Digitized by the Internet Archive in 2014 https://archive.org/details/b20442245 Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende Von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin. Erster Teil A. BONN 1921 Marcus & E.Webers Dr. iur. Albert Ahn Verlag Geschlechtliche ntwicklungsstörunge mit besonderer Berücksichtigung der Onanie Von Dr. Magnus Hirschfeld Sanitätsrat in Berlin Mit vierzehn Tafeln, einem Textbild und einer Kurve Zweite, unveränderte Auflage BONN 1921 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. jur. Albert Ahn Nachdruck verboten. Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright 1916 by A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn. WELLCOME INSTITUTE LIBRARY Coli. watMOmec Ctil No. Druck: Otto Wigand'sche Buchdruckerei O. m. b. H., Leipzig. ! in / in •/ Vorwort. Im Jahre 1844 erschien in Leipzig' in lateinischer Sprache die erste Psychopathia sexualis. Ihr Verfasser war der ruthenische Arzt Heinrich Kaan1). Etwa 40 Jahre später — 1886 — gab Krafft -Ebing, der berühmte Psychiater der Grazer Universität, sein epochales Lehrbuch unter gleichem Titel2) heraus. Seither sind wiederum 30 Jahre verflossen, Jahre, in denen das Lehrgebäude der Sexualwissenschaft eine ungleich größere Bereicherung erfahren hat, als in dem längeren Zeitraum, der zwischen Kaan und Krafft-Ebing lag. Die Psychopathia sexualis Kraf f t-Ebings hat mittlerweile allerdings zahlreiche Neuauflagen erlebt. Sie haben den ur- sprünglichen Umfang des trefflichen Werkes sehr erheblich ver- mehrt, es aber nicht vor dem Schicksal des Veraltens bewahren können, das auch dem besten naturwissenschaftlichen Buch be- schieden ist, wenn über es hinweg die allgemeine Natur- forschung rasch voranschreitet. So war, um nur das Wichtigste hervorzuheben, das Gebiet der inneren Sekretion zu Krafft-Ebings Lebzeiten noch so gut wie unbekannt. Immerhin war er noch Zeuge der ersten Veröffent- lichungen Brown Sequards. Und es beweist seinen tiefen und unvoreingenommenen Forschergeist, daß er sogleich (1902, vgl. Seite 111 dieses Buches) die große Bedeutung dieser Arbeiten er- kannte und würdigte, während die Mehrzahl der Fachgenossen noch weidlich über die „senilen" Ideen des Pariser Gelehrten spottete. \ 1) Psychopathia sexualis, auetore Henrico Kaan, medico ruthenico et doctore medi- cinae Vindobonensi, Lipsiae apud Leopoldum Voss 1844. 124 Seiten. 2) Psychopathia sexualis. Eine klinisch - forensische Studie von Dr. R. v. Krafft- Ebing, o. ö. Prof. f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten an der k. und k. Universität Graz. Stuttgart 1886. Verlag Enke. Die erste Auflage war nur 110 Seiten stark, während die vierzehnte (1912) 460 Seiten zählte. VI Die Hauptarbeiten über das Wesen der Hormone, wie sie schließ- lich in den genialen Versuchen Stein achs, der künstlichen Feminierung, Maskulierung und Hermaphrodisierung von Lebewesen, ihren bisherigen Höhepunkt erreichten, lagen frei- lich damals noch in weitem Felde. Im vorliegenden Grundriß bildet die Lehre von der inneren Sekretion sozusagen das Leitmotiv. In fast jedem Kapitel tönt es wieder. Von dem ersten Hauptabschnitt an, dem Geschlechts- dr üsenausf all, der uns schon grundlegende Einblicke in das endokrine Walten verstattet, ist es der innere Chemismus in quantitativer und qualitativer Hinsicht, auf den wir immer aufs neue zurückgreifen müssen, um Grad und Art der sexuellen Störungen zu verstehen. Es tut sich uns hier eine Abhängigkeit des Seelischen vom Stofflichen auf, wie man sie früher nie für möglich ge- halten hätte. Deshalb ist es in der sexuellen Erscheinungswelt auch nahezu unmöglich, scharfe Grenzlinien zwischen psychischem und somatischem Geschehen aufzurichten. Fortwährend stoßen wir auf die innigsten Beziehungen zwischen beiden, und unmerklich geht oft das eine in das andere über. Man denke nur an das Gebiet des Infantilismus, der Frühreife, des Transvestitismus. Aus diesem Grunde habe ich auch als Über- schrift dieses Buches nicht mehr den historischen Titel Psycho- pathia sexualis gewählt, sondern habe es kurzweg Sexual - pathologie genannt. Die Literatur, die seit Krafft - Ebings Hauptwerk auf sexual- wissenschaftlichem Gebiet erschienen ist, ist sehr umfangreich. Teils haben die Verfasser sich einen engeren Rahmen gezogen, indem sie nur Einzelstörungen der sexuellen Psychopathologie behandelten, teils wählten sie ein weiteres Feld, indem sie das gesamte Sexualleben umgriffen. Nur ganz wenige haben die sexualpathologischen Erscheinungen für sich allein be- handelt. Wenn ich die Zahl der letzteren vermehre, so geschieht es vor allem deshalb, weil mir meine Berufstätigkeit in zwanzig- jähriger Praxis ein ganz einzigartiges Material zugeführt hat. Dieses Buch ist nicht in der Schreibstube, sondern im Sprechzimmer entstanden. Die lebendige Erfahrung war d> r Quell, aus dem es mir vergönnt war, mühelos zu schöpfen. Überall konnte ich mich auf selbst gesehene und durchforschte Beispiele stützen, nur selten brauchte ich fremde Kasuistik heranzuziehen. VII Die Methode, der ich mich bei der Bearbeitung der Einzelfälle bedient habe, ist die rein klinische. An erster Stelle steht die Aufnahme einer guten Vorgeschichte, einer vertieften Anamnese, in die nichts hineingelegt und nichts hineingeheimnist werden darf. Sehr nützlich bei dieser Erforschung des Wesens einer Persönlich- keit erwies sich mir mein psychobiologischer Fragebogen1), den trotz seiner 137 Fragen Tausende meiner Patienten gewissenhaft beantwortet haben. Ich habe gefunden, daß es selbst denen, die anfangs vor der stundenlangen Arbeit zurückschrecken, alsbald eine innere Genugtuung und Erleichterung gewährt, sich in der gefor- derten Weise Rechenschaft über sich selbst zu geben. Wertvolle Ergänzungen der direkten Exploration bieten, natürlich nur wenn die Patienten damit einverstanden sind, Unterredungen mit Personen, die ihnen nahe stehen, vor allem mit ihren Eltern oder Ehegatten. Die wesentlichste Vervollständigung der Aussprache ist eine sorgsame körperliche Untersuchung, die in keinem einzigen Falle, auch wenn die Klagen nur das Seelenleben zu betreffen scheinen, unterbleiben darf. An dritter Stelle steht eine recht lange und sorgsame Be- obachtung. Ich kann mich in diesem Buche auf viele Fälle stützen, die ich zehn, fünfzehn Jahre und länger nicht aus den Augen verloren habe. Schwieriger wie die Sammlung und Sichtung der Einzel- beobachtungen ist ihre Durchdringung von einheitlichen Gesichts- punkten und ihre organische Verbindung zu einer höheren Einheit. Krafft-Ebings Lehrbuch läßt in dieser Hinsicht viel zu wünschen übrig. Wohl heben sich einige markante Gruppen wie der Fetischismus, die konträre Sexualempfindung, der Masochismus und Exhibitionismus deutlich ab, im ganzen jedoch handelt es sich um eine lose Aneinanderreihung vieler sexualpathologischer Einzelerscheinungen mit Einzelbetrachtungen ohne strenge Eintei- lung und Übersichtlichkeit. Nicht viel anders ist es bei seinen Nachfolgern. Durch ein systematisches Vorgehen habe ich mich bemüht, hierin Wandel zu schaffen. Ich habe in diesem Bestreben zunächst die geschlechtlichen Entwicklungsstörungen behandelt. Ich beginne mit dem Geschlechtsdrüsenausfall, sowohl dem angeborenen als dem erworbenen (Kapitel I). Dann folgt das l) U. a. veröffentlicht in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Jahrgang 1908. Leipzig. Georg Wigand. Seite 684. Vorwort Stehenbleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe, der Infanti- lismus (Kapitel II). An diesen schließt sich die vorzeitige , Entwicklung von Körper, Geist, Geschlechtsempfinden und Ge- schlechtstrieb, die Frühreife (Kapitel III), an. Der nächste Abschnitt behandelt die Neurosen und Psychosen im Pubertäts- und Rückbildungsalter, den Zeiten genitaler Evo- lution und Involution. Ich habe sie als „Sexualkrisen" zusammengefaßt (Kapitel IV). Darauf komme ich zu der wichtigsten und verbreitetsten sexuellen Begleiterscheinung der Entwicklungs- jahre, der Onanie (Kapitel V), um mit dem Automonosexualis- mus, dem Verliebtsein in die eigene Persönlichkeit (Kapitel VI), den ersten Hauptteil zu beenden. In dem zweiten Hauptteil gedenke ich die Störungen der Geschlechtsdifferenzierung zu erörtern, und zwar werde ich nach der Vierteilung der Geschlechtsunterschiede in Ge- schlechtsorgane, allgemeine körperliche Geschlechtszeichen, Geschlechtstrieb und sonstige seelische Geschlechtscharaktere, zunächst den Hermaphroditismus, dann die Androgynie, darauf die Homosexualität und an vierter Stelle den Transvestitis- m us besprechen. An diese sexuellen Kongruenzstörungen schließen sich im innerlichen Zusammenhang die Aggressionsinversio- nen, der Masochismus des Mannes und der Sadismus des Weibes. Der letzte Hauptteil soll den geschlechtlichen Eindrucks- und Ausdrucksstörungen gewidmet sein. Unter den Ein- drucksstörungen steht obenan der sexuelle Symbolismus oder Fetischismus; die Ausdrucksstörungen zerfallen in Exzeß- und Defektanomalien, unter welch' letzteren die Impotenz das Hauptinteresse beansprucht. Endlich gehören zu den Ausdrucks- störungen allerlei geschlechtliche Angst-, Zwangs- und Hemmungs- anomalien, zwischen denen sich der Exhibitionismus besonders scharf und verhängnisvoll abhebt. In dem Vorwort zur ersten Auflage der Psychopathia sexualis meint Krafft-Ebing: „Pflicht und Recht zu diesen Studien erwächst der medizinischen Wissenschaft aus dem hohen Ziel aller mensch- lichen Forschung und Wahrheit." Er fügt hinzu, daß, wer die Psychopathologie des sexuellen Lebens zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Abhandlung macht, sich einer Nachtseite des menschlichen Lebens gegenübergestellt sieht, daß es aber den Ethiker und Ästhetiker entschädigt, etwas auf krankhafte Be- dingungen zurückführen zu können, was ihren ethischen und ästhetischen Sinn beleidigt. Seit diese Gedankengänge geäußert Vorwort IX wurden, sind drei Jahrzehnte vergangen, ohne daß es gelungen ist, das Pathologische im Sexualleben als solches zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. Immer noch leiden die Menschen, um die es sich hier handelt, doppelt: nicht nur an der Triebabweichung an und für sich, sondern mehr noch unter ihrer Verkennung; immer wieder drängen sich deshalb dem Forscher bei der Vertiefung in diesen Stoff die Goetheschen Worte auf „0, daß die Menschen so unglück- lich sind". Trotzdem wird man in diesem Buche nach Klage und An- klage vergeblich suchen. Ich habe mich befleißigt, alles zu ver- meiden, was als Mangel an kühler Sachlichkeit angesehen werden könnte. Die Tatsachen sprechen für sich. Den Manen Kraf f t-Ebings weihe ich dieses Buch. Wenn meine „Sexualpathologie" für unsere Zeit den gleichen Zweck erfüllt, wie die Psychopathia sexualis für seine, dann ist das Ziel das ich erstrebte, erreicht. In unerhört schwerer Kriegszeit erscheint dieser erste Teil. Möge, wenn der zweite und dritte folgt, wieder in Europa Frieden sein. Mehr wie je wird dann der Arzt Leiden des Leibes und der Seele zu lindern und zu heilen haben. Auch die Leiden, von denen hier die Rede ist, bedürfen eines kundigen Fachmanns. Berlin, den 1. November 1916 In den Zelten 19. Magnus Hirschfeld. Vorwort zur IL Auflage. Kurz vor der Beendigung des Abschlußbandes dieses Lehrbuchs stellt sich die Notwendigkeit heraus, den vergriffenen ersten Teil neu erscheinen zu lassen. Von Veränderungen des Inhaltes konnte dabei abgesehen werden, da allgemeinere Forschungen auf sexual- wissenschaftlichem Gebiet noch unter den Störungen im Sexual- stoffwechsel (Bd. III) genügend Berücksichtigung finden konnten, während speziellere Arbeiten, die der bisher gegebenen Schilderung geschlechtlicher Entwicklungsstörungen eine neue Note hinzugefügt haben würden, nicht vorlagen. Berlin, den 1. Dezember 1920. Institut für Sexualwissenschaft. Magnus Hirschfeld. Inhaltsverzeichnis. Vorwort Erstes Kapitel: Der Greschlechtsdrüsenausfall Perioden der Geschlechtsentwicklung — Vierteilung der Geschlechts- unterschiede — Der extra sekretorische und inner sekretorische Anteil der Geschlechtsdrüsen (Keimsubstanz und Zwischensubstanz) — Die Folgen ausbleibender Geschlechtsdrüsenentwicklung — Schilderung eines Falles von Hodenhypoplasie (Eunuchoidismus) — Der Exzeß- und Defekt typus der Anandriden — Angeborener Eier- stocksmangel — Ursprung und Ursachen der Kastration und Sterilisie- rung — Die soziale, religiöse, kriminalistische, vokale, therapeutische, pro- phylaktische und rassenhygienische Ätiologie — Beschreibung und Ab- bildungen von Kastratensängern — Geschlechtsdrüsenverlust im Kriege — Hodenschüsse — Hoden transplantation — Bericht über einen Spätkastraten — Der Geschlechtstrieb der Anandriden — Kastrations t e c h n i k (Verschnittene, Halbverschnittene, Hämmlinge) — Zu- sammensetzung der erotisierenden Substanz — Erworbener Eier- stocksmangel — Abhängigkeit der Intensität und Extensität der Ausfallserscheinungen vom Zeitpunkt des Keimstockverlustes — Prä- pubischer, pubischer und p o s t pubischer Geschlechtsdrüsenausfall. Zweites Kapitel: Der Infantilismus Stehenbleiben des Organismus auf kindlicher Entwicklungsstufe — Infantiles Gepräge von Riesen (Infantilismus giganticus) — Die vier Grundformen des Infantilismus (der genitale, somatische, psychische und psychosexuelle Infantilismus) — Parallelis- mus zwischen den verschiedenen Infantilismen — Genitaler Infantilismus und Kryptorchismus — Begutachtung eines Falles von Kryptor- chismus mit Schwachsinn und Pädophilie — Pathologische Anatomie und Physiologie von Bauch- und Leistenhoden — Hodenretention und geistiger Infantilismus — Somatische Jugendlichkeit — Zwerg- wuchs — Allgemeiner und partieller Infantilismus — Psychischer Stillstand auf frühkindlicher und spätkindlicher Stufe (i n - f a n t i 1 e und juvenile Form des psychischen Infantilismus) — Diffe- rentialdiagnose zwischen Infantilismus, Imbezillität und Idiotismus — Beschreibung eines Falles von Psychoinfantilismus — Infantilis- mus und pueriler Zisvestitismus — Gutachten über einen p ä d o - philen Zisvestiten — Psychosexueller Infantilismus — Das Kind als sexuelle Reizquelle — Infantile Gerontophilie — Infantilismus und Masochismus — Schuljungen-Empfindungen Er- Inhaltsverzeichnis Seite wachsener — Mammabriefe und „Baby"-Phantasien — Symptomatologie der Pädophilia erotica — Schilderung von pädophilen Infantilen — Be- gutachtung eines juvenil e nlnfantilen — senildemente Kinder- schänder — Infantilismus senilis — Begutachtung eines senilen Infantilen — Psychopathische Kinderschänder — Infantilis- mus alcoholicus — Fall von Alkoholismus und Inzest — Infan- tilismus und Exhibitionismus — Begutachtung eines infan- tilen Exhibitionisten — Notwendigkeit der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen in jedem Kriminalfall aus § 176 RStGB. Drittes Kapitel: Die Frühreife 66 Spätreife und Frühreife — Die vier Grundformen der Frühreife (die genitale, somatische, psychosexuelle und psychische Frühreife) — Fälle geschlechtlicher Frühreife beim weiblichen Geschlecht — Beispiele von Menstruatio praecox — Die frühzeitige Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen als Folge innersekreto- rischer Störungen — Neubildungen an der Keimdrüse, Zirbeldrüse, Neben- nierenrinde und Hypophyse — Diskongruenz in der Entwicklung der Geschlechtscharaktere — Infantilismus und Prämaturität — Prämature Ge- schlechtsentwicklung beim männlichen Geschlecht — Ein v i er- jähr ige r M a n n — uneinheitliche Geschlechtsreifung — Völliges Verschwinden der Frühreife nach Beseitigung eines Hodentumors — Auftreten männlicher Geschlechtscharaktere bei einem vierjährigen Mädchen — Doppelgeschlechtliche Frühreife — Körperliche Frühreifung ohne genitalen Parallelismus — Psychosexuelle Früh- reife — Schwangerschaften und Entbindungen im Kindcsalter — Geschlechtsbetätigung von Kindern — Paradoxia sexualis — Periphere und zerebrale Geschlechtserregungen — Ist der infantile Geschlechtstrieb die Regel oder Ausnahme? — Fall von sexueller Para- doxia auf degenerativer Grundlage — Fall von inzestuösem Geschlechtsverkehr unter jungen Geschwistern — Vorzeitiger Geschlechtstrieb bei Tieren — Die seelische Frühreife — Das Geschlechtsleben der Wunderkinder — Künstlerische Frühreife — Mozart und Dürer — Das Lübecker und das fränkische Wunderkind — Der Braun s-chweiger Wunderknabe — Jugendliche Rechenkünstler — Phänomenale einseitige Begabung bei Geistesschwäche — Weiterentwicklung geistig Frühreifer — Überentwicklung gewisser Hirnteile auf Kosten anderer. Viertes Kapitel: Sexualkrisen 86 Evolutions - und Involutionsperioden — Physiologische und pathologische Wirkung genitaler Vorgänge auf den Organismus — Der nervöse, vegetative, chemische und psychische Zusammenhang zwischen den Geschlechtsdrüsen und dem übrigen Körper — Die spezi- fische Reaktivität auf die Sexualhormone — Sexuelle Rhythmen — Physiologische Pubertätserscheinungen — Neurosen und Psychosen der Reifezeit — Dauer und Prognose pubischer Leiden — Die Nach- reife — Veitstanz, Tiks und Stottern — Das Erröten — Migräne, Absenzen und Epilepsie — Drangzustände Jugendlicher (Dromomanie, Dipsomanie, Pyromanie, Kleptomanie, Exhibitionismus) — Die psycho- pathische Konstitution — Pathologische Phantasten und Schwindler — Jugendliche Exaltierte, Idealisten und Welt- beglücker — Verstandes mäßige und g e f ü h 1 s mäßige Unaus- geglichenheit — „Liebeshaß" — Hysteriker, Selbstmörder und XII Inhaltsverzeichnis Seite Verbrecher im Alter der Pubertät — Begutachtung eines jugendlichen Diebes — Begutachtung eines Deserteurs — Erotisch betonte Degenerationstypen' unter Zuhältern und Prostituierten — Geistes- schwache und geistig hochstehende Psychopathen — G e - schlechtsdrüsensekretion und Dementia praecox — Ver- änderungen im Zentralnervensystem beim Nachlassen und Aufhören der Sexualfunktion — Vasomotorische Störungen der Wechseljahre — Neuralgische Sensationen im Rück bildungsalter — Die Mastodynie — Der genitale Pruritus — Das sogenannte „gefährliche Alter" — Klimakterische Psychosen — Schilderung einer k 1 i m a k t e - rischen Paranoia — Climacteriumvirile — Menstruelle Befindungsstörungen — Toxische und vasomotorische Menstru- ationseinflüsse — Verdrießliches und erregtes Wesen von Menstruierenden — Menstruelle Zwangs - und Drangzustände — Einengung des Geistes zur Zeit der Menstruation — Menstruierende vor Ge- richt — Rudimente menstrueller Störungen bei Männern — Das Drüsen- und Nervenleben schwangerer und gebärender Frauen — Gene- rationspsychosen — Die Wut der Gebärerinnen — Notwendig- keit der Hinzuziehung von Sachverständigen in jedem Fall von Kindes- mord — Psychopathische Wöchnerinnen — Psychosen der Stillzeit — Wirkung unehelicher Schwangerschaften auf ein labiles Nervensystem — Freisprechung eines wegen kriminellen Aborts angeklagten Mädchens. Fünftes Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Iis Name und Begriff — Die deutsche Bezeichnung Selbstbefriedigung — Der unzutreffende Gebrauch des Wortes Masturbation — Entstehung und Verbreitung des Ausdrucks Onanie — „Mutuelle Onani e", ein Widerspruch in sich — Andere Bezeichnungen — Ipsation von i p s e . — selbst — Ipsation m i t und ohne Vorstellungen — Die Ursachen der Ipsation — Zentrale und periphere Veranlassungen — Der i n - s t i n k t i v e Entspannungsdrang — Die Erotisierung des Geschlechts- zentrums — Objektive Bedeutung der Verführung — Die Leichtig- keit der ipsatorischen Lustfindung — Hemmungen durch Willen und Wissen — Taktile Reize — Angaben von Onanistinnen — Reizbar- keit und neuropathische Disposition — Die angebliche Gefährlichkeit der Säuglingspflege — Örtliche Irritamente der Genital- und Analzone — Keibung und Reizung — Lustbetonte „Spielereien" — Haut- und Schleimhautaffektionen beim männlichen und weiblichen Ge- schlecht — Entferntere Reizstellen — Die motorische Unruhe — Ekzessive Onanie der Psychopathen — Schädlichkeit der Schlaf- losigkeit — Die Surrogat onanie — Abstinenz - Onanisten — Notonanie normalsexueller Frauen — Ipsation infolge Ejaculatio praecox des Mannes — Vorstellungsonanie der sexuell Abnormalen — Die geistige Onanie, ein veralteter Begriff — Beispiele unbewußter Ipsation — Pollutionsonanie — Verbreitung und Häufigkeit der Ipsation — Schätzungen und Statistiken — Ergebnis eigener Statistiken — Ver- , , , , breitung der Ipsation in den verschiedenen Lebensaltern — Beginn der Onanie — Unerotische Lusthandlungen im Kindesalter — Extensität und Intensität der Onanie — Onanie kalender — Dauer der Ipsation — Verbreitung der Onanie beim weiblichen Geschlecht — Ipsation bei wilden und zivilisierten Völkern — Bei Tieren — In ältere* und neuerer Zeit — Ipsationsformen - Die manuelle, femorale und kohabitoide Form — Lustverstätkungen und Varianten Inhaltsverzeichnis Seite der manuellen Ipsation - Schilderung eines Appressionsonanisten -Solitäre Koitusimitation — Onanie in scheidenartige Öffnungen — Klitoris- vibration - Phallusersatz - Orale Onanie - Urethrale Ipsation - M a m m a 1 onanie — Larvierte Onanie — Onania prolongata — inter- rupta-incompleta — Einfluß der S e x u a 1 h y p o c h o n d r i e und Sexualneurasthenie auf die Ipsation - Diagnose der Ipsation - Unsicherheit der Indizien — Untersuchung der Samenflecken — Aussehen der Onanisten — Onaniehypochondrie — Eingebildete und trügerische Merkmale der Onanie (Tissots „signes de l'onanisme ) — Gibt es Masturbationscharaktere? — Opfer falscher Dia- gnostik und Dogmatik — Ipsationsfolgen — Übertreibungen, Irrlehren und Massensuggestionen — Onanistenbriefe — Unkenntnis in der Anatomie und Physiologie der Genitalorgane — A b s ch r e ck u n g s Schriften, Tissots großer Einfluß — Gesunde Onanisten — Stoffverlust und Schuldbewußtsein — Körperliche, sexuelle, nervöse und psychische Schilden — Angebliche Umgestaltung des Genitalapparates — Ejaculatio praecox und I m p o t e n z im Gefolge der Onanie — Organische, spinale, ner- vöse und autosuggestive Impotenz — Gegensuggestionen — Wechsel- seitige Onanie und Homosexualität — Onanie als Schutzmittel — Wirkung der Onanie auf das Nervensystem — Funktionelle Störungen — Vasomotorische Neurosen — Urtikaria nach Onanie — Angstneu- rosen _ Viszerale und Blasenneurosen — Beeinflussung des Geisteslebens durch die Ipsation — Depressionen, Hypochondrien, Versündigungs- und Selbstmordideen der Onanisten — Verschlimmern Phantasievorstel- lungen die Nachteile der Onanie? — Es gibt keine spezifischen Onanieschäden — Behandlung der Ipsation — Beseitigung deT Onanie und Onaniefolgen — Psychische, hygienische, medikamentöse, instrumenteile und operative Mittel — Hypnotische Suggestionsbehand- lung — Ärztliche Aufklärungsmethode — Innehaltung der Wahrheit und Fernhaltung von Übertreibungen und Dro- hungen — Die sexuelle Erziehung als Teil der hygienischen Er- ziehung — Geschlechtskunde — Bedenklichkeit der Keuschheitsgelübde — Die sechs Gebiete der hygienischen Therapie: Körperpflege und Körperübung, Bekleidung und Ernährung, seelische und sexuelle Diätetik — Vermeidung von Juckreizen — Hydrotherapie — Gymnastik — Wichtigkeit der künstlichen Körperhüllen: Bett und Kleid — Hosen und Hosentaschen — Menge und Art der Speisen — Das Nachtmahl — Der Alkohol — Pflanzenkost — Diä- tetikderSeele — Wissensschatz und Willensschatz — Überwindung der Willensschwäche — Gewöhnung und Planmäßigkeit — Sexuelle Selbstbeherrschung — Verwerflichkeit des Spür- systems — Gutachten über einen relegierten Schüler — Das geschlecht- liche Dilemma von der Reife bis zur Ehe — Heilkraft einer ideellen Liebe — Einklang zwischen Biologie und Soziologie — Arzneien, Apparate und Operationen zur Bekämpfung der Ipsation — Se- dantien und Roborantien — Infibulation, Klitoridektomie und Kastration. Sechstes Kapitel: Der Automonosexualismus Unterschied zwischen Ipsation und Automonosexualis- mus — Der biblische 0 n a n und der griechische Narzissus — Das Gebiet des Autoerotismus — Blochs sexuelle Äquivalente — Beobachtung eines Automonosexuellen vor dem Spiegel — Spiegel- akte von Frauen — Das Spiegelzimmer des Hostius Quadra — Die Inhaltsverzeichnis. XV photographische Platte an Stelle des Spiegels — Liebe zum eigenen nackten Körper — Fall von sexueller Entspannung durch Muskel- spiel — Erregung durch eigene körperliche Ausschmückung — Be- ziehungen zwischen Automonosexualismus, Eitelkeit und Koketterie — Unterschied zwischen Fetischismus und Automonosexualismus — Partieller Autismus — Fälle von Geschlechtserregung durch Aufsetzen von Perücken, Schminken, Nasenplastik — Monosexuelle Tanz- evolutionen — Tanzende Derwische und Autoflagellanten — Auto- masochismus — Beobachtung sexueller Erregung durch Anlegen von Gürteln und Korsetts (sexuelle Schnürsucht) — Beobachtung eines Falles von Geschlechtserregung durch Anziehen eines Spitzenunterrocks — Zisvestitische und transvestitische Gestaltsveränderung — Schilderung eines automonosexuellen Transvestiten — Soziales Ver- halten automonosexueller Personen — Ist der Narzißmus eine normalsexuelle Durchgangsstufe? — Mangelnde Reaktion auf Außenreize — Ursachen dieses Defekts — Die Identifizierung der gleichen Person als Reizquelle und Lustquelle, als Subjekt und Objekt, als aktiver und passiver Teil — Spaltung der Persönlichkeit — Beziehungen des Automonosexualismus zu anderen Sexualstörungen — Schaulust und Automonosexualismus — Die negative Bedeutung des Automono- sexualismus. Verzeichnis der Abbildungen. Zu Seite Tafel I: Äußere und innere Sekretion der männlichen Geschlechtsdrüse . . 5—6 Tafel II: Angeborener Geschlechtsdrüsenausfall (Eunuchoidismus) .... 8—9 Textbild: Hoden und Nebenhoden eines Eunuchoiden 9 Tafel III: Erworbener Geschlechtsdrüsenausfall (Kastratensänger) 14—15 Tafel IV: Geschlechtsdrüsenverlust im 20. Lebensjahre 16—17 Tafel V: Hodenverlust im Kriege 18 Tafel VI: Spätkastrat 21—23 Tafel VII: Geschlechtsteile eines infantilen Kryptorchisten 31—38 Tafel V1H: Schnitte durch kryptorche Hoden 38—39 Tafel IX: Zisvestitismus eines psychosexuellen Infantilen 45—47 Tafel X: Proben aus der Bildersammlung eines infantilen Masochisten . . 49 Tafel XI: Proben aus der Bildersammlung eines infantilen Fetischisten und Exhibitionisten . 63 Tafel XII: Prämature Gesehlechtsentwicklung bei einem vierjährigen Knaben 70 u. f. Tafel XIU: Doppelgeschlechtliche Frühreife im achten Lebensjahre . . . . 74 u. f. Tafel XIV : Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahre 81 Kurve über den Beginn der Onanie 133 L KAPITEL Der Geschlechtsdrüsenausfall Inhalt: Perioden der Geschlechtsentwicklung — Vierteilung der Geschlechts- unterschiede — Der extra sekretorische und inner sekretorische Anteil der Geschlechts- drüsen (Eeimsubstanz und Zwischensubstanz) — Die Folgen ausblei- bender Geschlechtsdrüsenentwicklung — Schilderung eines Falles von Hodenhypo- plasie (Eunuchoidismus) — Der Exzeß- und Defekt typus der Anandriden — Angeborener Eierstocksmangel — Ursprung und Ursachen der Kastration und Sterilisierung — Die soziale, religiöse, kriminalistische, vokale, therapeutische, pro- phylaktische und rassenhygienische Ätiologie — Beschreibung und Abbildungen von Kastratensängern — Geschlechtsdrüsenverlust im Kriege — Hodenschüsse — Hoden transplantation — Bericht über einen Spätkastraten — Der G e - schlechtstrieb der Anandriden — Kastrations t e c h n i k (Verschnittene, Halb- verschnittene, Hämmlinge) — Zusammensetzung der erotisierenden Substanz — Erworbener Eierstocksmangel — Abhängigkeit der Intensität und E x - tensität der Ausfallserscheinungen vom Zeitpunkt des Keimstockverlustes — Prä pubischer, pubischer und p o s t pubischer Geschlechtsdrüsenausfall. Verzeichnis der Abbildungen: Tafel I. Äußere und innere Se- kretion der männlichen Geschlechtsdrüse. — Tafel II. Angeborener Ge- schlechtsdrüsenausfall (Eunuchoidismus). — Textbild: Hoden und Nebenhoden eines Eunuchoiden. — Tafel III. Erworbener Geschlechtsdrüsenausfall (Kastraten- sänger). — Tafel IV. Geschlechtsdrüsenverlust im 20. Lebensjahre. — Tafel V. Hodenverlust im Kriege. — Tafel VI. Spätkastrat. In ihrer Entwicklung zeigen die Geschlechtsunterschiede ein Bild, das erheblich von dem Verhalten abweicht, wie wir es bei Eigenschaften finden, die beiden Geschlechtern gemeinsam sind. Während der Entwicklungsgang hier nach Form und Zeit ein ziemlich stetiger ist, indem ganz allmählich, meist nur durch gleichmäßige Vergrößerung, aus der Urform ein Zustand empor- wächst, der sich durch Jahrzehnte erhält und schließlich einer langsamen Kückbildung verfällt, beobachten wir an den Geschlechts- unterschieden, die Mann oder Weib als solche kennzeichnen, Zeiten lebhafterer G eschlechtsentwicklung, in denen es zu wichtigen Umgestaltungen und Veränderungen der entsprechenden Geschlechts- charaktere kommt. Diesen bewegten Zeiten folgen lange Pausen, in denen die Entwicklung zwar keineswegs völlig, aber doch ver- hältnismäßig ruht. Die Geburt des Menschen ist beispielsweise für Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 1 Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall n^hlPohtsentwicklung von nur untergeordneter Bedeutung. Im tgenl^"Zl Orglnsystemen bleibt das Genitalsystem von dem e nschneidenden Zeitpunkt, in dem das Kind „das wSt erblickt", nahezu unbeeinflußt; es vergeht noch eine ganze Reihe von Jahren, bis es die ihm zukommende Tätigkeit auf- """vnn den drei wichtigsten Perioden gesteigerter Ge- schlechtsentwicklung liegt die e r s t e zwischen Befruchtung Zd Geburt in der Zeit, welche in der fünf ten Embryonalwoche mit dem ersten Auftreten der Keimstöcke beginnt und anschließend 2 LaSe der folgenden zehn Wochen erst zur Bildung der inneren dann der äußeren Geschlechtsorgane des Mannes und des Weibes " ^ann folgt bei beiden Geschlechtern bis weit über die Geburt hinaus ein langer Zeitraum des K e imschl af s während welchem der Körper so sehr mit dem Aufbau seiner selbst beschäftigt ist, daß es ihm noch nicht gegeben ist, körperlich und scel^ch u l) ersieh hinauszuwachsen. Erst wenn sich die Ausbildung des Korpers ihrem Abschluß nähert, machen sich neue durchgreifende Ver- änderungen bemerkbar. Dieses zweite Hauptstadium der Ge- schlechtsentwicklung beginnt durchschnittlich im dritten Jahrfünft des Lebens und erreicht nach dem zwanzigsten Jahr einen gewissen Höhepunkt, der durch mehrere Jahrzehnte anhält, bis dann nament- lich bei dem weiblichen Geschlecht zwischen dem 40. und 50. Lebens- wahre als dritte Entwicklungsperiode ein Rückbil dun gs Vor- gang einsetzt, das sogenannte Klimakterium, das sich ebenso wie die Geschlechtsreife, primär an den Keimstöcken vollzieht Wie alle Vorgänge in diesem sexuellen Zentralorgan, ist auch seine Involution von weitgehenden Aligemeinerscheinungen im körper- lichen Befund und seelischen Befinden begleitet. Eines der bedeutsamsten sexuellen Entwicklungsgesetze, dessen Kenntnis für das Verhältnis sexueller Störungen unerläßlich ist, besteht nun darin, daß die Geschlechtszeichen des Mannes und Weibes nicht von vornherein und unmittelbar als solche kenntlich sind, son- dern sich aus einer allen Menschen gemeinsamen indifferenzierten Grundlage entwickeln. Die Geschlechtsdifferenzierung ge- schieht dergestalt, daß einige Partien der Uranlage sich zuruck- bilden, ohne jedoch jemals völlig zu verschwinden, andere dagegen stärker wachsen; daß ferner sich Spaltungen und Vertiefungen bilden, die bei dem einen Geschlecht bestehen bleiben, wahrend sie sich bei dem andern wieder schließen. So entsteht aus der gleichen Urform der männliche oder weibliche Geschlechtstypus, womit aller- dings nicht behauptet sein soll, daß dieser nicht, bevor er sicht- lich in die Erscheinung trat, schon vorher präformiert, deter- miniert und endogen fixiert ist, ohne daß wir allerdings bisher in I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 3 der Lage sind, dies nachzuweisen. Dem indifferenzierten und diffe- renzierten Stadium geht noch ein latent-geschlechtliches voraus, in dem an dem Embryo auch von der beiden Geschlechtern gemeinsamen indifferenten Form noch nichts wahrgenommen wer- den kann. Über die Frage, aus welchen Ursachen sich das Ge- schlecht das eine Mal nach männlicher, das andere Mal nach weib- licher Richtung entscheidet und differenziert, sind im Zusammen- hang mit dem Problem der willkürlichen Geschlechtsbestimmung von gelehrten und ungelehrten Leuten allerlei Vermutungen auf- gestellt worden, ohne daß die Frage als gelöst angesehen werden kann. Auf die darüber aufgestellten Theorien einzugehen, können wir uns um so mehr ersparen, als dem Gegenstand für das von uns zu behandelnde Gebiet sexueller Störungen eine praktische Be- deutung kaum zukommt. Nur das sei hervorgehoben, daß die doppeltgeschlechtliche An- lage der Frucht offenbar auf Vererbungsgesetzen beruht, nach denen sich auf sie der väterliche und mütterliche Anteil und damit der männliche und weibliche Charakter gemeinschaftlich überträgt. So kommt es, daß stets von allen männlichen Eigenschaften auch im Weibe, von allen weiblichen auch im Manne zum mindesten Spuren vorhanden sind, ein sehr bedeutsames Naturgesetz, auf das schon die großen Vorläufer der Sexualwissenschaft, ein Dar- win, ein Weißmann und He gar die Aufmerksamkeit lenkten. So sagte Darwin1): „Wir sehen, daß in vielen, wahrscheinlich in allen Fällen die sekundären Charaktere jedes Geschlechts schla- fend oder latent in dem entgegengesetzten Geschlecht ruhen, bereit, sich unter eigentümlichen Zuständen zu ent- wickeln." Und Weißmann2) bemerkt: „Die latente Anwesen- heit der entgegengesetzten Geschlechtseharaktere in jedem geschlechtlich differenzierten Bion muß als allgemeine Ein- richtung aufgefaßt werden." Weim Darwin an der eben angeführten Stelle von den se- kundären Geschlechtscharakteren im Gegensatz zu den pri- mären spricht, so bedient er sich hier einer Einteilung, die sein englischer Landsmann, der bedeutende Naturforscher am Ende des 18. Jahrhunderts John Hunter mit folgenden Worten in die Wissenschaft eingeführt hatte : „Such I call secondary properties, which take place only in parts that are neither essential to life nor generation, and which do not take place tili towards the age of maturity." x) Darwin, Das Variieren der Pflanzen und Tiere im Zustande der Domesti- kation. 2. Aufl. (Stuttgart 1893. Bd. 2, S. 59.) 2) Weißmann, Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung. (Jena 1892, S. 476.) 