; der Beckengürtel ist kleiner als der Schultergürtel, was dem männlichen Habitus entsprechen würde. Die inneren Organe sind gesund. b) Genitalbefund: Über die Genitalunlersuchung, die ich gemeinsam mit meinem Bruder Dr. Immanuel Hirschfeld und Dr. Alfred Seelig 1S) vornahm, gebe ich das wörtliche Protokoll des letzteren: „Am 5. Juni 1915 wurde ich von Herrn Dr. Magnus Hirschfeld, In den Zelten 19, zu einer gemeinschaftlichen Konsultation in seiner Sprechstunde gebeten. Bei der Untersuchung der Patientin waren zugegen: 1. Dr. Magnus Hirschfeld, 2. dessen Bruder, der Arzt Dr. Immanuel Hirschfeld und 3. Dr. Seelig. Patientin ist Herrn Dr. Hirschfeld von einem anderen Arzt zur Feststellung des Geschlechtscharakters uberwiesen worden. Das junge Mädchen gibt auf Befragen an, 15 Jahre alt zu sein Das Madchen ist sehr groß und kräftig gebaut. Zunächst ist sie etwas scheu und ängstlich, zeigt sich aber nach kurzer Unterhaltung als eine sehr verständige und offene Person. Sie gibt an, kürzlich Stimmwechsel durchgemacht zu haben. Die Stimme klingt wie die ei nes Knaben, der sich im Stimmwechsel befindet. Der Thorax ist kräftig gebaut, die Schultern sind auffallend breit die Mammae zeigen absolut keine Entwicklung, die Brustwarzen sind nicht prominent von vollständig männlichem Typus. Dagegen erscheint im Stehen das Becken breit gebaut, hat scheinbar weib- lichen Charakter. Die Entwicklung des Panniculus adiposus an den Nates ist voll- ständig weiblich. Die Taille ist ebenfalls weiblich. Jedoch zeigt der Bau der unteren Extremitäten männlichen Typus, insbesondere die Waden. Schnurrbart oder sonstige Behaarung im Gesicht nicht vorhanden. Die Genitalien sollen sich angeblich vom 9. Lebensjahre — nach einem Fall — verändert haben. Die Schamhaare sind reichlich entwickelt. Die großen Labien sehen nicht wie Labien aus, sondern haben die Form eines in der Mitte gespaltenen Skrotums. Statt einer Klitoris ist ein Körper vorhanden, der vollständig das Aussehen eines Penis eines ca. 8jährigen Knaben hat. An der Spitze dieses Gliedes befindet sich eine Einziehung von der Größe eines Stecknadelkopfes Es scheint sich jedoch nicht um einen Kanal zu handeln. Kleine Labien sind nicht vor- handen. Es fehlt ein Hymen. Es fehlt überhaupt der Eingang zu einer Vagina. Ca. 1 bis H/2 cm unterhalb der Wurzel des oben genannten Gliedes befindet sich eine ") Ich bemerke, daß ich bei meinen sämtlichen Hermaphroditen-Unter- suchungen, angesichts der Wichtigkeit der Fälle, Kollegen hinzuziehe. 08 kleine Öffnung, aus welcher — bei der Aufforderung zum Urinieren — der Urin in kleinem Strahl herauskommt. Die Mastdarmuntersuchung ergibt folgenden Befund: Starke Verstopfung; Uterus, Tuben und Ovarien nicht zu fühlen. In dem linken Labium. bzw. Skrotum befindet sich ein Körper, der sich wie ein Testis anfühlt. In dem rechten Skrotum ist ein Körper nicht zu fühlen, auch nicht im rechten Leistenkanal. Sehr charakteristisch ist die Haut der großen Labien, welche sich durch auffallende Runzelung aus- zeichnet und dadurch vollständig das Aussehen einer Skrotalhaut hat. Da der Darm mit Stuhlmassen angefüllt ist, wird beschlossen, an einem späteren Termin eine nochmalige exakte Untersuchung auf dem Operationstische meiner Klinik vorzunehmen und bei dieser Gelegenheit Fräulein Z. zu photographieren. Dies geschieht am 6. 6. 1915 in Gegenwart des Herrn Dr. M. Hirschfeld und der Oberschwester Anna Raddatz. Bei der Rektaluntersuchung läßt sich einwandfrei das Fehlen eines V a g i n a 1 s c h 1 a uc h e s , eines Uterus, der Tuben und Ovarien feststellen. Mit dem Harnkatheter gelangt man durch die oben erwähnte Öffnung, aus welcher der Urinstrahl hervorquoll, in die Blase und der touchierende Finger kann nun durch das Bektum sehr deutlich die Spitze des Katheters fühlen und feststellen, daß zwischen Bektum und Blase nur eine ganz dünne Tren- nungswand sich befindet, daß Blase und Rektum eng aneinander grenzen. Einen Prostata ähnlichen Körper konnte ich nicht feststellen. Sehr interessante Resultate ergab nun die Messung der Beckenmaße mit