1* 4 I. Kapitel: Der Gesclilechtsdrüsenausfall Diese Einteilung hat sich während eines vollen Jahrhunderts sowohl für die äußerliche Klassifizierung der Geschlechtsmerk- male als für die Theorien ihres inneren Zusammenhangs als recht nutzbringend bewährt, bis sie sich schließlich doch mit dem immer tieferen Eindringen in die sexuellen Vorgänge als unzu- länglich erwiesen hat. Man hat deshalb allerlei Neueinteilungen vorgeschlagen, unter denen die von P o 1 1 am meisten Anklang gefunden zu haben scheint. Dieser Berliner Zoologe trennt zunächst die essentiellen oder germinalen Geschlechtsdifferenzen, unter denen er ausschließlich die Geschlechtsdrüsen oder Gonaden versteht, von allen übrigen, die er akzidentelle nennt. Diese wiederum teilt er in die genitalen subsidiär enund die extragenitalen. In beiden dieser Haupt- oruppen unterscheidet er dann die inneren und äußeren Ge- schlechtsmerkmale. Zu den inneren genitalen Geschlechts- organen zählt er u. a. die Leitungswege, die Kopulations- und Brut- organe, die akzessorischen Geschlechtsdrüsen, zu den inneren extragenitalen die Stimmorgane und psychischen Eigen- schaften, während er unter denäußerengenitalendie äußeren Geschlechtsorgane und unter den äußeren extragenitalen die zahlreichen Geschlechtsunterschiede in der äußeren Erscheinung begreift. . . . Mir selbst hat sich in zwanzigjähriger Praxis von rem klinischen Gesichtspunkten aus für den Menschen die folgende Vierteilung der Geschlechtsmerkmale als sehr zweckmäßig erwiesen, die ich daher auch diesem Buche zügrunde legen will: I. Die eigentlichen Geschlechtsorgane. XI. Die ü b r i g e n k ö r p e r 1 i c h e n Geschlechtsunterschiede. III. Der Geschlechtstrieb. IV. Die übrigen seelischen Geschlechtsunterschiede. Jede dieser Gruppen läßt zahlreiche weitere Einteilungen zu. So können wir die G e s c h 1 e c h t s o r g a n e zunächst wieder in v i e r Unterabteilungen zerlegen: a) in die Sekr et ions organe (Eierstock und Hoden), b) in die Leitungsorgane (Eileiter und Samenleiter), c) in die Aufbewahrungs organe (Gebärmutter und Samen- bläschen), d) in die Vereinigungs organe (Scheide und Glied). Den Geschlechtstrieb teilen wir ebenfalls am besten in vier verschiedene Phasen und Komponenten ein; es sind dies: a) die zentripetale, von den sensorischen Nerven z u m G e - hirn verlaufende sexuelle Ein drucksbahn (Wahrneh- mungs- und Vorstellungsbahnen), C+-I cd EH CO TS Ö 3 lO CD • i—i Cü Cd -(J> X © EH Qß > := s- cid — = e» -=S .2 s s :ss a a © •pH u M cj 0) - a = *i a s - - CS s Kl 1 , i l I Ii ^> O -g TS * a" .8 CD CD w CO m a « s g S 33 § £ Ol CD P ^ CD :p 'S CO CD CO „O cd J= a 5 © =3 fl . es Ol ö Sh — . «4 _ CB u es • '~ f-i CO cd j_r. TS > C 'S a H CD . ja 3 CD CD 5 -° cS a ja CD O CD co ^ io « ä :cs ,fD :3 B Ii TS -p ,|J » 3 "3 a CD — fl a> ••«« .2 o es 2 — < '5 a a — CD a _5 CD _. _ TS CG fl TS Nj :2 ^ J2 a ; e co c] d 3 a ts 35 * a % 'S d § M o ja CO es es CD JS 5 " ja - . o CO S fl n CD CD ja ts CD CD , 2 TS 3 § .§ cc CO "3, JS . P a — ™ ~ ja - x — CD CD _ CO rt i — i CD »Q a S -a CD 1« CO £ u l> CO E> CD CD K "g, -S J< CD 3 cd ja es CO ^ M CS -r-t 59 J3 o es a a a iE CD X a3 TS CD J= — a a 2 a cd ja CD J3 ü > S © «s fe « a ^ cS es CO c Ä a o > a a _ CD o CO fl to CD CO 0) CD 53 | °0 y., CD CO <q p N TS CD 5 a a CD CS bfiCO S CD £. Ts CD CO :_fl -3 CO 4-» ja o CD tii -4 6C o 3 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 5 b) der von der äußeren Sexualreizung, vor allem aber von der intrasekretorischen Ladung abhängige zentrale Drang, c) die zentrifugale, vom Gehirn zu den motorischen Nerven verlaufende A u s d r uc k s bahn (sexuelle Trieb- und Handlungsbahnen), d) die regulatorischen Hemmungs bahnen. Dem zentripetalen Anteil des Reflexbogens entspricht die Triebrichtung, dem zentralen die Triebstärke, dem zentrifugalen die Triebentspannung, während von der regulatorischen Bahn die Triebhemmung abhängt. Die alte Zwei- bzw. Dreiteilung des Geschlechtstriebs in den Kontrektations-, Tumeszenz- und Detumeszenz-, auf deutsch den An- näherungs-, An- und Abschwellungstrieb haftet zu sehr am äußer- lichen und dringt nicht mit genügender Schärfe in das eigentliche Wesen des Geschlechtstriebs ein. Auf die beträchtliche Anzahl der übrigen körperlichen und seelischen Geschlechtszeichen, die Geschlechtsunter- schiede zweiter und vierter Ordnung, wollen wir des näheren erst in dem Teil dieses Buches eingehen, in welchem von dem Auftreten diskongruenter Geschlechtscharaktere und den sexuellen Vari- anten ausführlicher die Rede sein soll. Nur eine funktionelle Zweiteilung sei hier noch be- rührt, deren Kenntnis für das Verständnis sexueller Entwicklungs- störungen unumgängliche Voraussetzung ist. Sie betrifft das zweifel- los überragendste Organ des ganzen Sexualsystems, die Keim- drüsen. (Tafel I.) An diesen können wir auf Grund sichergestellter Forschungen sowohl physiologisch als anatomisch einen extrasekreto- rischen und intrasekretorischen Anteil unterscheiden. Beim männlichen Geschlecht produziert und sezerniert der extra- sekretorische Geschlechtsdrüsenteil die männlichen Keimzellen, der intrasekretorische einen Stoff, für den wir3) 1912 den Namen A ndrin vorschlugen; beim Weibe gibt der extrasekretorische Teil die Eizellen, der intrasekretorische das G y n ä z i n ab. Während der Sitz der extrasekretorischen Funktion beim Manne die Samenkanäl- chen, beim Weibe die Graafschen Follikel sind, nimmt die innere Se- kretion von den Leydigschen Zwischenzellen ihren Ausgang, so be- nannt nach Franz Leydig, der sie im Jahre 1850 zum ersten Male in einem Aufsatz: „Zur Anatomie der männlichen Ge- schlechtsorgane und Analdrüsen der Säugetiere" geschildert hat. Auch die weibliche Eierstocksdrüse besitzt eine analoge Zwischen- substanz. 3) In den „Naturgesetzen der Liebe" S. 179 ff. 6 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall Die Bedeutung dieser Zwischensubstanz erhellt aus ihrem wechselnden Verhalten; am massenhaftesten sind die Zwischenzellen in der Pubertätszeit vorhanden, so daß St ei nach4), dem wir auf diesem Gebiet die durchschlagendsten Versuche und Forschungen verdanken, vorgeschlagen hat, sie geradezu Pubertätszellen, die Zwischensubstanz als Ganzes Pubertätsdrüse zu benennen. In den Hoden, welche Steinach zwecks Maskulierung auf kastrierte Weibchen überpflanzte, entwickelte sich die innersekretorische Sub- stanz besonders stark, ebenso in den auf kastrierte Männchen trans- plantierten Eierstöcken. Die gewaltige Bedeutung, welche das innere Sekret der Ge- schlechtsdrüsen auf den ganzen Organismus hat, zeigen am deutlich- sten die Ausfallserscheinungen, welche man bei Menschen und Tieren beobachtet, denen die Keimdrüsen fehlen, sei es daß sie überhaupt nicht zur Entwicklung gelangten (wie bei den Eunu- choiden), sei es daß sie später auf operativem Wege entfernt wurden oder im Kriege durch Geschoßwirkung verloren gingen. Daß außer der inneren Absonderung der G eschlechtsdrüsen aucli noch andereDrüsenmitinnererSekretion einen nicht un- wesentlichen Einfluß auf die Ausbildung der Geschlechtscharaktere haben, ist wahrscheinlich, im einzelnen aber noch sehr wenig sicher- gestellt. Angenommen wird es von der S childdrüse, der Thy- musdrüse, der Zirbeldrüse und den Nebennieren, vor allem aber von der Hypophyse5) (Hirnanhang), nach deren Ent- fernung, wie Biedl6) berichtet, bei noch unreifen Tieren die Ge- 4) Vgl. besonders von E. St ein ach, o. ö. Universitätsprofessor: Geschlechtstrieb und echt sekundäre Geschlechtsmerkmale als Folge der innersekretorischen Funktion der Keimdrüsen. I. Präexistente und echt sekundäre Geschlechtsmerkmale. II. Uber die Entstehung des Umklammerungsreflexes bei Fröschen. III. Entwicklung der vollen Männlichkeit in funktioneller und somatischer Beziehung bei Säugern als Sonderwirkung des inneren Hodensekretes. Separatabdruck aus dem „Zentralblatt für Physio- logie", Bd. 24, Nr. 13. Leipzig und Wien 1910. Franz Deuticke. Ferner: E. Steinach, Willkürliche Umwandlung von Säugetiermännchen in Tiere mit ausgeprägt weiblichen Geschlechtscharakteren und weiblicher Psyche. Arch. f. d. ges. Phys. Bd. 144 (1912). Derselbe: Feminierung von Männchen und Maskulierung von Weibchen. Zentralbl. f. Phys. Bd. 27 (1913). Derselbe: Entwicklung der vollen Männlichkeit in funktioneller und somatischer Beziehung als Sonderwirkung des inneren Hodensekretes. Zentralbl. f. Phys. Bd. 24. 5) Vgl. Mitteilungen aus der Biologischen Versuchsanstalt der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Physiologische Abteilung, Vorstand E. S t e i n a c h. „Über die Hypophyse bei feminierten Männchen und maskulierten Weibchen" von Josef Schlei dt (vorgelegt in der Sitzung am 22! Januar 1914). Sonderabdruck aus dem akademischen Anzeiger Nr. 111. Wien 1914. Aus der Kaiserlich-Königlichen Hof- und Staatsdruckerei. In Kommission bei Alfred Holder, K. u. K. Hof- und Universitätsbuch- händler. u) Biedl: Innere Sekretion. Wien. Urban & Schwarzenberg. 2. Aufl. 1913. 2. Teil S. 108 f. 7 schlechtsreife ausbleibt, während es bei älteren zur Atrophie des Genitalapparats kommt. Bei Hypopkysentumoren zeigen die Kran- ken eine Unterentwicklung der Geschlechtsteile mit Überreife des ge- samten Organismus. Hochenegg, der wiederholt in Fällen von Akromegalie die Entfernung eines Hypophysentumors mit Erfolg vornahm, sah in einem solchen Falle, daß bei einer Patientin die Men- struation, welche schon mehrere Jahre verschwunden war, wiederein- trat, in andern Fällen hörte nach der Hypophysenoperation sogleich die Bartbildung, welche sich bei Frauen mit Hypophysenerkrankungen in auffälliger Weise entwickelt, auf. Auch die von T a n d 1 e r und Groß7) bei lebenden Kastraten (Skopzen) im Böntgenbild festge- stellte Vergrößerung der knöchernen Hypophysengrube (sella turcica) ist ein beachtenswertes Zeichen. Scheint nach alledem ein kor relativ er Zusammenhang zwischen der Hypophyse und der Geschlechtsdrüse außer Zweifel zu stehen, so zeigen uns die klinischen Erfahrungen und Beobachtungen an Menschen mit nicht vorhandener oder bis zur Funktionslosigkeit verkümmerter Geschlechtsdrüse, daß in erster Linie doch die gänzlich mangelnde oder nur mangelhaft vorhandene Tätigkeit dieses Organs für die Geschlechtsentwicklung des ganzen menschlichen Organismus von ausschlaggebendster Wichtigkeit ist. Mit der Schilderung des in dieser Hinsicht lehrreichsten Krank- heitsbildes, des Geschlechtsdrüsenausfalls beginne ich da- her die Beschreibung sexueller Entwicklungs Störungen. Die hauptsächlichste Folge ausbleibender Geschlechtsdrüsen- entwicklung — einer nicht gar so seltenen Sexualstörung — ist der Fortfall der äußeren und inneren Sekretion, die normalerweise von den Keimstöcken ihren Ausgang nimmt. Der Wegfall der äußeren Sekretion bedingt Unfruchtbarkeit, die Abwesenheit des inneren Sekrets bewirkt den Ansf all oder die abnorme Gestaltung zahlreicher Geschlechtsmerkmale, deren reguläre Entwicklung offen- bar von dem Vorhandensein einer chemischen Substanz abhängt, die in den Zellen der Geschlechtsdrüsen entsteht und von hier aus dem Blute beigemischt wird. In der Mehrzahl dieser Fälle, in denen beides — Spermatozoen und Andrin — fehlen, ist der Hodenbehälter leer, gelegentlich fühlt man in ihm verkümmerte Testikel, die auch bei dem inhaltlosen Skrotalsack versteckt, und zwar meist in einem Schlupfwinkel oberhalb des Leistenkanals liegen dürften, so daß man dann also nicht berechtigt ist, von Hodenmangel (Anorchie) zu reden, sondern nur von kongeni- taler Hodenatrophie in Verbindung mit Kryptorchismus. Die Grundursache dieser schwerwiegenden Entwicklungsstörung hat sich 7)Dr. JuliusTandler und Dr. S i e g f r i e d G r o s z : Die biologischen Grund- lagen der sekundären Geschlechtscharaktere. Berlin. J. Springer. S. 51. 8 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall bisher nicht ermitteln lassen. Es hat eine gewisse Wahrscheinlich- keit für sich, daß es sich, wie bei fast allen sexuellen Anomalien, die Unfruchtbarkeit zur Folge haben, um eine Degenerations Prophylaxe handelt, indem die Unterentwicklung selbst schon auf dem Boden organischer Belastung entstanden die Weiterentwicklung nicht mehr tauglicher Stämme durch Sterilisierung unterbindet.. Ich will nun unter den von mir beobachteten Fällen von Hoden- hypoplasie einen der typischsten . schildern, wobei ich mich in der Besprechung der erwähnten Vierteilung: Geschlechtsorgane, kör- perliche Geschlechtszeichen, Geschlechtstrieb, seelische Ge- schlechtszeichen bediene. (Tafel II.) A., der im Jahre 1880 geboren ist, hat mich seit sechs Jahren wiederholt zu Rate gezogen. Er ist der jüngste von neun Kindern; seine 8 Geschwister, 6 Männer und 2 Frauen, sind gesund und sämt- lich verheiratet. Auch die Mutter, an der A. sehr hängt, lebt noch im 75. Lebensjahre und ist gesund, während der Vater in seinem 62. Jahre an Arterienverkalkung gestorben ist. Beide Eltern litten an Leistenbruch. Als A. zur Welt kam, war seine Mutter 44, sein Vater 46 Jahre alt. Ans A.s Kindheit ist nichts besonderes zu bemerken, sie war von der seiner Brüder kaum verschieden. Erst im Alter der Reife machte sich der große Unterschied bemerkbar, der allerdings zunächst weder ihm, noch der Umgebung auffiel, daß nämlich kein einziges Zeichen der Geschlechtsreife auftrat. — Als A. mich im Alter von 30 Jahren zum ersten Male aufsuchte, zeigten die Geschlechtsorgane folgenden seitdem unverändert gebliebenen Be- fund. An der Hodensackstelle findet sich nur ein quergerunzelter Hautwulst, der genau in der Medianlinie eine stark hervortretende Raphe (Hodensacknaht) erkennen läßt. Beide Hälften des Wulstes sind leer. Der Leistenkanal ist geschlossen. Auch vom Rektum aus ist kein Hode nachweisbar, dagegen ist eine kleine Prostata deutlich fühlbar. Samenbläschen konnten nicht wahrge- nommen werden. Der Penis gleicht dem eines etwa 4jährigen Knaben; er ist im schlaffen Zustand 2 cm, im erigierten 5 cm lang. Erektion ruft A. durch Onanie hervor, die er seit dem 12. Lebens- jahre, wie er angibt, infolge Verführung durch >andere Kinder betreibt. Dabei ist niemals eine Ejakulation vorgekommen, auch nicht Abgang von Prostatasaft. Es tritt aber trotzdem bei der Masturbation ein starkes Lustgefühl auf, so daß A. bisher von der Selbstbefriedigung nicht ablassen konnte. Hinsichtlich der übrigen körperlichen Eigenschaften A.s ist zu bemerken: er ist mit 182 cm größer als seine Eltern und übrigen Geschwister. Trotzdem ist die Armspannweite mit 190 cm noch größer, wie die Körperlänge. Die Extremitäten sind länger, als es seiner Körperlänge entspricht. Der Becken- I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall g ü r t e 1 zeigt einen Umfang von 10 2 cm, der Schultergürtel einen solchen von 18 2 cm. Dieses Verhältnis entspricht dem femi- ninen Durchschnitte. Der Kopfumfang beträgt 54 cm. Die Körperhaut des A. ist vollkommen haarlos, nur in der Achselhöhle und an der Gliedwurzel findet sich ein kleines Büschelchen Haare. Von Barthaar ist auch nicht der leiseste Anflug vor- handen. Das Haupthaar reicht ziemlich weit in die Stirn hinein, die tiefe Querrunzeln hat. Auch sonst zeigt das Gesicht starke Falten, die ihm etwas Altes geben, während die glatte blasse Haut andrerseits jugendlich wirkt, so daß es ungemein schwierig ist, das Alter des Anandriden zu schätzen. Die Ohren sind ungewöhnlich groß und abstellend. Sehr bezeichnend ist die Fettver- teilung. Starke Fettansammlungen be- finden sich zunächst in der Gegend der Brüste, die dadurch ein weibliches Gepräge tragen (Gynäkomastie), ferner in der Unter- bauchgegend, am Gesäß, an den Hüften und Oberschenkeln; auch das Gesicht ist fett, es finden sich auch die charakte- ristischen Fettwülste in den oberen Augenlidern. Die ganzen Körperlinien sind infolge der Fettansammlungen wei- cher und abgerundeter wie bei den meisten hodentragenden Männern. Die Muskeln sind schwach und schlaff. A. klagt daher wiediemeistenMännerohnenor- inalen Hoden über mangelnde Körper- kraft und leichte Erschöpf barkeit. Die Gefäßerregbarkeit der Haut ist stark. A. errötet sehr leicht. Die Schmerzempfind- lichkeit ist erheblich. Was bei A. zunächst auffällt, ist seine sehr hohe Stimme. Dementsprechend ist der Kehlkopf am Halse äußerlich kaum sicht- bar und die Stimmbänder sind mehr als ein Drittel kürzer, als sie bei einem gleichaltrigen Manne zu sein pflegen. Ein Stimmwechsel bat seit seiner Kindheit nie stattgefunden. Die Schilddrüse ist sehr klein. Pathologisch anatomisch waren in allen bisher zur Sektion ge- langenden Fällen von Eunuchoidismus Testikel nachweisbar; sie waren aber stets in funktionsunfähigem Zustande und sehr klein, so maß der von Tandler und Groß bei der Obduktion eines 28jährigen Mannes gefundene in seiner größten Ausdehnung nur 13 mm; die Nebenhoden sind im Gegensatz zu den Hoden meist Hoden (E) und Nebenhoden (N) eines Eunuchoiden nach Tand- ler und Groß. Der Hoden ist verkümmert, während der Ne- benhoden übermäßig entwik- kelt ist. 10 stark entwickelt. Samenzellen sind nicht, Leydigsche Zwischenzellen entweder gar nicht oder nur spärlich vorhanden. Die Kanalikuli des Hodens stellen sich als bindegewebige Fäden ohne Lumen dar, die der Nebenhoden haben ein feines Lumen zwischen einer binde- gewebig muskulären Wandung. Daher erklärt sich der im Verhält- nis zum Hoden beträchtliche Umfang des Nebenhodens. Höchst beachtenswert ist nun, daß bei A. ein nach Richtung- und Stärke vollkommen normaler Geschlechtstrieb vorhanden ist. Der Hauptanlaß, der ihn zu mir führte, war die Frage, ob er mit seiner Beschaffenheit wohl eine Ehe eingehen könne. Ich riet ihm von diesem Schritte ab, es sei denn, daß er ein älteres Mädchen fände, dem er sich über seine Entwicklungs- hemmung und Zeugungsunfähigkeit vorher vollkommen anver- traute. Auf rein wirtschaftlicher kameradschaftlicher Grundlage sei eine Ehe denkbar, auf sexueller nicht. Auch die Frage nach der Heilbarkeit seines Zustandes konnte ich nicht bejahend beantworten. Kollege Stabel, mit dem ich über die chirurgische Seite des Falles konferierte, machte den Vorschlag, dem Patienten einen gesunden Hoden zu im- plantieren, der frisch dem Skrotum eines Mannes entnommen sei, der sich aus irgendeinem Gründe einen Hoden exstirpieren lassen wolle. Es werden gelegentlich solche Wünsche von Personen ge- äußert, die sich über ihr geschlechtliches Leben unglücklich fühlen. Doch würde es sich natürlich nur um ein Experiment handeln, das nach den Tierversuchen von Steinach, Brandes und anderen immerhin als aussichtsvoll bezeichnet werden kann. Inzwischen ist der Versuch in diesem europäischen Kriege tatsächlich auch bereits am Menschen ausgeführt worden. Am 31. August 1915 hat Dr. Licht enstern in Wien auf Veran- lassung von Prof. Dr. Steinach einem Soldaten, der durch eine Verletzung bei einem Sturmangriff beide Hoden verloren hatte, um den aufgetretenen Ausfallserscheinungen Einhalt zu gebieten und eine Rückkehr der Libido und Potenz zu erzielen, den Leisten- hoden eines 40jährigen Mannes eingesetzt, und zwar! auf eine wundgemachte Muskelstelle des Obliquus externus. Es ergab sich, daß die Transplantation von Hoden tatsächlich eine beim Menschen mit Erfolg ausführbare Operation ist und daß sich die Folgen des Geschlechtsdrüsen Verlustes mit Ausnahme der Unfrucht- barkeit durch die Überpflanzung von Hodengewebe wirklich be- seitigen lassen8). Ich komme noch ausführlicher auf diesen Fall zurück. Das letztemal suchte mich A. in der Frage seiner Kriegsver- wendungsfähigkeit auf. Er selbst hielt sich infolge seiner ») Vgl. Münchn. med. Woch. vom 6. Mai 1916, S. 675. I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 11 Körperbeschaffenheit, namentlich wegen seiner leichten Ermüdbar- keit, dem Felddienst nicht gewachsen, wollte aber gern sich durch Bureau- oder Kammerdienste dem Vaterlande nützlich machen. Ich bescheinigte den objektiven Befund meiner Beobachtungen, ohne über die Frage der Militärtauglichkeit dem Urteil der Musterungs- ärzte vorzugreifen. Später erfuhr ich, daß er aus D.A.Mdf. An- lage 1 D u. E 58 9) als dauernd untauglich ausgemustert worden sei. Einiges noch über die geistigen Fähigkeiten A.s. Er ist ein tüchtiger und fleißiger, selbständiger Kaufmann, der gut für seine Mutter sorgt. Seine Intelligenz muß als gut, Gedächtnis als sehr gut bezeichnet werden. Er hat großes Interesse für Politik und kommunale Angelegenheiten und erfreut sich in der kleinen Stadt, in der er lebt, einer allgemeinen Beliebtheit. Er ist für seine Person sehr anspruchslos und mäßig, ist freundlich und bescheiden. Er ist aber oft sehr herabgestimmt und der Ausdruck seines Gesichts muß, wie auf dem beigefügten Bilde ersichtlich, als recht be- kümmert bezeichnet werden. Auch die anderen Personen mit angeborenem Defekt der Ge- schlechtsdrüsen, welche ich bisher zu beobachten Gelegenheit hatte, zeichneten sich durch gute geistige Befähigung aus, einer war so- gar ein hervorragender Schriftsteller, dagegen war bei allen außer A. der Geschlechtstrieb entweder überhaupt nicht oder nur sehr schwach entwickelt. Erwähnen will ich noch, daß einer dieser „Eunuchoiden" seit seinem 15. Lebensjahre an Hämorrhoidal- blutungen litt, die sich vollkommen regelmäßig nach Verlauf von 28 Tagen wiederholten, mehrere Tage anhielten, sein Allgemein- befinden stark angriffen und ganz den Eindruck von Menstrua- tionsäquivalenten machten. Außer dem hier geschilderten, mehr durch ungehemmte als gehemmte Entwicklung ausgezeichneten Typus gibt es noch einen zweiten Typus des Anandriden, den infantilen. Auch hier kommen bei gleichem äußeren Genitalbefund die sekun- dären Geschlechtsmerkmale nicht zur Entwicklung, es tritt aber an deren Stelle kein exzessiver Höhen- und Fettwuchs auf, sondern der ganze Körper bleibt auf der Stufe stehen, die der normalsexuelle Mensch kurz vor der Pubertät erreicht hat. Ich hatte vor einiger Zeit einen solchen Menschen in Beobachtung, der mit 27 Jahren vollkommen den Eindruck eines zwölfjährigen Knaben machte. Mit 9) Dienstanweisung zur Beurteilung der Militärdienstfähigkeit und zur Ausstellung von militärärztlichen Zeugnissen (D.A.Mdf.) vom 9. Februar 1909. Berlin 1909. Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Kgl. Hofbuchhandllung, Kochstr. 68—71. Seite 159 heißt es unter 58 D: „Verlust oder diesem gleichzuachtender Schwund beider Hoden, letzteres unter der Voraussetzung einer ungünstigen Beeinflussung des allgemeinen Körper- zustandes"; und unter 58 E: „Erhebliche Leiden der Geschlechtsorgane, welche an- dauernd Beschwerden verursachen (Zwitterbildung)." 12 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall der hohen kindlichen Stimme, dem zierlichen Körperhan — Patient wog 80 Pfund — , den kindlichen Bewegungen kontrastierte eigen- artig die Intelligenz und das hedeutende positive Wissen dieser Per- son. Er hatte wegen seines jugendlichen Aussehens Schwierigkeiten, eine seinen Kenntnissen entsprechende Lehensstellung zu finden. Ein Geschlechtstrieb war in diesem und den Fällen ähnlicher Art, die ich sah, nicht vorhanden, doch bestand bis zu einem gewissen Grade die verstandesgemäße kummervolle Empfindung, durch den Ausfall eines von den Normalen hochgeschätzten Lebensgutes be- nachteiligt zu sein. Ich habe zwischen den beiden Typen des Anandriden — dem Exzeß - und Defekttypus — auch Mischformen gesehen, so einen 32jährigen Menschen, einen Musiker, der bei infantilem Genital- und Körperbefund weibliche Brüste aufwies. Beim weiblichen Geschlecht ist bei angeborenem Eierstocksdefekt der infantile Typus der weitaus vor- herrschende. Es handelt sich hier um jene Fälle von genitaler Hypoplasie und Aplasie, über die bereits die alten Gynä- kologen als Ursache weiblicher Unfruchtbarkeit vielfach berichtet haben. Sie hielten sich in ihren Beschreibungen allerdings mehr an die kleine atrophische Gebärmutter, an die oft kaum sichtbare Vaginalportion, die kurze, enge Scheide, die schlaffen, welken, oft sehr wenig oder gar nicht behaarten äußeren Geschlechtsteile und vor allem an den Mangel der Menstruation, als an die wegen ihrer Winzigkeit der digitalen Untersuchung kaum zugänglichen ver- kümmerten Ovarien, von deren Funktionslosigkeit aber offen- bar die Unterentwicklung der übrigen Teile sowie alle übrigen Aus- fälle abhängig sind. Die hauptsächlichsten Ausfallserscheinungen bei nicht vorhan- dener innerer und äußerer Eierstockssekretion sind die Sterilität und die mangelnde Ausbildung der Geschlechtscharaktere. Wie die Geschlechtsorgane selbst, so verharren auch die Brüste auf kindlicher Stufe mit Brustwarzen und Warzenhof von viel geringerem Um- fange, als dem Alter entsprechen würde. Infolge ausbleibender Fett- ausfüllung fehlen am Schulteransatz und an den Hüften die runden Linien; das Becken ist schmal. Exzessive Bildungen, wie Dispro- portion der Gelenke und Atypie in der Behaarung, sind dabei ver- hältnismäßig selten. Gleichwohl ist infolge des Mangels weiblicher Somacharaktere die Differentialdiagnose zwischen einfacher Unterentwicklung und virilem Habitus in derartigen Fällen nicht immer leicht zu ziehen. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist der Geschlechtstrieb, der bei Hypoplasie und Aplasie entweder gar nicht, oder nur sehr I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 13 schwach vorhanden ist, wenn vorhanden sich aher in normaler Rich- tung bewegt, während er bei viriler Beschaffenheit fast niemals fehlt, jedoch von der Norm abzuweichen pflegt. In intellektueller Beziehung zeigen Frauen mit Eierstoeksdefekt kein Manko. Im Anschluß an den angeborenen empfiehlt es sich, noch einiges über den erworbenen Geschlechtsdrüsenausfall zu sagen. Dieser Gegenstand beansprucht unsere volle Aufmerksam- keit in erster Linie aus biologischen, dann auch aus historischen Gründen, weniger allerdings wegen seiner Häufigkeit in unseren Breiten und Zeiten, in denen der als K a s t r a t i o n bezeichnete Ein- griff bei beiden Geschlechtern verhältnismäßig nur noch selten vor- genommen wird. Es handelt sich hier vermutlich um die älteste Operation, die von Menschen an Menschen und Tieren vorgenommen wurde. Der Ursprung der Kastration verliert sich in eine so graue Vorzeit, daß es kaum noch möglich ist, mit einiger Sicherheit anzugeben, wie die primitive Menschheit auf diesen Gedanken ver- fiel. Ich vermute, daß man zunächst die Entmannung als Straf e oder Schändung vorgenommen hat, sei es im Kriege, wo sie sich bei wilden Völkerschaften bis heute erhalten hat, sei es im Frieden, um nach dem naiven Rechtsgrundsatz: „Womit du gesündigt hast, sollst du auch bestraft werden," Notzuchts- und andere Sittlichkeits- verbrechen zu ahnden. Herrschte doch früher allgemein die bei vielen noch jetzt gültige Meinung, daß in den äußeren Ge- schlechtsorganen der Sitz der Geschlechtslust und des Geschlechts- triebes zu suchen sei. Nachdem man nun aber bei den Sträflingen wahrgenommen hatte, welchen tiefgreifenden Einfluß die Kastration auf Körper und Seele im allgemeinen ausübte, lag es nahe, auch aus anderen Motiven, als dem der Bestrafung eine Zerstörung der Geschlechts- drüsen vorzunehmen. Bei Tieren, und zwar bei vielen Arten ge- schah es, um für Haus und Hof Masttiere und Lasttiere zu ge- winnen — erkannte man doch leicht, wie die Tiere nach Verlust der Keimstöcke an Fettreichtum, Schmackhaftigkeit und Geduld zu- nahmen — , bei den Menschen dagegen waren die verschiedensten Wünsche maßgebend. So erschien es bei vielen Völkern den Hausherrn wünschens- wert, in ibren Familien Personen zu besitzen, denen sie, ohne von Eifersucht geplagt zu sein, ihr vollstes Vertrauen entgegenbringen konnten. Dadurch gelangte man namentlich in Asien zu der Ein- richtung der „Haussöhne", sogenannter Eunuchen, die dank ihrer Anhänglichkeit, Schweigsamkeit, Gewissenhaftigkeit und viel- seitigen Brauchbarkeit allmählich zu sehr einflußreichen Stellungen emporstiegen. Sind doch die Obereunuchen, meist Personen von 14 I. Kapitel: Der Geschlechtsclrüsenausfall feiner Bildung und hoher Klugheit, heute noch die ersten Hof- beamten türkischer und persischer Herrscher. Wurde bei den Mohammedanern mehr aus praktischen, so wurde bei den Christen mehr aus i d e a 1 i s t i s c h e n Gesichtspunkten „u m desHimmelreicheswillen" kastriert. Im Zusammenhang mit der asketischen Lebensanschauung von der „sündigen Fleisches- lust" bewirkten einige Bibelstellen, wie Matth. 19, 12; Kol. 3, 5; Jes. 56, 3, daß im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung namentlich im Osten des römischen Reicks zahllose christliche Priester aller Rang- klassen sich kastrieren ließen, für die Kastration Propaganda mach- ten und selbst kastrierten. In der S k o p z e n sekte, den Lipowanern, haben sieh Nachwirkungen dieser religiösen Verschneidung als einer „Gott wohlgefälligen Verstümmelung" bis in unsere Tage erhalten. Ein weiterer Grund, die männlichen Keimtstöcke vor der Reife auszulösen, war die dadurch erzielte Beeinflussung der Stimm- werkzeuge. In meinen „Naturgesetzen der Liebe"10) heißt es hierüber : „Die Sangeskunst der italienischen Verschnittenen war im ganzen Mittelalter weit gerühmt. Noch während des ganzen 18. Jahr- hunderts wurden zu diesem Zweck in den Kirchenstaaten jährlich mehr als 2000 Kinder kastriert. ,La voix des castrats imite celle des cherubins au ciel', lautete ein weitverbreiteter Spruch, und an den Schaufenstern fast jedes. Heilgehilfen und Barbiers in Rom konnte man lesen: ,ici on chätre ä bon niarche' oder ,qui si castrano ragazzi ä buon mercato' (hier wird billig verschnitten). Rossini schrieb 1827 die Oper ,Aureliano in Palmyra' für den Kastraten V e 1 u 1 1 i , und Napoleon soll zu Tränen gerührt gewesen sein (emu jusqu'aux lar- mes), als der Kastrat Cr esc entin i vor ihm in ,Romeo und Julia' sang." Ich hatte selbst noch Gelegenheit, mir in Rom einige Kastratehsänger aus dem berühmten Chor der Peterskirche vor- stellen' zu lassen. Von einem der hervorragendsten, dem ausgezeich- neten Artisten der Sixtinischen Kapelle Prof. Alessandro M o r e c h i bringe ich ein Bild. (Tafel III.) Es zeigt uns an dem in früher Jugend kastrierten Manne, der bereits das fünfzigste Lebensjahr über- schritten hat, das charakteristische glatte und fette Kastratengesicht. Gegenwärtig wird die Kastration in Europa und Amerika fast nur noch zu tb erapeutis ch e n und prophylaktischen Zwecken vorgenommen. Zu Heilzwecken bedient man sich ihrer bei den verschiedenen Neubildungen an den Geschlechtsdrüsen, haupt- sächlich bei Krebs und Tuberkulose der Testikel sowie zystischen Entartungen der Ovarien, außerdem, um eine indirekte Wirkung zu erzielen, bei der. Osteomalazie der Frauen und der Prostata-Hyper- trophie der Männer. Man meinte nämlich wahrgenommen zu haben, daß diöse Leiden sich nach Entfernung der Keimstöcke zurück- 10) Loc. cit. S. 173. Der Altist Professor Alessandro Morechi (vgl. im Text Seite 14). irschfei d, Sexualpathologie. I. A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn. f. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 15 bilden, doch ist dies namentlich bei der Altersvergrößerung der Vorsteberdrüse mehr wie zweifelhaft. Auch bei den psychischen Sexnalstörungen hat man zur Kastration seine Zuflucht genommen, und zwar sowohl bei quanti- tativen als qualitativen Abweichungen von der Norm. So kenne ich verschiedene Fälle, in denen Personen die Entfernving der Hoden an sich haben ausführen lassen, Aveil sie einer ihnen höchst peinlichen Neigung zu exzessiver Onanie nicht Herr werden konnten. Auf die relative Heilwirkung der Kastration bei pathologischer Stärke oder Richtung des Geschlechtstriebs komme ich gelegent- lich zurück. Fällt bei den letztgenannten Leiden die heilende und vor- beugende Wirkung zusammen, so ist der rein prophylaktische Gesichtspunkt dort maßgebend, wo die Kastration zur Unfrueht- barkeitsmachung vorgenommen wird, um Geisteskranke und Verbrecher zu „sterilisiere n". In Amerika bestehen dahin ab- zielende Gesetze, von denen eines, das Gesetz des Staates Indiana vom 9. März 1907, als Beispiel angeführt werden soll. Es lautet: „Da bei der Fortpflanzung die Vererbung des Verbrechens, des Blödsinns und der Geistesschwäche eine höchst wichtige Rolle spielt, wird von der gesetzgebenden Versammlung des Staates Indiana be- schlossen: daß es für eine jede in diesem Staate bestehende Anstalt, die mit der Obhut über unverbesserliche Verbrecher, Blödsinnige, Notzüchtiger und Schwachsinnige betraut ist, zwingende Vorschrift ist, nebst dem gewöhnlichen Anstaltsarzt zwei erfahrene Chirurgen von anerkannter Tüchtigkeit aufzunehmen, deren Pflicht es ist, den geistigen und körperlichen Zustand solcher Insassen zu prüfen, die von dem Anstaltsarzt und dem Verwaltungsrat hierzu bezeichnet werden. Wenn es nach dem Urteile dieses Sachverständigen- kolle giums und des Verwaltungsrats nicht ratsam ist, eine Zeugung zuzulassen, und wenn keine Wahrscheinlichkeit besteht, daß sich der geistige Zustand des betreffenden Insassen bessern werde, dann sollen die Chirurgen berechtigt sein, eine Operation zur Ver- hütung der Zeugung vorzunehmen, die nach ihrer Entschei- dung am sichersten und wirksamsten ist." Die Schlußbemerkungen beziehen sich darauf, daß man statt zu der Entfernung der Testikel vielfach auch nur zur Vasektomie, der Durchschneidung der Samenstränge, geschritten ist. Für die Sterilisation genügt dieser Eingriff, ob auch für die radikale Aus- schaltung des Geschlechtstriebs, ist nach den bisherigen Erfah- rungen unsicher. In Europa hat man sich aus meines Erachtens sehr berechtigten Rücksichten nicht zu ähnlichen Bestimmungen entschließen können, trotzdem einige Sachkenner, wie N ä e k e , dafür eingetreten sind. 16 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall Alle angeführten Formen der Kastration, die krimina- listische, soziale und religiöse sowohl wie die vokale, therapeutische, prophylaktische und rassenhygienische werfen wichtig eSehlag- lichter auf den innigen Zusammenhang, welcher zwischen der Funktion der Geschlechtsdrüsen und allen übrigen körperlichen und seelischen Geschlechtscharakteren vorhanden ist. Die Veranlassungen, aus denen man sich zu Kastrierungen entschlossen hat, sind damit allerdings noch immer nicht erschöpft, so will ich den Fall eines Kastraten anführen, den ich selbst seit längerer Zeit zu beobachten Gelegenheit habe. (Tafel IV.) Es ist der im Jahre 1883 geborene Sopransänger B. Als er 21 Jahre alt war, wurde auf ihn ein Attentat verübt. Ein Ameri- kaner, der von einer heftigen Leidenschaft zu ihm erfaßt wurde, hatte ihn auf eine Eeise nach Italien mitgenommen. Eines Tages, während B. schlief, versetzte ihm dieser Mann wohl aus Eifersucht mehrere heftige Stiche mit einem spitzen Stilett in die Genitalgegend, die den Hodensack durchbohrten und beide Hoden schwer verletzten. Der Attentäter tötete sich dann sogleich selbst; ein Kellner, der das Gastzimmer, in dem der Vorfall sich abspielte, betrat, fand die Leiche des Herrn über dem stark blutenden Körper des bewußt- losen Jünglings. Ein hinzugerufener Chirurg entfernte die beiden zerrissenen Hoden gänzlich. Als ich B. zehn Jahre später zum ersten Male sah, bot er fol- genden Befund: Man sieht in der Genitalgegend 3 große Narben, eine von einem Einstich herrührende, rechts oberhalb der Schambehaarung, eine Ausstichnarbe an der rechten Seite des Hodensacks und eine breite Einschnittnarbe oberhalb der linken Leiste, die von der Eröffnung des infolge der Ver- letzung entzündeten Zellgewebes herrührt. Beide Hoden fehlen völlig. Die Haut des ganzen Körpers ist ungemein dünn und durchsichtig, dabei äußerst spröde, die Nägel sind brüchig. Die Körperbehaarung ist seit der Kastration fast vollkommen geschwunden, die Muskulatur ist schlaff und weich, es fehlt die Elastizität und dementsprechend . auch Ausdauer und Mannes- kraft. Dagegen hat sich seit der Kastration ein reichliches Fett- polster entwickelt; vor allem sind Brüste entstanden, die einen ganz weiblichen Eindruck machen, sich prall anfühlen und beim Abtasten einen deutlichen Brustdrüsenkörper wahrnehmen lassen. Taillenweite ist 70 cm. Achselbehaarung fehlt gänzlich, das rotblonde Haupthaar ist lang, dicht und weich; der bereits vor der Kastration ziemlich stark vorhandene Bartwuchs hat nach dieser fast gänzlich aufgehört. Der Kehlkopf ist klein, von außen nicht sichtbar, die Stimme demzufolge hoch. B. besitzt eine schöne weibliche Ge- sangsstimme, die sich noch ständig erhöht. Er singt jetzt Sopran bis B, während er vor vier Jahren bis Fis kam. Auch in seinen I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 17 graziösen Bewegungen, in Neigungen und Gewohnheiten erscheint er feminin. Er liebt sehr Schmuck, Parfüms, sowie süße Speisen. Bemerkenswert ist eine nachweisliche Periodizität. Ganz regel- mäßig treten Zeiten ein, in denen er sich „unwohl" fühlt; er leidet dann an Schwindel, Mattigkeit, Kopfweh, starker Gereiztheit und see- lischer Verstimmung. Aber auch außerhalb dieser Perioden ist eine starke reizbare Nervenschwäche unverkennbar. Namentlich Angst- zustände machen ihm im Wachen und im Schlaf viel zu schaffen. Sein Geschlechtstrieb ist seit der Kastration völlig er- loschen. Dagegen treten bei ihm eigenartige Muttergefühle auf; er ist außerordentlich kinderlieb und würde am liebsten selbst ein Kind zur Welt bringen können. Endlich besteht, vermutlich im Zu- sammenhang mit der Operation, bei B. eine totale Verstopfung. Ohne Klystiere oder starke Abführmittel ist überhaupt keine Stuhl- entleerung möglich. In intellektueller Hinsicht zeigt sich B. von leichter Auf- fassungsgabe und vielseitigen Interessen. Daß die Intelligenz der Kastraten gelegentlich sogar den Durchschnitt weit überragen kann, zeigen historisch beglaubigte Beispiele, wie die des Feldherrn Narses, des Kirchenvaters Origenes, des Philosophen Abe- lard, des portugiesischen Staatsmanns Carlo Brocchi und an- derer, von denen wir wissen, daß sie dem Geschlecht der Geschlechts- losen angehörten. Was unseren B. betrifft, so spricht und singt er außer deutsch ganz geläufig französisch, italienisch und englisch. Er ist sehr musikalisch. Seine Hauptneigungen sind: Theater. Mode und Blumen. Dabei ist er einem starken Stimmungswechsel unter- worfen, träumerisch, scheu, furchtsam und neigt zum Übersinn- lichen. Er ist einige Jahre nach der Kastration in Pom vom evan- gelischen zum katholischen Glauben übergetreten. — Die häufigsten Fälle von unbeabsichtigtem Geschlechtsdrüsen- verlust ereignen sich wohl im Kriege. Daß namentlich in einem so furchtbaren Kampfe wie es der gegenwärtige Weltkrie«' ist, in dem der Hagel der Geschosse wahllos Millionen Leben vernichtet und keinen Teil des Körpers verschont, auch Genital Ver- letzungen vorkommen, liegt auf der Hand. Ähnlich wie die Hirnschusse haben auch die Hodenschüsse durch die Ausfalls- erscheinungen, die sich ihnen anschließen, in oft überraschender Weise die Zusammhänge bestätigt, die zwischen den oberen und unteren Zentralorganen einerseits und dem übrigen Körper andererseits bestehen. Im Anfang des Krieges, als die übererregten Gemüter der Völker dazu neigten, die wirklichen Schrecknisse des Krieges noch durch erfundene Grausamkeiten zu überbieten, konnte man außer von aus- gestochenen Augen und abgehackten Händen auch mancherlei von ausgeschnittenen Genitalien hören. Ich habe diese Angaben, soweit Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 2 lg i. Kapitel: Der ■ Geschlechtsdrüsenausf all Usk ihnen nachgehen konnte, in keinem einzigen Falle bestätigt ge- funden, trotzdem ja auch wilde Völkerschaften, denen nian solche Akte mit Vorliehe anhängt, genugsam an- diesem Weltkriege be- teiligt, sind. ' • . • : •• . „ .. Daß aber- solche willkürlichen Verstümmelungen m trü- beren Kriegen - tatsächlich vorgekommen sind, . erwähnte ich ^pben bereits flüchtig. Frauen gegenüber ist die analoge Grausamkeits- bandlung,, über die namentlich aus russischen Prodromen Mitteilun- gen vorliegen,, das Abschneiden der Brüste.. Allen derartigem Erzah- lungen, die sieh aus unscheinbaren Vorkommnissen, etwa Stoß gegen die Testikel oder Mammae und infolgedessen geäußerten Schmerzen lawinenartig steigern, ist mit größter Vorsicht zu. begegnen. Als ein. Beispiel von Geschlechtsdrüsenyerlust durch den Feind bringe ich aus meiner Bildersammlung die bereits anderweitig von mir veröffentlichte Photographie eines italienischen Soldaten, der aus- dem -Fernzug, gegen Abessynien ohne äußere Geschlechtsteile zurückkehrte. Angeblich wurde er verstümmelt, es kann sich aber auch um die Wirkung eines Bajonettstiches oder eines Geschosses handeln. Uns interessieren an ihm vor allem die deutlich wahrnehm- baren Veränderungen andrinloser Menschen : die .Fetteinlagerung an den typischen Stellen, die Brustentwieklung, das eigenartig gries- grämige mißmutige Gesicht, daß das Lächeln verlernt zu haben scheint: die facies anorchistica oder castratica, Erschei- nungen, denen man .noch so oft in den Straßen Stambuls oder auf den Kutschböcken in Bukarest begegnet. (Tafel V.) Übrigens war der Zweck des Hodenraubs im Krieg nicht nur die Schändung und die Vernichtung zweier wichtiger Lebens- güter, dei Fortpflanzungs- und Begattungsmöglichkeit, sondern auch der' mehr oder weniger beabsichtigte Zweck, den Verstümmelten kr iegs dienstunfähig zu machen. Von den Kastraten, die ich gesehen habe, zeigte sich keiner den Anforderungen des F eld - dien st es gewachsen. So legte mir erst kürzlich ein ,38jäbriger Kastrat das Gutachten eines Chirurgen vor, der ihm im Jahre 1901 wegen geschlechtlicher Triebstörung auf heftiges Andrängen doppel- seitig kastriert hatte. Auch dieser. Kollege führte aus, daß er infolge der durch die Operation gesetzten Veränderung im Nervenleben die Fähigkeit Militärdienst zu tun bei dem Attestaten für geschwunden erachte. Vor allem sei der Patient „ungewöhnlich schnell und leicht erschöpft". Ich will aus diesem Feldzug noch kurz über den oben bereits ge- streiften Fall von Hodenverlust berichten, über den Lichten- stern in der Münchner medizinischen Wochenschrift, (vom 6. Mai 1916) ausführliche Mitteilungen gemacht hat. Der Fall betrifft einen 29jährigen Gefreiten, der am 13. Juni 1915 bei einem Sturm durch einen Gewehrschuß in den linken Oberschenkel Hodenverlust im Kriege (vgl. Seite 18 im Text) Tafel V. 12 Der verstümmelte Soldat zeigt in typischer Weise die Behaarung, Fettablagerung und facies anorchistica der Anandriden. Hir Schleid, Sexualpathologie. I. A. Marcus <fc E. Webers Verlag, Bonn. I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 19 verletzt wurde. Der Einschuß befand sich 2 cm oberhalb des äußeren Endes der Genitokruralfalte, der Ausschuß an der Innen- seite des linken Oberschenkels unterhalb der Ansatzstelle der Adduktoren. Das Geschoß war ein Explosivgeschoß, das nach Angabe des Mannes nach dem Austritt aus dem Oberschenkel explodierte und den Hodensack, beide Hoden und die Urethra schwer beschädigte. Der Kranke ging in seinen Unter- stand zurück, blieb dort eine Zeit lang liegen, wurde später auf den Hilfsplatz getragen, verbunden und von da in ein Kriegs- lazarett gebracht. Er bemerkte, daß beim Urinieren der größte Teil des Harns sich durch die Wunde im Hodensack entleerte und nur ein geringer Teil auf normalem Wege ausgeschieden wurde. Im Lazarett wurde eine Zertrümmerung und Gangrän beider Hoden und Verletzung der Urethra festgestellt. Am nächsten Tage wurden wegen hohen Fiebers und drohender Allgemeininfektion beide gangränösen Hoden entfernt. Wenige Tage nach Entfernung der Testikel schwand das Fieber und die Eiterung nahm ab, der Kranke urinierte fast den ganzen Harn durch die perineale Wunde. Es bedarf wohl kaum eines Hin- weises, daß seine sexuelle Libido infolge der Verletzung anfangs stark herabgesetzt war, immerhin hatte er in den ersten 2 Wochen bei erotischen Gesprächen seiner Nachbarn zweimal Erektionen. Als er am 7. Juli 1915 in die chirurgische Abteilung des Wiener Lazarettes aufgenommen wurde, ergab sich folgender Befund: »Großer, kraftiger Mann, die inneren Organe sind normal; auffallend ist eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Außenwelt. Am Damm befindet sich eine hand- tellergroße granulierende Wunde, die dem der vorderen Wand beraubten Hodensack entspricht; dieser ist leer, von den Testikeln nirgends ein Rest zu finden; in den beiden oberen seitlichen Winkeln der Wunde sieht man die granulierenden Mumpie der beiden ligierten Samenstränge, in der Mitte liegt die Urethra frei in der vorderen Wand eine 1 cm große Lücke. Die Prostata zeigt per rectum untersucht normale Große und normale Konsistenz; der mittels Katheter entleerte Harn ist klar. Zur Schließung der Urethralwunde wird ein Verweilkatheter eingelegt. Im Laufe der näch- sten 14 Tage reinigt sich die Wunde vollkommen und beginnt sich zu epithelisieren; die Fistelöffnung schließt sich, so daß der Katheter entfernt werden kann. Patient steht auf und uriniert auf normalem Wege. Der Kranke zeigt eine entschiedene Teilnahmslosigkeit gegenüber seinen Kameraden wie auch gegen die Vorgänge im Krankenzimmer; er liest nicht und zeigt auch für die Kriegsereignisse kein Interesse. Auf Anfrage gibt er an, absolut keine Libido und keine Erektion mehr zu haben. Die genaue Beobachtung zeigte, daß bis zum 31. August, also durch fast 6 Wochen eine Erektion sich nicht mehr zeigte und daß trotz verschiedener beabsichtigter A n 1 a s s e j e d e L i b i d o f e h 1 1 e. Der Kranke saß meistens bei seinem Bette oder am üenster, aß sehr reichlich, schlief viel und befaßte sich mit nichts Die physischen Folgen des Verlustes beider Hoden mani- festierten sich in einer auffallenden Zunahme des Fettansatzes besonders ausgeprägt am Halse, der dem Kranken einen merk- würdigen stupiden Eindruck verlieh. Die Barthaare, insbe- sondere der Schnurrbart, fielen ganz aus, die Behaarung nahm 2* 2Q i. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall ab am auffallendsten war dies an der Linea alba, die fast haar- tos wurde, so daß die Schamhaare sich horizontal von der Bauch- haut abgrenzten." In Kenntnis der gelungenen Transplantationen Steinachs bei den Säugetieren beschloß nun der leitende Arzt der chirurgischen Abteilung Dr. Robert Lichtenstern, im Verein mit Stei- n ach den Versuch zu machen, durch Transplantation eines gesunden Hodens von einem andern Manne die Folgen des Hoden- verlustes bei dem Soldaten zu beseitigen. Uber die Vornahme der Operation, ihren Verlauf und Erfolg berichtet der Kollege wie folgt: „Es ergab sich die Gelegenheit, von einem 40 Jahre alten Manne, der eine links- seitige kongenitale Hernie mit Kryptorchismus hatte und wegen häufiger schmerzhafter Einklemmungen des Hodens operiert werden mußte, den Leistenhoden zur Transplan- tation zu erhalten, da ein Herunterziehen des Hodens sich in dem Falle als unmöglich er- wiesen hatte und mit der Entfernung des Hodens ohnehin gerechnet werden mußte. Eine vorher exakt vorgenommene klinische Untersuchung wie Prüfung nach Wassermann und P i r q u e t ergaben ein gesundheitlich intaktes Individuum. Der von S t e i n a c h mikroskopisch untersuchte Leistenhoden, derhauptsach- lich aus interstitieller Substanz bestand, war für den Versuch einer Implantation besonders geeignet. ». :. Zuerst wurde der kryptorchistische Patient narkotisiert, die Hernie in typischer Weise nach B a s s i n i geschlossen und der Testikel im Zusammenhang mit seinen Ge- fäßen so isoliert, daß eine rasche Abtragung möglich war. Inzwischen war der andere Patient narkotisiert und vorbereitet. Nun wurde bei diesem in der rechten Ingumal- gegend ein Hautschnitt wie zu einer Herniotomie gemacht. Bei dem andern Patienten wurde der Hoden abgetragen und in die Hautwunde des zu Implantieren- den gelegt, um die Körpertemperatur zu erhalten, und jetzt wieder rasch die Hernien- operation beendigt. Von dem etwa kleinzwetschengroßen Hoden wurde die Epididymis rese- ziert und dieser in zwei Hälften geschnitten. Nach Freilegung und Spaltung der Faszie des Obliquus externus wurde der Muskel an einer Stelle durch zarte Skarifikationen wund gemacht und die eine Hodenhälfte mit der Wundfläche auf diese Muskelstelle auf- gesetzt. Durch zarte Katgutnähte, die die Albuginea rings an den Muskeln fixierten, und eine Naht, die seitlich den Muskel faßte, dann durch die Kuppe des Hodens ging und wieder einen Teil des Muskels faßte und über der Spitze des Hodens zart ge- knüpft wurde, war ein inniger Kontakt zwischen Hodenwundfläche und dem skarifizierten Muskel hergestellt. Die Faszie wurde nicht genäht, um jeden, die Ernährung des Transplantates störenden Druck auf den Hoden zu vermeiden. Die Hautwunde wurde durch Naht vollkommen geschlossen. Dieselbe Operation wurde auf der andern Seite mitderandern Hodenhälfte ausgeführt. Reaktionsloser Verlauf. In den ersten 24 Stunden wurden fortwährend heiße Tücher auf den Verband gelegt, um eine Hyperämie dieser Partie behufs bestmöglicher Durchblutung zu erzielen. Am 6. September (7 Tage nach der Operation) beobachtete der Kranke in der Frühe vor dem Urinieren eine leichte Erek- tion; in den nächsten Tagen traten die Erektionen mit ver- stärkter Intensität auf, und zwar sowohl bei Tag als auch bei Nacht. 10 Tage nach der Operation stand der Kranke auf. 14 Tage nach dem Eingriff gab der Kranke freudig erregt an, daß eine Libido wieder dasei, daß er sich ungemein frisch und wohl fühlte; er hatte erotische Träume mit kräftigen Erektionen. Das Beisammensein mit weiblichen Individuen löste Libido wie Erektionen aus. Um sich zu überzeugen, ob ein Koitus ausführbar sei, wurde I. Kapitel: Der GeschlechtsdrüseDausfall 21 dem Kranken 4 Wochen nach dem Eingriff ein Urlaub in seine Heimat (er ist Bauer in einem kleinen Orte) gegeben. Nach seiner Rückkehr gab er an, sich geschlecht- lich sehr kräftig zu fühlen, einige Male koitiert zu haben, wobei er eine Ejakulation einer geringen Menge grauen Schleims mit normaler Empfindung gehabt habe. Das Aussehen des Kranken war ein sehr gutes, er zeigte eine auffallende Hebung seiner Intelligenz, sein Gesichtsausdruck war ein frischer, der Fettansatz am Halse im Schwinden, am schütteren Bart eine deutliche Zunahme zu bemerken, Der eingeheilte implantierte kryptorchische Hoden war mittelzwetschengroß. Die histologische Untersuchung ergab Atrophie der Samenkanälchen und völliges Verschwinden der Samenzellen. Die interstitielle Substanz, also die P u b e r t ä t s d r ü s e , war hingegen mächtig ge- wuchert und bestand aus Lagern von aneinandergehäuften Leydigschen Zellen normaler Struktur. Die weitere Beobachtung des Patienten bis heute, also durch fast 9 Monate — von Steinach selbst besitze ich noch briefliche Bestä- tigungen aus späterer Zeit — hat gezeigt, daß alle physischen und psy- chischen Merkmale des H o d e n v e r 1 u s t e s sich z u r ü c k g e b i 1 d e t haben. Seine Intelligenz ist in auffallender Weise gegenüber der Zeit vor der Operation gehoben. Sein geschlechtliches Leben ist normal, er hat die Absicht zu heiraten. Die mikroskopische Untersuchung des Ejakulates, das aus etwa 3 — 4 Tropfen ' glasigen Sekretes besteht, ergab reines Prostatasekre t." Im allgemeinen haben ja die Einpflanzungen von Drüsen mit innerer Sekretion nicht gehalten, was man nach tierexperi- mentellen Versuchen von ihnen erhoffte; gewöhnlich ging ihre Tätigkeit über kurz oder lang durch bindegewebige Veränderungen des Drüsenkörpers zugrunde, doch scheint die Steinachsehe Methode der Überpflanzung vor den bisherigen den Vorzug zu verdienen. Jedenfalls ist ihr Ergebnis schon jetzt von hohem wissenschaft- lichen Wert. Einen ähnlichen Fall wie den eben beschriebenen soll übrigens der amerikanische Arzt Lepinasse in einer amerikanischen Zeit- schrift (dem Journal Am. soc. d. assoc. 1913) veröffentlicht haben. Es war ihm gelungen, bei einem Manne, der durch eine Verletzung beide Hoden verloren hatte, durch Implantation von Hodenstück- chen in die Musculi recti die geschlechtliche Funktion wieder zu erwecken, deren Bestehen er dann durch zwei Jahre beobachten konnte. Ich füge diesen Fällen, die sich auf Geschlechtsdrüsen- ausfall im 2 0. und 3 0. Lebensjahr beziehen, nun noch die lehrreiche Schilderung eines von mir bobachteten Spät- kastraten an (Tafel VI): C. ist 49 Jahre alt, Kaufmann. Vor 3 Jahren veranlaßte er einen Chirurgen, ihm beide Hoden herauszunehmen, indem er kate- gorisch erklärte, er würde, falls der Arzt den erbetenen Eingriff verweigerte, Selbstmord begehen. Der Grund seines Verlangens sei „eine unselige Leidensehaft, die er nicht unterdrücken könne"; es zöge ihn nämlich zu ganz schmutzigen, obdachlosen Leuten hin, 22 I. Kapitel: Der Gescklechtsdrüsenausiail mit denen er in Parks Onanie treibe. Zweimal sei er bereits dabei in Anlagen ertappt worden und wegen Erregung öffentlichen Ärger- nisses mit Gefängnis bestraft worden. C. stammt aus einer frommen Familie und ist selbst sehr religiös, aber „weder Beten, noch Beich- ten, nicht Gelübde und Kasteiungen hätten ihn von der furcht- baren Besessenheit erlösen können"; deshalb bliebe ihm nur dieser Weg „als einzige Hoffnung und letztes Rettungsmittel". Der Chirurg, an den C. sich wandte, setzte ihm auseinander, „daß die Erfolge dieser Operation bei derartigen Störungen noch unsicherer seien, als die der Hypnose," allerdings übe die Kastration selbst auch einen suggestiven Einfluß aus. Trotz dieser Auf- klärung und der wiederholten Abmahnung der Krankenhausärzte ließ C. nicht von seinem Drängen ab, immer aufs neue versichernd, daß, wenn man ihn nicht „aus Erbarmen operiere, er bestimmt in den Tod gehen würde". In 'dem ärztlichen Krankenbericht heißt es: „Eine weitere Verweigerung der , Kastration würde C. bei seiner damaligen; seelischen Gemütsverfassung zum Selbstmord getrieben haben." Darauf wurden, nachdem C. einen Bevers unterschrieben hatte, bei dem körperlich gesunden kräftigen Manne beide Hoden aus dem Skrotum herausgenommen, und zwar in stationärer Behand- lung, aus der C. 12 Tage später nach Heilung der Schnittwunden entlassen wurde. Als C. mich drei Jahre nach diesem Eingriff aufsuchte, weil ich -mich- in Sachen eines noch von früher her gegen ihn schwe- benden Verfahrens gutachtlich über ihn äußern sollte, stellte ich folgenden Befund fest: C. ist' bei mittlerer Größe 186 Pfund schwer. Er gibt an, nach der Kastration viel dicker geworden zu sein. Besonders starke Fett- ;il)lagerungen finden sich in der Unterbauch- und Hüftgegend, so- wie über den Brüsten, ohne daß man indes von Weibbrüstigkeit (Gynäkomastie) sprechen könnte.; Die Haut schimmert gelblich wächsern, ist stellenweise leichenf arben und fast glatt. Haare, die an der Brust reichlich vorhanden waren, sind nach der Operation n a h e z u völlig geschwunden, ebenso ist es am Oberschenkel. Die vor der Operation abrasierten Schamhaare sind nur ganz s p ä r 1 i c h in weißer Farbe wiedergekommen. Auch der Bartwuchs ist bedeutend geringer geworden. Die Stimme ist sehr hoch, soll es aber auchschön vor der Kastration gewesen sein. Das Becken ist sehr breit, war aber ebenfalls schon vor der : Operation so. Muskelkraft ist mäßig; man bemerkt fibrilläres Zucken. Die Reflexe sind ge- steigert. Das Membrüm hat sich nicht verändert; es ist meist in die Skrolalhaut eingezogen. An dieser sieht man auf beiden Seiten die gut verheilten Schnittnarben.. Das leere Skrotum hebt sich wulstartig nur wenig von der Umgebung ab. Das Glied erigiert sich zeitweise, doch ohne geschlechtliche Erregung; beispielsweise I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 23 wacht C. früh durch den Druck der gefüllten Harnblase häufig mit Erektionen auf. Der Geschlechtstrieb, von dem C. früher immer gepeinigt wurde, ist „wie erloschen"; er sei jetzt ganz kalt. An den Personen, bei deren Anblick er früher in eine so heftige sinnliche Erregung ge- raten sei, ginge er jetzt „ganz ruhig" vorüber. Es käme ihm zwar, wenn er ihnen begegne, häufig der Gedanke, was er früher in gleicher Lage ausgestanden haben würde. Doch sei er jetzt voll- kommen beherrscht und ohne Bedürfnis, sich ihnen zu nähern oder gar mit ihnen zu verkehren. Er könne sich nicht glücklich genug preisen, daß er durch die Operation nun endlich „frei" geworden sei. In einem späteren Briefe von C. heißt es: „Raten Sie ruhig, lieber Herr Doktor, denen, die von dem Leid befreit sein wollen, zur Kastration; oft wenn ich durch die Stadt gehe und ich denke an mein früheres Leben, dann werde ich so überwältigt, daß mir die Tränen in die Augen kommen, früher gebunden an einen furcht- baren Bann und jetzt so sicher geborgen." C. zeigt eine erhebliche Affekterregbarkeit; er weint häufig, bricht aber auch leicht in fröhliches Lachen aus; beides, Weinen und Lachen, nimmt nicht selten einen krampfartigen Charakter an. Er ist sehr gutmütig, gefällig, arbeitsam, lebt sehr zurückgezogen und geht täglich in die Kirche. Gedächtnis und Intelligenz sind gut und haben gegen früher keine Abnahme erfahren. C. lebt bei einer älteren Schwester, deren Mann infolge eines Unfalls gelähmt ist. Er ist der Schwester, an der er sehr hängt, in der Wirtschaft und der Pflege des Kranken sehr behilflich. Ich fragte die Schwester, die mit dem Schicksal ihres Bruders vertraut ist, welche Veränderungen sie nach dem Eingriffe an ihm wahr- genommen hätte. Ihre Antwort ist so charakteristisch, daß ich sie im Wortlaut wiedergeben will. „In seinem Aussehen habe ich nur bemerkt, daß er gleich nach der Operation sehr fett wurde, ohne daß er mehr aß; in seinem Wesen hat er sich sehr verändert, er ist nicht mehr so ruppig wie früher, auch nicht so heftig und reiz- bar. Er ist jetzt ganz sanftmütig geworden und immer abends zu Hause, während es ihn früher immer nach draußen trieb. Nur ist er oft so traurig und still. Wenn ich ihn dann frage: ,Fritz, was ist dir?' sagt er nur: ,mir ist so hohl, so leer'. Als neulich ein Soldat aus dem Felde bei uns war und das Lied von Radecke ,Aus der Jugendzeit' sang, warf Fritz sich bei der Stelle: ,o, wie liegt so weit, was mein einst war', auf das Sofa und weinte bitterlich. Wir konnten ihn gar nicht beruhigen." Aus den hier beschriebenen Kastratenfällen erhellt, daß die Entfernung der Geschlechtsdrüsen in der Tat wohl geeignet ist, den Geschlechtstrieb herabzusetzen, ja unter Um- ständen völlig zum Verschwinden zu bringen. Es ist dieser 24 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall früher vielfach bestrittene Erfahrungssatz für die therapeutische Bewertung der Kastration natürlich von hohem Belang. Aller- dings muß sogleich hinzugefügt werden, daß dieser Feststellung eine allgemeine Gültigkeit nicht innewohnt; denn es liegen eine ganze Anzahl verbürgter Mitteilungen vor, nach denen sexuelle Bedürfnisse bei Kastraten verbunden mit potentia coeundi (natürlich nicht generandi11) außer Zweifel gestellt sind. Die Erektionsfähigkeit erleidet überhaupt, wie auch die Fälle B. und C. bestätigt haben, eine verhältnismäßig nur geringe Ein- buße. Über sexuelle Exzesse ist sowohl von Gewährsmännern berichtet worden, die sich mit den Eunuchen in der Türkei, in Ägypten, Persien und China beschäftigt haben, als auch von denen, welche die Skopzensekte studiert haben. Soll man doch sogar in römischen Bordellen früher zur Befriedigung von Frauen, die vor Befruchtung Furcht hatten, Kastraten gehalten haben. Wie erklärt sich wohl dieses verschiedene Verhalten des Geschlechtstriebes nach dem angeborenen oder erworbenen Ausfall der Geschlechtsdrüsen? Türkische Ärzte, mit denen ich einmal in Konstantinopel über den Gegenstand sprach, meinten, daß die ge- schlechtlich erregbaren Eunuchen entweder Kryptorchisten seien, bei denen ein Hoden, als sie verschnitten wurden, noch über dem Leistenring saß bzw. beim Schnitt nach oben auswich, oder soge- nannte Hämmlinge. Es gibt nämlich hinsichtlich der Technik von alters her drei Arten von Kastraten, erstens die Ganzverschnit- tenen, bei denen das Skrotum, samt dem Membrum virile ent- fernt wird (diese Kastraten leiden im Orient vielfach an Zystitis und Nephritis, da trotz peinlicher Sauberkeit nicht selten Infektions- keime in die unverschlossene Harnröhrenmündung eindringen), zweitens die den antiken Spadones entsprechenden Halb ver- schnittenen, denen nur das Skrotum mit den Testikeln ge- nommen wird. Diese werden entweder aus dem geöffneten Hoden- behälter herausgelöst, oder mit diesem zusammen fortgeschnitten. Die dritte Gruppe sind die Thibii oder Hämmlinge, die soge- nannten „Burmisck"-Eunuchen, bei denen die Hoden in frühester Kindheit zwischen Steinen zerquetscht oder zerhämmert werden. Die Erklärung islamitischer Kollegen, daß bei erhaltener sexu- eller Libido noch irgendwo im Körper verstecktes Hoden- parenchym vorhanden sein müsse, hat gewiß manches für sich; doch darf nicht übersehen werden, daß die im Blute krei- 11) Gänzlich ausgeschlossen ist auch diese nicht; so soll nach der Überlieferung die Mutter des Aristoteles die Tochter eines Kastraten gewesen sein. Man muß annehmen, daß in solchen Fällen die Samenbläschen noch lebende Samenzellen beherbergten. I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 25 sende und die Gehirnzellen speisende erotisierende Sub- stanz nicht ausschließlich aus den interstitiellen Hodenzellen stammen dürfte, sondern noch aus zwei anderen Drüsengruppen, die mit der inneren Testikelsekretion in engem Zusammenhang stehen. Die eine Gruppe setzt sich aus den Komponenten des Sperma zusammen, das bekanntlich nicht nur aus den Spermato- zoen, den Keimzellen, besteht, sondern auch aus einer Zwischen- flüssigkeit, die vor allem aus der Prostata, sowie in ge- ringerem Maße aus den Cowperschen Drüsen und den Drüsen der Samenbläschen stammend, den Spermatozoen beigemischt wird. Diese Sekrete sondern sich auch bereits vor der Eeife, wenn schon in sehr winzigen Mengen, ab; sehr viel stärker, wenn Keimzellen produ- ziert werden, am stärksten bei sexueller Erregung, wo sie sich oft ohne Beimengung von Keimzellen nach außen ergießen. Nach Entfernung der Hoden atrophieren alle diese Drü- sen in hohem Grade, sie stellen aber, namentlich wenn sie bereits einmal in Funktion getreten waren, ihre Saftbildung und Ab- sonderung nicht mehr völlig ein. Die zweite hier in Betracht kommende endokrineGruppe enthält die Absonderungen anderer Drüsen des großen poly- glandulären Systems, vor allem Sekrete der Schilddrüse, Thymusdrüse und besonders der Hypophyse, so daß es sich bei der chemischen Substanz, welche die im Sexualzentrum ruhenden Kräfte lebendig macht, um einen recht kompliziert zusammen- gesetzten Stoff handeln dürfte. Ganz ähnlich wie bei dem männlichen Geschlecht zeigt auch bei dem weiblichen der Geschlechtstrieb nach der Entfernung der Keimstöcke kein einheitliches Verhalten. In der Mehrzahl der Fälle geht sowohl die L u s t z u m Verkehr (Libido), als die L u s t i m Verkehr (Orgasmus) sehr stark zurück. Nicht selten aber erhält sich beides auf früherer Höhe, so bei zwei von mir beobachteten Mäd- chen, von denen mich die eine sechs, die andere neun Jahre nach stattgefundener Ovarienexst'irpation konsultierten. Sogar Fälle von gesteigerter Libido nach Eierstocksausfall sind veröffent- licht worden; so zitiert Loewenfeld12) einen Bericht von Barrus, der bei der Sektion einer an periodischer Manie leidenden Frau, die heftig masturbierte und sich auch auf außerehelichen Ver- kehr einließ, vollkommen kongenitalen Mangel von Uterus und Ovarien fand. 12) Hofrat Dr. L. L ö w e n f e 1 d : Die sexuelle Konstitution und andere Sexual- ime. Wiesbaden. Bergmann. 26 Im übrigen geben die Ausfallserscheinungen, welche man nach Entfernung der Ovarien gefunden hat, einer, nachdem He gar sie im Jahre 1872 zum ersten Male vornahm, sehr häufig ausgeführten Operation, ein gutes Bild von der vielseitigen nach innen gerich- teten Wirksamkeit dieser Organe. Vielfach hat man bei den kastrier- ten Frauen nur den Eindruck eines vorzeitigen Klimakteriums, ent- sprechend der dem Klimakterium und der Kastration gemeinsamen Funktionseinstellung der Eierstöcke. Im einzelnen hat man folgende Ausfälle, Rückbildungen und Veränderungen beobachtet, dei deren mit unseren eigenen Beobachtungen übereinstimmender Schilderung wir die übersichtliche Literaturzusammenstellung in dem Werk von T a n d 1 e r und Groß13) zugrunde legen: a) Mit der ausbleibenden Eiabstoßung erlischt die Menstruation, ebenso auch die Menstruationswelle, zu der die Molimina menstrualia, wie Schwankungen in Blutdruck, Puls, Kor- pertemperatur, Muskelkraft gehören. b) Die subsidiären Genitalorgane bilden sich zurück. Martin14) gibt in dem Aufsatz: „Kastration der Frauen" folgende Schilderung: „Der Uterus wird kleiner, hart. Die Portio verwandelt sich in ein kleines Wülstchen, der Muttermund wird eng; das Flimmerepithel des Uterus und der Tuben schwindet. Das Ligamentum latum atrophiert unter Rückbildung seiner Gefäße w i e im physiologischen Klimakterium. Es tritt Fettschwund oder Fettansatz in dem Beckenboden, Schrumpfung der Scheide mit Verklebung ihres Lumens, Colpitis adhaesiva, Klaffen des Introitus, häufig mit Prolaps der eingetrockneten Scheidenwandungen ein." c) DieBeckenmaßeverkürzensich. Keppler15) fand bei den von ihm operierten Frauen regelmäßig eine Verkürzung der Konjugata, die bei den jüngsten 2—3 cm betrug. d) Die Stimme kastrierter Frauen wird meist rauher, tiefer, stärker, „männlicher". Bottermund schreibt in seinem Aufsatz: Über die Beziehungen der weiblichen Sexualorgane zu den oberen Luftwegen10): „Während beim männlichen Geschlechte eine knabenhafte hohe Stimmlage der Entfernung der Hoden folgt, ist beim Weibe ein Tieferwerden der Stimmlage und Annäherung an den männlichen Stimmcharakter beobachtet." e) Die Haut kastrierter Frauen wird im allgemeinen weißer, die Pigmentation des Warzenhof es, der Perineal- und Anal- region schwindet, ebenso hellen sich abnorme Pigmentbildungen und früher vorhandene Chloasmen auf. i3) Loc. cit. S. 52 ff. n) In Eulenburgs Real-Enzyklopädie. i5) Keppler: Das Geschlechtsleben des Weibes. Wien. med. Woch. 1891. i8) Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. 1896. L Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall 27 f) Dagegen kommt es zu unweiblicher Haarbildung; be- sonders häufig ist das Auftreten von Barthaar und Brusthaar (in der Umgebung der Mammae) beobachtet worden 17). g) Der Fettansatz vermehrt sich nach der Kastration viel- fach ganz erheblich. Glaeveeke18) stellte bei den von ihm ope- rierten Personen beträchtliche Zunahme des Körpergewichts in 57,50/0, bedeutende Fettaufspeicherung in 42,5°/0 der Fälle fest. Teil- weise hängt die Fettersparnis mit dem Sinken des Sauerstoffver- brauchs zusammen, der sich nach Entfernung der Eierstöcke bis auf 20°/o gegen früher verringern soll19). h) Fast stets verändern sieh nach der Kastration die Brüste, und zwar entweder dergestalt, daß sie sich verkleinern, flacher und härter werden, wobei der eigentliche Drüsenkörper merklich atro- phiert, oder aber, es findet ein Anschwellen der Brüste mit Milch- sekretion statt. Solche Fälle sind von Theodor Landau20), Grünbaum21) und anderen Gynäkologen ziemlich häufig beob- achtet und beschrieben worden. Grünbaum konnte unter 21 Fällen 14mal nach Entfernung der Eierstöcke eine entweder kolostrum- artige oder milchähnliche Absonderung der Mammae nachweisen. i) Endlich sind auch vielfach nervöseundpsychischeBe- schwerden angeführt worden, die bei Frauen post castrationem auftreten. Im wesentlichen entsprechen diese Erscheinungen denen, die wir in einem der nächsten Kapitel bei den klimakterischen Stö- rungen erwähnen werden. Liesau22) hebt auf Grund von 50 exakt beobachteten Fällen namentlich hervor: „Wallungen, die sich in einem blitzschnell von unten zum Kopf aufsteigenden Hitzegefühl kundgeben, wobei es gleichzeitig zum Erröten der Haut an den be- treffenden Körperteilen, besonders im Gesicht, kommt." Über den Einfluß der Kastration auf den G e s c h 1 e c h t s t r i e b der Frauen war bereits oben die Rede. Sowohl beim weiblichen, wie beim männlichen Geschlecht hängt dielntensitätundExtensitätder Ausfallserscheinungen in hohem Grade von dem Zeitpunkt ab, in dem die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen aussetzte. Je früher es geschah, um so mehr nähern w u Vßgl'c-U'.oa' Herff: Verhandlungen der deutschen gynäkologischen Gesellschaft Wien H. o b. 482. Referat im Jahresbericht über die Fortschritte der Geburtshilfe und Gynäkologie 1895, S. 547. ") Glaeveeke: Körperliche und geistige Veränderungen im Archiv für Gynä- kologie Nr. 35. J 19) L o e w y und R i c h t e r in Du Bois' Archiv Suppl. 1889, S. 174. iqoa xt L0a0ndau: über eini£e Anomalien der Brustdrüsensekretion. D. med. Woch. loau, Nr. 33. 21) Grünbaum: Milchsekretion nach Kastration. D. med. Woch. 1907. 22) L i e s a u : Der Einfluß der Kastration auf den weiblichen Organismus Frei- burg i. B. Inaug.-Diss. 1896. 28 I. Kapitel: Der Geschlechtsdrüsenausfall sieh die Wirkungen der erworbenen Aplasie den Erscheinungen, die wir hei der angehorenen Unterentwicklung beschrieben haben; in je späterem Lebensalter der Ausfall eintritt, um so un- deutlicher und unbestimmter werden die körperlichen und seelischen Folgen, ohne allerdings jemals völlig auszubleiben. Wir können von diesen Gesichtspunkten den präpubischen, pubischen und postpubisch en Geschlechtsdrüsen- ausfall unterscheiden. II. KAPITEL Der Infantilismus Inhalt: Stehenbleiben des Organismus auf kindlicher Entwicklungsstufe — Infantiles Gepräge von Riesen (Infantilismus giganticus) — Die vier Grundformen des Infantilismus (der genitale, somatische, psy.chische und psychosezueile Infantilismus) — Parallelismus zwischen den verschiedenen Infantilismen — Genitaler Infantilismus und Kryptorchismus — Begutach- tung eines Falles von Kryptorchismus mit Schwachsinn und Pädophiüe — Pathologische Anatomie und Physiologie von Bauch- und Leistenhoden — Hodenreten- t i o n und geistiger Infantilismus — Somatische Jugendlichkeit — Zwergwuchs — Allgemeiner und partieller Infantilismus — Psychischer Stillstand auf frühkindlicher und spätkindlicher Stufe (infantile und juvenile Form des psychischen Infantilismus) — Differentialdiagnose zwischen Infantilismus, Imbezillität und Idiotismus — Beschreibung eines Falles von Psychoinfanti- lismus — Infantilismus und pueriler Zisvestitismus — Gutachten über einen pädophilen Zisvestiten — Psychosezueller Infantilismus — Das Kind als sexuelle Reizquelle — Infantile Gerontophilie — Infantilis- mus und Masochismus — Schuljungen-Empfindungen Erwachsener — Mammabriefe und „Baby"-Phantasien — Symptomatologie derPädophiliaerotica — Schilderung von pädophilen Infantilen — Begutachtung eines juvenilen Infantilen — senildemente Kinderschänder — Infantilismus senilis — Begutachtung eines senilen Infantilen — Psychopathische Kinderschänder — Infantilis- mus alcoholicus — Fall von Alkoholismus und Inzest — Infantilismus und Exhibitionismus — Begutachtung eines infantilen Exhibitio- nisten — Notwendigkeit der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen in jedem Kriminalfall aus § 176 RStGB. Verzeichnis der Abbildungen: Tafel VII. Geschlechtsteile eines infantilen Kryptorchisten, der wegen Vergehens an einem Schulmädchen 4 Jahre Zuchthaus erhielt. — Tafel VIII. Schnitte durch kryptorche Hoden. — Tafel IX. Zisvestitismus eines psychosexuellen Infantilen. — Tafel X. Probe aus der Bildersammlung eines infantilen Masochisten (psychischer und psycho- sexueller Infantilismus). — Tafel XI. Probe aus der Bildersammlung eines infan- tilen Fetisch isten und Exhibitionisten (psychischer und psychosexueller In- fantilismus). Bereits im vorigen Kapitel war im Zusamnimenhang mit dem Geschlechtsdrüsenausfall vom Infantilismus die Eede. Wir er- wähnten dort, daß sowohl beim männlichen, als weiblichen Ge- schlecht nicht selten mit der Aplasie und Hypoplasie der Testikel oder Ovarien ein Stehenbleiben des Organismus auf 30 II. Kapitel: Der Infantilismus kindlicher Entwicklungsstufe verbunden ist. Es wurde auch be- merkt, daß der Intellekt in solchen Fällen keineswegs immer eine Schwächung, sondern ebenso oft eine dem Lebensalter ent- sprechende, ja nicht selten eine darüber hinausgehende, wenn auch häufig nur einseitige Stärke aufweist. Hinsichtlich des Geschlechtstriebes ist bei diesen Zu- ständen ein dreifaches Verhalten beobachtet worden. Entweder er fehlt völlig, oder er ist in mäßigem Grade auf die Kohabitation gerichtet, die aber dann oft wegen organischer Fehler (hauptsächlich wegen Gliedkleinheit und Aspermie) nicht oder nur mangelhaft ausgeführt werden kann. Die dritte Möglichkeit ist, daß der Ge- schlechtstrieb überhaupt nicht nach dem Koitus mit erwachsenen Personen verlangt, sondern andere, und zwar vielfach spiele- rische Sexualhandlungen mit geschlechtsunreifen Personen anstrebt. Auch in körperlicher Beziehung ist keineswegs immer ein Parallelismus zwischen infantiler Beschaffenheit der Genital- organe und dem übrigen Organismus vorhanden. Es findet sich so- gar bei genitaler Verkümmerung nicht selten Kiesenwuchs vor, so daß man von einem Infantilismus giganticus oder auch von einem Gigantismus inf antilis gesprochen hat. Brissaud meint sogar, daß jeder Riese ein infantiles Gepräge hat und auch Anton stellt Riesenwuchs mit geringer Entwicklung des Genitales und kind- licher Geistesverfassung als eine Trias zusammen. Die gemeinsame Ursache dieses Symptomenkomplexes dürfte in einer durch Erkran- kung der Hypophyse bewirkten inneren Sekretionsanomalie zu suchen sein. Ich selbst fand bei zwei der größten Riesen, die sich im Berliner Panoptikum zur Schau stellten und die ich persönlich zu untersuchen Gelegenheit hatte, einem russischen und schottischen, den ganzen Genitalapparat von präpubischer Be- schaffenheit. Umgekehrt findet man übrigens bei kleinen Men- schen, namentlich Kretins, nicht selten auffallend große Genitalien. Legen wir die Definition von L a s e g u e zugrunde, welcher den Infantilismus als eine Hemmungsbildung bezeichnete, die durch die Fortdauer der physischen und seelischen Merkmale der Kindheit über die Reifezeit hinaus charakterisiert ist, so können wir entsprechend unserer Einteilung der Geschlechtsunter- schiede vier Grundformen unterscheiden, die einzeln für sich oder auch verbunden miteinander vorkommen, es sind I. Der genitale Infantilismus, II. Der somatische Infantilismus, III. Der psychische Infantilismus, IV. Der psychosexuelle Infantilismus. II. Kapitel: Der Infantilismus 31 Der genitale Infantilismus ist gekennzeichnet durch ein mehr oder weniger starkes Zurückbleiben der Genitalien auf kind- licher Stufe. Der Penis gleicht dem eines geschlechtsunreifen Kna- ben, nicht selten dem eines Neugeborenen. Der Hodenbehälter ist in einigen Fällen überhaupt nicht vorhanden, in anderen klein, er enthält entweder zwei kindliche Hoden, oder nur einen (Monor- chismus) oder auch keinen, indem das normale Herabsteigen des Hodens durch den Leistenkanal aus der Leibeshöhle in das Skrotum auf einer oder auf beiden Seiten unterblieben ist. In dieser Störung, dem Kryptorchismus, haben wir eine der wichtigsten infantilen Genitalerscheinungen zu erblicken. Dabei ist zu bemerken, daß auch die infantilen Hemmungsbildungen an den Genitalorganen keineswegs immer parallel laufen. Es kann beispielsweise das männliche Glied recht groß sein und dabei dochdoppelseitigerKryptorchismus mit völliger Samen- losigkeit bestehen (Tafel VII). Ich hebe dies besonders hervor, weil in einem Falle, den ich zum Zwecke eines Wiederaufnahmeverfahrens zu begutachten hatte, der Vorgutachter gemeint hatte: „Ein Mann, dessen Geschlechtsglied so gut entwickelt sei, müsse geschlechtlich als völlig normal angesehen werden." Daß doppelseitiger Kryptorchismus bestand, war von dem Herrn Kollegen nicht beachtet oder bemerkt worden. Eine mikroskopische Untersuchung des Samens, die, als wir sie vornahmen, vollkommene Azoospermie ergab, hatte über- haupt nicht stattgefunden. Der Angeklagte, ein Dorfschullehrer, der kleinen Mädchen, Schülerinnen, an den Genitalien „gespielt" hatte, wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, die er auch zum größten Teile verbüßte. Trotzdem mehrere Psychiater bei D. nach seiner Entl assung neben genitalem Infantilismus, psychischen und psycho- sexuellen Infantilismus feststellten, war ein Wiederaufnahmever- fahren bisher nicht zu erwirken. Mit Kücksicht auf die prinzipielle Bedeutung des sehr typischen Falles von pädophilem Infan- tilismus seien aus dem von mir und Dr. Burchard abge- gebenen Gutachten die hauptsächlichsten Stellen hier wiedergegebea: Von den Angehörigen des früheren Lehrers D., geboren den 1. Oktober 1855 zu , sind wir ersucht, ein sachverständiges Gutachten darüber abzugeben, inwieweit bei demselben zur Zeit krankhafte Störungen der Geistestätigkeit vorliegen, ferner, inwieweit diese bereits zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlungen bestanden haben, welche im Jahre 1908 zu seiner Verurteilung führten, und ob, beziehungsweise in welchem Grade infolge dieser krankhaften Störungen der Geistestätigkeit seine freie Willensbestimmung damals im Sinne des § 51 StGB, ausgeschlossen war. Wir haben Herrn D. dieserhalb mehrere Monate hindurch gemeinsam beobachtet, wiederholt eingehend untersucht und exploriert und bei seinen Angehörigen und Be- kannten Erkundigungen über sein Verhalten, seine Eigenarten und sein Vorleben ein- gezogen. Nachdem wir uns auf Grund dieser Unterlagen ein klares, eindeutiges Urteil über den Geisteszustand des Herrn D. gebildet haben, geben wir unser Gutachten im folgenden ab: 32 Vorgeschichte: Die Eltern des Herrn D. entstammten sehr verschiedenen Gesellschaftsschichten, der Vater, Dorfschullehrer, einer Bauernfamilie, die Mutter, Tochter eines adligen Majors, aristokratischen Kreisen. Nach dem Tode des Groß- vaters mütterlicherseits hatte sich die Großmutter nicht mehr um ihre Kinder ge- kümmert und sie der Pflege fremder Leute überlassen. Der Vater des D. soll ein eigentümlicher, ungewöhnlich jähzorniger Mann ge- wesen sein. Er wurde einmal wegen Mißhandlung eines Schulkindes bestraft; es ging von ihm auch das Gerücht, daß er sich mit Kindern geschlechtlich zu schaffen machte. Doch fehlen positive Anhaltspunkte für diese Annahme. Von den acht Geschwistern D.s zeigen zwei Brüder Eigentümlichkeiten in psy- chischer Hinsicht, der eine soll ungewöhnlich schwach beanlagt sein, so daß er in der ganzen Gegend als „Trottel" gilt, der andere ist wegen seines geradezu krankhaften Geizes bekannt, der sich in der unsinnigsten und absonderlichsten Weise äußert. Ein dritter Bruder leidet — ebenso wie D. selbst — an einer Mißbildung der Genitalien. D. war ein schwächliches, aber nicht gerade krankes Kind, das eine Reihe neuro- pathischer Züge zeigte, unter denen am bemerkenswertesten ist, daß er bis zum vierzehnten Lebensjahre das Bett näßte. Er lernte in der Schule leidlich, versagte nur damals schon völlig im Rechnen. In seinem dreizehnten Jahre warf ihm sein jäh- zorniger Vater einen faustgroßen Feldstein an den Kopf, so daß er schwerverletzt be- sinnungslos zu Boden sank. Seither leidet er häufig an Schwindelanfällen und Kopf- schmerzen. Mit 19 Jahren kam er, nachdem er schon seit seiner Konfirmation unter Aufsicht des Vaters in der Dorfschule unterrichtet hatte, auf die Präparandenanstalt, versagte hier aber so völlig im Rechnen und in der Mathematik, daß ihm der Rat erteilt wurde, die Anstalt zu verlassen, da er die Aufnahmeprüfung für das Seminar doch nicht bestehen würde. Er ging deshalb nach Hause, wurde aber von seinem Vater, der darauf bestand, daß er Lehrer werden sollte, gezwungen, eine andere Präparanden- anstalt zu besuchen, und wurde denn auch, nach einjährigem Aufenthalt in dieser, mit 20^2 Jahren probeweise ins Seminar aufgenommen. Seine Leistungen in demselben waren nach seinen eigenen Angaben und nach Ausweis seiner Zeugnisse kaum mittel- mäßig. Es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren, seine Gedanken verließen ihn häufig, sein Gedächtnis versagte, so daß er oft nicht wußte, was er eben gelesen hatte. Nur durch eisernen Fleiß erreichte er es, daß er nach vierjährigem (anstatt dreijährigem) Besuch des Seminars die . Abgangsprüfung notdürftig bestand. Nachdem er an zwei Stellen kürzere Zeit (5 Monate bzw. l1/^ Jahre) unterrichtet hatte, wurde er Nach- folger des Lehrers in Z., dessen Tochter er geheiratet hatte. In dieser Stellung blieb' er 21 Jahre bis zu seiner Dienstenthebung Ostern 1908. Bezüglich des Geschlechtslebens des D. ermittelten wir, daß er seit dem 15. Jahre onaniert hat, worauf er durch Reibungen des Gliedes beim Trabreiten kam, und im Alter von 24 Jahren zum ersten Male mit einer Prostituierten den Beischlaf ausübte. Er hat gelegentlich vor der Verheiratung und in der Ehe regelmäßig, wenn auch in Zwischenräumen von einigen Wochen, mit seiner Frau koitiert, bis im Alter von etwa 40 Jahren sich ein merkliches Nachlassen der sexuellen Potenz bei ihm bemerkbar machte, so daß er den Beischlaf nur selten auf Verlangen seiner Frau mit immer größerer Mühe vollziehen konnte. In späteren Jahren trat dann, namentlich nach größerer geistiger Anstrengung, schlaflosen Nächten oder irgendwelchen Aul- regungen, ein sehr heftiger Drang bei ihm auf, kleinen Mädchen an den Geschlechtsteilen zu spielen, der zu den Handlungen führte, die seiner Verurteilung zugrunde lagen. Seiner Angabe nach geriet er, wenn die Versuchung im Zusammensein mit den Kindern während des Unterrichts an ihn herantrat, in einen Zustand völliger Benommenheit und handelte, während Denken und Überlegen schwanden, unter dem Einflüsse eines ihm selbst unklaren unwiderstehlichen Zwanges. Seiner Angabe nach hat D. in diesen Jahren außerdem an periodisch, etwa alle vier Wochen, auftretenden, einige Tage anhaltenden ängstlichen Beklemmungen gelitten. Äußere Genitalien eines infantilen Kryptorchisten Tafel VII. Dieses Bild ist die Photographie eines Wachsabdrucks (Moulage), der von den Geschlechtsorganen des wegen Kinderschändung zu vier Jahren Zuchthaus verurteilten kryptorchen Infantilen genommen wurde, der eingehend im Text Seite 31 bis 38 beschrieben ist. Hirschfcld, Sexualpathologie. I. A. Marcus & E. "Webers Verlag, Bonn. II. Kapitel: Der Infantilismus 33 Das sonstige Verhalten des D. vor und während dieser Zeit glauben wir nicht charakteristischer schildern zu können als dadurch, daß wir die diesbezüglichen Angaben der Ehefrau im Wortlaut folgen lassen. Wir tragen keinerlei Bedenken, denselben unbedingten Glauben zu schenken, weil wir uns von dem schlichten, peinlich wahrheits- liebenden und absolut offenen Charakter der Frau hinlänglich durch eigene Beobachtung überzeugen konnten, weil ihre Mitteilungen sich ferner mit den Angaben anderer Personen, die D. kannten, völlig decken und weil die Schilderungen endlich so unverkennbar den Stempel innerer Wahrscheinlichkeit und guter Beobachtung tragen, daß wir aus sachverständiger Überzeugung mit absoluter Bestimmtheit versichern können, daß es für die Frau absolut unmöglich wäre, derart charakteristische, in allen Einzelheiten harmonisch zusammenstimmende Erscheinungen eines pathologischen Zustandsbildes im ganzen oder im einzelnen zu erfinden, oder auch nur auszuschmücken. Die Frau berichtet folgendes: „Während unseres Zusammenlebens ist mir an meinem Mann immer große Zer- streutheit und Gedankenlosigkeit aufgefallen. Ferner war er in seinen Ent- schlüssen ganz unberechenbar, was er heute für richtig hielt, fand er am nächsten Tage ganz falsch und änderte am kommenden Tag seine Meinung schon wieder. Oft blieb er auch fest bei einem Entschluß und im entscheidenden Augenblick tat er doch anders, wie er sich vorgenommen hatte, worüber er sich stets sehr ärgerte. Mitteilungen, die ich ihm zu machen hatte, hörte er oft an, ohne ihren Sinn gefaßt zu haben, so daß er am nächsten Tag fest davon überzeugt war, ich hätte ihm nichts gesagt. So habe ich den Vorwurf hören müssen, ich handle bei wirtschaftlichen Angelegenheiten eigenmächtig, ohne es mit meinem Mann besprochen zu haben, während er in Wirklichkeit nur ver- gessen hatte, daß es so zwischen uns verabredet war. 'Für den Unterricht in der Schule bereitete sich mein Mann immer sehr gewissen- haft vor, hat mir aber oft geklagt, wie nutzlos er oft arbeiten müsse, wenn er ein paar Stunden für eine Lektion präpariert habe, dann wisse er nachher nicht, was er getan, und die ganze Arbeit sei vergeblich gewesen. Er ließ sich dann am Morgen früh wecken, denn er sagte, dann sei sein Geist frischer und er könne mit mehr Erfolg arbeiten. Schriftliche Arbeiten anzufertigen wurde ihm besonders schwer. Bei Kon- ferenzarbeiten ließ er sich von seinen Kollegen helfen, aber auch Briefe einfachen Inhalts machten ihm Mühe, da er immer nicht den rechten Ausdruck finden konnte. Damit er nun nicht so viel Zeit darauf verwenden sollte, habe ich ihm dies ganz abgenommen, oder wenn dies nicht ging, dabei geholfen, ebenso beim Ver- fassen der Aufsätze für die Schule, wo es darauf ankam, einfache Ausdrücke zu be- nutzen. Die Hefte der Schüler mußte er, trotzdem er sehr viel Zeit darauf verwandte, meistens zweimal nachsehen, weil sonst immer Fehler stehen blieben. Oft verließen ihn die Gedanken in der Schule auch ganz, so daß er z. B. beim Rechenunterricht zu mir kommen mußte, um sich wieder zurecht helfen zu lassen, was ich sehr unnatürlich fand, da er doch mehr gelernt hat wie ich. Viel schuld an all diesem war wohl, daß er es im Amt ziemlich schwer hatte. Viele Jahre hat er g e g e n 150 K i n d e r allein unter- richten müssen. Da dies alles sehr anstrengend war, wurden seine Nerven immer schlechter. Er klagte viel über Druck im Kopf, so manchmal, wenn er so sehr abgespannt aus der Schule kam, hat er zu mir die Befürchtung ausgesprochen, er würde einmal wahn- sinnig werden. Viele Jahre litt er auch schon an S c h 1 a f 1 o s i g k e i t , hat hiergegen verschiedene Mittel angewandt, die wohl für eine Zeit etwas halfen, nachher war's doch wieder das Alte. Viel hatte er auch mit Schwindelanfällen zu tun, ebenso mit Kreuz- schmerzen. Der Arzt erklärte dies alles für Zufälle nervöser Art, hielt es für dringend notwendig, daß mein Mann längere Zeit Urlaub nehme, weil sonst Schlimmes zu be- turchten sei. Es ist vom Urlaubnehmen aber nicht viel geworden. In unserm persönlichen Verhältnis war mein Mann recht oft sehr verletzend- wenn ich ihm deshalb Vorstellungen machte, sagte er mir immer, ich dürfte ihm das nicht übelnehmen, ich wisse doch, daß er manchmal nicht anders könne, und er meine das nicht so. Ich habe auch wirklich Beweise gehabt dafür, daß er mich wirklich Hirschfeld, Seiualpathologie. I. 3 g4 II. Kapitel: Der Infantilismus lieb hatte, und doch konnte er das rauhe Wesen nicht ablegen. Einmal fand er mich außerordentlich fleißig und sparsam und ein andermal war ich verschwenderisch und unpraktisch. Viel Grund zu Zerwürfnissen gab auch die Neigung meines Mannes allerlei Sachen auszuplaudern, die niemand zu wissen brauchte. Wenn er mit Menschen zu- sammenkam, habe ich vorher ihm immer vorgerechnet, was er alles nicht sagen durfte, für eine kurze Zeit hielt das vor, ich konnte aber nicht immer vorher wissen, was er wohl sagen könnte, nachher sah er dann ganz gut ein, daß er dieses oder jenes nicht hätte sien müssen. In der Schule hat er auch oft erzählt, was nicht dahin gehörte sogar Sachen erzählt, die er wirklich geheim hielt und wo er es sogar mir zur Pflicht gemacht hatte, nicht darüber zu sprechen. So wollte er z. B. nicht, daß wir über unsere Vermögensverhältnisse sprechen sollten, in der Schule aber hat er erzahlt, wie- viel wir hätten und auch wo wir's angelegt hätten. Er hat sich durch das was er in der Schule gesprochen und was nicht dahin gehörte, viele Feinde gemacht. Wenn ich ihn hierauf aufmerksam machte, tat es ihm auch leid, und wünschte er, es lassen zu können. Er sagte dann: Ich kann nicht anders, so war schon mein Vater und so bin ich auch. Wenn ich ihm dann vorhielt, man müsse doch den festen Willen haben, dann jammerte er wieder: Ich habe doch keinen festen Willen, der fehlt mir ja eben. Über unser eheliches Verhältnis kann ich mir eigentlich gar kein Urteil erlauben, weil ich darin keine Erfahrung habe, wie es eigentlich sein soll. Kinderblieben uns versagt. Nach Aussagen zweier Ärzte lag die Schuld an meinem Mann. In letzter Zeit hat er mich vernachlässigt. Ich nahm aber an, dies brächte das zunehmende Alter auch wohl der Gesundheitszustand meines Mannes so mit sich. Ich habe auch gefunden, daß sich mein Mann nur aus Pflichtgefühl mir näherte, er glaubte auch, sich mir gegenüber deshalb entschuldigen zu müssen, er könne doch nicht dafür. Von den Verfehlungen meines Mannes habe ich nicht früher eine Ahnung gehabt, als wie er angezeigt war. Er sagte dann hierüber zu mir, daß er viel in schlaflosen Nächten gekämpft °habe und sich selbst verachtet nm seines Tuns, er habe auch so oft den festen Entschluß gefaßt, es sollte nicht mehr vorkommen, in der Schule nach einigen Unter- richtsstunden sei es dann doch wieder geschehen, und zwar ganz gedankenlos und ohne das Bewußtsein, etwas U n e r 1 a u b t e s zu tun. Ich habe ihn in der Zeit oft des Nachts stöhnen gehört, auf meine Frage, was ihm fehle, erhielt ich aber immer nur die Ant- wort: Ich kann nicht schlafen. Nachdem hat mir mein Mann gesagt, daß es der Ab- scheu vor sich selber gewesen sei, der ihn gequält. Er habe auch manchmal den Vor- satz gefaßt, sich mir anzuvertrauen, damit ich ihm helfe, doch hat er wieder nicht den Mut dazu gehabt, da er fürchtete, er könne mich verlieren, und das schien ihm doch das Schlimmste. Nachdem ich nun dies alles erfahren hatte und mein Mann schon angezeigt war, schien es mir immer, als wenn er noch nicht auf Strafe rechnete, er schien es nicht zu glauben, wenn es ihm gesagt wurde; erst nachdem er verhaftet war, kam es ihm so recht zum Bewußtsein, daß ihn Strafe erwartete. Da ist mir der Gedanke an eine Geistesgestörtheit bei meinem Mann gekommen und habe ich es eigentlich nicht recht begreifen können, wie mir der Gedanke nicht früher gekommen ist, wenn ich an so manche kleine Begebenheit dachte. Es fällt mir noch ein, daß, wenn ich ihm irgend- eine Sache klarmachen wollte, er immer sagte: Nicht so schnell, so schnell kann ich nicht folgen, du mußt es mir klarmachen wie einem kleinen Kinde. Ein andermal haben wir lange Zeit über eine Sache gesprochen, die so leicht verständlich war, kamen aber zu keinem anderen Resultat, als daß mein Mann sagte: ,Ich glaube es dir, weil du's sagst, einsehen kann ich es nicht'." Ergänzend möchten wir noch aus den mündlichen Mitteilungen der Ehefrau an- führen, daß es ihr häufig aufgefallen ist, daß D. an gewissen, bisweilen ganz belang- losen Sachen mit eigensinniger Zähigkeit haften blieb, sie sich absolut nicht aus dem Sinn schlagen konnte und immer wieder darauf zu sprechen kam; daß er ferner viel- fach eine gewisse Neigung zeigte, sich selbst herabzusetzen, kleine Versehen tragisch II. Kapitel: Der Infantilismus 35 zu nehmen und in übertriebenen Selbstbeschuldigungen aufzubauschen. Die Frau hatte oft den Eindruck, als ob er einen förmlichen Genuß jn solchen Selbstvorwürfen fände. Nach den Angaben seiner Kollegen bzw. Vorgesetzten, des Pastors 0., der Ober- lehrer B. und ML, der Lehrer P. und R., soll D. auf sie schon seit 12 Jahren den Eindruck der Geistesschwäche gemacht haben. Sie haben bei ihm wahrgenommen, daß er nicht logisch zu denken vermag, daß er völlig willenlos und unselbständig ist, daß er keine Konferenzarbeit allein, sondern stets nur mit Hilfe der anderen Lehrer machen und eben Gelesenes nicht behalten und wiedergeben konnte. Befund: D. ist ein grazil gebauter, mittelgroßer Mann von schlaffer Muskulatur und zarter, welker Haut, für seine Jahre stark gealtert. Der Gesichtsausdruck ist schüchtern, hilflos und verträumt, der Blick fragend und ausdruckslos. Es besteht hochgradige Kurzsichtigkeit auf beiden Augen. Das Gesicht ist asymmetrisch gebaut. Die Ohrmuscheln sind klein und wenig differenziert, die Ohrläppchen ange- wachsen. Das Haupthaar ist dünn und weich, die Körperbehaarung sehr spärlich. D i e Stimme ist zart und hoch; es besteht ausgesprochene Neigung, in Fisteltönen zu sprechen und zu singen. Der Befund der Brustorgane bietet nichts Besonderes. Der Penis ist normal entwickelt. Beide Hoden sind dagegen in hohem Grade verkümmert oder vielmehr in der Entwicklung zurückgeblieben. Sie liegen auch nicht den normalen Verhältnissen entsprechend im Hodensack, sondern sind in den Leistenkanälen verborgen. Die mikroskopische Untersuchung des Samens ergab das völlige Fehlen von Samenfäden (Azoo- spermie). Reflexe und Gefäßerregbarkeit sind lebhaft; D. errötet leicht. Hände und Füße sind sehr klein. In dem psychischen Bilde fällt zunächst das Affektleben sowohl durch seinen leichten und raschen Wechsel wie durch seine matte Färbung eigenartig auf. Im allgemeinen herrscht eine verzagte, deprimierte Stimmung vor, die aber deutlich die Merkmale einer stumpfenApathieund Teilnahmslosigkeit zeigt. D. kann stunden- lang träumend vor sich hinbrüten und fährt, wenn man ihn anspricht, wie aus tiefem Schlafe auf. Die gewöhnlich bestehende Depression macht bisweilen einer ebenso apa- thischen, man möchte fast sagen blöden Euphorie Platz, die ihm selbst nicht recht klar und kaum bewußt zu sein scheint. Dauernd macht D. den Eindruck, als ob es ihm am liebsten ist, wenn man ihn völlig in Ruhe läßt. Sein Wesen zeigt eine ängst- liche, devote Dienstwilligkeit und erinnert lebhaft an das Verhalten eines braven Schulkindes. Seine Intelligenz steht auf äußerst niedriger Stufe. Zwar verfügt er über eine ganze Reihe auswendig gelernter Begriffe und Kenntnisse, weiß aber mit den- selben nichts Rechtes anzufangen. Für Zeitfragen und wissenschaftliche Betrachtungen fehlt ihm jedes Interesse; was er in der Zeitung liest, kann er nicht behalten. Ein- fache Denk- und Rechenoperationen machen ihm die größten Schwierigkeiten. Die Auf- gabe 12 X 13 beispielsweise beantwortet er nach einer Minute mit 146 und muß auf die richtige Lösung erst gebracht werden. Sein Assoziatipnsvermögen ist äußerst gering. Selbst auf Begriffe aus dem Landleben, die ihm nahe liegen und geläufig sein müßten, findet er nur spärliche und seltsam sprunghafte Assoziationen, so knüpft er an das Wort „Acker" in langen Pausen Sämann . . . Buch . . . Tisch . . . Stock . . . Krücke Die Ergänzung einfacher Gedanken, das Lösen leichtester Rätsel macht ihm die größten Schwierigkeiten. Bei der leichtesten geistigen Anstrengung macht sich nach kurzer Zeit eine hochgradige Abspannung und Ermüdung auch physisch deutlich be- merkbar. Er wird rot im Gesicht, zeigt deutliche Pulsbeschleunigung und gerät in Iranspiration. TVie wir bereits erwähnten, ist seine Merkfähigkeit äußerst gering. Den Inhalt einfachster Lesestücke kann er nur lückenhaft und ohne Hervorhebung des Wesentlichen reproduzieren. Ab§eseheii ™n einer gewissen, in seiner geringen geistigen Regsamkeit wurzelnden Zähigkeit des Willens fehlt ihm jede Energie. Er ist leicht bestimmbar, fügt sich jedem fremden Willen und bekundet in seinem ganzen Handeln die denkbar größte Unselbständigkeit und Hilflosigkeit. Zur Zeit ist er in einer Pianofortefabrik beschäftigt, kann aber nur die leichtesten, rein mechanischen Arbeiten verrichten. 3* 36 Gutachten: D. zeigt gegenwärtig unverkennbar und zweifellos das Bild ho eh- er ad i-en Schwachsinns. Affektleben, Intelligenz und WiUenstatigkeit stehen auf gleich niedrigem Niveau. Es fragt sich nun, wann und wie dieser Zustand entstanden ist, inwieweit er zur Zeit der strafbaren Handlungen bestanden hat und bei der Beurtei- lung derselben in Betracht zu ziehen ist. Es ist nicht ganz auszuschließen, daß gewisse eigenartige Tone und Färbungen des Zustandsbildes durch die langjährige Haft hervorgerufen sind. Das apathische Wesen, das übertrieben devote Verhalten mögen zum Teil darauf zurückzuführen sein. Die wesentlichen und für den Gesamtzustand charakteristischen Erscheinungen sind in- dessen hierdurch nicht zu erklären. Sie wurzeln zweifellos tief in der von Hause aus krankhaften psychischen Persönlichkeit des D., wie sie uns in seltener Übereinstimmung in der Vorgeschichte und dem objektiven Befunde entgegentritt. Die psychischen Erscheinungen lassen in Verbindung mit den charakteristischen körperlichen Merkmalen keinen Zweifel darüber, daß wir es mit einem schwer be- lasteten und degenerierten Menschen zu tun haben. D. ist m seiner psy- chischen Entwicklung niemals über die Kindheit hinausge- kommen. Es besteht bei ihm ein ausgesprochener Infantilismus. Sicher steht dieser im Zusammenhang mit der Entwicklungs- hemmung seiner Geschlechtsorgane. Gegenüber der gutachtlichen Auße- runo- des Herrn Dr. S., der sich dahin geäußert hat, daß „D. mit diesem Geschlechts- glied nicht impotent sein könne" und „daß er geschlechtlich völlig normal sei", müssen wir folgendes feststellen: Größe und Beschaffenheit des Gesehlechtsgliedes sind für die Potenz eines Mannes in keiner Weise ausschlaggebend. Seine ganze geschlechtliche Entwicklung und Individualität ist in erster Linie abhängig von den Keimdrüsen (Hoden), welche durch innere Sekretion dem Körper Säfte zuführen, die das Sexualzentrum _ im Gehirn erst zu seiner Tätigkeit anregen und die körperliche und geistige Geschlechtsreife bedingen. Gerade diese ausschlaggebenden Geschlechtsorgane aber sind bei D. in hohem Maße verkümmert und niemals zu normaler Entwicklung gelangt. Sie sind in den Leistenkanälen zurückgeblieben, abnorm klein (wie bei einem etwa zehnjährigen Knaben) und enthalten in ihren Sekretionsprodukten auch keine Andeutung der wichtigsten Bestandteile, dermännlichen Fortpflan- zungszellen, der Samenfäden. Im Einklang damit sind auch die sekundären Geschlechtscharak- tere, Körperbehaarung und Stimme, deren Entwicklung bzw. Umbildung gleichfalls von der inneren Sekretion dieser Keimdrüsen abhängt, nur sehr unvollkommen im Sinne des männlichen Geschlechtstypus entwickelt. Der psychische Infantilismus steht somit, da auch das Reif- werden der sexuellen und geistigen Individualität durch eine normale innere Sekretion der Keimdrüsen bedingt ist, im Ein- klänge mit diesen körperlichen Hemmungserscheinungen. Als weiteres schädigendes Moment kommt dann noch die schwere Kopfverletzung, die D. im dreizehnten Lebensjahre erlitten hat, in Betracht. Auf die durch diese be- dingten Veränderungen ist unserer Uberzeugung nach die Neigung zu Schwindelanfällen, zur Benommenheit, die sich bis zu Dämmerzuständen steigert, zu gelegentlichen impul- siven Aufwallungen und zu triebartigen Handlungen im wesentlichen zurückzuführen. Als geistiger Schwächling trat D. demnach ins Leben, kam in einen Beruf, dem er nicht gewachsen war, und dessen Anforderungen er nur mit fremder Nachhilfe und größter Anspannung seiner geringen geistigen Kräfte erfüllen, richtiger gesagt, den Anschein, sie zu erfüllen, wahren konnte. Er hielt sich in einem auf der Grenze des Zusammenbruchs balancierenden psychischen Gleichgewicht, bis das beginnende Rückbildungsalter seine ganze Persönlichkeit wieder in den Zustand des vollen seelischen Infantilismus versetzte. Die geistige Liebe zu seiner Frau, in der er Halt und Stütze seiner gefährdeten, hilflosen Existenz II. Kapitel: Der Infantilismus 37 sah, blieb natur- und gewohnheitsgemäß bestehen, seine sexuellen Neigungen aber wurden wieder die unklar tastenden eines Kindes, denen die zwingenden Impulse einer psycho- pathischen, durch ein Kopftrauma und übermäßige geistige Anstrengungen aus jedem Gleichgewicht gebrachten Konstitution zeitweise jede Hemmung nahmen. So waren seine strafbaren Handlungen im Grunde und psychologisch richtig bewertet sexuelle Spielereien eines Kindes mit Kin- dern, aber — und das ist für uns von ausschlaggebender Bedeutung — es waren die gefährlichen Spielereien eines Schwerkranken, dem bei seiner durch den Infantilis- mus bedingten geistigen Schwäche in Verbindung mit seiner hochgradigen Neuropathie alle psychischen Widerstände fehlten, die krankhaften Antriebe zu unterdrücken. Unser Gutachten geht demnach dahin: 1. Es liegt bei D. gegenwärtig ein Zustand auf dem Boden der Degeneration ent- standener, durch einen hochgradigen Infantilismus der gesamten Per- sönlichkeit charakterisierter geistiger Schwäche und eine schwere, teils kon- stitutionelle, teils erworbene Neuropathie vor. 2. Dieser Zustand bestand zweifellos auch zur Zeit der Begehung der strafbaren Hand- lungen, welche zur Verurteilung des D. führten und bedingt eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, welche die freie Willensbestimmung im Sinne § 51 StGB, ausschloß. Da das Königliche Oberlandesgericht das mit diesem Gutachten begründete Wiederaufnahmeverfahren zurückwies mit dem Bemer- ken, daß „aus unserem gemeinsamen Gutachten nicht zur Genüge hervorgehe, daß der gegenwärtig bei D. bestehende krankhafte Zu- stand auch bereits zur Zeit der Delikte, die zu seiner Ver- urteilung geführt haben, vorgelegen habe, und daß ferner unser Gutachten keine Rücksicht auf die begleitenden Nebenumstände nehme, aus denen hervorgehe, daß D. bei seinen Handlungen Über- legung und Vorsicht beobachtet habe, mithin sich der Strafbarkeit derselben bewußt gewesen sei," brachten wir noch folgende er- gänzenden Gesichtspunkte besonders zum Ausdruck: „Unsere persönlichen Wahrnehmungen stützen sich allerdings auf den gegenwärtig bei D. vorliegenden Befund, bei dem die lange Freiheitsstrafe, die materiellen Sorgen und die seelischen Leiden zweifellos in hohem Maße zu berücksichtigen sind. In unserer gutachtlichen Beurteilung des Falles haben wir diesem Umstände aber nach Möglich- keit Rechnung getragen, und das Zustandsbild in der Weise rekonstruiert, wie es unserer Überzeugung nach zur Zeit der Delikte bestanden hat, wegen deren D. seinerzeit ver- urteilt worden ist. Es liegen bei ihm nicht nur Zeichen einer erworbenen geistigen Schwäche vor, auf die wir das teilnahmslose Verhalten, die geminderte Merk- und Erinnerungsfähigkeit, sowie die Energielosigkeit zurückführen können, sondern es be- stehen zweifellos auch sehr charakteristische Zeichen einer ausgesprochenen geistigen Minderwertigkeit, ein Mangel an Urteilsfähigkeit und Einsicht, wie er zweifellos als Symptom des Infantilismus aufzufassen ist, einer Erscheinung, die der Persön- lichkeit des D. sicher dauernd eigen gewesen ist und seine geistige Entwick- lung in mancher Hinsicht auf kindlicher Stufe hat stehen bleiben lassen. Es kommt noch hinzu, daß dieser Zustand in der auch i n körperlicher Beziehung i n f a n t i 1 i s t i s c h e n S e x u al e n t w i ck 1 u n g eine ausreichende Begründung findet, und daß der ganze Lebensgang des D. und alle uns über ihn gemachten Schilderungen diesem Bilde voll und ganz entsprechen. Wir haben kein Bedenken getragen, in diesem Zusammenhange auch den An- gaben der Ehefrau eine erhebliche Bedeutung beizumessen, weil sie uns eine so an- II. Kapitel: Der Infantilismus schauliche und innerlich in jeder Beziehung wahrscheinliche Schilderung von einem -wissenschaftlich fest umschriebenen Zustandsbilde geben, daß es gänzlich auszuschließen ist, daß ein Laie, und sei er noch so intelligent, es in seinen wesentlichen Zügen in dieser durchaus charakteristischen Weise frei erfinden könnte. Dieses Zustandsbild, der bei D. vorliegende I n f a n t i 1 i s m u s , ist erst in den letzten Jahren eingehend er- forscht und in seiner Bedeutung gerade für sexuelle Anomalien erkannt worden, so daß ihm bei der Urteilsfällung in ausreichender Weise noch gar nicht Rechnung ge- tragen werden konnte. Dieses infantilistische Zurückgebliebensein kommt aber ferner bei der Beurteilung der in Frage stehenden Delikte nicht nur an sich in Betracht, sondern auch als Ausdruck einer bei D. zweifellos bestehenden psychopathischen Kon- stitution, welche das volle Bewußtsein und die Kritik seiner Handlungen in hohem Maße beeinträchtigte und somit den Fortfall seelischer Hemmungen bedingte, die der normale Mensch besitzt. Auch dieses Moment ist als Symptom einer konstitutionellen Anlage ein von Hause aus bestehendes und lag demnach bereits zur Zeit der Begehung der Delikte vor. Mit dieser Auffassung steht es in keiner Weise in Widerspruch, daß D. bei der Ausführung derselben gewisse Vorsichtsmaßregeln beobachtet hat, die seinem Handeln den Anschein des Planmäßigen und Uberlegten geben. Wir begegnen einer solchen inneren Folgerichtigkeit und Zweckmäßigkeit fast stets bei Handlungen, die an sich mehr oder weniger der Herrschaft des Bewußtseins und der freien Willensbestim- mung entzogen sind. So werden beispielsweise in epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen Reisen und andere komplizierte Unternehmungen in durchaus zweckentsprechender Weise zur Ausführung gebracht, so finden wir bei den infolge geistiger Störung ausgeführten Hand- lungen fast stets ein durchaus planmäßiges und vorsichtiges Vorgehen selbst dann, wenn die Handlungen selbst dem Bewußtsein gänzlich entzogen sind. Im speziellen Falle ist die Vorsicht, die D. beobachtete, auch als Ausdruck eines instinktiven Schamgefühls, das bereits auf einer sehr niedrigen Stufe kind- licher Entwicklung bestehen kann, sehr wohl zu erklären. Es unterliegt mithin keinem Zweifel, daß der bei D. vorliegende Zustand krank- hafter Veränderung seiner Geistestätigkeit sich ebenso wie die ihm zugrunde liegenden körperlichen Anomalien als ein dauernder charakterisiert, der bei ihm also auch zur Zeit der Begehung der in Frage stehenden Delikte bestanden hat, da er das wissen- schaftlich wohl umschriebene Bild des Infantilismus zeigt, mithin eine hinter der Norm zurückgebliebene, auf kindlicher Stufe stehen gebliebene Entwicklung darstellt, über die D. in seinem psychischen Niveau nie herausgekommen ist. Die Vorsicht, die D. bei den Ausführungen seiner Handlungen zum Teil beobachtet hat, schließt unserer im vorstehenden näher begründeten wissenschaftlichen Uberzeugung nach in keiner Weise die Tatsache aus, daß ihm infolge krankhaft veränderter Geistes- tätigkeit die freie Willensbestimmung bei der Ausführung derselben fehlte. Auf Grund dieser Erwägungen müssen wir an den Schlußfolgerungen unseres Gutachtens mit aller Bestimmtheit festhalten." Dieser Fall ist deshalb so lehrreich, weil er ein grelles Schlaglicht auf die so lange unterschätzte pathologische Bedeutung des Kryptorchismus wirft. Bis vor wenigen Jahren war man nämlich fast allgemein der Ansicht, daß Bauchhoden und Leisten hoden verlagerte, im übrigen aber in Bau und Funktion normale Testikel seien. Tierzüchter und Tierärzte wiesen zuerst darauf hin, daß dies keineswegs der Fall ist, vielmehr sich nicht herabgestiegene Hoden sowohl makroskopisch wie mikroskopisch wesentlich von den skrotal gelagerten unter- schieden. Sie sind kleiner, schlaffer, in der Schnittfläche glatter als 05 CO <D • r-( OJ CO X a> E-i 05 o *H O 73 p Sh 0> a Co H *3 o o3 B © TS O = © ! — = — a .= a CS P co a cd ja o co cd Ja) o a CD o &2 :cS a a CD *j ja s " - a 'S * & a CD CD c „O CS el CO « a W CD a — 6C 51 a CD ja CD :cS a 03 a CD a CS CO ■a a a a e3 CO J3 a CO a CD J3 CD CO N Fh CD a CD -4-> CD T3 :0 ,60 :3 -a a a a c« CO -Q 3 CO a ja co o (o _a '£1 ja CD a _ a -g o a J3 CD :=S « a * -55 CO CD a a CD o tn a CD ja CD fr< O -*-> a CD -a j= 'Sc CD 'S ® 05 a » <» s, § a a a CD ^ a o es c bo| g "g 1 3 Oi ° es co CO sc § CD H _ CD S-i CD a a 73 S ._-,;< •>* es 0 £ CD ja <» a CO ~- cu :cS .5 a 0> CS cd a o a w * a M CD -a o PH o CD bo ja :cS ' a CY5 CM CO CD P 'S a CD o w a CD ja o O -*-» eu >3 a CD T3 a. (>> J< a CD ■a a o > -4-> a a B SP C3 o ^ ^a S cq M II. Kapitel: Der Infantilismus 39 diese, im Querschnitt bräunlich verfärbt, ihr Mesorchium ist breiter, der Nebenhoden liegt der Hodenaußenfläche nicht so dicht auf. Vor allem zeigten Bouin und Ancel3), welche kryptorche Hoden vom Schwein, Pferd, Hund und Schafbock unter dem Mikroskop unter- suchten, daß die Samenkanälchen solcher Hoden keine Samenzellen, sondern nur Sertolische Zellen aufweisen. Das Zwischengewebe zeigt sich beträchtlich vermehrt. Die doppelseitigen Kryptorchisten sind steril, besitzen aber die sekundären Geschlechtscharaktere und einen normalen, nicht selten sogar sehr regen Geschlechtstrieb. Die Be- zeichnung „Klopf h engste" bezieht sich auf kryptorche Pferde, die trotz vollkommener Unfruchtbarkeit geschlechtlich sehr er- regt sind. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Menschen. So traf Tan dl er in 20 Fällen von kryptorchen Hoden, die er untersuchen konnte, nicht ein einziges Mal Spermatogenese an. Da- gegen ist das Zwischengewebe meist mächtig ent- wickelt (vgl. Tafel VIII). Tandler und Groß2) gelangen auf Grund eigener und fremder Beobachtungen zu dem zu- sammenfassenden Schluß, „daß sich der kryptorche Hoden als ein in seinem generativen Abschnitte mißgebildeter, in seinem innersekretorischen Anteile mehr oder weni- ger normaler erweise". Die Meinung Finottis3), daß Re- tention und Atrophie des Hodens der Ausdruck einer Entwick- wicklungsstörung sind, ist sicherlich zutreffend. Auch das Zusammentreffen von Kryptorchismus und Schwachsinn, wie wir es in dem oben eingehend geschilderten Falle beschrieben, stellt, wenn auch keine regelmäßige, so doch auch keine vereinzelte, sondern ziemlich häufige Parallelersc h ei- nung zwischen genitalem und psychischem Infantil is- mus dar. Als erster hat Strohmayer auf diese kongruente Hemmungs- x) Bouin et Ancel, Sur les variations dans le developpement du tractus genital , ehez les animaux cryptorchides et leur cause. Bibl. anat. 13, 1904. — Sur la structure du testicule ectopique. Compt. rend. de l'assoc. des anat. 12, 1903. — Recherches sur la signification phys. et de path. gen., Nov. 1904. — Sur un cas d'hermaphrodisme glandulaire chez les mammiferes. Compt. rend. des seances de la soc. de biol. 24. Dez. 1904. — Action de l'extrait de glande interstitielle du testicule sur le developpement du skelette et des org. gönitaux. Compt. rend. Ac. Sc. Paris 1906. 22. Janv. — La glande interstitielle du testicule chez le cheval. Arch. de zool. exp. et generale 1905. — La glande interstitielle du testicule et la defense de l'organisme I. Compt. rend. des seances de la soc. de biol. 1905. 25. Mars. — Sur un cas d'hermaphrodisme glandulaire chez les mammiferes. Compt. rend. Soc. Biol. 57, 58. 2) Tandler und Groß, Die biologischen Grundlagen der sekundären Geschlechts- charaktere. Verlag Julius Springer 1913. 3) F i n o 1 1 i , Zur Pathologie und Therapie der Leistenhoden. Arch. f. klin. Chir. 1897. 40 II. Kapitel: Der Infantilismus bildung hingewiesen; neuerdings ist zu dieser Frage eine sehr wert- volle Arbeit von dem Oberarzt der Kgl. Landeserziehungsanstalt zu Chemnitz, Dr. Kellner4), unter dem Titel: „Hodenr etention und Schwachsinn" erschienen. Er fand bei nicht weniger als 29,5°/o der geistig zurückgebliebenen Knaben Störungen des Des- zensus. Im einzelnen fanden sich unter 558 Knaben der Landeserzie- hungsanstalt, welche seit deren Eröffnung bis jetzt im Alter von 6 — 17 Jahren zur Aufnahme gelangten: Neben der Kleinheit der äußeren Genitalien und Störungen des Deszensus findet sich besonders häufig bei Infantilen Hypospadie. Schon vor vielen Jahren wies ich darauf hin, daß diese Hemmungs- bildung oft mit mangelhafter Entwicklung der sekundären Ge- schlechtscharaktere namentlich des Kehlkopfs und der Behaarung vergesellschaftet ist. Oft sind infantile Bildungen des Genitalapparates mit solchen des übrigen Körpers verbunden. Noch häufiger findet sich aber der somatische Infantilismus bei makroskopisch gut ent- wickeltem Genitalapparat; ja, es ist eine alte Beobachtung, daß wie Riesen meist relativ kleine, umgekehrt körperlich zurückgeblie- bene Menschen, Zwerge, Kretins und Bucklige verhältnismäßig große Membra und Skrota haben. Offenbar hängt dies mit dem poly- glandulären Charakter des innersekretorischen Drüsensystems zu- sammen. Wie sich hier die Wechselbeziehungen im einzelnen ab- spielen, wissen wir nicht, möglicherweise ist es so, daß ein Über- schuß von Hypophysensekret ein Minus von Hodensekret zur Folge hat, doch sind dies vorderhand nur Vermutungen. Unter den Erscheinungen des körperlichen Infantilismus steht an erster Stelle ein ungewöhnlich jugendliches Aus- sehen, Vierzigjährige machen den Eindruck von Zwanzigjährigen. Es ist schwer, den kindlichen Gesichtsausdruck zu definieren oder zu beschreiben, den wir so oft bei Infantilen finden: eine gewisse Weichheit und Glattheit der Züge, eine gewisse Naivität und Un- reife, die aber keineswegs mit Beschränktheit zusammenzufallen braucht, mischt sich mit einer aufgeweckten, freundlichen, frischen, Kryptorchismus . . . . Monorchismus Leistenhoden beiderseits Leistenhoden einseitig . . Unvollständiger Deszensus 54mal 44mal 30mal 15mal 22mal 165mal. *) Kellner, Hodenretention und Schwachsinn. Zeitschr. f. d. Erforsch, u. Be- handl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. 6. Verlag G. Fischer. Jena 1912. II. Kapitel: Der Infantilismus 41 nicht selten kecken Miene. Die meisten Infantilen lachen viel, sind läppisch, manche blicken aber anch ungewöhnlich finster. Das Altern tritt dabei meist unvermittelter, plötzlicher ein, wie bei ausgereiften Persönlichkeiten. Sehen wir den Mann, den wir mit 45 Jahren noch wie 25 aussehend fanden, nach wenigen Jahren wieder, so sind wir oft erstaunt, wie rasch und früh er gealtert ist. Das Knochengerüst ist bei somatisch Infantilen viel- fach zierlich, die einzelnen Knochen klein und dünn; im Rönt- genbilde zeigt sich ein kindähnliches Persistieren der Epi- physenfugen; die inneren Organe sind proportional verkleinert, das kardiovaskuläre System ist hypoplastisch. Der Schädel ist wenn nicht hydrozephal oder rachitisch verändert, meist klein. Der wabre Zwergwuchs ist eine extreme,' wenn auch durchaus nicht die häufigste Form des körper- lichen Infantilismus. Die Muskeln sind meist schwach und ziemlich schlaff. Sehr kindlich ist oft die Stimme, die Tonhöhe gleicht der von Knaben, die noch nicht mutiert haben, die Stimmfärbung ist weich. Das Lachen ist meist sehr hell. Sehr gering ist oft der Bart- wuchs. Ich habe gegenwärtig einen 22jährigen Infantilen in Beobachtung, der noch keine Spur von Bartwuchs zeigt. Auch Körperbehaarung ist oft spärlich, vielfach überhaupt nicht vor- handen. Weibliche Infantile zeichnen sich durch schmales Becken, kleine Brüste und mangelndes Fettgewebe aus. Da manchmal der ganze Organismus, nicht selten aber nur einzelne Organe und Funktionen den kindlichen Typus bewahren, können wir einen allgemeinen und teil weisen (generellen und partiellen) Infantilismus unterscheiden. Die kindlichenSchriftzügeund ungelenken Bewegungen, die männlichen und weiblichen Infantilen oft eigentümlich sind, stellen einen Übergang zwischen körperlichem und psychischem In- fantilismus dar. Der psychische Infantilismus besteht darin, daß ein Individuum zeitlebens die seelische Art beibehält, wie wir sie nor- malerweise bei einem kleineren oder größeren Kinde vor oder während der Reifezeit finden. Dadurch ist eine gewisse Verwandtschaft zu leichteren Graden des Schwachsinns, der Debilität und Imbezillität gegeben, doch überwiegen bei weitem die Unterschiede. Es ist viel- mehr das kindliche Gemüt, der kindliche Charakter, das kindliche Wesen und Urteil, ein gewisses kindliches oder auch kindisches Benehmen, das fortbesteht, während die Intelligenz viel weniger be- troffen ist; ja diese ist oft recht gut, wenn auch vielfach ein- seitig, ähnlich wie bei den im folgenden Kapitel zu besprechen- den Wunderkindern, entwickelt. Hier ist auch an die schon oft geäußerte Erfahrung zu erinnern, daß Genies im Wesen und Aus- 42 II. Kapitel: Der Infantilismus sehen vielfach etwas auffallend Kindliches, Unbeholfenes an sich haben. Je nach dem Stehenbleiben auf frühkindlicher oder spätkind- licher Stufe können wir von einer infantilen und juvenilen Form des psychischen Infantilismus sprechen. Von den juvenilen Typen entwirft Anton5), dem wir die beste Studie „über geistig e nlnfantilismus" verdanken, folgende Beschreibung : „Sie sind stets unselbständig, des Kates und der Anlehnung be- dürftig. Das Gedächtnis und das Auffassungsvermögen ist gut er- halten. Die Aufmerksamkeit ist leicht eingestellt, aber flüchtig und ohne Befähigung zu ausgiebiger Konzentration. Die Stimmungslage ist meist heiter, aber in raschem Wechsel veränderlich; leicht ein- geschüchtert und in Angst versetzt, durch die Stimmungen anderer leicht induzierbar, meist gutartig, aber nach Kinderart egoistisch. Wegen geringer Nachhaltigkeit der Affekte sind auch die Zu- neigungen und Abneigungen sehr wechselnd. Die Urteilsleistungeti bringen es selten dahin, das Wesentliche, Wichtige vom Nebensäch- lichen zu trennen; sie haften an den nächstliegenden, äußerlichen Eindrücken; ihre Schlußbildungen sind häufig unlogisch. Ihre Willensrichtung ist leicht ablenkbar; sie sind der Ein- redung (Suggestion) sehr zugänglich und durch Nachahmungsimpulse stark beherrscht, andererseits leicht voreingenommen, dann auch unzugänglich gutem Kate, eigensinnig, besonders gegen nächste An- gehörige während der Fremde als solcher ihnen übermäßig im- poniert. Sie bäumen sich mitunter auf gegen Bevormundung, doch sind sie recht unvermögend zu eigenen, selbständigen Entschlüssen. Der geistige Besitzstand und Bildungsschatz ist oft ganz respek- tabel, doch sehr selten die Basis zu irgend einer eigenen Leistung. Der Erwerb von Fertigkeiten ist oft ausgiebig, ja es sind Virtuosen- und Künstlerleistungen möglich. Sie vermögen es sehr wohl, mit anderen Menschen in Konnex zu treten, sind soziabel und engeren Grenzen anpassungsfähig; gerne suchen sie Verkehr mit viel jüngeren oder minderwertigen Genossen, oder sie attachieren sich auch im späteren Leben nach Kinderart an die Mutter. Auch die Art ihrer ganzen Lebens- führung zeigt sich vielfach als Imitation. Die Motive ihres Handelns entstammen momentanen Eindrücken oder sehr kurz blickenden Er- wägungen ; ihre Gefühlswerte sind vielfach an Tand und irrelevante Dinge geknüpft. Sehr häufig besteht gleichzeitig eine Neuropathie, ja die psychogenen und hypochon- drischen Beschwerden sind meist alleiniger Anlaß zur ärztlichen Evidenz." 5) G. Anton, Vier Vorträge über Entwicklungsstörungen beim Kinde. Über geistigen Infantilismus S. 29. IL Kapitel: Der Infantilismus 43 Die infantilere Form des Psychoinfantilismus ist von der Im- bezillität und dem Idiotismus dadurch unterschieden, daß sie nicht, wie diese eine krankhaft abnormale Entwicklung, nicht eine Umart'ung des Gehirns darstellen, sondern ebenso wie die juvenile Form ein Ausbleiben psychischer Weiterentwicklung. Mit Eecht sagt Anton, es liegt ein kindlicher Psychomechanismus vor, aber ein Mechanismus der Gattung, wie er den Vollsinnigen eigen ist oder war, beim Schwachsinnigen liegt eine andere geistige Physiognomie vor, der den Vollsinnigen gemeinsame Psychomechanismus ist ver- zerrt, Aufmerksamkeit, Gedächtnis sind stumpfer, ungenauer, ihr Kombinationsvermögen viel mangelhafter. Perversionen und Echo- lalie, wie bei den Imbezillen, findet man bei den Infantilen nicht. Sehr hervortretend ist ihr Hang für Spiel und Tand. Ein gutes Beispiel von Psychoinfantilismus bietet der folgende, zur Zeit in meiner Beobachtung stehende Fall : EL, Verkäufer in einem Modewarengeschäft, ist 24 Jahre alt. Trotzdem er ziemlich groß ist, macht er den Eindruckeines 16jährigenJungen. Mimik und Gestik entsprechen völlig dieser Altersstufe. Er ist von kindlicher Fröhlichkeit, aber leicht verzagt und furchtsam, beispiels- weise drückt ihn gegenwärtig die Angst nieder, er müsse ebenso wie seine Brüder, von denen, nicht weniger als 9 im Felde stehen, Soldat werden. Seine Stimme gleicht in Tonhöhe und Modu- lation einer Knabenstimme. Bartwuchs ist schwach. Über seine Neigungen schreibt er: „Ich liebe Bänder und Schleifen, auch Schmucksachen, besonders aber interessiere ich mich für Wäsche und sehe mir solche gern an, wenn sie sich in ganz sauberem, hübsch gebundenen, schön geordneten und mit etwas Parfüm ange- hauchten Zustande im Schrank befindet. Meine Wäsche ist stets in diesem Zustand und mit frisch grünen Bändern verziert vorzufinden. Immer bin ich hocherfreut, wenn ich meinen Wäscheschrank öffne und mir dieser liebe Anblick entgegenkommt." „Ich schwärme sehr für Blumen, und eine ganz besondere Liebhaberei von mir ist es, diese zu küssen oder aus halb geöffneten Bosen Wasser zu trinken. Meine Lieblingsblumen sind folgende: Schneeglöckchen, Himmels- schlüsselchen, Veilchen und das bescheidene Vergißmeinnicht." „Große Freude macht es mir, verschiedene Kleinigkeiten selbst zu nähen, wie Kravatten, Kissen und Sportmützen. Letzterer Gegen- stand ist nicht ganz leicht eigenhändig ohne jegliche Anleitung her- zustellen, aber es ist mir ganz gut gelungen, zwei Mützen zu arbeiten, die ich nun auch mit Vorliebe trage. Meine Mützen haben sogar hier in Berlin bei meinen Bekannten so Anklang gefunden, daß ich schon einige Bestellungen entgegengenommen habe. Meine anderen Brüder im Felde habe ich mit von mir angefertigten mit Daunen gefüllten Schlummerkissen versehen, die ihnen beim Emp- 44 IT. Kapitel: Der Infantilismus fang eine sehr große Freude bereiteten und wohl auch ein nützlicher Gegenstand für unsere armen Soldaten im Felde sind." Sehr bezeichnend ist folgende Äußerung dieses Infantilen: „Sehr gegen meine Geschmacksrichtung ist es, wenn ich mit dein Wort ,Herr' angerufen werde. Dann werde ich sofort von nicht zufriedengestellter Stimmung überfallen und muß erst eine Zeit ganz allein sein, bis ich wieder soweit hergestellt bin, um fröh- licheren Mutes sein zu können. Da ich mich doch durchaus nicht als die Erscheinung eines Herrn fühlen kann, ist es meine Absicht, den nächsten neuen Anzug wieder mit kurzer Kniehose zu tragen, damit mir die Anrede Herr weniger zugelegt wird." Wir begegnen hier einem Symptom, das ich wiederholt bei psychisch Infantilen gefunden habe und mir für ihre Eigenart be- sonders charakteristisch erscheint, der Abneigung, sich als Erwach- sener zu fühlen und zu kleiden, verknüpft mit dem Drange, sich kindlich, knabenhaft od er mädchenhaftzu geben und anzuziehen. Das Entzücken dieser Infantilen sind die m der Karnevalszeit gelegentlieh veranstalteten Baby-Bälle, wo fast alle Erwachsenen in kurzen Röcken und Hosen, viele Mädchen mit Puppen im Arm, viele Herren mit Steckenpferden und anderem Kinderspielzeug erscheinen. In meiner Kasuistik findet sich der folgende Fall: M., 50 Jahre alt, findet sich nur in Matrosenknabenanzügen glück- lich. Er bildet sich dann ein, er wäre noch ein Junge von 12 Jahren. ErziehtsichabendszuHauseeinenKnabenanzugan, von denen er sieben besitzt und setzt sich vor den Spiegel; er ist dann geschlechtlich erregt, berührt aber nicht sein Glied, „weilerdazunoch zujung sei". Am liebsten spielt er mit anderen Knaben Schule. Sonntag nachmittag geht er mit „den anderen Jungen" nach den Rummelplätzen zum Karussellfahren und Schaukeln. Er schenkt ihnen vorher Geld, dann kaufen sie sich zu- sammen Bonbons und Schokolade; sie spielen auch gern Ball. Auch geht er mit den Knaben in die Volksbadeanstalt; er fühlt sich den Jungen völlig gleichartig. „Willi und Kurt seien seine besten Freunde, zu mir sagen sie Louis." Geschlechtliche Handlungen nimmt M. weder mit Kindern, noch Erwachsenen vor. Wenn er sich Sonntags lange mit seinen Kameraden herum getummelt hat und den Abend zu Hause dann in seinen Knabenanzügen verbringt, tritt öfter eine sexuelle Entspannung ein, die ihn völlig zufriedenstellt. Manche Infantile haben eine instinktive Abneigung gegen jedes Haar an ihrem Körper. So stellt gegenwärtig ein 41jähriger In- fantiler in meiner Beobachtung, der sich an den Geschlechtsteilen alle Haare abrasiert hat, ebenso an der Brust und in den Armhöhlen. Ich besitze mehrere Bilder von ihm, auf denen er im Knabenanzug II. Kapitel: Der Infantilismus 45 mit kurzen Hosen, Wadenstrümpfen — auf die nackten Knie legt er besonderes Gewicht — und Matrosenbluse mit freiem Hals dar- gestellt ist. Er sieht auf diesen Bildern wie ein fünfzehnjähriger Junge aus. Er ist verheiratet, kann aber mit seiner Frau nur sexuell verkehren, wenn er sich zuvor als Knabe angekleidet hat. Seine Frau, der dies anfänglich sehr zuwider war, hat sich schließlich mit dieser „Narretei" abgefunden. Patient besitzt zwei Kinder (10 und 12 Jahre alt), mit denen er viel im Freien „nach Bubenart" herumtollt. Im übrigen ist er Erbe einer sehr großen Fabrik, der er erfolgreich vorsteht. Ein ähnlicher Fall, der ein besonders markantes Beispiel von psychischem und psychosexuellem Infantilismus bietet, ist in dem folgenden von Burchard und mir ausgestellten Gutachten be- handelt: Der 40jährige Bierverleger R. K. ist von uns gemeinsam während mehrerer Monate beobachtet, eingehend untersucht und wiederholt exploriert worden. Er hat ferner ein umfangreiches Material in Form von Aufzeichnungen, Schreibübungen aller Art und Bildern beschafft und uns zur Verfügung ^gestellt. An der Hand dieses in sich ge- schlossenen und innerlich wahrscheinlichen Materials konnten wir uns über den Geistes- zustand des K., insbesondere seine psychosexuelle Eigenart ein übereinstimmendes und bestimmtes Urteil bilden, das wir im folgenden gutachtlich zum Ausdruck bringen. K. ist am Todestage seines Vaters in ärmlichsten Verhältnissen geboren. — Über die in der Familie vorgekommenen Krankheitsfälle und Belastungserscheinungen ist bei dieser Sachlage naturgemäß relativ wenig zu ermitteln. Erwähnt sei, daß bei der Mutter ein Bruchleiden vorliegt, daß zwei Geschwister bereits gestorben sind und daß ein Onkel geisteskrank gewesen sein und einen ernsten Selbstmordversuch gemacht haben soll. K. selbst war ein überaus kränkliches Kind, litt in den ersten Lebensjahren an einer schweren Augenentzündung und bis zu dem 15. Jahre an Krampfanfällen, die, der Schilderung nach, epileptischen Charakter getragen haben sollen, K. war ein äußerst schlechter Schüler. Trotz seiner großen Anhänglichkeit an die Mutter trat schon in frühen Kinderjahren, wenn er eben nicht an das Krankenlager gefesselt war, bei ihm eine Neigung zu übermütigen Jungenstreichen deutlich zutage. Auch weiß K. sich genau zu entsinnen, daß schon damals ein ihm — seiner eigent- lichen Ursache nach, natürlich noch unklarer — Reiz für ihn darin lag, derartiger Streiche wegen gezüchtigt zu werden oder auch nur darin, sich eventuelle Züchtigungen vorzustellen. Mit 13 Jahren offenbarte sich die sexuelle Natur dieses Emp- findens deutlicher, als K. eines Tages vom Lehrer auf das Gesäß geschlagen wurde, in der darauffolgenden Nacht im Traume die gleiche Situation nochmals durchmachte und dabei die erste mit lebhaftem Wollustgefühl verbundene Pollution hatte. An dieses erste Zeichen beginnender Pubertät schlössen sich die übrigen Erschei- nungen des Entwicklungsalters, Stimmwechsel, Bartwuchs und bewußtes Sexualempfinden, an. Nach Abschluß der Geschlechtsreife war eine gewisse sexuelle Differenzierung bei K. insofern eingetreten, als seine auf effektive Geschlechtsbetätigung zielenden Wünsche und Neigungen auf erwachsene Personen weiblichen Geschlechts eingestellt waren. — Diese in ihrer Richtung normale Sexualität konnte sich aber nicht zu voller Reife entwickeln und mit der psychischen Individualität harmonisch verschmelzen, da diese in allen ihren Fasern und Regungen eine kindliche blieb und mit einem die ganze Persönlichkeit beherrschenden Drange, Kind zu bleiben, auch der Sexualität den Stempel des bleiben- den Infantilismus aufprägte und damit die Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeit der normalen S e x u al k o mp o n e n t e ver- 46 II. Kapitel: Der Infantilismus hinderte oder doch so weit abschwächte, daß es nie zu einer wirklich befriedigenden normalgeschlechtlichen Entspannung kam. Nur wenn das Bewußtsein und damit das in Wirklichkeit bestehende infantilistische Seelenleben durch Alkoholwirkung in seinen Funktionen herabgesetzt war, gelang K. in späteren Jahren bisweilen eine Annäherung an Personen weiblichen Geschlechts. Doch blieb es auch dann nur bei unvollkommenen Versuchen, sexuellen Verkehrs. Ein solcher hat zu einer luetischen Infektion geführt, die eine längere Spritzkur erforderlich machte und auf K.s ohnehin so gebrechliche nervöse Gesundheit und Widerstandsfähig- keit noch weiterhin schädigend einwirkte. Wie erwähnt, bildete der Wunsch und die Vorstellung, Kind zu sein und als Kind behandelt zu werden, das treibende und die Gesamtpersönlichkeit beherrschende Moment in K.s Seelen- leben. Bereits dadurch, daß erotisches Lustgefühl und der erste Pollutionstraum sich an eine Züchtigung in der Schule anschlössen, dokumentierte sich in gewissem Sinne dieses infantilistische Empfinden in seiner sexuellen Bedeutung. In welcher Weise es später die gesamte Sexualität durchdrang und beherrschte, indem das völlige Aufgehen in der Rolle eines Kindes an sich ge- schlechtliehe Entspannung bewirkte, werden wir bei der Schilderung des gegenwärtigen Zustandes zu erörtern haben. In der Spätpubertät zeigten sich neben der damals bereits vorherrschenden infantilistischen Komponente auch anderweitige Ansätze abnormen Ge- schlechtsempfindens, namentlich darin, daß bei K. vorübergehend der Drang bestand, Mädchenkleidung anzulegen. K.s äußerer Lebensgang war ein mühseliger und schwieriger unter dem Drucke der äußeren Umstände sowohl wie in Wechselwirkung mit den geschilderten Momenten inneren Zwiespaltes. — Vom 17. bis 19. Lebensjahr war er Kuhhirt und hatte bei dieser Beschäftigung besondere Gelegenheit, sich in sein geschlechtliches Phantasie- leben einzuspinnen und dasselbe in einsamer Onanie zu betätigen. Später war er als Hausdiener und Bierzapfer tätig und mußte — unter anderem häufiger Krankheiten halber — vielfach die Stellung wechseln. K. ist ein untersetzter, ziemlich kräftig gebauter Mann, an dem in Gesichts- ausdruck und Haltung ständig eine eigenartige Schüchternheit und Zaghaftigkeit auffällt. Der Organbefund zeigt keine wesentlichen Abweichungen von der Norm. Dagegen ist in der niedrigen, bei der geringsten Denkarbeit stark gefurchten Stirn , in dem Mißverhältnis zwischen Hirn- und Gesichtsschädel, der asymmetrischen Gesichtsbildung und dem wenig differenzierten Bau der ungleich gestellten Ohren ein degenerativer Typus ausgeprägt. Von nervösen Erscheinungen fällt eine — auf lebhafter Gefäßerregbarkeit beruhende — Neigung zum Erröten und Erblassen neben gesteigerter Erregbarkeit der Sehnenreflexe besonders auf. Der p"sychische Befund bietet auf allen Gebieten das Bild v o 1 1 k o m m e n er Kindlichkeit und mangelnder Reife. Alle Interessen K.s drehen sich um den Angelpunkt dieser kindlichen Einstellung: Aus Kinderbüchern, Mä.rchen und Fabeln einfachster Art deckt er seinen geistigen'Bedarf, zu Weihnachten füllt er einen langen Wunsch- zettel aus, in dem er neben Spielsachen aller Art, Soldaten, Reifen, Ballspiel usw. sich erbittet, wöchentlich einmal „ins Kino geführt zu werden", und auch äußerlich ganz als Knabe geklei det gehen zu können und als solcher be- handelt zu werden, ist lnhalt und Ziel aller persönlichen Wünsche des 42jährigen Menschen. Ihm selbst' ist nicht bewußt, wie stark sein sexuelles Empfinden in dieser infantilistischen Gesamtindividualität begründet und mit ihr verflochten ist. Im Umgange mit Knaben und namentlich in dem Gefühl, auch diesen noch unter- geordnet, gewissermaßen kindlicher als die Kinder zu sein, findet seine Sexualität auch ohne wirkliche geschlechtliche Betätigung ihre Entspannung. Hieraus erklärt sich der Genuß, den er darin findet, s-eine äußerst mangel- haften Schreibübungen von Knaben korrigieren und sich der darin enthaltenen Fehler halber zurechtweisen und eventuell züchtigen zu lassen. II. Kapitel: Der Infantilismus 47 Abgesehen von dein mangelhaft entwickelten Intellekt in seiner Armut an Be- griffen und Vorstellungen, an Verständnis und Urteilsfähigkeit, entspricht auch das labile Gefühlsleben in seiner Weichheit und Empfänglichkeit den rasch ausgelösten und wechselnden oberflächlichen Affektäußerungen und der gering entwickelten Willenstätig- keit, dem Mangel an Initiative und Energie, diesem so eigenartigen aber doch in sich harmonischen Bilde völliger Kindlichkeit. Wir besitzen von ihm Photographien, die ihn in Knabenkleidern zeigen. (Tafel IX.) Gutachten: Die Gesamtindividualität des Herrn K. bietet ein Bild von selt- samer und charakteristischer Eigenart. Es handelt sich um einen geradezu klassischen Fall von psychosexuellem Infantilismus. — Trotz- dem K.s äußere Geschlechtsorgane normal entwickelt sind, blieb er in seinem Fühlen und Empfinden völlig Kind. Da seine psychische Sexualität zu keiner harmonischen Reife und zu keiner dem Lebensalter entsprechenden Einstellung auf ein erwachsenes Sexualobjekt, bzw. nur zu ganz rudimentären Ansätzen einer solchen gelangte, verschmolz sie mit den Vorstellungen und Impulsen, welche bereits von frühester Kindheit an sein Triebleben beherrscht und bestimmt hatten. — Die Äuße- rungen des Sexualtriebes („Schulespielen") sind an sich durchaus harmlose Kinderspiele, deren erotische Qualität nur für K.s subjektives Empfinden vor- handen ist und den Partnern völlig verborgen bleibt; sie können — objektiv bewertet — nicht als sexuelle Akte angesehen werden, sind es aber gleichwold subjektiv infolge der abnormen kindlichen Vorstellungs- und Gefühlswelt des K. Diese tritt uns nun aber nicht nur in dem veränderten geschlechtlichen Benehmen entgegen und läßt die betreffenden sexuellen Akte demgemäß nicht etwa als isolierte Äußerungen geschlecht- licher Perversität erscheinen; sie beherrscht vielmehr sein seelisches Leben in allen seinen Kegungen völlig. Er fühlt sich als Kind und will Kind mit Kin- dern sein. Dem entspricht auch sein ununterdrückbarer Trieb, dies auch äußerlich dadurch zu dokumentieren, daß er selbst die Kleidung der Altersstufe trägt, die sein seelischer Zustand verkörpert. Dieser Drang, einem abnormen Altersempfinden in der Kleidung Ausdruck zu geben, ist wissenschaftlich als Z i s - vestitismus zu bezeichnen und dem bekannteren Transvestitismus (erotischen Ver- kleidungstrieb) innerlich verwandt. Der Kontrast, in dem sein wirkliches zu diesem von ihm empfundenen Wesen steht, ruft das Verlangen hervor, dem letzteren dadurch, daß er sich seinen kindlichen Spielgefährten unterordnet, verstärkten Ausdruck zu geben, und begegnet sich darin mit der masochistischen Komponente, die der Art des sexuellen Fühlens ent- sprechender Weise eigen ist. — Wie völlig K. von dem Gefüld eigener Kindlichkeit beherrscht wird, geht am deutlichsten aus seiner eigenen naiven Schilderung der Art seines Umgangs mit Schulkindern hervor. Eine so völlige Umwandlung der gesamten geistigen Persönlichkeit, bzw. ihre Ver- schiebung auf eine zurückliegende Alterstufe ist, wenn irgend etwas, als eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit anzusehen, und Handlungen, welche auf dieser Basis wurzeln, können im Sinne des § 51 als der freien Willensbestimmung ent- zogen erachtet werden. Demgemäß geht unser Gutachten dahin, daß bei Herrn K. zur Zeit der ihm zur Last gelegten sexuellen Delikte ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vorlag, der seine freie Willensbestimmung für dieselben im Sinne des § 51 ausschloß. Wir haben uns mit den letztgeschilderten Fällen bereits be- trächtlich der vierten Gruppe der Infantilismen, dem psych o- sexuellen Inf antilismns genähert. Er ist dadurch gekennzeichnet, daß ein Individuum bezüglich der Äußerungen seiner Sexualität auf einer mehr oder weniger kindlichen Stufe stehen bleibt. Wir haben uns dabei weniger an das zu 48 II. Kapitel: Der Infantilismus halten, was bislang in sehr wenig zuverlässiger Weise über das so- genannte Sexualleben des Kindes ermittelt ist, als an die Tatsache, daß die sexuelle Reizquelle bei dem sexuell zurückgeblie- benen, nicht wie bei dem ausgereiften Menschen eine erwachsene Person zu sein pflegt, sondern ein Kind, ferner, daß die Be- tätigungsweise an diesen wesentlich eine spielerische ist und vor allem, daß der Träger der sexuellen Empfin- dung und Verüber des Delikts sich selbst mehr oder weniger i n - f a n t i 1 fühlt und benimmt. Auch hier — und darin liegt die Haupt- schwierigkeit scharfer Sichtung — ist der Symptomenkomplex nicht immer vollständig vorhanden oder nachweisbar. So gibt es psycho sexuelle Infantile, die nicht Kinder, sondern im Gegenteil Greise lieben. Mit gutem Grunde sagt Julius- burger6): „Das Gegenstück der Pädophilie, die Gerontophilie, ist gleichfalls aufzufassen als der Ausdruck bleibender infantiler Fixierung auf ältere Individuen." Ich habe wiederholt ausge- sprochen infantile Leute gesehen, die in der Mitte der zwanzig zu Greisinnen in Liebe entbrannten und sie auch ehelichten. So heiratete ein 22jähriger Ingenieur eine kinderreiche Witwe von 63 Jahren, ein 19jähriger Arbeiter eine 55jährige Matrone aus Liebe. Ein anderer Infantiler — er ist einseitiger Kryptorchist — berichtete, daß ihm beim Onanieren stets das Bild seiner Großmutter vor- schwebe. Auch in gewissen Formen des später abzuhandelnden Maso- chismus steckt viel Infantiles. Jede erfahrene Spezialistin auf maso- chistischem Gebiet weiß zu berichten, daß zu ihren Hauptkunden Männer zählen, mit denen sie Schule spielen muß, sie wollen von ihr als der Erzieherin wie Schul k nahen behandelt werden, man soll ihnen Kechenaufgaben geben, die sie auf einer Schiefertafel oder in einem Schreibheft lösen, sie zurechtweisen, in die Ecke stellen, mit einem Rohrstöckchen züchtigen. Einen typischen Fall dieser Art des Infantilismus will ich aus meinem kasuistischen Material als Beispiel anführen: G., aus einer Juristenfamilie, hat selbst Jura studiert, jedoch keine Prüfung abgelegt. Er ist jetzt mit 36 Jahren Bureaubeamter mit einem Gehalt von 100 Mark. Dabei ist er von großer geistiger Regsamkeit, nur fehlt ihm der Wille und die Geduld, sich in eine gesteckte Aufgabe mit ruhiger Gewissenhaftigkeit zu vertiefen. Körperlich macht er den Eindruck eines hochaufgeschossenen Primaners von 18 Jahren, während er in Wirklichkeit doppelt so alt ist. G. gibt an, er fühle sich wie 16 Jahre, namentlich in Gesellschaft ihm sympathischer älterer Frauen; in seinen Aufzeichnungen heißt es: „Ich brauche u) Otto Juliusburger: Zur Lehre von psychosexuellem Infantilismus (Para- thymie, regressive Psychopathie). Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 1, H. 5, S. 198 ff. II. Kapitel: Der Infantilismus 49 eine Frau, die in mir einen 16jährigen Jungen sieht, der eigensinnig, launisch und verwöhnt ist und den sie erziehen muß. Sie wird am stärksten wirken, wenn sie meine erotische Phantasie benutzt, um ihr Ziel zu erreichen. Ich bin zum Beispiel auf einem Spaziergang eigensinnig; wenn sie mir die Züchtigung, die ich erhalten werde, möglichst plastisch ausmalt, so bin ich im wahrsten Sinne des Wortes fasziniert. Ein gleiches Empfinden erwacht in mir, wenn ich mich vor ihren Augen entkleiden muß, während sie selbst in Straßen- toilette vor mir sitzt." Ein anderes Mal schreibt er: „Ich möchte Schulaufgaben machen, die ich durch Schreibfehler, Unaufmerk- samkeit usw. so schlecht mache, daß ich von einer Frau Strafe be- kommen muß. Diese wird in Ohrfeigen und Androhung von Schlägen auf das entblößte Gesäß bestehen. Hierbei spielt das Gebrauchen von Worten wie ,Hiebe, Striemen, Popo' usw. eine große Kolle. Es ist mir unmöglich, die Erzieherin, wenn sie solche Worte ge- braucht, anzusehen. Vor allem muß sie mir das typische Knaben- laster, die Onanie verbieten. Sie selbst darf und soll das bei mir tun!" G. besitzt eine große Sammlung von Bildern und Zeichnungen, auf denen Knaben und Jünglinge von Frauen gezüchtigt werden; die meisten sind englischen Ursprungs. Ich füge eines als Probe bei (Tafel X). Außer dem Drange von einer Frau als Schuljunge behandelt zu werden, leidet G. noch an einer andern seltsamen Zwangsvorstellung, von der er sich, trotzdem er ihre Lächerlich- keit einsieht, nicht loslösen kann, nämlich ein Pferd zu sein „aber nicht", wie er hinzufügt, „ein edles Kassepferd, sondern ein kümmer- licher Karrengaul, den eine Frau kutschiert". Seit es im Kriege so viele „weibliche Kutscher" gibt, fühlt er sich in seiner Erotik stark gesteigert. „DieweiblichenKutsche r", schreibt er, „wirken auf michsehr stark erregend; wenn ich sie sehe, möchte ich gar zu gern ein ehemals kräftiges, durch die Frau nun abgewirt- schaftetes Lastpferd sein." In eine verwandte Masochistengruppe gehören auch die Infan- tilen, welche Mama-Briefe schreiben, überhaupt in der Geliebten ihre Mutter, nicht etwa die Mutter ihrer Kinder sehen und sie dementsprechend bezeichnen. Das klassische Beispiel dieser Gruppe ist der genialisch-infantile J. J. Rousseau. In den zahlreichen von Masochisten für Masochisten geschrie- benen Romanen finden sich oft Schilderungen dieser infantilen Per- version. Ich entnehme ein Beispiel für viele der in diesen Kreisen sehr geschätzten englischen Lebensbeschreibung von Julian Robinson7). Als dieser eines Tages mit Gertrude, seiner Ge- 7) Weiberherrschaft. Die Geschichte der körperlichen und der seelischen Erlebnisse i Julian Robinson, nachmaligem Viscount Ladywood. Von ihm aufgezeichnet zu Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 4 50 IL. Kapitel: Der Infantilismus liebten, zusammen ist, verspürt er ein kleines Bedürfnis. Der Vor- gang, der sich infolgedessen zwischen beiden abspielt, wird nun m dem Roman wie folgt geschildert: „Ach, Mama", sagte ich, „bitte, bitte, ich weiß nicht wie ich es dir beibringen soll, aber ich möchte zuerst noch etwas erledigen. „Du mußt mir es genau sagen!" „Ich kann nicht! „Du mußt. • Nun denn, schon seit dem Gabelfrühstück, schon die ganze Zeit im Eisenbahnzug konnte ich nicht hinausgehen, und auch hier fand ich keine Gelegenheit dazu." Es ist so schrecklich, einem Weibe das sagen zu müssen. „Ich kann mir schon denken, was du meinst sagte Gertrude schelmisch, „das kleine Baby will über das lopt- chen gehalten werden." „Ja", sagte ich errötend. „Nun dann sage: Bitte, Mama, darf ich aufs Töpfchen, bevor du mich bestrafst 1 „Ach Gertrudel" ruft Julian aus. „Gertrudel" erwidert diese, „mein Herr, was gestatten Sie sich?" „Ach, bitte, Mama!" verbessert sich Julian, „ich wollte dich ja nur bitten, mir zu erlassen, daß ich den Satz sage." „Du mußt ihn sagen, wenn du auf die Seite gehen willst, oder du darfst nicht. Du hast die Wahl," „Und ich mußte meiner schönen Viviana die garstigen Worte sagen" — schließt Julian Robinson seine Erzählung - - „verschämt verbarg ich dabei mein Gesicht, was ihr wunderbares Vergnügen zu bereiten schien. Ich muß aber sehr natürlich und anziehend ausgeschaut haben, denn sie küßte mich." In so seltsamen Vorstellungen gefällt sich die üppige Phantasie dieser Infantilen, die sich dem Weibe gegenüber als Kind fühlen. Denn daß derartige Erzählungen wirklich dem Leben entnommen sind, habe ich aus spontanen Mitteilungen von Leuten ersehen, die niemals Schilderungen wie die des Julian Robinson zu Gesicht be- kommen haben. So beschäftigte mich vor einiger Zeit der Fall eines jungen Offiziers, der eine schwere Granaterschütterung im Felde davongetragen hatte. Vor allem litt er seitdem an einem heftigen Tic convulsiv. Außerdem gab dieser Patient an, daß er bereits früher vielfach sexuelle Zwangsvorstellungen gehabt hätte, die er ;iher immer leicht wieder verscheuchen konnte. Seit seiner Ver- letzung im Kriege sei er dazu nicht mehr imstande. Er würde fort- während von sehr peinlichen Sexual vorstellungen beherrscht und könne sich ihrer nicht mehr erwehren. Diese Vorstellungen trugen einen ganz infantilen Charakter; er gibt von ihnen folgende Beschivitmiig: „Die stärksten erotischen Gefühle werden in mir ausgelöst, wenn ich sehe, wie kleine Kinder, insonderheit Kna- ben, von Kindermädch en ab gehalten werden. Es gewährt mir den höchsten Reiz, mich an die Stelle des so verwarteten Kindes einer Zeit, wo er unter dem Pantoffel stand. Erste und vollständige Übertragung aus dem Englischen von Erich Berini-Bcll. Privatdruck. Leipzig 1909. II. Kapitel: Der Infantilismus 51 zu versetzen. Auch erregt es mich, wenn solche Kinder auf das ent- blößte Gesäß geschlagen werden. Ich selber könnte Kindern gegen- über nie aktiv werden; schon der Gedanke daran ruft Unbehagen und Übelkeit in mir hervor; alle meine Gefühle verstehen sich nur in der Eigenschaft als passiver Zuschauer. Leider sind dies die schönsten Gefühle, die ich seit meiner Verwundung kenne. Immer wieder suche ich die Plätze auf, wo Kindermädchen sich in der ge- schilderten Weise den Kleinen widmen, stumm hefte ich meine Blicke auf das Kindermädchen, daß das Kind sein Bedürfnis ver- richten läßt. Ich bekomme dabei geschlechtliche Erregungen und befriedige mich dann später daheim in der Erinnerung daran." Weiter berichtet Patient: Redensarten, die mich besonders aufregen, sind: „Willst du wohl artig sein!!" „Soll ich die Rute holen." „Soll Fräulein baue, haue machen f" „Willst du jetzt brav sein, du un- gezogener Junge du?" „Versprich das!" „So, komm, nun sei wieder lieb und gib Küßchen." Patient, der 25 Jahre alt ist, teilt auch noch mit, daß er gern Knabenkleidung trägt, am liebsten würde er als Kadett — er ist im Kadettenkorps erzogen worden — gehen. Immerhin stellen nach meiner Erfahrung Fälle von psycho- sexuellem Infantilismus wie die letztgeschilderten Seltenheiten dar; die Mehrzahl der sexuell Infantilen ist nicht auf Personen vor- geschrittenen Alters eingestellt, sondern ist pädophil. Krafft-EMng, dem wir auch auf diesem Gebiet grund- legende Forschungen verdanken, meint, daß man die „Paedo- philia erotica" als krankhafte Perversion und nicht als Per- versität, also als Krankheit, nicht als Laster, erachten muß, wenn ihr folgende vier Züge gemeinsam seien: 1. Es handelt sich um belastete Individuen. 2. Die Neigung zu unreifen Personen des anderen Geschlechtes erscheint primär (im Gegensatz zum Wüstling) ;' die bezüglichen Vorstellungen sind in abnormer Weise und zudem mächtig von Lust- gefühlen betont. 3. Die deliktuösen Akte bestehen in bloßer unzüch- tigerBetastung und Onanisierung der Opfer. Gleichwohl führen sie zur Befriedigung des Betreffenden, selbst wenn er dabei nicht zur Ejakulation gelangt. 4. Die Pädophilen sind un erregbar durch sexuelle Reize des erwachsenen Individuums, an welchem der Koitus nur faute de mieux und ohne seelische Befriedigung vollzogen wird. Erweitern wir den ersten Punkt dahin, daß sich die erbliche Be- lastung bei Pädophilen sehr häufig im Sinne eines psychischen, soma- tischen oder genitalen Infantilismus äußert, so können wir die v i e r Krafft-Ebingschen Leitsätze auch heute noch für den psycho- sexuellen Infantilismus als pathognomisch ansehen. 4* 52 II. Kapitel: Der Infantilismus Ich will dafür aus meinem Material einige gute Beispiele bei- bringen: M., 29 Jahre alt, Musiker, hat bisher noch nicht die Gerichte beschäftigt. Ein zwei Jahre älterer Bruder, Bäcker von Beruf, ver- büßt zur Zeit wegen Unzucht an kleinen Mädchen im Rückfall eine fünfjährige Zuchthausstrafe. Der dritte der Brüder ist Lehrer. Die einzige Schwester ist Quartalstrinkerin und der Prostitution ver- fallen. Die Eltern sind geschieden. „Meine Mutter" — schreibt M. — „ist gesund, sehr gut und hat uns Kinder immer zum Guten und zu Gott angehalten. Aber der Vater war ein schwerer Säufer, stammt aus einer alten Trinkerfamilie,, die Brüder, wie auch der Vater des Vaters starben als Vagabunden, zwei im Straßengraben, einer hängte sich auf; der Urgroßvater, ein Pastor, soll sich infolge einer unglücklichen Ehe dem Trunk ergeben haben." Der Vater unseres M. soll schon als Junge von 15 Jahren viel Schnaps getrunken haben. Wie die Mutter erzählt, ließ sie sich von dem Vater scheiden, weil er fast nie nüchtern und im Trunk „sehr tobsüchtig" war. Einmal habe er eine Geige, sein einziges Handwerkszeug, mit dem er sich auf Höfen spielend spärlich ernährte, „vor Wut in tausend Stücke geschlagen", auch habe er, wie die Mutter sagt, immer mit dem Messer nach Pferden gestochen. M. zeigt viele Degenerations- zeichen: Vogelschädel von kaum 50 cm Umfang, Ohr- und Zahn- mißbildungen, Abnormitäten in der Entwicklung der Finger, schwa- cher Bartwuchs, Hypospadie, sehr jugendliches Aus- sehen; man könnte ihn auf 17 Jahre schätzen. Er ist von gut- artig kindlichem Wesen, in seinem Benehmen von grotesker Ser- vilität und übertriebener Wichtigkeit. Er ist leicht betrübt und rasch getröstet, oft unmotiviert heiter. Daß er nicht unintelligent ist, wenn auch ziemlich verschroben, zeigen seine Aufzeichnungen, aus denen einige sehr bezeichnende Stellen, die sich auf sein sexuelles Empfinden beziehen, hervorgehoben seien: „Der Unterschied zwischen einem Schulmädchen und einem er- wachsenen Weibe war für mich von jeher ein derartig gewaltiger, wie man ihn sieh kaum vorzustellen vermag. Diese wundervollen, entzückenden, herrlichen, zarten Formen der Schulmädchen, ihr ganzer, von Naturschönheiten strotzender Körper, die schöne, frische Sprache, der Duft, welcher ihnen eigen ist, und dann diese dicken, plumpen, großspurigen, klobigen Formen des Weibes, ihr voller, massiver Eindruck! Sind denn die Normalen blind, daß sie den Abstand nicht wahrnehmen'? Ein Finger oder ein Ohr eines neunjährigen Mädchens reizt mich mehr als mehrere erwachsene, meinetwegen nackte Weiber." „Den Drang zu einem Schulmädchen, welchen ich auf Grund der Kulturgesetze nicht befriedigen kann, suchte ich bisher dadurch IL Kapitel: Der Infantilismus 53 nach Möglichkeit auszugleichen, daß ich, ein solches Mädchen in meiner Nähe habend, sie sehend oder auch an der Hand, am Hals oder am Bein anfassend in ganz unauffälliger Weise onanierte, ohne daß das Mädchen etwas merkte. Nach solcher Onanie in Gegenwart des Mädchens verspürte ich ein wunderbares »Gehobensein', eiae Leichtigkeit, etwas so Frisches, Munteres und außerordentlich Har- monisches in meinem ganzen Menschen, wie ich es bei einer Er- wachsenen nimmer verspürte und auch nie verspüren werde. Nach dieser Onanie blieb ich mehrere Wochen ganz befriedigt, und das erwachsene Weib ekelte mich außerordentlich an." „Nun habe ich folgendes experimentiert. Ich habe mich mit dem Hemde, den Strümpfen, dem Beinkleid eines Schulmädchens zu Bett gelegt oder»mich in ihrer sonstigen Bekleidung mit Stiefeln und Hut aufgehalten; dann verspürte ich ganz deutlich eine starke sinn- liche Erregung. Ich onanierte in den Sachen und war dann ganz beruhigt und blieb nach solcher Onanie mehrere Wochen hindurch vollkommen befriedigt." Patient setzt dann in sehr naiver Weise auseinander, daß das erwachsene Weib schuld daran ist, daß man Schulmädchen nicht lieben darf, weil sich „infolge ihrer Minderwertigkeit unter dem Deckmantel der Moral die gründlichste Eifersucht gegen Schul- mädchen verbirgt", wobei er in bezeichnender Weise an das Mär- chen von Schneewittchen anknüpft. Er sagt: „Schon im ,Schneewittchenmärchen' wird jung und alt gezeigt, wie eine eifersüchtige Person, und noch dazu die eigene Mutter, nach dem Leben eines bildschönen Schulmädchens trachtet ,Du Ausbund von Schönheit!', ruft die auf Schneewittchen eifersüchtige Frau entrüstet dem ihr ihre Häßlichkeit klarmachenden Spiegel zu, und so pflegt heute das erwachsene, an Leib und Seele häßliche Weib, obgleich sie die Schönheit der Natur im Schulmädchen wieder- gespiegelt sieht, unter der Maske ,ihrer Moral' aber im stillen ,du Ausbund von Schönheit!' ausrufend, wegen des Schulmädchen- und Backfischliebhabers die Polizei zu holen! Ganz gewiß muß nach wie vor eine Gesetzgebung dafür sorgen, daß das arme unschuldige, seines Weges kommende Kind nicht das Opfer eines Lüstlings und Vergewaltigers wird. Ganz gewiß! Aber wie kann mir jemand meine von der Natur erlaubte und bestimmte Liebelei mit einem Scbulmädchen verwehren, zumal dieses Mädchen bei mir ein aus- gezeichnetes Leben führen würde, wenn noch womöglich die mich denunzierenden Weiber als treulose Bräute und treulose Frauen ihr venerisches Gift verbreitend auf mich unter der Maske der Moral ihr Gift der Eifersucht auszuschütten suchen, jenes Gift, welches die von der Königin gesandte Krämerfrau in einem schönen Apfel ver- borgen dem Schneewittchen überreichte!" 54 II. Kapitel: Der Infantilismus Er fährt dann weiter fort: „Da sitze ich nun so öfter im Kaffeehause bei den Klängen des Orchesters oder auch im sausenden D-Zuge, wobei sich in meiner Erregtheit und Spannung sowohl durch gute Musik als auch durch das schnelle Fahren der Bahn ein Ausgleich abspielt. Ich kann auf diese Weise meine Unruhe, welche durch die Abwesenheit meines Schul- mädchens verursacht wird, wenigstens einigermaßen betäuben. Aber doch nur bis zu einem gewissen Grade. Denn wie ver- misse ich trotz dieser Musik- und Fahrablenkung besonders auf den schönen Schnellzugsreisen und im gemütlichen Kaffeehause mein Schulmädchen! Dieses vermisse ich schmerzlich, und all die von mir gehaßten erwachsenen »geschminkten und gepuderten' Frauenzimmer sitzen um einen herum! Es ist für mfth geradezu eine Ironie, bei den Klängen des Liedes .Puppchen* nach diesen alten .verlogenen und verbogenen' Weibsbildern zu .schmunzeln', während das wirkliche .Puppchen', das Schulmädchen, schon lange süß schlummert! Ein recht guter Beweis, daß meine Freude an den Schulmädchen nichts mit .Hirngespinsten' und sogenannter leerer, vielleicht auf Bekleidung beruhender Suggestion zu tun hat, wurde mir auf Bühnen erbracht, bei welchen erwachsene Weiber als Schul- mädchen verkleidet in offenen Haaren, kurzen Röcken und Waden- strümpfen auf der Bildfläche erschienen. Hier sah man deutlich nichts wie gemeine, geschminkte Gesichter, häßliche, plumpe Formen, so vor allem schon die scheußlichen, klobigen Arme und Hände und auch scheußliche, beinahe .männliche' Waden! Man kann dabei so recht sehen, wie die Echtheit, Schönheit und Harmonie der Natur mit aller Kunst und mit allem Raffinement nicht nachgeahmt oder gar ersetzt werden kann!" Wir sehen in diesem Falle alle oben angeführten vier Punkte: starke erbliche Belastung, primäre Neigung zu un- reifen Personen, Unerregbarkeit durch sexuelle Reize des erwachsenen Weibes, Neigung zu spiele- rischer sexueller Betastung deutlich ausgesprochen. Die gleiche Symptomatologie findet sich auch in dem folgenden Falle eines noch in den Entwicklungsjahren befind- lichen Pädophilen. Trotzdem er einer sehr frommen christlichen Gemeinschaft angehört (Methodistenkirche), kam er bereits mit 15 Jahren vor Gericht, weil er ein kleines Mädchen "in den Haus- flur gelockt und unzüchtig berührt hatte. Freigesprochen trat er dem Keuschheitsbunde vom „weißen Kreuz" bei, wurde aber mit 17 Jahren rückfällig. Aus dem folgenden Gutachten, das ich über ihn erstattete, geht die Schwere der ererbten psycho- pat bischen Konstitution hervor sowie der hohe Grad seiner psychischen und sexuellen Unreife. Mit meinem Mit- II. Kapitel: Der Infantilismus 55 gutachter gelangte ich infolgedessen zu dem Schluß, daß der Ange- klagte nicht nur infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit der freien Willensbestimmung ermangelte, sondern überhaupt nicht die erforderliche Einsicht. besäße, um die Strafbarkeit seines Han- delns zu erkennen. Wir hielten also die Voraussetzungen des § 51 8) und des § 56 EStGB.8) für gegeben. Unser Gutachten lautete: „Der am 3. Dezember 1896 geborene jetzt 17 Jahre alte Kauf- mannslehrling Emil H. ist während der letzten drei Wochen von uns beobachtet worden. Neben eingehenden Untersuchungen und Explorationen des H. selbst haben wir wiederholte ausführliche Be- sprechungen mit seiner Mutter und seinem Pflegevater gehabt, um uns ein möglichst klares Bild über seine Anlagen und seinen Ent- wicklungsgang zu bilden. Wir sind auf Grund dieser Unterlagen, gestützt auf unsere langjährige Beschäftigung und Erfahrung in sexualwissenschaft- lichen Fragen, zu einer übereinstimmenden Auffassung seines Geisteszustandes gelangt, die wir, unter besonderer Berücksichtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein ihm zur Last ge- legtes Delikt — unzüchtige Berührung eines kleinen Mädchens — im folgenden gutachtlich zum Ausdruck bringen. Unterlagen des Gutachtens: H. ist unehelich ge- boren. Seine Mutter hatte mit dem Vater etwa ein halbes Jahr hindurch Beziehungen, die ein Ende fanden, weil der Vater, der ein ausschweifendes Leben nach jeder Richtung hin geführt haben soll, geisteskrank wurde und in eine Irrenanstalt kam. Er ist hier seinem Leiden — der Schilderung nach Gehirnerweichung — erlegen. — Die Mutter weiß von ihm nur mitzuteilen, daß er viel getrunken und auch in sexueller Hinsicht exzediert hat, wie aus der Art seiner geistigen Krankheit hervorgeht, auch syphi- litisch gewesen ist. — Vier Jahre vor seinem Tode hat er auch eine Gefängnisstrafe verbüßt; der Anlaß derselben ließ sich nicht -ermitteln. 8) § 51 RStGB. lautet: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. § 56 RStGB. heißt: Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Hand- lung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß. In dem Urteile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besse- rungsanstalt gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr. 56 Weitere Belastungsmomente bei ihm oder seiner Familie sind der Mutter nicht bekannt. Sie selbst ist lungenkrank. — Etwa sechs Jahre nach der Geburt des Jungen heiratete die Mutter ihren jetzigen Ehemann, der H. adoptierte und ganz wie seinen eigenen Sohn liebevoll aber streng erzog. Die Ehe der Mutter mit dem Adoptivvater blieb kinderlos. — Während der ersten sechs Lebensjahre — bis nach der Ver- heiratung der Mutter — wurde Emil H. in fremden Familien er- zogen, die er, ungünstiger Verhältnisse halber, dreimal wechseln mußte. Über diese ersten Lebensjahre ist demnach wenig bekannt. Doch war H noch, als er in das Haus des Adoptivvaters kam, ein ängstliches, schreckhaftes Kind, fürchtete sich, allein im Dunkeln zu sein und litt an nächtlichem Aufschreien. Noch im 6. Lebens- jahre soll er zweimal das Bett genäßt haben. Unter dem Einfluß der liebevollen Sorge, mit der H. im Eltern- hause umgeben wurde, besserten sich diese nervösen Erscheinungen ; doch finden sich auch in den ersten Schulzeugnissen noch wiederholt Bemerkungen, die H.s zerstreutes Wesen, seine große Ablenkbarkeit und unruhiges Betragen tadelnd hervorheben. Im übrigen werden die Zeugnisse von Jahr zu Jahr besser und sprechen sich zuletzt in jeder Hinsicht lobend über H. aus. Namentlich gilt das von den Leistungen und dem Betragen im Fortbildungsunterricht. — Den Eltern fiel aber besonders ein starker Hang zum Lügen, der sich in völlig zwecklos erfundenen phantastischen Erzählungen äußerte, auf. Sie konnten diese Neigung mit Strafen und Ermahnungen nicht unterdrücken, bis sie im 14. Jahre sich nach und nach von selbst verlor. H. kam bereits sehr früh — in den ersten Schuljahren — von selbst auf die Onanie, die er bis jetzt regelmäßig — zeitweise exzessiv — betrieben hat. Eine sachliche Aufklärung über sexuelle Fragen fand nicht statt. Um so lebhafter beschäftigte sich H.s rege Phantasie mit abenteuerlichen Vorstellungen und Kombina- tionen auf geschlechtlichem Gebiet. Bei den im Elternhause herrschenden besonders strengen An- schauungen in sittlicher Beziehung hielt H. jeden Gedanken an sexuelle Betätigung für unerlaubt. Es erfaßte ihn aber gelegent- lich ein ihm selbst unerklärlicher Drang nach Betätigung, der schon im Jahre 1911 dazu führte, daß er ein Mädchen unzüchtig berührte. Um sich selbst gegen jede Versuchung zu sichern, trat er einem Jünglingsbund mit Keuschheitsprinzip bei. Er ist jetzt aber wieder der Versuchung, die er selbst als einen ihm ganz unverständ- lichen, dunklen Drang bezeichnet, trotz stärksten An- kämpfens unterlegen. H. ist ein kräftig gebauter, junger Mensch, der indes, hinsicht- lich seiner Entwicklung für sein Alter etwas zurückgeblie- II. Kapitel: Der Infantilismus 57 b e n erscheint. Es trifft das namentlich für die zarte, gefäßempfind- liche Haut und die spärliche Körperbehaarung zu. Die asym- metrische Schädel- und Gesicbtsbildung zeigt degenerativen Typus, dem in nervöser Hinsicht eine gesteigerte Reflex- und Gefäßerreg- barkeit entspricht. In psychischer Hinsicht ist eine auffallend kindliche Weichheit des Gemüts, die in großer Schüchternheit, stillem, träumerischem Wesen und Neigung zu Affektäußerungen, die nur mühsam unterdrückt werden, zum Ausdruck kommt, besonders her- vorzuheben. Das intellektuelle Geistesleben ist durch eine für das Lebens- alter erstaunliche Naivität und Unwissenheit in allen mit dem Geschlechtsleben zusammenhängenden Fragen bei sonst normalen geistigen Fähigkeiten charakterisiert. Die Willenstätig- keit ist — entsprechend der kindlichen Gesamtindividualität — wenig entwickelt; sie zeigt Anlehnungsbedürftigkeit und Lenksam- keit bei großer Unselbständigkeit und Mangel an eigenem Willen, an Energie und Initiative. Gutachten: Bei der Beurteilung der strafrechtlichen Ver- antwortlichkeit H.s für das ihm zur Last gelegte, dem sexuellen Triebleben entspringende Delikt sind zwei Umstände besonders in Betracht zu ziehen. Einmal liegt eine schwere erbliche Belastung seitens des an einer Geisteskrankheit verstorbenen Vaters vor. Diese Be- lastung äußert sich bei H. in einer neuro- und psychopathischen Konstitution, die von Jugend an in einer Reihe charakteristischer Einzelheiten zutage trat. — Das nächtliche Aufschrecken und Bett- nässen in früheren Jugendjahren sind dafür ebenso bezeichnend wie die Neigung zu zwecklosen Lügen und phantastischen Erfindungen bis zur Pubertät. Die abnorme sexuelle Reizbarkeit, die schon in früher Kindheit zu onanistischen Handlungen führte, stellt eine gewöhnliche Begleit- erscheinung dieses Zustandsbildes dar, das vielfach mit einem un- geordneten und impulsiven Triebleben verbunden ist. Als zweites Moment reiht sich der neuropathischen Konstitution H.s seine — gleichfalls mit der erblichen Belastung in engstem Zu- sammenhange stehende — mangelhafte Keif e, namentlich hin- sichtlich der sexuellen Entwicklung, an. Wir haben es nach dieser Richtung in ihm mit einem Menschen zu tun, dessen psychosexuelle Individualität die innere Harmonie und klare Zielstrebigkeit noch gänzlich vermissen läßt, welche man von seinen Lebensjahren schon erwarten könnte. Es entspricht viel- mehr die von ungeklärten Phantasien und dunklen Antrieben be- herrschte Sexualität einer Entwicklungsstufe, die gewöhnlich in der 58 IL Kapitel: Der Infantilismus Pubertät ihren Abschluß findet und die zu seinem sonst gut ent- wickelten Intellekt in charakteristischem Gegensatz steht. — Die gute Absicht der Eltern, ihn in geschlechtlicher Unwissen- heit und Unschuld mögliehst zu erhalten, hat nach dieser Richtung wohl weiter hemmend und schädigend gewirkt, insofern sie eine — in diesem Talle besonders erforderliche — sexuelle Aufklärung ver- hinderte. — Die Stärke impulsiver Antriebe aber pflegt erfahrungsgemäß dem Mangel klarer Erkenntnis und Einsicht in Fragen des Ge- schlechtslebens direkt proportional zu sein. Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergibt sich bei H. das Bild konstitutioneller Neuropathie auf dem Boden erblicher Belastung in Verbindung mit einer noch infantilistischen psychosexuellen Individualität, die in ihrem Mißverhältnis zu der sonstigen geistigen und körperlichen Persönlichkeit ein krankhaftes Überwiegen im- pulsiver sexueller Antriebe über die Hemmungen der Moral und des Verstandes bedingt. Müssen wir schon in dem infantilistischen Zu- stande an sich einen Umstand erblicken, der die fehlende Einsicht in die Strafbarkeit des hier in Betracht kommenden Handelns im Sinne des § 56 bedingen würde, so ist für dasselbe, in Anbetracht des psychischen Gesamtbildes, eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit als vorliegend zu er- achten, welche die freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 ausschließt. Das Seitenstück zu dem aus der Pubertätszeit sich zeitlebens fortsetzenden psychosexuellen Infantilismus juvenilis bildet der Infantilismus senilis. Wohl jedem forensischen Gut- achter sind die senildementen Kinderschänder zu Gesicht ge- kommen, in jedem Zuchthaus sind sie zu finden („Weshalb sind Sie hier", fragte ich einmal einen 80jährigen Greis im Zuchthaus zu B. „Wegen Sittlichkeit" lautete seine Antwort). Diese Fälle hängen mit der regressiven Rückbildung der infantilen PsychezuminfantilenTypus zusammen. Der Altersatrophie und Hypoplasie des Hodens entspricht die Schrumpfung aller Or- gane, die welkende Erscheinung, der mehr kindliche Gesichtsaus- dmck und das kindisch-läppische Wesen. Wir können die Sittlich- keitsverbrechen der alten Leute ungezwungen aus den Rück- bildungserscheinungen der Involutionsperiode er- klären, ohne daß man eine durch Übersättigung gesteigerte oder veränderte Reizbarkeit anzunehmen braucht. Auch liier sei ein Schulfall aus vielen ähnlichen angeführt. Es handelt sich um einen etwa 65jährigen Gärtner, Kriegsinvaliden von 1870/71, der angeklagt war, mit Mädchen von etwa 12 Jahren unzüch- II. Kapitel: Der Infantilismus tige Handlungen vorgenommen zu haben. Soweit wir den Tatbestand feststellen konnten, hatte er mit den betreffenden Kindern wiederholt allerlei Spielereien getrieben, sie auf den Knien reiten lassen, sich selbst auf ihren Schoß gesetzt und dabei offenbar auch sexuelle Mani- pulationen vorgenommen. Ihm selbst schien der erotische Charakter seiner Handlungen — an dem Maßstabe früheren normalen Ge- schlechtsverkehrs gemessen — nicht klar zum Bewußtsein ge- kommen zu sein; auch fehlte ihm die Einsicht für das Auffallende seines kameradschaftlichen Verkehrs mit den kleinen Mädchen völlig. Dagegen hatte er selbst beobachtet, daß ihn in der letzten Zeit Vor- gänge geschlechtlich erregten, die in den Jahren voller Potenz keinerlei Eindruck auf ihn machten, wie beispielsweise der Anblick sexueller Akte von Tieren. Die sonstigen psychischen Schwäche- erscheinungen traten verhältnismäßig noch wenig hervor, so daß sie — namentlich bei dem geringen Bildungsgrade des Patienten — wenig auffielen. Immerhin bestand eine läppische" Euphorie, die sich auch in der Unbesorgtheit und Zuversichtlichkeit gegenüber dem Ernst seiner Lage bekundete, neben einer gewissen knabenhaften Ver- schmitztheit, sowie auch ein relativ bemerkenswerter Maugel an Interessen, verbunden mit partieller Urteilsschwäche und einsichts- loser Perseveration bei eingehender Beschäftigung mit ihm. Das Gericht schloß sich den von uns geäußerten Bedenken an der freien Willensbestimmung des Angeklagten an und verfügte seine Beob- achtung in einer Anstalt zur genauen Feststellung des Geistes- zustandes. Diese in Herzberge ausgeführte Beobachtung führte zu seiner Exkulpierung aus § 51 StGB. Der originäre Infantilismus und der Infantilismus senilis stellen zweifelsohne die beiden auf innersekretorischer Basis be- ruhenden Geistesstörungen dar, auf welche die größte Quote psycho- pathologischer Kinderschändungen entfallen. An dritter Stelle steht der chronische Alkoholismus. Auch hier ein typisches Beispiel. L. stammt aus gesunder Familie, seine 86jährige Mutter lebt noch. Der Vater, welcher ver- unglückte, war ziemlich stark dem Alkohol ergeben. L. selbst, der unter der schweren Anklage steht, sich an seinem 8jährigen Kinde unzüchtig vergriffen zu haben, ist 56 Jahre alt. Seit seinem 15. Jahre bis jetzt leidet er an periodisch auftretender Migräne, bald auf der rechten, bald auf der linken Kopfseite. Als Kind stotterte er. Er wurde Kellner, dann Gastwirt und ist jetzt wieder Kellner. Vom 20. bis 45. Jahr trank er durchschnittlich 20 Glas Bier am Tage, seit den letzten 10 Jahren jedoch „selten mehr wie 10 Glas Bier täglich"; dazwischen einige Gläser Schnaps. Objektiv sind an ihm nachweisbar: ziemlich weit vorgeschrittene Arterien- verkalkung, Zittern, Keflexsteigerung, fibrilläre Muskelzuckungen, 60 II. Kapitel: Der Infantilismus leicht auslöslich/e wechselnde Affekte, Auf dem rechten Ohre ist er tauh. Mit 28 Jahren heiratete er. Die Ehe war von Anfang an sehr unglücklich. Er lag fortwährend mit der Frau im Streit. Trotzdem zeugte er mit ihr fünf Kinder. Vor 8 Jahren trennte er sich, nach- dem er sein ganzes Vermögen verloren hatte, von seiner Frau, kehrte aber vor einem Jahre aus Liebe zu den Kindern zu ihr zurück. Die Anzeige, daß er sich an seiner jüngsten Tochter in strafbarer Weise vergangen hat, wurde von seiner Frau erstattet. Er wurde darauf angeklagt, „durch mindestens sechs selbständige Handlungen mit seiner Tochter Martha, einer Person unter 14 Jahren, unzüchtige Handlungen vorgenommen zu haben, Ver- brechen gegen § 176 Abs. 1 RStGB.". Von seiner Tat gibt er selbst folgende bezeichnende Schilderung: „Als das Kind geboren wurde, hatte ich es sehr lieb. Es war noch nicht 1 Jahr alt, da machte ich von der Familie fort und habe es nicht früher gesehen als einmal vor 3 Jahren, da war es unge- fähr 5 Jahre alt. Ich war gezwungen durch die Verhältnisse, die durch meine Frau verursacht wurden, 3 meiner Kinder, darunter auch dieses der Frau fortzunehmen und habe sie einem katholischen Kloster in Breslau zur Erziehung übergeben. Seit der Zeit habe ich sie nicht wiedergesehen bis im Januar d. J., wo ich sie hier nach Berlin kommen ließ. Durch diese Trennung war sie mir vollständig entfremdet und ich muß gestehen, daß dieses mir sehr leid getan hat. Wie ich zu der Handlung gekommen bin, weiß ich nicht an- zugeben. Ich muß meiner Frau die größte Schuld beimessen: denn sie hat jedenfalls aus verschiedenen Gründen gesucht, mich unglück- lich zu machen; erstens durch das Beisammenschlafen in einem Bett, wo das Kind zwischen mir und der Mutter lag, und dann durch das Alleinsein mit ihr'. Ich glaube, es war im Juli, als ich das erste- mal dem Kinde am Geschlechtsteil spielte. Ich war immer während der Zeit kolossal aufgeregt und wußte für den Augenblick nicht, was ich tat, nachträglich bedauerte ich dieses und habe mir es vor- genommen nicht wieder zu tun. Ich konnte mich aber nicht be- herrschen und habe es viermal im ganzen wiederholt, was ich sehr bedaure. Ich kann es mir nicht erklären, wie ich dazu gekommen bin, denn jedesmal bei Begehung der Tat war ich dermaßen aufge- regt, daß ich nicht wußte, was ich tat, erst nachher wurde es mir klar, als ich mich selbst mit Vorwürfen überhäuft habe, aber aus der ganzen Handlungsweise ersehe ich immer deutlicher, daß die Mutter es darauf abgesehen hat, mich zu ruinieren. Sie hat selbst gesagt, daß sie jetzt ihre Rache an mir ausüben will. Ich habe weiter nichts getan, als mit den Fingern an Marthas Geschlechts- teilen gespielt." 61 Das 8jährige Kind als Zeuge vernommen bestätigte in einer aus- wendig gelernten Aussage, daß Vater mit ihr „Dummheiten" ge- macht habe. Trotzdem zwei ärztliche Sachverständige bei dem An- geklagten durch Alkohol vorzeitig herbeigeführten Greisenschwach- sinn annahmen und erhebliche Zweifel an seiner Zurechnungsfähig- keit äußerten, wodurch nach reichsgerichtlicher Entscheidung bereits die Voraussetzungen des § 51 KStGB. gegeben sind, beantragte der Staatsanwalt IV2 Jahre Zuchthaus. Das Gericht entschied dement- sprechend. Kurz nach seiner Überführung mußte L. wegen schwerer Verblödung in eine Irrenanstalt überführt werden. Von weiteren Defekten, die zu Attentaten an Kindern führen, nennt Krafft-Ebing geistige Schwächezustände auf patho- logischer und epileptischer Grundlage oder nach Apoplexie, ferner Lues cerebri und Kopftraumen. Auch andere Zustände von krank- hafter Bewußtlosigkeit kommen in Betracht. Fritz Leppmann, dem wir eine wertvolle Arbeit über diesen Spezialgegenstand ver- danken, sah die Geistesschwäche dieser Sittlichkeitsverbrecher ein- mal auch nach Typhus, zweimal nach Bleivergiftung auftreten. Einiges noch über die Beziehungen des Infantilismus zum Exhibitionismus. Einem Sachverständigen, der viele Exhibitionisten zu begut- achten Gelegenheit gehabt hat, wird es allmählich auffallen, wie häufig die Entblößungen gerade vor Kindern vorgenommen werden, ferner wie oft den ihre Geschlechtsteile läppisch zur Schau Stellenden ein infantiles Gepräge eigen ist. Oft mischt sich auch bei den In- fantilen der Entblößungstrieb mit dem Drang, obszöne Worte nament- lich vor Kindern zu gebrauchen, ferner mit der Tendenz, unzüchtige Betastungen an den Lustobjekten vorzunehmen oder von diesen an sich vornehmen zu lassen, während die Neigung zu regulärem Koitus meist gänzlich fehlt. Endlich ist zu bemerken, daß es meist ganz bestimmte Körperteile oder Kleidungsstücke sind, die den ex- hibitionistischen Drang auslösen, wobei die unteren Extremitäten (Wade, Knie, Füße, Strümpfe, Strumpfbänder, Schuhe usw.) eine Hauptrolle spielen. Ein Schulfall, in dem sich der Infantilismus mit ex- hibitionistischen und fetischistischen Regungen fest vergesellschaftet hat, findet sich in dem folgenden Gutachten be- schrieben: „Von den Angehörigen des Kaufmanns Max K. sind wir ersucht, auf Grund unserer spezialistischen Beschäftigung mit sexualwissenschaftlichen Fragen ein sachverständiges Gutachten darüber abzugeben, ob Herr K. sich bei der Begehung gewisser ihm zur Last gelegter geschlechtlicher Delikte in einem Zustande krankhaft veränderter Geistes- tätigkeit befunden hat, der seine freie Willensbestimmung ausschloß. Herr K. hat sich aus diesem Grunde in unserer Beobachtung befunden, die durch seine unerwartete Abreise ins Ausland vorzeitig — nach etwa drei Wochen — beendet werden mußte. 62 II. Kapitel: Der Infantilismus Da wir indessen Herrn K. während dieser Zeit fast täglich gesehen und uns sehr eingehend mit ihm beschäftigt haben, da wir die Eindrücke, die wir aus seinen Mit- teilungen und unserer eigenen Beobachtung gewannen, nach Möglichkeit durch Angaben, die uns von seinen Verwandten über ihn gemacht wurden, ergänzen konnten, waren wir in der Lage, uns ein eindeutiges Bild von dem Geisteszustände des Herrn K. zu bilden, auf Grund dessen wir das nachstehende Gutachten abgeben können. K. ist sowolü väterlicher- wie mütterlicherseits recht schwer erblich belastet. Großvater und Großmutter väterlicherseits waren rechter Cousin und rechte Cousine. Von ihren 19 Kindern starben mehrere in jungen Jahren, andere waren mit körperlichen Gebrechen behaftet, drei waren geistesschwach und endeten durch Selbstmord. Der Vater des Herrn K. ist mit 52 Jahren an Magenkrebs gestorben. Auch in der Familie der Mutter sind geistige und nervöse Leiden mehrfach vorge- kommen, ausgesprochene Geisteskrankheit in drei Fällen bei Cousins bzw. Cousinen. Eine Schwester der Mutter leidet an Kropf mit nervösen Erscheinungen, vermutlich Basedow; die Mutter gleich mehreren anderen Verwandten an Migräne, außerdem hat sie grauen Star. Von Max' Geschwistern ist eine Schwester schwer psychopathisch, leidet an funk- tionell nervösen Erscheinungen, während ein Bruder ähnliche degenerative Erscheinungen, namentlich auf sexuellem Gebiete, zeigte, wie K. selbst. Dieser entwickelte sich als Kind langsam und lernte spät — gegen Ende des zweiten Lebensjahres — gehen und sprechen. Bis in die späteren Knabenjahre war er sehr ängst- lich und schreckhaft, stotterte und litt bis zum 6. Jahre an Bettnässen. Auf der Schule kam er sehr schlecht vorwärts, das Lernen fiel ihm außerordentlich schwer, insbesondere waren Gedächtnis- und Merkfähigkeit außerordentlich mangelhaft, so daß er zum Aus- wendiglernen von geschichtlichen Jahreszahlen und Gedichten ungleich längere Zeit brauchte als seine Mitschüler und trotzdem das Gelernte nicht behalten konnte. So blieb ' er denn auch wiederholt sitzen und erreichte das einjährige Zeugnis nur mit größter Mühe. Er machte seine Lehrzeit im Geschäfte seines Onkels durch und war später bei seinem Schwager in Magdeburg tätig; zu einer Tätigkeit bei fremden Leuten oder zu einem selbständigen Erwerbsleben reichten weder seine intellektuellen Fähig- keiten noch seine moralischen Qualitäten aus. Es fehlten ihm geistige Reife, Charakterfestigkeit und Konsequenz des Handelns nahezu völlig. Im frühen Alter schon spielte die Sexualität in seinem Leben eine Rolle und äußerte sich mit impulsiver Stärke, ge- steigerter Reizbarkeit und verminderter Widerstandsfähigkeit. Vom 12. Jahre an hat er regelmäßig, oft mehrmals täglich onaniert. Neben einer Fülle ungeklärter und un- geordneter sexueller Antriebe und Vorstellungen beherrschte ihn längere Zeit eine leiden- schaftliche Verliebtheit zu einer Verwandten, die er äußerer Verhältnisse halber unter- drücken mußte, was seine geschlechtliche Erregbarkeit in hohem Grade steigerte. Der sexuelle Verkehr mit Prostituierten befriedigte ihn nur dann, wenn er damit die Be- friedigung seiner anormalen sexuellen Antriebe verbinden konnte. Zunächst rich- teten sich diese auf bestimmte Kleidungsstücke, namentlich Strümpfe, Strumpfbänder und Schuhe, in Verbindung damit auch auf die entsprechenden Körperteile, Waden und Füße, die aber ausschließlich in bekleidetem Zustande als Sexual- objekte in Betracht kommen. Beim Berühren derselben, oft auch schon bei ihrem bloßen Anblick, gerät K. seiner Angabe nach öfter in einen Zustand eigenartiger Ekstase, in dem ihm das Bewußtsein schwindet, bis bei völliger seelischer und körperlicher Ohnmacht ohne irgend- welche sexuelle Betätigung die Ejakulation erfolgt, nach der er wie aus schweren Träumen ernüchtert erwacht. In Fällen, in denen er sich auf den bloßen Anblick solcher ihn besonders er- regender Sexualobjekte beschränken muß und eine sexuelle Annäherung gewaltsam II. Kapitel: Der Infantilismus 63 zu unterdrücken sucht, treibt ihn ein unwiderstehlicher Drang, sein Glied zu entblößen, worauf sehr rasch die Ejakulation erfolgt. Auch Grausamkeiten, die er in Verbindung mit dem gesclilechtlichen Verkehr erleidet, bilden für ihn starke sexuelle Anreize. Befund und Beobachtungsverlauf: Beim ersten Anblick macht Max K. den Eindruck eines Menschen, dessen Entwicklung in körperlicher und seelischer Hinsicht erheblich hinter seinen Lebensjahren zurückgeblieben ist. Der Körper ist schlank und kräftig gebaut, die Gesichts- züge zeigen einen ausgesprochen kindlichen Ausdruck. Der Bartwuchs ist so spärlich, daß K. nur glattrasiert gehen kann, während die Körperbehaarung normal ist. Die Form des Schädels ist eine äußerst merkwürdige und bildet bei niedriger Stirn und zurücktretendem Hinterhaupt die Merkmale des sogenannten Vogel- schädels (Aztekentypus), die wir nur bei schwer degenerierten Menschen antreffen. Dem entspricht die von der Mitte und den Seiten aus weit auf die Stirn übergreifende Kopfbehaarung. Auch die asymmetrische Gesichtsbildung, die unregelmäßige Zahn- stellung und die wenig differenzierten, abstehenden Ohrmuscheln entsprechen diesem Bilde schwerer Degeneration. Der körperliche Befund entspricht im übrigen, abgesehen von, etwas erhöhter Reflex- und Gefäßerregbarkeit, der Norm. Hervorheben müssen wir - noch, daß Max K. stets besonders zarte, seidene Unter- wäsche, lange Damenstrümpfe mit Strumpfbändern und zierliche Lackhalbschuhe trägt, ein Umstand, der für die Beurteilung seines gesclilechtlichen Empfindens nicht ohne Bedeutung ist. Wiederholt hatte K. während der Beobachtungszeit über nervöse Beschwerden, insbesondere Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Mattigkeit, Unruhe, Zittern und Schwindel- gefühl zu klagen. Seiner Angabe nach ist er von Launen außerordentlich abhängig und leidet oft an dem Zwange, seiner Stimmung widersprechende Gefühls- und Stimmungs- äußerungen zu tun, bei Trauer zu lachen und bei Freude zu weinen. Er selbst gibt an, daß er sehr wechselnder Stimmung ist, daß ausgelassenste Heiterkeit und tiefste Niedergeschlagenheit oft unvermittelt und unbegründet bei ihm wechseln. Es steht damit durchaus nicht im Widerspruch, daß K. uns gegenüber während der Beobachtungszeit ein ziemlich gleichmäßiges apathisches, meist etwas gedrücktes Wesen zeigte, das allerdings nicht selten durch ein ganz unmotiviertes Lachen unter- brochen war. Seine Intelligenz steht auf recht niedriger Stufe. Der Kreis seiner Vorstellungen und Interessen ist ungewöhnlich beschränkt, die kombinatorische Verstandestätigkeit ist deutlich verlangsamt und gehemmt, Einsicht und Urteilsfähigkeit sind sehr gering. Von der Minderwertigkeit seines Assoziationsvermögens, der Mangelhaftigkeit seiner Merkfähigkeit und seines Gedächtnisses konnten wir uns durch zahlreiche Versuche während der Beobachtungszeit überzeugen. Die oben wiedergegebenen Angaben über sein Sexualleben tragen so ausgesprochen den Stempel innerer Wahrscheinlichkeit und entsprechen in so hohem Grade den Tat- sachen wissenschaftlicher Erfahrung, daß ein Zweifel an ihnen ausgeschlossen erscheint, zumal verschiedene Momente unserer eigenen Wahrnehmung ihnen entsprechen. Einmal wären hier die erwähnten Eigentümlichkeiten in der Kleidung K.s zu erwähnen. Ferner befindet sich in seinem Besitz eine Sammlung von 300 Ansichtskarten mit erotischen Darstellungen, die ihrer Art nach den von ihm geschilderten sexuellen Besonder- heiten entsprechen. Wir haben diese Karten zu den Unterlagen der Krankheitsgeschichte in Verwahrung genommen und uns von der spezifischen Eigenart des Materials daher selbst überzeugen können. Wir fügen zwei charakteristische Proben aus dieser Bildersammlung bei. (Tafel XI.) Es kam auch während der Beobachtungszeit vor, daß K. sich gelegentlich ver- spätete und als Grund angab, daß er einer Dame, die er in der Elektrischen mit über- einandergeschlagenen Beinen sitzen gesehen hatte, bis in ganz entfernte Gegenden von Berlin gefolgt war. 64 II. Kapitel: Der Infantilismus Gutachten: Herr K. ist angeschuldigt, vor jungen Mädchen, die auf ihn, wie er selbst angibt, durch den Anblick ihrer bekleideten Unterschenkel und Füße einen sexuellen Reiz ausübten, sein Glied entblößt zu haben, wobei es in einzelnen Fällen vor ihnen zur Ejakulation gekommen sein soll. Aus unseren Angaben geht hervor, daß K. entschieden zu derartigen Handlungen neigt. Fast immer entsteht die Neigung dazu auf dem Boden einer krankhaften Dis- position; es ist im Einzelfalle nur die Frage, ob in Anbetracht derselben tatsächlich ein Ausschluß der freien Willensbestimmung anzunehmen ist. Die Persönlichkeit K.s zeigt neben zahlreichen neuropathischen Zügen in erster Linie das Bild einer eigenartigen Form geistiger Schwäche, die erst in den letzten Jahren wissenschaftlich erkannt und als Krankheitsbild fest umschrieben ist. Wir be- zeichnen sie als I n f a n t i 1 i s m u s , als ein Zurückgebliebensein der Entwicklung auf kindlicher Stufe, das sich auf das Ganze oder auch auf Einzelzüge der Persönlichkeit er- strecken kann. Das letztere ist bei K. der Fall. Zwar hat er sich in mancher Be- ziehung zu Kenntnissen, Anschauungen, vielleicht auch zu Leistungen eines erwachsenen Menschen heraufgearbeitet, im Kern seiner Persönlichkeit aber ist er ja u s den Kinderschuhen nicht herausgekommen. Ganz besonders gilt dies auch von seiner Sexualität. Zwei Momente charakterisieren im wesentlichen das infantile Sexualleben, seine Impulsivität und seine Indifferenziertheit, die in bunter Mannig- faltigkeit Wurzeln und Keime der verschiedensten ungeklärten, oft direkt paradoxen ge- schlechtlichen Antriebe vereinigt. Ein ausgesprochener Mangel an Widerstands- fähigkeit und Beherrschbarkeit gehören gleichfalls zum Bilde des Infantilismus. In der Persönlichkeit K.s treten alle diese Züge ungewöhnlich deutlich zutage; der Mangel an Widerstandskraft und Beherrschbarkeit aber wird bei ihm noch wesentlich erhöht durch die neuropathischen Momente in seinem Krankheitsbild, die Neigung zu Zwangs- handlungen und das temporäre völlige Versagen aller Hemmungen, das — seiner durch- aus glaubhaften Schilderung nach — sich besonders in Momenten geschlechtlicher Er- regung bei ihm einstellt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß durch dieses Zusammentreffen infantil- sexueller Reizbarkeit und abnormer Impulsive einerseits und psychischer Labilität und Widerstandsunfähigkeit andererseits krankhafte Störungen der Geistestätigkeit bedingt wurden, welche die freie Willensbestimmung K.s für die in Frage stehenden Delikte ausschlössen. Unser Gutachten geht demnach dahin: Bei der Begehung ihm zur Last gelegter exhibitionistischer Delikte befand sich K. zweifellos in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, welcher seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 StGB.s ausschloß. Ob es zutrifft, daß, wie Krafft-Ebing, Leppmann und viele andere Autoren meinen, Unzuchtverbrechen an Kindern aucb ,von Geistesgesunden „aus Übersättigung" begangen werden, oder weil sie sich „aus Geilheit und Hoheit, nicht selten in ange- trunkenem Zustande, so weit in ihrer Menschenwürde vergessen", wage ich nicht zu entscheiden. Ich habe geistesgesunde Kinderschänder nicht gesehen, vielmehr bei ge- wissenhafter Tief enexploration stets mehr oder weniger schwere Defekte gefunden. Ich halte, nament- lich auch auf Grund von Beobachtungen, die ich an Personen an- stellen konnte, die verurteilt waren und ihre Strafen verbüßt hatten, ohne daß sie jemals ärztlich untersucht wurden, die Forderung für dringend geboten, daß in jedem einzigen Falle aus II. Kapitel: Der Infantilismus 65 § 176 RStGB. e x o f f i c i o eine sorgsame psychiatrische Beobachtung und Begutachtung des Täters veranlaßt wird. Mit Recht sagt von Krafft-Ebing: „Je monströser die Handlung, je mehr sie see- lisch und leiblich vom natürlichen Geschlechtsverkehr differiert, um so vorsichtiger muß die Beurteilung des subjek- tiven Tatbestandes sei n." Hirschfeld, Sexualpathologie. I. 5 III. KAPITEL Frühreife Inhalt: Spät reife und Früh reife — Die vier Grundformen der Frühreife (die genitale, somatische, psychosexuelle und psychische Frühreife) — Fälle geschlechtlicher Frühreife beim weiblichen Geschlecht — Beispiele von Menstruatio praecox — Die frühzeitige Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen als Folge innersekretorischer Störungen — Neubildungen an der Keimdrüse, Zirbeldrüse, Nebennierenrinde und Hypophyse — Diskongruenz in der Entwicklung der Geschlechtscharaktere — Infantilismus und Prämaturität — Prämature Geschlechts- entwicklung beim männlichen Geschlecht — Ein vierjähriger Mann — un- einheitliche Geschlechtsreifung — Völliges Verschwinden der Frühreife nach Beseitigung eines Hodentumors — Auftreten männlicher Geschlechtscharaktere bei einem vierjährigen Mädchen — Doppelgeschlechtliche Frühreife — Körperliche Frühreifung ohne genitalen Parallelismus — Psychosexuelle Früh- reife — Schwangerschaften und Entbindungen im Kindesalter — Ge- schlechtsbetätigung von Kindern — Paradoxia sexualis — Periphere und zerebrale Geschlechtserregungen — Ist der infantile Geschlechtstrieb die Regel oder Ausnahme? — Fall von sexueller Paradoxia auf degenerativer Grundlage — Fall von inzestuösem Geschlechtsverkehr unter jungen Geschwistern — Vor- zeitiger Geschlechtstrieb bei Tieren — Die seelische Frühreife — Das Geschlechts- leben der Wunderkinder — Künstlerische Frühreife — Mozart und Dürer — Das Lübecker und fränkische Wunderkind — Der Braun- schweiger Wunderknabe — Jugendliche Rechenkünstler ■ — Phänomenale einseitige Begabung bei Geistesschwäche — Weiterentwicklung geistig Frühreifer — Überentwicklung gewisser Hirnteile auf Kosten anderer. Verzeichnis der Abbildungen: Tafel XII. Prämature Geschlechtsentwick- lung bei einem vierjährigen Knaben. — Tafel XIII. Doppelgeschlechtliche Frühreife im 8. Lebensjahr. — Tafel XIV. Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahr. Nicht ganz so häufig wie der ausbleibende und verspätete, ist der verfrühte Eintritt der Geschlechtsreife. Rechnen wir den normalen Spielraum des Pubertäts beginnsin unseren Breiten etwa vom 11. bis 17. Lebensjahre, so werden wir das Auftreten der Pubertäts- vorgänge nach dem 18. Jahre als Spätreife, ihr Erscheinen vor dem 10. Jahre als Frühreife bezeichnen können. Auch bei der Betrachtung der Frühreife empfiehlt es sich, entsprechend unserer Vierteilung der Geschlechtsmerkmale zu unterscheiden: III. Kapitel: Frühreife 67 I. die genitale Frühreife, II. die somatische Frühreife, III. die psyehosexuelle Frühreife, IV. die psychische Frühreife. Die genitale Frühreife ist sowohl beim männlichen, als beim weiblichen Geschlecht ziemlich häufig beobachtet worden. Schon H a 1 1 e r hat hierher gehörige Fälle von „incrementum nimium" zu- sammengestellt und neuerdings sind ihm Ploß, Kußmaul, Kisch, Gebhardt, Obmann und andere gefolgt. Kisch erwähnt zahlreiche wohl konstatierte Fälle, in denen Menstrualblutungen bereits vor Ablauf des ersten Lebensjahres festgestellt wurden, unter diesen denFall vonBernard, in welchem von der Geburt bis zum 12. Lebensjahre regelmäßig alle Monate eine zweitägige Menstruation mit Molimina eintrat, vom 12. bis 14. Jahre die Menses aufhörten, um dann, wenn auch unregel- mäßig, wiederzukommen. Conty beobachtete folgenden Fall: Ein Mädchen von 6 Jahren und 2 Monaten hat das Aussehen eines 14 bis 15jährigen Mädchens, sie ist brünett, 1,18 m hoch, hat volle, feste, runde Brüste, 72 cm Brustumfang, Möns veneris ist mit Haaren bedeckt, Uterus bei Rektaluntersuchung normal zu fühlen, Hymen intakt; die Menstruation ist seit dem zweiten Lebens- jahre ganz regelmäßig. Die Mutter und 5 Schwestern haben zwischen 12 und 14 Jahren menstruiert. Allgemeinbefinden des Kindes ist gut. Diamant sah gleichfalls ein 6jähriges Mädchen, das 79 Pfund wog, und Hüften, Schenkel und vor allem Mammae einer völlig geschlechtsreifen Frau besaß. Möns veneris und Achsel- höhlen waren behaart. Die Menstruation warmit 2 Jahren eingetreten und seitdem in regelmäßigen Abstän- den wiedergekehrt; sie dauerte 4 Tage. Ploß zitiert folgenden Fall von Cortenajera: „Kind X., mit 7 Monaten (am 4. April 1878) trat 3 Tage lang Blut aus der Vulva; im folgenden Monat kehrte die Blutung wieder und währte gleich- falls 3 Tage; und so allmählich weiter bis zum März 1879. Um diese Zeit, als schon das Kind 18 Monate alt geworden, trat statt der Blutung eine sehr reichliche Leukorrhoe auf, die bis Mitte Januar 1880 anhielt. Hierauf zeigte sich nach einer heftigen Kolik Menor- rhagie von neuem. Die Menge des Blutes, die jedesmal abging, be- trug 45 g. Das Kind hatte im Alter von 28 Monaten mit seinen runden Formen und seiner 75 cm breiten Taille ganz das Aussehen einer im Wachstum stark zurückgebliebenen Frau. Die Brüste sind kräftig, über zitronengroß, elastisch und turgeszent, wie bei einem 16 — 17 jährigen Mädchen, mit prominierenden Warzen und sehr großem Hof. Die äußeren Genitalien sind sehr gut ent- wickelt, die Vulvaöffnung ist sehr groß, die Labien sind dick und der 5* Schamberg mit ziemlich langem, rotem Haar besetzt. In moralischer rund physischer Hinsicht entspricht das Kind den Verhältnissen der ersten Kindheit." Plyette berichtet von einem Mädchen, das mit 4 Jahren zum ersten Male menstruierte, sie war körperlich stark entwickelt. Die Menstruation war seit dem 4. Lebensjahre ganz regelmäßig aufge- treten mit Ausnahme zweier Monate, in denen vikariierendes Nasenbhiten bestand. Gebhard gibt eine Zusammenstellung von 54 Fällen von Menstruatio praecox. Nach seiner bei Kisch abgedruckten Tabelle ist die erste Menstruation eingetreten: In 1 Fall bei einem neugeborenen Kinde, „ 1 „ „ „ Kinde im Alter von 2 Wochen, „ l ,, ., ,, ,, „ ., 2 Monaten, „ 1 i, ii ii •• •■ 3 ii 1 4 11 -L 1, V 11 •• V 11 ■• ^ i. 1 ■• ,1 •• 5 •i 1 -i ii ii 7 „ 4 Fällen „ ' ,, „ ., „ 9 2 ,, ., ., .. ., .. 10 • i 5 ,i „ „ ii 1 Jahre, „ 1 Fall „ „ „ ., ., .. 15 Monaten, ,i 1 „ i, - - 16 „ 2 Fällen „ „ „ „ „ „ 18 „ „• 1 Fall „ ; „ „ „ 19 1 22 n a ii ii ii n ii i- 'i „ 4 Fällen „ „ „ „ ,. ., 2 Jahren ,, 1 Fall „ ,. „ ,, ,. .. 2 .. und 6 Monaten, 1 9 9 11 1 11 11 11 1* 'i 1' "11 11 ° n ,, 6 Fällen „ ,. „ „ ,. 3 ,, 1, 1 Fall „ „ 3 ., „ (i K'-V'4 Fällen „ „ „ „ ., .. 4 „ „ 1 Fall , .. „ .. 4 , „ 3 1 5 n x 11 n n i- n !• ii '-> ii 1 ii ii n ii ii «1 v 5 ii b •i 1 n ii n i- ii i* 6 ii •i 1 n ii ii n ii ii ii 6 i- 0 „ 3 Fällen „ „ .„ „ „ „ 7 , ,, 2 Q n - ,i ,, ,, ,i ii i. i, 1 Fall „ „ ., 11 „ „ G Daß Ovarienverän der u ngen in engen Beziehungen zur Menstruatio praecox und anderen Erscheinungen der Frühreife stehen, lehren Beobachtungen von Kuß m a u 1 und Hof meier. Letzterer entfernte bei einem 5jährigen frühreifen Mädchen eine rasch wachsende Eier Stocksgeschwulst, worauf die Men- strnalblutungen aufhörten und die bei der Operation abrasierten Schamhaare nicht wiederkehrten. Sicherlich sind es aber auch hier nicht die Keimdrüsen allein, sondern noch andere endokrine Organe des polyglandulären Systems, die auf die zu frühzeitige Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen von großem Einfluß sind. Dafür sprechen 69 mancherlei Umstände, einmal, daß man den Symptomenkomplex, der für die dem Alter weit voranseilende Gesehlechtsreifung bezeich- nend ist — P e 1 1 i e i nannte ihn Macrogenetosomia praecox — auch hei Tumoren, namentlich Teratomen der Zirbeldrüse im kindlichen Alter findet, ferner bei Erkrankungen und Tumoren der Nebennierenrinde. Wir erwähnten im vorigen Kapitel, daß dagegen die genitale Unterentwicklung häufig mit Ver- änderungen der Hypophyse im Zusammenhang steht, womit dann häufig eine somatische Überentwicklung verbunden ist. Wird doch die Akromegalie geradezu auf die gesteigerte Sekretion der Hypophyse zurückgeführt. Gerade die Diskongruenz in der Entwicklung der Ge- schlechtscharaktere, wie wir sie sowohl im Infantilismus, als bei der Prämaturität finden, spricht dafür, daß hier nicht eine Drüse, sondern eine ganze Beibe ihre innere Wirksamkeit entfalten, von denen bald diese bald jene funktionell versagt. Biedl erklärt sich die vorzeitige Geschlechtsentwicklung bei Epiphysentumoren so, daß von diesem Organ während der Zeit seiner vollentwickelten Tätig- keit ein bestimmter, und zwar wie es scheint hemmender Ein- fluß auf die Funktionsentfaltung der Keimdrüse ausgeübt wird. Da- durch führe die Zerstörung der Zirbeldrüse und der damit ver- bundene Ausfall ihres Sekrets zu den Erscheinungen der Früh reife. Es ist bemerkenswert, daß nach den bisherigen Ermittlungen Erkrankungen der Epiphyse öfter bei dem männlichen, Veränderungen der Nebenniere öfter bei dem weib- lichen Geschlecht vorkommen; berücksichtigen wir weiter, daß im jugendlichen Alter Hodentumoren seltener sind als 0 v a r i a 1 geschwülste, so erklärt es sich aus diesen Ur- sachen, daß wir die vorzeitige Geschlechtsentwicklung häufiger bei weiblichen als bei männlichen Personen finden. Glynn stellte Ü7 Fälle von Tumoren der Nebennierenrinden im Kindesalter zu- sammen mit prämaturer Entwicklung der Genitalorgane und vor- übergehendem Biesenwuchs. Von diesen 17 Fällen gehörten 14 dem weiblichen, 3 dem männlichen Geschlecht an. In der N e u - rath sehen Zusammenstellung von Fällen vorzeitiger exzessiver Ent- wicklung der primären und sekundären Geschlechtszeichen bezogen sich 83 auf Mädchen und etwa halb soviel, nämlich 43 auf Knaben. Uber die vorzeitige Geschlechtsentwicklung bei Knaben hat vor einiger Zeit Dr. Obmann in Meiningen eine beachtenswerte Studie veröffentlicht. Anlaß gab ihm hierzu ein sehr merkwürdiger Fall, den er an einem noch nicht ganz 4 Jahre alten Knaben namens Bobert E. beobachtete, der wegen Paraphimose in das Georgen- krankenhaus eingeliefert wurde. Ich will über diesen Fall, den ich 70 III. Kapitel: Frühreife später selbst beobachtete, zunächst nach der Schilderung des Kollegen berichten (vgl. Tafel XII). „Robert E.s Eltern leben und sind gesund, der Vater steht zur Zeit im Felde als Landsturmmann. In der Verwandtschaft keine erbliche Veranlagung, nur litt die Mutter, während sie mit Robert schwanger ging, an einer geringen geistigen Störung, anscheinend Schwangerschaftspsychose. Die Mutter war zuvor achtmal schwanger, wobei das Kind siebenmal ausgetragen wurde, einmal kam es zur Fehlgeburt. Bei Roberts Geburt war die Mutter 35 Jahre alt. Die ersten sieben Kinder hatten bei der Geburt normale Größe und entwickelten sich normal; das älteste ist jetzt 16 Jahre alt, eins starb mit drei Tagen. Der Junge selbst wurde nach der normalen Schwangerschaftsdauer leicht, ohne ärztliche Hilfe geboren. Bei der Geburt hatte er dieselbe Größe und dasselbe Gewicht wie durchschnittlich andere Kinder auch. Während aber die früheren Kinder nur mit Mutter- milch aufgezogen wurden, genügte Robert die Brust nicht, obgleich die Mutter ausdrücklich angibt, daß sie ebensoviel Milch gehabt hätte wie früher; er bekam deshalb neben der Brust noch Kuhmilch und Zwieback. Mit ungefähr einem Jahre lernte er das Laufen, ebenso lernte er das Sprechen zur rechten Zeit. Die Zahnentwicklung war normal, nur hatte er dabei viel Krämpfe, keine Durchfälle. Als Robert ungefähr ein Jahr alt war, fiel der Mutter auf, daß an den Ge- schlechtsteilen Haare wuchsen; als er zu sprechen anfing, merkten die Eltern, daß die Stimme auffallend tief war, während es ihnen zuvor beim Schreien nicht so aufgefallen war. VomzweitenLebensjahrcan wuchs Robert sehr rasch, auch bemerkte die Mutter, daß sich die Geschlechtsteile anders entwickelten als bei den übrigen Kindern. Daß das Glied steif wurde, hat die Mutter schon öfters be- merkt, aber nicht, daß Robert an ihm onan istische Manipulationen vorgenommen hätte; "Abgang von Samen wurde nicht festgestellt, ebensowenig Äußerungen besonderer ge- schlechtlicher Erregung. Die Paraphimose habe er sich nach Mitteilung der Mutter durch Spielen mit einem achtjährigen Mädchen zugezogen, wobei die Mutter ausdrück- lich dem Mädchen die Schuld zur Veranlassung gibt, sonst sei er noch nie Mädchen nachgegangen ; überhaupt spiele er nicht mit den Kindern, sondern e r rechnet sich mehr zu den Erwachsenen und hält sich zu diesen. Seine Lieblingsbeschäftigung sei das Ein- und Ausspannen der Kühe, tagsüber sei er größtenteils auf dem Felde; er erzählte auch im Krankenhaus viel von den Kühen. Tier- quälerei sei nicht beobachtet worden. Von Charakter sei er gutmütig, doch sei er nicht so leicht zu bewältigen, wenn er zornig würde, nur vor seinem Vater habe er Respekt. In geistiger Beziehung sei er nicht zurückgeblieben, er sei im Gegenteil viel gescheiter als ein anderes Kind. „Als ich ihn im Bette liegen sah," berichtet Kollege Obmann weiter, „hatte ich den Eindruck, als sei es ein im Wachstum zurückgebliebener Mann. Er ist 121 (99) *) cm groß und wiegt ohne Kleidung 68 (28) Pfund. Kräftiger Knochenbau, Muskulatur sehr gut entwickelt. Die Genitalien entsprechen in ihrer Entwicklung denen eines 16 — 18jährigen Jünglings; sieben Wochen nach der Ope- ration der Phimose ist der Penis in nicht erigiertem Zustande 8 cm lang, beide Hoden kleinpflaumengroß. Am Möns pubis reichlicher Haarwuchs; die Haare sind bis zu 4 cm lang und von dunkler Farbe. Von den sekundären Geschlechtszeichen fällt die enorme Bildung von Aknepusteln in Gesicht und Rücken auf. Die Stimme ist tief wie bei einem Erwachsenen, nur klingt sie sehr rauh. Die Brustwarzen sind stark entwickelt. In den Achselhöhlen und auf den Lippen kein Haarwuchs. Der Kopf ist außerordentlich groß, Umfang um die Stirnhöcker gemessen 58,5 (45) cm. Die Fontanellen sind geschlossen. Die Halsweite beträgt 33 (23,5) cm. Umfang der Brust im Ekspirium 77 (51) cm, im Inspirium 82 (55) cm, des Abdomens 76 (49) cm. Das . Becken und besonders der Fettansatz an der Außenseite der Ober- *) Die Zahlen in Klammern entsprechen den normalen Durchschnitts- maßen eines vierjährigen Knaben. IIT. Kapitel: Frühreife 71 Schenkel hat große Ähnlichkeit mit dem weiblichen Typus. Es besteht ziemlich hoch- gradige Rachitis, besonders an den unteren Extremitäten. Für die kräftig entwickelte Muskulatur sprechen die Maße: so ist der größte Umfang des Oberarms beiderseits 22 (14) cm, des Unterarms links 23 (14), rechts 23,5 (14) cm, des Oberschenkels beiderseits 42,5 (25) cm, der Waden 28 (18) cm. Diese Zahlen entsprechen ungefähr denen eines 12 — 14jährigen Jungen. Ein Beweis für seine Kraft ist, daß Robert einen 20 Pfund schweren Eimer mit einer Hand ohne besondere Anstrengung hebt, ebenso mühelos hebt er ein fünfjähriges Kind von 26 Pfund. Besonders bemerkenswert dürfte die Beobachtung sein, daß er zur Narkose ebensoviel Chloroform brauchte, als ein normaler 20jähriger Mann. Die Ossifikationsverhältnisse entsprechen denen eines acht- bis zehnjährigen Kindes; die sehr guten Zähne dagegen seinem Alter, d. h. er hat noch das vollständige Milchgebiß. Augenhintergrund normal. Hydrozephalus ist trotz des großen Kopfumfanges nicht wahrscheinlich. Röntgenologisch konnte am Schädel, besonders an der Sella turcica mit Bestimmtheit, ein pathologischer Befund nicht festgestellt werden. Die inneren Organe sind gesund. Urin frei von Eiweiß und Zucker. In geistiger Beziehung ist Robert seinen Altersgenossen wohl etwas, wenn auch nicht viel, voraus. Für seine Wunde zeigte er großes Interesse und beurteilte den Heilungsverlauf mit großem Verständnis. Er hängt sehr an seiner Mutter; so verlangte er jeden Abend, wenn es dunkel wurde, nach Hause und war nur mit Mühe zu beruhigen. Er interessierte sich lebhaft für jeden Gegenstand, den er noch nicht kennt und fragt wie er heißt. Auffallend ist sein Eigensinn, denn nur selten tut er das, was man von ihm verlangt." Als ich selbst Robert in seiner ländlichen Heimat aufsuchte, hatte er gerade sein 4. Lebensjahr beendet. Kurz vor dem Dorfe sali ich einen alten Mann arbeiten, den ich nach der Wohnung von Roberts Eltern fragte. Es war zufälligerweise sein Großvater, ein sehr rüstiger Greis von 83 Jahren, der frühere Schultheiß des Dorfes. Der gesprächige Alte, der in seinem Aussehen, seinen Bewegungen und seiner Kleidung sehr feminin wirkte, bot sich an, mich zu seinem Enkel zu geleiten, über dessen sonderbare Entwicklung er schon sehr viel nachgedacht hatte. Nach etwa 10 Minuten Wegs sahen wir in einem geräumigen Gehöft einen stämmigen Jüngling Mist auf- laden. „Sehen Sie nur, diese Forsche," sagte der Alte, indem er auf ihn wies, der fest mit der Hnrke zufassend wie ein starker Knecht den Dung geschickt in den Leiterwagen warf. Es war Robert. Als der Großvater ihn mir vorstellte, lüftete er verlegen lächelnd die Kappe, wurde aber bald zutraulicher, als ich ihm eine mitgebrachte Tafel Schokolade überreichte. „Essen kann der Junge!" sagte der Großvater, „mehr wie seine Brüder zusammen." Mit dem kräftigen Körperbau und dem großen Kopf Roberts standen in eigentümlichem Gegensatz seine kleinen Milchzähne, von denen der erste zum Zeichen des einsetzenden Zahnwechsels einige Tage zuvor ausge- fallen war. Wir gingen mit Robert in die Wohnstube, in der wir seine Mutter, eine kräftige Bauersfrau, die fleißig ihren im Kriege be- findlichen Mann vertrat, und fünf seiner Geschwister trafen, alle blühende, freundliche Knaben und Mädchen von normalem Wuchs und Bau. Die beiden älteren Brüder, von denen Hugo 13, Friedrich 72 9 Jahre zählte, sahen sehr viel schwächer und jünger aus als der 4jährige Robert, der beide mit Leichtigkeit in die Höhe hob. Auch seine Stimme war viel tiefer als die der Brüder, bei denen noch kein Stimmwechsel eingetreten war. Die Mutter berichtet, daß ihr, als Robert sprechen lernte, sogleich sein tiefer Stimmklang aufge- fallen sei. „Robert ist sehr geduldig," sagte sie, „und tut keinem etwas zu Leide, nur wenn man ihn reizt, dann fährt er wild auf und über nichts wird er so heftig, als wenn man ihn mit seiner tiefen Stimme neckt. Nicht mir Kinder, auch Ältere, die vorübergehen, machen ihm seine Stimme nach, und das bringt ihn oft in furcht- baren Zorn. Ich bin sehr bange," meinte die Mutter, „daß, wenn Robert nächstes Jahr zur Schule muß, er damit viel Ärger und Auf- regung haben wird." Ich gab der Frau den Rat, den Jungen mög- lichst allein unterrichten zu lassen. Zeigt doch die Erfahrung, wie mitleidslos und rücksichtslos gerade die Kinder in der Verspottung körperlicher Gebrechen, namentlich auch Sprachgebrechen, wie Stottern, Lispeln und rauhes Organ sind. Als ich Robert untersuchte, fand ich den Körperbau und vor allem den Genitalbefund wie oben geschildert vor. Namentlich die äußeren Geschlechtsorgane gleichen völlig denen eines geschlechts- reifen Mannes. „So war es schon mit zwei Jahren," erzählte die Mutter. Das Glied soll sich auch oft und leicht erigieren, doch scheint Spermasekretion bisher nicht vorhanden zu sein. Auch fehlen An- haltspunkte einer sexuellen Libido. Wie die Mutter mitteilt, leidet Robert seit einiger Zeit auch an Krämpfen. So hatte er am Morgen des Tages, an dem ich dort war, einen Anfall, von dem noch ein frischer Zungenbiß Zeugnis ablegte. Der Verlauf des Anfalls wird so beschrieben, daß er erst eigentümlich grinst, dann den Kopf zur Seite dreht, darauf das Bewußtsein verliert und um sich schlägt. Nach einigen Minuten kommt er wieder zu sich und benimmt sich bald, als wäre nichts vorgefallen. Kollege Obmann wirft die Frage auf, auf welche objektiven Ursachen der Befund bei Robert zurückzuführen sei. Er meint nicht mit ■ Unrecht, daß zu Lebzeiten eine sichere Entscheidung nicht zu treffen siein dürfte. Hoden und Nebennierenrinde zeigen keine nach- \\ i i-lichen Abweichungen von der Norm. Am nächsten liegt, trotz des negal Lven Röntgenbefundes, die Annahme einer Hypophysen - erk r;i ii k u n g. Krämpfe und Kopfumfang sprechen für eine Ge- hirnaffektion. Von Wichtigkeit ist der Fall auch in bezug auf die Uneinheitlichkeit der sekundären Geschl echtsent- w ick lang. Beispielsweise sind Pubes, aber keine Spur von Bart vorhanden, die sonst bei so vorgeschrittener Kehlkopfentwicklung selten fehlt. Dies deutet, ebenso wie der Kontrast von Milchgebiß und Knochenwachstum, darauf hin, daß nicht eine innersekreto- III. Kapitel: Frühreife 73 risqhe Drüse allein, sondern mehrere zusammen an der G e s c h 1 e ch tsr e i f u n g beteiligt sind. Um welche Möglichkeiten es sich bei analogen Sym- ptomenkomplexen handeln kann, lehren Beobachtungen, in denen durch eine Sektion oder Operation das . Dinikel gelichtet wer- den konnte. So handelte es sich in dem Falle von Oestreich- Stawyck gleichfalls um einen vierjährigen Kna- ben, der im ersten Jahre in seiner Entwicklung nichts von der Norm abweichendes zeigte, auch rechtzeitig gehen und sprechen lernte. Im dritten Jahre wurde das vorher muntere Kind auffallend still und scheu. Gleichzeitig traten die Zeichen einer ungewöhnlichen Entwicklung auf. Der Penis wuchs stark, er maß in schlaffem Zustande 9 cm, die Hoden waren taubeneigroß, es sprossen reichlich lange dunkle Schamhaare. Die Brust- drüsen schwollen bis zu 2 cm Höhe und entleerten auf Druck Kollostrum. Muskulatur und Fettpolster nahmen zu. Der Knabe war mit 4 Jahren 108 cm groß, Gewicht 20 kg. Nicht lange nachdem er in ärztliche Behandlung gekommen war, starb der Knabe unter den Erscheinungen eines Hirntumors. Die Autopsie ergab einen Epi- physentumor, den Askanasy als ein embryonales Teratom auffaßte. Ein von der Nebennieren rinde ausgehender Tumor wurde als Ätiologie im Falle Lins er s gefunden, bei dem es sich um einen SVajährigen Jungen handelte. Dieser sah wie ein Jüngling aus, war 138 cm groß und von kräftiger Muskulatur. Der Penis war 8 — 9 cm lang, Hoden von Taubeneigröße, Prostata wie bei einem Fünfzehn- jährigen. Demselben Alter entsprachen Körpergröße und Körper- umfang, die Ossifikation, sowie das fast vollständige Dauergebiß. Ein sehr bemerkenswertes Schlaglicht auf die hier wirksamen Zusammenhänge wirft endlich auch der Fall von Sacchi. Dieser berichtete von einem 972jährigen Knaben, der bis zu seinem fünften Lebensjahre ganz normal war. In diesem Alter setzte eine rasche Entwicklung des Skeletts und der Muskulatur ein. Schamgegend und Gesicht behaarten sich, die Stimme wurde tiefer, auch psychisch trat eine völlige Veränderung ein. Der linke Testikel wurde be- deutend größer als der rechte. Er wurde deshalb einem Hospital zu- geführt. Hier stellte man bei dem mittlerweile 9 Jahre alten Knaben eine Größe von 143 cm und ein Gewicht von 44 kg fest; Haare auch Bart stark entwickelt, Geschlechtsorgane auffallend groß, besonders der linke Hoden. Dieser wurde durch die Orchidektomie entfernt. 1 >ie Diagnose lautete Alveolarkarzinom des Hodens. Die Ope- ration verlief gut. Nach einem Monat begann eine völlige Umwandlung der sekundären Geschlechtscharak- tere, zunächst fielen die Haare vom Bart und den Extremitäten aus, während sie am Möns pubis blie- 74 Hl. Kapitel: Frühreife ben- die Stimme wurde wieder kindlich. In der Größe trat keine Veränderung ein, nur der Penis verminderte sich angeb- lich an Größe und Dicke. Pollutionen und Erektionen, sowie Geschlechtstrieb, die vorher bestanden hatten, schwanden wieder. Leider besitzen wir keine Beobachtungen dieses Falles aus späterer Zeit. Zu den merkwürdigsten Fällen sexueller Frühreife gehören wohl diejenigen, in denen lange vor der normalen Pubertätszeit mann- liche Geschlechtscharaktere in enger Vermischung mit weiblichen zutage treten. Einen solchen Fall beobachtete ich vor einigen Jahren mit Dr. Burchard und gebe ihn im Bilde (Tafel XIID Als ich dieses Kind kennen lernte, war es neun Jahre alt. Laut Taufzeugnis war es am 27. Dezember 1902 in der Provinz Posen geboren. Es soll bei der Geburt den Eindruck eines völlig normalen Mädchens gemacht haben und wuchs als solches auf. Im vierten Jahre — man beachte, wie oft gerade in der Vorgeschichte der erwähnten Fälle dieses Alter wiederkehrt - - wuchs die Klitoris sehr stark. Sie soll damals den Eindruck eines dem Alter ent- sprechenden männlichen Gliedes gemacht haben. Zugleich traten Schamhaare und sekundäre männliche Geschlechtscharaktere aui. Hedwig bekam eine tiefe männliche Stimme und einen kräftigen Bart. Erbliche Belastung ist nicht nachweisbar. Die Eltern, arme polnische Feldarbeiter, und mehrere Geschwister leben und sind ge- sund. Als wir Hedwig untersuchten, stellten wir in Übereinstimmung mit Robert Asch und Oskar Scheuer folgenden Befund fest: Körpergröße 121 cm, Gewicht 31 kg, Kopfumfang 54,5 cm, Scheitel-Kinn-Distanz 22,5 cm, Halsumfang 32 cm, Brustumfang 70—71 cm, Bauchumfang 64 cm, Mamill ardistanz 16 cm, Armlänge 45 cm, Handlänge 13 cm, Spinale 18 cm, Christae 19 cm, Trochanteren 22 cm, Oberschenkel 24,5 cm, Unterschenkel 23 cm, Fuß 19 cm. Die Teile sind insofern nicht gut proportioniert, als der Kopf im Verhältnis zum Rumpf und der Körperlänge zu groß und Arme und Beine im Vergleiche zum Rumpfe zu kurz sind. Das Gesicht ist kindlich, voll, rundlich und symmetrisch. Die Augen sind groß und glänzend, die Iris von grünlich-brauner Farbe, die Pupillen sind gleich, reagieren prompt. Die Wimpern sind schwarz, lang und dicht, ebenso die schön geschwungenen Augen- brauen. Die wohlgebildeten, mit leichtem Flaum bedeckten Obren bieten nichts Besonderes. Die Nase ist) kurz und breit, der Nasen- rücken gerade. Die Backenknochen verraten durch die leicht hervor- springende Wölbung die slavische Abstammung. Ober- und Unter- lippe sind üppig aufgeworfen, doch wohlgeformt. Die Zähne stehen gut, sind groß, weiß, gesund, das Gebiß als ganzes sehr schön. Der III. Kapitel: Frühreife 75 harte Gaumen ist etwas hoch und eng gewölbt. Die Zunge und lonsillen normal, das Zäpfchen sehr lang. Das Gesicht ist umrahmt von einem dichten s c h w a r z e n k r a u s e n V o 1 1 b a r t. Der Schnurrbart ist schmal, unter der Unterlippe zeigt sich eine kleine „Fliege" Der von Dr. Goerke untersuchte Kehlkopf des Kindes ist weit über das Alter des Kindes hinaus entwickelt. Er gleicht dem Kehlkopf eines erwachsenen Mannes. Dement- sprechend besitzt Hedwig eine Männerstimme. Die Muskulatur ist außerordentlich kräftig entwickelt vor allem am Nacken und an Armen und Beinen. Die Muskelbäuche springen wulstig vor. Die Kraft der Arme und Beine ist daher auch eine sehr beträchtliche. Die Haut entspricht völlig dem Aussehen eines brünetten Indi- viduums, zeigt keine abnorme Pigmentation, nur finden sich Arme und Beine ziemlich behaart. Ebenso zeigt sich ein Haarstrich in der Mittellinie des Bauches, der von den Schamhaaren schwächer werdend bis nahe dem Schwertfortsatz aufsteigt. An der Brust sehr spärliche lange Haare, viele Aknenarben. Auch Nacken und Schultern zeigen Behaarung, dagegen sind die Achselhöhlen nur in sehr geringem Grade und Hände, Füße, Stirne gar nicht behaart. Das Kopfhaar ist 36 cm lang, braun, sehr dicht, trocken, wellig und lockig. & Die flachen Mammen, Brustwarzen und Warzen- hof sind von männlicher Beschaffenheit. Die Eöntgen- untersuchung ergibt ein solides, nirgends deformiertes Skelett, größtenteils verknöcherte Epiphysen, so daß die Ossifikation nach bcheuer der „eines 15jährigen Mädchens oder 16jährigen Bur- schen entspricht. Die Sella turcica ist klein. Psychisch überwiegen die weiblichen Charaktereigenschaf- ten Hedwig spielt lieber mit Puppen, .nie mit Soldaten und hat auch sonst mehr Sinn für weibliche Beschäftigungen. Man kann r S!?f?/ d2,ß SiG SiGh Selbst als dem weiblichen Geschlecht zuge- hörig fühlt. Sexuelle Bevorzugungen konnten noch nicht beobachtet werden. Ihre Intelligenz entspricht etwa der eines Mäd- chens ihres Alters. Ihr Wesen ist liebenswürdig und heiter, fast nie unfreundlich, doch erzählt ihre Umgebung, daß sie auch recht eigensinnig sein kann und ziemlich leicht weint. Sie ist sehr schamhaft. Wir kommen nun zu den Genitalien, über die wir unter andern eine genaue Befundaufnahme von Prof. Halb an in Wien besitzen. Von den äußeren Genitalien habe ich von Prof. Benninghoven einen Wachsabdruck (Moulage) anfertigen lassen. Die großen Scham- ippen zeigen die normale weibliche Form, ohne skrotale Quer- lalscnung und Kremasterreflex; die gleichfalls weiblich gebildeten III. Kapitel: Frühreife Labia minora umschließen den Eingang zur Vagina, welche »durch ein ringförmiges Hymen abgeschlossen ist. Bas Hymen ist für den Fhiger dnrchllssig. Man dringt in eine 7 cm lang, ^Scheide. Damm- wärts ist da« Frenulum labiomm deutlich ausgebildet, nabelwarts ^fassen t Beinen Schamlippen an der Stelle de. " = Penis von 4V2 cm Länge (Clitoris peniformis). ^te oto Spitze der Glans zieht sich durch die ganze ventrale Flache des Gliedes ein Spalt wie bei einem Hypospadiakus. An seinem unteren Ende liegt an normaler Stelle der Vulva die Urethralmundung. Die Harnröhre selbst verläuft von hier aus normal 3 /, cm lang. Am Ende der Vagina fühlt und sieht man mit dem Mutterspiegel eine Portio vaginalis uteri mit einem äußeren Muttermund. Dieser fuhrt in einen kleinfingerdicken derbwandigen Uterus, der mit der Sonde gemessen Vj2 cm mißt. Aus der Vagina sondert sich em glasig-zaher Schleim ab. Es wird berichtet, daß dieser wiederholt etwa alle 6 Monate blutigen Charakter annehme, so daß man Menstruation gefolgert hat. Die Geschlechtsorgane haben typischen Zwittergerucn, hauptsächlich von Smegma praeputii herrührend. Eierstöcke oder Hoden konnten bislang von keinem Untersucher getastet werden, auch nicht von Halb an in tiefer Narkose. Die inneren Beckenmaße fand dieser männlich: Annäherung des Promon- toriums und der seitlichen Beckenwände mit Verengerung des Beckenausgangs. Fassen wiir das Untersuchungsergebnis zusammen, so sehen wir bei dem neunjährigen Kinde: Männlich sind Bart, Kehlkopf, Penis, Mammen, Mus- kulatur, Skelett. Weiblich sind Vulva, Urethra, Vagina, Hymen, Uterus, Psyche. Menstruation unsicher. Alle männlichen Charaktere zeigen eine sehr vorzeitige Ent- wicklung, während die weiblichen der Altersstufe entsprechen. Trotzdem weder männliche noch weibliche Keimdrüsen auffindbar waren, kann aus den gemischten Geschlechtsattributen doch mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ge- schlossen werden, daß innersekretorisch sowohl männ- liche als weibliche Geschlechtsdrüsen wirksam sind. Ob daneben Störungen in der inneren Sekretion der Hypo- physe, Glandula pinealis, Schilddrüse, Thymus, Nebenniere vor- liegen, ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Wir sahen an den bisherigen Beispielen, daß durchgängig mit der genitalen eine körperliche Frühreifung ver- bunden ist. Das Umgekehrte trifft nicht immer zu, indem gar nicht selten im Kindesalter ausgesprochene sekundäre Geschlechtscharak- tere ohne Anzeichen genitaler Keife beobachtet werden können. So hat man namentlich bei Mädchen wiederholt ' volle Brüste, Behaa- III. Kapitel: Frühreife 77 rung der Achselhöhle und der äußeren Scham wahrgenommen, ohne daß bereits die Menstruation eingetreten war. Kußmaul hat Mäd- chen beschriehen, bei denen im kindlichen Alter alle äußeren Ge- schlechtsmerkmale vorhanden waren, nur die Menstruation fehlte. Bei Ploß findet sich die photographische Abbildung eines fünf- jährigen Mädchens, die den Möns veneris und die großen Labien schon voll entwickelt mit dicken langen Haaren besetzt zeigt, während die Mammae noch unentwickelt sind. Menstruiert hatte dieses Kind noch nicht. Bei Knaben ist ähnliches, wenn auch selten konsta- tiert: Stimmwechsel und Bartwuchs in vorpubischem Alter ohne Genitalentwicklung. Einige Male sah ich Kna- ben zwischen 6 und 10 Jahren mit Mammaeentwicklung ohne sonstige Merkmale der Geschlechtsreife. Eine bekannte ziemlich weit ver- breitete, wenn auch in ihrer Entstehung noch keineswegs geklärte Erscheinung ist die Milch drüsenentwicklung bei Knaben kurz nach der Geburt. Ähnlich wie mit der körperlichen, ist es mit der psycho- sexuellen Frühreife, dem Geschlechts empfinden und Ge- schlechts trieb. Sexuelle Libido ist bei geschlechtlicher Prämaturität meist vorhanden, doch kommt sie auch gelegentlich ohne diese vor. Ploß2) und K i s c h 3) geben eine Zusammenstellung von Fällen, in denen in Verbindung mit genitaler Frühreife ein sehr vorzeitiger Sexualverkehr mit Schwangerschaft und Geburt festgestellt wurde: So gebar ein Mädchen, bei dem sich die Menstruation im Alter von einem Jahre einstellte, im zehnten Lebens- jahre (Fall von Montgomery). Ein Mädchen, das mit 9 Jah- ren die ersten Menses zeigte, wurde kurz darauf geschwängert (d'Outrelepont). Der vielangeführte, von Hai ler beschrie- bene Fall, in welchem bei der Geburt bereits die Schamhaare entwickelt waren und im zweiten Lebensjahre die Menstruation ein- trat, weist eine Geburt von 9 Jahren auf. Ein Mädchen, das bei der Geburt gleich entwickelte Schamliaare zeigte, mit 4 Jahren men- struierte, von 8 Jahren an regelmäßig kohabitierte, hat mit 9 Jahren geboren, und zwar eine Blasenmole mit Embryo (Molitor). Ein Mädchen, mit 2 Jahren menstruiert, bei dem sich mit 3 Jahren Scham haare und Mammae entwickelten, ist mit 8 Jahren gravid geworden (Carus). Hierher gehört auch die von Martin er- wähnte Beobachtung aus Amerika, nach welcher eine Frau im 26. Lebensjahre Großmutter geworden war. L a n t i e r erzählt, daß er während seiner Reise in Griechenland einer Mutter von 25 Jahren begegnet sei, welche eine Tochter von 13 Jahren hatte. Fälle von geschlechtlicher Betätigung bei Kindern, 2) Dr. H. Ploß: Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Leipzig. Th. Grieben, s) Prof. Dr. E. H. Kisch: Das Geschlechtsleben des Weibes. S. 83. 78 III. Kapitel: Frühreife die äußerlich keine Zeichen körperlicher Frühreife darbieten, ja so- gar in ihrer geistigen und physischen Entwicklung zurückgeblieben sind, finden sich in der Fachliteratur öfter beschrieben und dürften wohl jedem beschäftigten Sexuologen vorgekommen sein. K r a f f t - Ebing hat den Sexualtrieb bei Kindern als Paradoxia sexu- al is beschrieben, worunter er allerdings nicht nur, wie fälschlich öfter angegeben wird, den im Kindesalter auftretenden Ge- schlechtstrieb verstanden wissen wollte, sondern jeden „Sexualtrieb außerhalb der Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge"^ also auch „den im Greisenalter wiedererwachenden Geschlechtstrieb". Mit Recht unterscheidet Krafft-Ebing bei den sexuellen Manipulationen im vörpnbischien Alter die zahlreichen Fälle, in denen Kinder infolge von Jucken an der Vagina, am Penis und Anus, namentlich bei Würmern und örtlichen katarrhalischen Reizungen an den Geschlechtsteilen spielen — wir kommen auf diese Vor- kommnisse im Kapitel Onanie eingehender zurück — von denen, „wo auf Grund zerebraler Vorgänge ohne peripheren Anlaß beim Kind sexuale Ahnungen und Dränge auftreten". Nur in solchen Fällen könne von einem vorzeitigen Hervortreten des Geschlechtstriebs im Sinne sexueller Paradoxie die Rede sein. Wenn Krafft-Ebing nun aber die Ansicht vertritt, daß diese Regungen stets durch einen „neuro - psycho- pathischen Belastungszustand" bedingt seien, so können wir ihm hier nach unseren Erfahrungen nicht völlig beipflichten, wennschon wir der im völligen Gegensatz hierzu stehenden Auf- fassung der Freud sehen Schule, nach der ausnalimlos bereits allen Kindern ein Geschlechtstrieb innewohnt, erst recht nicht beitreten können. Paradoxe Geschlechtsäußerungen findet man allerdings besonders häufig bei psychopathisch en Kindern, die auch anderweitige Zeichen hochgradiger Degeneration darbieten, doch kommen sie gelegentlich auch bei Knaben und Mäd- chen vor, die einen vollgesunden Eindruck machen, nichts von here- ditärer Belastung erkennen lassen und sich später zu völlig normal- sexuellen Geschlechtswesen entwickeln. Ich will kurz zwei Fälle schildern, von denen der eine in die erste, der andere in die zweite Kategorie fällt. Arno S., ein Knabe von 7 Jahren, wurde mir von seiner Adoptiv- mutter gebracht. Er ist ein uneheliches Kind unbekannter Herkunft, der bis vor kurzem anderweitig in Pflege war. Der Kleine sieht sehr blaß und verkümmert, fast greisenhaft aus. Hutchinsonsche Zähne deuten auf syphilitische Belastung. Geistig ist er für sein Alter ganz gut vorgeschritten. Mehrere Monate, nachdem die Mutter das Kind aus der Pflege geholt hatte, entdeckte sie zufällig, daß Arno an seinem erigierten Gliede rieb. Man paßte nun genauer auf und fand, „daß er es immer treibt, sowie er eine Minute ohne Aufsicht ist". III. Kapitel: Frühreife Im Anschluß an die Onanie ließ der Knabe, der sonst ganz reinlich war öfter Urin und Stuhlgang unter sich. Der Vater, ebenso be- troffen wie die Mutter über diese Wahrnehmungen, fuhr nun auf das Land zu den Leuten, wo Arno früher in Pflege war Dort er fuhr er, daß der Junge bereits im dritten Lebensjahre ertappt wurde „wie er kleine Mädchen unten leckte". Er hätte eine förmliche Gier danach gehabt; die Leute haben zwei Mädchen von 5 und 6 Jahren feststellen können, bei denen der Junge diese Handlungen ausge- führt habe. ö Die neuen Eltern waren über diese Entdeckung entsetzt, noch mehr als sie nun auch bei genauem Aufpassen dahinter kamen daß Arno, bereits während er bei ihnen war, bei zwei Mädchen Unnihnctio vorgenommen hatte. Wie er darauf verfallen sei ließ sich nicht feststellen. Als man ihn nach dem Grunde seines selt- samen Gebarens fragte, antwortete er nur: „Das ist schön, das tut gut . Das Kind wurde V» Jahr von mir psychisch und hygienisch- diätetisch behandelt. Es scheint, als ob die Neigung zur Cunnilinctio seit den letzten 3 Monaten nachgelassen hat; ob sie dauernd auf- gehört hat, steht noch dahin. Onanistische Manipulationen kommen noch vor, wenn auch seltener. Können wir in diesem Falle wohl eine sexuelle Paradoxie auf degenerativer Grundlage annehmen, so möchte ich in dem fol- genden, den ich schon vor 15 Jahren beobachtete, schon deshalb nicht daran glauben, weil die Personen, um die es sich hier handelt, aus ganz gesunder Familie stammend inzwischen selbst schon blühende Kinder hervorgebracht haben und außer ihren sexuellen Verfehlungen keinerlei geistige oder körperliche Minderwertigkeit wahrnehmen ließen. Im Jahre 1901 suchte mich in Charlottenburg ein tief- erschüttertes Ehepaar auf. Sie hatten entdeckt, daß zwischen ihren beiden Kindern, einem Mädchen von 15 und einem Knaben von 12 Jahren ein reger sexueller Verkehr stattfand. Nachdem die Mutter zufälligerweise in der Nacht beide in actu überrascht hatte, war der Knabe vom Vater in ein strenges Verhör genommen und hatte iolgendes Geständnis abgelegt: Bereits vor 4 Jahren sei die Schwester erstmalig nachts zu ihm ins Bett gestiegen, hätte sein Membrum durch Titillationen erregt und ihn veranlaßt, an ihrer Vagina das gleiche zu tun. Das hätte sich dann sehr häufig wiederholt, bis sie dann spater zu regelrechten Kohabitationsversuchen übergegangen seien, die nun schon seit Jahren fast jede zweite oder dritte Nacht erfolgten. Vom prophylaktischen Gesichtspunkt aus ist erwähnenswert, daß die Kinder Gelegenheit gehabt hatten, den ehelichen Ver- kehr d e r E 1 1 e r n m i t a n z u s e h e n. Die Untersuchung zeigte so- wohl bei der deflorierten Schwester, als bei dem Bruder deutliche geni- tale Reizerscheinungen. Die erschrockenen Eltern nahmen sogleich 80 ni. Kapitel: Frühreife eine sehr energische Trennung der Geschwister vor. Das Mädchen wurde für mehrere Jahre in ein ausländisches Pensionat gebracht; als sie von dort zurückkehrte, kam der Bruder in Pension. Zwischen beiden trat infolgedessen eine gToße Entfremdung ein, die bei dem etwas sexual- hypochondrischen Bruder in großen Haß umschlug, so daß er sich beispielsweise nicht entschließen konnte, der Hochzeit der Schwester beizuwohnen. Erst im letzten Jahre — ich habe die Familie als Arzt dauernd im Auge behalten können — erfolgte anläßlich der zum Tode führenden Erkrankung des Vaters eine gewisse Annähe- rung der Geschwister. Steht dieser Fall auch, wie aus der Literatur erhellt, nicht einzig da, so bildet er doch einen großen Ausnahmefall. Den Kindern ganz im allgemeinen inzestuöse Neigungen zuzuschreiben, wie es die Freudsche Schule tut, halte ich mit Marcuse4) für eine völlig abwegige Auto- und Alterosuggestion, wennschon sowohl in der Elternliebe, als in der Geschwisterliebe eine leicht erotische, als solche nicht ins Bewußtsein dringende Unter Strömung und selbst bewußte Überschreitungen der Inzestschranken häufiger sein mögen, als meist angenommen wird. Ohne hier noch weitere Beispiele von infantiler Sexualität anzu- führen, sei nur noch bemerkt, daß man analoge Vorkommnisse auch in der Tierwelt beobachtet hat. So zitiert Moll5) die Mitteilung Westons von einem sechs Wochen alten Fohlen, das bereits bei seiner Mutter aufzuspringen pflegte. Drei Monate alt wurde es durch Bespringen von Fohlen und Kälbern derart gefährlich, daß es kastriert werden mußte6). Die seelische Frühreife zeigt sich von der sexuellen Früh- reife unabhängig. Die meisten Kinder mit vorzeitig er- Avachtem und betätigtem Geschlechtstrieb wiesen geistig nicht mehr als eine gute Durchschnittsbegabung auf, ja von vielen wissen wir, daß sie erheblieh dahinter zurückblieben. Letzteres trifft noch in höherem Maße bei der frühzeitigen Entwicklung der primären und sekundären Geschlechtscharaktere zu. Hier finden wir sogar verhältnismäßig häufig eine an Schwachsinn grenzende Geistesverfassung vor. Auf der anderen Seite sehen wir Fälle psychischer Frühreife, bei denen weder der Geschlechtstrieb, noch die Geschlechtsteile dem geistigen Entwicklungsgrade, sondern durchaus dem Alter des Kindes ent- sprechend sind. «) Vgl. Max Marcuse: Vom Inzest. A. d. Sammlung juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Halle. Marhold. s) Dr. Albert Moll: Das Sexualleben des Kindes. S. 110. «) Referat im Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Erkrankungen des Urogenitalapparates II. Jahrgang, Berlin 1907. Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahr Tafel XIV. Hirschfei d, Sexualpathologie. I. A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn. Iir. Kapitel: Frühreife 81 Allerdings ist das Sexualleben sogenannter Wunder- kinder bisher noch so gut wie unerforscht; auch über die eigent- lichen Ursachen ihrer phänomenalen Begabung ist wenig bekannt. Nur eins wissen wir, daß nämlich ihre erstaunliche geistige Früh- reife meist eine recht einseitige ist. Besonders häufig ist die künstlerische Frühreife, unter der wiederum die musi- kalische obenan steht, der dann die zeichnerisch-malerische Begabung folgt. Wir Deutschen besitzen hier in Wolfgang Amadeus Mozart und Albrecht Dürer zwei klassische Beispiele. Dürers Selbstbildnis aus dem dreizehnten Lebensjahr — es befindet sich in der Albertina zu Wien — dem er eigenhändig den Vermerk bei- fügte: „Das hab ich aus einem Spiegel nach mir selbst konterfeit im Jahre 1484, da ich noch ein Kind war", gibt noch jetzt davon Kunde, welche hohe Kunstfertigkeit der Knabe bereits besaß, als er sich aus Liebe zur Malerei dem Wunsche des Vaters, Goldschmied zu werden, so beharrlich widersetzte. (Tafel XIV.) Uber musikalische Wunderkinder äußerte sich einer unserer größten Virtuosen, der selbst als Wunderkind aufgetreten ist, zu Adolf Heß7): „Wunderkinder geben bis zum 14., 15. Lebensjahre, bis die eigene künstlerische Psyche in ihnen erwacht, ausnahmslos eine Nachahmung dessen, was der Lehrer ihnen beigebracht hat. Das geschieht oft so geschickt, daß man es für Eigenes hält. Tat- sächlich ist es der Lehrer, der aus ihnen spricht. Wenn dann die eigene Psyche sich regt, tritt eine Periode des Stillstandes, der Überlegung, der Unsicherheit ein. Während man früher ahnungslos im Zustande der Unschuld über alle Schwierigkeiten glatt hinweg- gekommen ist, fängt man jetzt an zu überlegen: Geht es? Wird es dir gelingen? Und die Folge ist Unsicherheit. Diese Periode dauert drei, vier Jahre, bis der Künstler sich gefunden hat. Dann kehrt die Sicherheit in erhöhtem Maße wieder.'' Nächst f rühreifen Musikern und Male r n findet man unter den Wunderkindern am häufigsten die Rechenkünstler, demnächst diejenigen, die schon in ungewöhnlich frühem Alter lesen lernten oder mehrere Sprachen vollständig beherrschten. Unter den letzten seien als Beispiele das Lübecker und das fränkische Wunderkind genannt, die beide fast gleichzeitig geboren wurden: Christian Heinrich Heineken zu Lübeck am 6. Februar 1721 und am 19. Januar desselben Jahres J ohann Philipp Baratier zu Schwabach in Franken. Der kleine Heineken hatte bereits, ehe er ein Jahr alt war, „die vor- nehmsten Historien in den 5 Büchern Mosis nach der Ordnung ') Vgl. Ä. Heß: „Arthur Nickisch über Krieg und Musik" im Berliner Tageblatt vom 15. August 1916 (Nr. 416). Hirschfeld, Sexualpathologie, I. Q 82 III. Kapitel: Frühreife gelernt". Mit 2xIz Jahren kannte er außer der jüdischen Geschichte die der Griechen und Kömer, Ägypter, Assyrer und Perser so genau, daß er auf alles, was man ihn darüber fragte, Bescheid geben konnte. In einem Bericht8) über den Stand seines Wissens im 4. Lebensjahre heißt es: „Das Kind konnte nun gedruckte und geschriebene Sachen lateinisch und deutsch lesen. Schreiben konnte es noch nicht; seine Fingerchen waren zu schwach dazu. Das Einmaleins konnte es in und außer der Ordnung hersagen. Auch zu numerieren, subtra- hieren, addieren und multiplizieren vermochte es. Im Französischen kam es so weit, daß es ganze Historien in dieser Sprache erzählen konnte. Im Latein lernte es über 1500 gute Sprüche aus lateinischen Autoren. Plattdeutsch hatte das Kind von seiner Amme, von der es nicht lassen wollte, gelernt. In der Geographie fuhr es fort, das Merkwürdigste eines jeden auf der Landkarte stehenden Ortes zu fassen." Es lebte in dieser Zeit noch immer von der Milch seiner Amme; gegen andere Speisen hatte es einen instinktiven Wider- willen. Als der Knabe 31/* Jahre alt war, kam er durch einen lang- wierigen Durchfall stark herunter. Man verordnete ihm eine See- reise, die auf seinen Wunsch von Lübeck quer über die Ostsee nach Kopenhagen ging. Als ihn hier der König in Audienz empfing, hielt er erst eine längere An spräche, verlangte dann nach seiner Amme und sog. Dann folgte eine Unterredung, in der die außerordentlichen geschichtlichen und geographischen Kenntnisse des schwächlichen Knaben ebenso wie die daran ge- knüpften Bemerkungen allgemeinste Bewunderung hervorriefen. Nach der Rückkehr in die Heimat kränkelte er weiter und starb im Alter von vier Jahren und vier Monaten. Auch das fränkische Wunderkind wurde nicht alt. In einem Bericht über ihn heißt es9): „Er lernte in seinem dritten Jahre fertig lesen; im fünften sprach er mit Fertigkeit Deutsch, Lateinisch und Französisch. Mit gleicher Fälligkeit lernte er Griechisch und Hebräisch. Elf Jahre alt übersetzte er die Reisen des Rabbi Ben- jamin und begleitete seine Übersetzungen mit Anmerkungen und Abhandlungen. Im zwölften Jahre studierte er Philosophie, Mathe- matik und Kirchengeschichte, im vierzehnten Jahre war er bereits Magister. Er starb im zwanzigsten Lebensjahre verwelkt und lebenssatt." In unserer Zeit erregte das Braunschweiger Wunderkind Otto P ö h 1 e r — geboren am 20. August 1892 als einziges Kind des Schlächtermeisters Pöhler zu Braunschweig ■ — großes Aufsehen. Einem wissenschaftlichen Berichte, den Professor Dr. Stumpf in 8) Vgl. J. II. Campe, Allgemeine Revision 5. Teil: Uber die große Schädlich- keit einer allzufrühen Ausbildung des Kindes. Wolffenbüttel 1786. 9) Gregor Schmutz: Wunderkinder. S. 20. III. Kapitel: Frühreife 83 Berlin über Otto, als er 4 Jahre alt war, lieferte, entnehmen wir folgende Stellen: „Er ist körperlich nicht stark, aber auch nicht schlecht entwickelt. In dem zierlichen Gesicht fesseln kluge, leb- hafte Augen, die beim Nachsinnen einen merkwürdig ernsten kon- zentrierten Ausdruck annehmen. Eine beständige Unruhe, haupt- sächlich der Ausfluß eines munteren Naturells, hält den ganzen Körper in Bewegung, wenn nicht Zureden oder gespannte Aufmerk- samkeit entgegenwirkt. Seine größte Leidenschaft ist noch immer das Lesen. Das Wich- tigste in der Welt sind ihm historische», biographische und geo- graphische Daten. Er kennt die Geburts- und die Todesjahre vieler deutscher Kaiser, auch vieler Feldherren, Dichter und Philosophen, zumeist sogar auch Geburtstag und Geburtsort; ferner die Haupt- städte der meisten deutschen Staaten, die Flüsse, an denen sie liegen u. dgl. Er weiß Bescheid vom Anfang und vom Ende des dreißig- jährigen und des siebenjährigen Krieges, von den Hauptschlachten dieser und anderer Kriege. Das alles hat er sich nach Angabe der Mutter ohne fremdes Zutun durch das emsige Studium eines patrio- tischen Kalenders' und ähnlicher im Hause vorfindlicher Literatur, auch durch Entzifferung von Denkmalsinschriften, wofür er be- sonders Leidenschaft hat, angeeignet. Als ihm auf zwei verschie- denen Blättern nacheinander zwölf stellige Zahlen gezeigt wurden, die sich nur durch eine der mittleren Ziffern unterschieden, las er sie sogleich als Milliarden und konnte dann, ohne die Blätter wieder anzusehen, mit Sicherheit angeben, worin der Unterschied lag. Sein vorzügliches Gedächtnis setzt ihn auch in den Stand, nicht nur Drucksorten sehr verschiedener Art, sondern auch eigenartige und schlechte Handschriften zu lesen. In Ergänzungen von Ab- kürzungen zeigt er einen besonderen Scharfsinn. So konnte er den abgekürzten Satz : ,In d. großen Schi, bei L. 18. X. 18 . . wurde Nap. besiegt', vollständig entziffern und fügte noch bei, ,da wurde Blücher Feldmarschall und Schwarzenberg — der war Generalf eldmarschall'. Der Knabe liest unheimlich schnell. Er überfliegt sofort einen ganzen Satz, und wenn er laut liest, verschluckt er oft massen- weise Silben und Wörter, um vorwärts zu kommen. Röchlings Bilder- buch mit kurzem Text über den ,Alten Fritz' hatte er in kaum 10 Minuten mit wahrer Gier verschlungen, dessenungeachtet konnte er einige von den Geschichten wörtlich wiedergeben." Nach meinen Erkundigungen hat Otto P ö h 1 e r , der Ostern 1910 die Universität bezog und sich gegenwärtig als Soldat im Felde befindet, auch später gute geistige Fortschritte gemacht, wenngleich nicht dermaßen, daß er den Durchschnitt in besonders auffälliger Weise überragte. Eine sehr einseitige Begabung und wenig günstige Ent- wicklung pflegen die jugendlichen Rechenkünstler zu zeigen, die 6* unter den Wunderkindern eine ziemlich umfangreiche Gruppe bilden. Einer, den ich persönlich kennen lernte, war Jaques Inaucli. Er stammte aus Piemont, wo er am 13. Oktober 1867 geboren war. Seine Eltern waren mittellose Analphabeten. Der Vater ernährte notdürftig die Familie als wandernder Musikant. Um mitzuverdienen wurde Jacques mit drei Jahren Schafhirt. In diesem Berufe er- wachte in ihm ein immer stärkerer Drang, sich mit Zahlen zu beschäftigen. Er zählte alles Erdenkliche, gelangte so von ganz allein zur Addition und Multiplikation, darauf auch durch Hinweise seines Bruders zur Subtraktion und Division und erwarb sich binnen kurzer Zeit eine solche Fähigkeit im Kopfrechnen, daß er bereits mit 7 Jahren alle Zahlenaufgaben und Übungen beherrschte, die später das größte Erstaunen^ seiner Beobachter hervorriefen. Der Fainilienuber- lieferung gemäß zog er in diesem Alter in Gesellschaft seines Bruders mit einer Drehorgel und einem Murmeltier nach Südfrank- reich und sammelte Almosen. Um mehr Gaben einzuheimsen, gab er auch Proben seiner Kechenkunst. Als diese einmal ein Kaufmann in Marseille mit anhörte, war er so überrascht, daß er dafür sorgte, daß Jacques in eine Unterriehtsanstalt kam. Er bereitete aber seinem Gönner und seinen Lehrern eine bittere Enttäuschung, indem man ihm kaum das Schreiben der Ziffern beibringen konnte, geschweige denn daß er imstande war, Orthographie, Naturkunde, Geschichte und Geographie oder gar Geometrie und Algebra zu erlernen. Dafür ver- mochte er aber in wenigen Sekunden die schwierigsten Kechen- exempel mit 4- und östelligen Zahlen zu lösen, selbst in lärmendster Ump.' bung, konnte nach einmaligem Anhören 25 Zahlen aus dem Gedächtnis wiederholen, während normal veranlagte Menschen sich nicht mehr wie 6 — 7 merken können und brachte es fertig, am Schluß der Vorstellung alle Aufgaben und Lösungen, die man ibm gestellt hatte, bis an 40 0 Zahlen, aus dem Kopfe schnell nacheinander aufzusagen. Ebenso unfähig, wie Inaudi, zeigte sich in der Erwerbung geordneten elementaren Wissens ein ihm sehr ähnliches Wunder- kind, sein Zeitgenosse (geb. 1873) Moritz Fr an kl aus Fünf- kirchen, der bereits mit 6 Jahren die Frage: „Wieviel Se- kunden zählen 971 Jahre t" mit unglaublicher Geschwindig- keit beantwortete. Nachdem er einige Jahre durch sein unüber- treffliches Kopfrechnen, wie Ziehen von Quadrat- und Kubik- wurzeln aus 7— 8stelligen Zahlen, Erheben von Zahlen im Kopf zur 4. und 5. Potenz, die Mitwelt verblüfft hatte, ergab er sich einem förmlichen Yagabundenleben, wurde Gewohnheitsdieb, kam in ein e ! rrenanstalt nach Budapest, ging später nach Amerika, wo er völlig verkam und in noch jugendlichem Alter verstarb. Ein anderer ilcrhenkünstler, Job. Mark Zacharias Dase (1824—1861) 85 war Epileptiker, wieder ein anderer, der berühmte Colburn, der mit 6 Fingern und 6 Zehen zur Welt kam, ging gleichfalls elend zugrunde. Er sah beim Kopfrechnen die Zahlen, mit denen er rechnete, plastisch vor sich. — Bis zu welchen wunderbaren Fähig- keiten es diese Kinder bringen, zeigte neuerdings ein kleiner Tamilen- junge, namens Arumugam, der im Jahre 1912 in der Ceylon- sektion der Koyal Asiatic Society in Colombo vorgestellt wurde. Man stellte ihm folgende Aufgabe, die er, kaum ausgesprochen, richtig beantwortete: „Ein Kaufmann gibt einen großen Schmaus und be- wirtet dabei 173 Gäste mit je einem Scheffel Reis. Von jedem Scheffel sollten aber 17% der Körner an den Tempel abgegeben werden. "Wieviel Reiskörner erhielt der Tempel, wenn jeder Scheffel Reis 3 431272 Körner enthielt?" Binnen 3 Sekunden gab der Knabe in seiner Tamilensprache, die dann ins Englische übersetzt wurde, die Antwort: 100 913 709 mit einem Rest 52. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die sich namentlich unter den mathematischen Weltgrößen, wie Gauß und Ampere finden, zeigen die Rechenkünstler neben dem in ihren Kinderjahren auftretenden ungeheuren Zahlengedächtnis so kümmerliche Geistes- gaben, daß man bei ihnen nicht ohne Berechtigung geradezu von einem angeborenen Schwachsinn gesprochen hat. Nach unseren bisherigen Erfahruugen kann man die psychisch abnorm Frühreifen in folgende vier Gruppen teilen: a) in solche, die nach enormer Geistesentwioldung früh ein- gehen, wie Heineken und Baratier ; b) in solche, die bei phänomenaler einseitiger Begabung bald nach der Pubertät geistig entarten, wie Inaudi und Frankl; c) in solche, die früh eine erstaunliche Geisteshöhe erklimmen und auf dieser verharren, bis ihr Alter und ihre Geistes- leistung sich ungefähr wieder entsprechen, wie P ö h 1 e r ; d) in solche, die sich zu Genies weiterentwickeln, wie Mo- zart und Dürer. Sektionsberichte über Wunderkinder liegen bisher noch nicht vor. Wir sind daher auch nicht in der Lage, zu entscheiden, ob es sich ebenso wie bei den anderen Formen der Früh- reife um innere Sekretionsanomalien handelt, oder lediglich um eine Überentwicklung gewisser Hirnteile, in diesem Falle dann sicherlich vielfach auf Kosten anderer Gekirnpartien. IV. KAPITEL Sexualkrisen Inhalt: Evolutions- und Involutionsperioden — Physiologische und pathologische Wirkung genitaler Vorgänge auf den Organismus — Der nervöse, vegetative, chemische und psychische Zusammenhang zwischen den Geschlechts- drüsen und dem übrigen Körper — Die spezifische Reaktivität auf die Sexual- hormone — Sexuelle Rhythmen — Physiologische Pubertätserscheinungen — Neurosen und Psychosen der R e i f e z e i t — Dauer und Prognose pubischer Leiden — Die Nachreife — Veitstanz, Tiks und Stottern — Das Erröten — Migräne, Ab- senzen und Epilepsie — Drangzustände Jugendlicher (Dromomame, Dipsomanie, Pyromanie, Kleptomanie, Exhibitionismus) _ Die p s y e h o p a t hi s c h e K o n s 1 1 1 u - tion — Pathologische Phantasten und Schwindler — Jugendliche Exal- tiert e , Idealisten und Weltbeglücker — Verstandes mäßige und gefühls- mäßige Unausgeglichenheit — „Liebeshaß" — Hysteriker, Selbstmorder und Verbrecher im Alter der Pubertät — Begutachtung eines jugendlichen Diebes — Begutachtung eines Deserteurs — Erotisch betonte Degenerations- typen unter Zuhältern und Prostituierten — Geistesschwache und geistig hochstehende Psychopathen — G e s c hl e ch t s d r ü s e n s e k r e 1 1 o n und De- mentia praecox — Veränderungen im Zentralnervensystem beim Nachlassen und Aufhören der Sexualfunktion — Vasomotorische Störungen der Wechseljahre — Neuralgische Sensationen im Rückbildungsalter — Die Mastodyme — Der genitale Pruritus — Das sogenannte „gefährliche Alter" — Klimakterische Psychosen — Schilderung einer klimakterischen Paranoia — Clim- acterium virile — Menstruelle Befindungsstörungen — Toxische und vasomotorische Menstruationseinflüsse — Verdrießliches und erregtes Wesen von Menstruierenden — Menstruelle Zwangs- und Drang zustände — Be- engung des Geistes zur Zeit der Menstruation — Menstruierende vor Gericht — Rudimente menstrueller Störungen bei M ä n n e r n — Das Drüsen- und Nervenleben schwangerer und gebärender Frauen — Generationspsychosen — Die Wut der Gebärerinnen — Notwendigkeit der Hinzuziehung von Sachverstan- digen in jedem Fall von Kindesmord — Py cho pathi sehe Wöchne- rinnen — Psychosen der Stillzeit — Wirkung unehelicher Schwanger- schaf t e n auf ein labiles Nervensystem — Freisprechung eines wegen kriminellen Aborts angeklagten Mädchens. Wie der Geschlechtsdrüsen a u s f a 1 1 den Gesamtorganismus durch Ausfallserscheinungen im negativen Sinne beeinflußt, so entfalten die p ositiv en Veränderungen, die sich so mannigfach in den männlichen und weihlichen Geschlechtsdrüsen abspielen, eine in den Körper weitausstrahlende positive Wirksamkeit. Diese Wirkun- IV. Kapitel: Sexualkrisen 87 gen sind teils physiologischer, teils pathologischer Natur. Mit den letzteren wollen wir uns nun in diesem Abschnitt beschäftigen. Früher nahm man an, daß die Allgemeinstörungen, die in den Zeiten sexueller Evolutions - und Involutions perioden auftreten, im wesentlichen auf nervöse, also reflektorische Zusammenhänge zurück- zuführen seien, eine Vorstellung, die auch heute noch bei manchen dieser Leiden vorherrscht, beispielsweise bei der Angstneurose und vielen Erscheinungen, die in das Gebiet der Hysterie und Ovarie fallen. Später neigte man zu der Auffassung, daß die eingreifenden Vorgänge und Umwälzungen im Genitalapparat an und für sich bei vielen in so erheblicher Weise eine Schwächung des Körpers und der Seele hervorrufen, daß dadurch die krankhaften Folgeerschei- nungen, wie etwa die Pubertätsbleichsucht der jungen Mädchen oder die Puerperal- und Laktationspsychosen entständen. Heute suchen wir auch bei den in ihrer Bedeutung sehr ver- schieden zu bewertenden Entwicklungsstörungen in dem inneren Chemismus die wesentlichsten Ursachen. Es ist aber neben den angeführten Zusammenhängen, die sich durchaus nicht ausschließen, sondern sehr wohl nebeneinander wirksam sein können, noch ein viertes nicht zu übersehen, der reinpsychische K au sal- nexus. Kufen doch bewußt und unbewußt die sich in den Genitalien abspielenden Vorgänge eine solche Fülle von Vorstellungen, Emp- findungen und Gedanken hervor, daß man es wohl verstehen kann, wenn diese bei Individuen, die neuropathisch und psychopathisch disponiert sind, leicht zu allerlei nervösen und seelischen Stö- rungen Veranlassung geben. Wenn wir uns allerdings die Frage vorlegen, warum kommt es das eine Mal in diesen kritischen Perioden zu so weitgehenden Verödungen und Verblödungen im Seelenleben, wie etwa zu der Dementia praecox, während ein anderes Mal nur im Vergleich dazu kaum beachtenswerte Affektschwankungen, Exaltationen und Depressionen vorhanden sind, so müssen wir wieder zu dem Aller- weltsbegriff der Disposition, der Anlage, unsere Zuflucht nehmen, der auch aushilft, wenn wir zunächst einmal ergründen wollen, weshalb es unter den Hunderttausenden, die den gleichen evolutionistischen Einflüssen unterworfen sind, doch immer nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil ist, der erkrankt. Wir müssen eben annehmen, daß der gesunde, kräftige, widerstandsfähige Organismus den von den Geschlechtsdrüsen ausgehenden Wirkungen gewachsen ist und auf sie in der Breite des Physiologischen reagiert, während die pathologische Wirkung nur bei einem von vornherein erblich be- lasteten und deshalb empfänglicheren spezifisch reizbaren Nervensystem eintritt. Unter den in Betracht kommenden kritischen Zeiten auf- und absteigender Entwicklung steht obenan die Reifezeit, in der mit SS IV. Kapitel: Sexualkrisen der äußeren Sekretion der Geschlechtsdrüsen auch die innere Sekretion einsetzt. Diese Pubertätsperiode ist für das männliche Geschlecht eine kritische Zeit erster Ordnung und auch für das weibliche erweist sie sich von einschneidender Bedeutung. In der Rückbildungsperiode, dem Klimakterium, treten nervöse und psychische Störungen vor allem bei der Frau auf, aber auch beim Manne fehlen sie nicht gänzlich. Sie siud aber bei ihm viel seltener und milder, weil bei dem männlichen Geschlecht ein der Menopause analoges Nachlassen und Erlöschen der Geschlechtsdrüsenfunktion nicht vorhanden ist. Die regelmäßige Eireifung und -abstoßung von den Puber- täts- bis zu den Wechseljahren, die Ovulation mit der eng mit ihr verbundenen Menstruation ist ein weiterer Vorgang der Evolution und Involution, der immer wieder tief in das Gesamt- befinden des Weibes eingreift, um so nachhaltiger, je weicher und labiler ihr Nervensystem an und für sich ist. Beim Manne kennen wir eine so ausgesprochene Periodizität nicht, wenngleich sicherlich auch sein Organismus einer auf- und absteigenden Sexual- welle unterworfen ist, ob allerdings in so festen zyklischen Rhythmen, wie dies Wilhelm Fließ vertritt, wagen wir nicht zu entscheiden. Die schwersten nervösen und psychischen Alterationen rufen beim weiblichen Geschlecht indessen diejenigen sexuellen Vorgänge hervor, die ihm ausschließlich zukömmlieh sind: die Be- brütung des befruchteten Eies unter Sistierung weiterer Eier- absonderung, die Ernährung der Frucht, sei es im Mutterleibe oder an der Mutterbrust, mit anderen Worten, die Ereignisse der Schwangerschaft, der Geburt, des Wochenbettes und der Laktation, zusammenfassend auch Generationszeiten genannt. Unter Zugrundelegung dieser örtlichen G.enital- schwankungen und der von ihnen abhängigen Sym- ptomenkomplexe können wir die Evolutions- und Involutions- störungen wie folgt einteilen: a) Pubertätskrisen (Neurosen und Psychosen der Reife- zeit). b) Klimakterische Krisen (Neurosen und Psychosen der Wechseljahre). c) Menstruationskrisen (Neurosen und Psychosen der Monatsregel). d) Schwangerschaftskrisen (Neurosen und Psychosen der Gravidität ). e) Puerperalkris e n (Neurosen und Psychosen des Wochen- betts). f) Laktationskrisen (Neurosen und Psychosen der Still- zeit). IV. Kapitel: Sexualkrisen 89' Die nervösen nnd seelischen Störungen der Pubertät fallen in die Zeit, in welcher der Knabe zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau ausreift, einen Zeitraum, der sich stets über eine Reihe von Jahren erstreckt, bei jungen Männern oft sogar nahezu ein Jahrzehnt, etwa die Spanne vom 12. bis 22. Lebensjahre in Anspruch nimmt. Mit der in diese Periode fallenden von der inneren Se- kretion abhängigen Entstehung männlicher und weiblicher Ge- schlechtscharaktere zweiter, dritter und vierter Ordnung, derjenigen also, die den Körperbau, den Geschlechtstrieb und das Seelenleben angehen, verändert sich die Persönlichkeit des Men- schen in sehr hohem Grade. Sind es auch nur die im Kinde bereits gegebenen körperlichen und seelischen. Anlagen, die sich in dieser Zeit des Erblühens aufschließen und entfalten, so dringen sie doch erst von nun ab in das Bewußtsein, erhöhen das Selbstgefühl, die Selbständigkeit und auch die Selbstsüchtigkeit des Menschen und verleihen ihm mehr und mehr das ihm eigentümliche Gepräge, den Charakter. Zum Erstaunen ihrer Umgebung geben die noch vor kurzem sich bescheiden im Kreise der Erwachsenen zurückhaltenden „Wachs- tümer" (wie man sie in manchen ländlichen Gegenden Pommerns nicht übel nennt) plötzlich eigene Urteile ab, sie fühlen sich und „spielen sich auf", „tun sich wichtig", wie die Eltern dann wohl zu sagen pflegen, und reden über alles mit. Im bis dahin jungenhaft sieh gebärdenden Mädchen tritt immer mehr das Weibliche, im mädchen- haft weichen Jungen immer deutlicher das Männliche zutage. Gleich- zeitig „reißt sich vom Mädchen stolz der Knabe", und auch das Mäd- chen zieht sich schamhaft vom Knaben zurück, allerdings beide nur äußerlieh, um alsbald innerlich einander um so heftiger zu begehren. Ehrgefühl und Schamgefühl wachsen, Empfindsamkeit und Erreg- barkeit nehmen zu, bald herrscht ein schwärmerisches, träumerisches, Idealen nachjagendes Wesen, bald Unternehmungslust, Abenteuer- sucht, Großtuerei vor. Wie die Reizbarkeit steigert sich auch die Ermüdbar- keit; allerlei Dunkles, Beunruhigendes, Unklares erfüllt die Seele, eine schwer überbrückbare Kluft tut sich nur zu oft zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern auf. Das Gehirn arbeitet in dieser Sturm- und Drangperiode meist sehr sprunghaft; weltschmerz- liche Sentimentalität wechselt mit hochgespanntem Überschwang, ungestillte Sehnsucht mit seliger Schwarmgeisterei. Die Phantasie baut Luftschlösser. Der eine fühlt sich bereits als Maler der Zukunft, als bejubelter Dichter oder Musiker, der andere als weltumstürzender Menschenbeglücker, ein dritter als großer Entdecker und Erfinder. Alles aber, was in der Seele brodelt und wirbelt, gärt und kreist, bewegt sich chaotisch um das sexuelle Zentrum; die bald mehr bald weniger bewußte Erotik gibt für das Fühlen, IV. Kapitel: Sexualkrisen Denken, Wollen und Arbeiten jener Zeit den mehr oder minder deut- lichen Unterton ab. .«.-Vi Vergegenwärtigen wir uns dieses mit wenigen Strichen gekenn- zeichnete Bild der physiologischen Pubertätserscheinungen so werden wir begreifen, wie klein von ihnen der Schritt m das Pathologische ist. Dementsprechend ist auch die Abgrenzung zwischen dem, was schon und dem, was noch nicht psyeho- pathisch ist, oft genug recht schwierig. Viele noch normale Er- scheinungen der Pubertät gleichen, wie wir sahen, völlig denen der Neurasthenie im Sinne einer erhöhten Erregbarkeit und Erschopf- barkeit des Zentralnervensystems. Nur stärkere Grade werden wir daher in dieser Zeit als krankhaft ansprechen. Darüber hinaus sind aber der Zeit der Geschlechtsreife eine Fülle leichter unu schwerer Krankheitsformen eigen. Läßt sich auch nicht immer der Beweis erbringen, daß das zeitliche Zusammentraf fen a u c n d a s ursächliche ist, so dürfte in der großen Mehrzahl der lalle doch kaum ein Zweifel möglich sein, daß zwischen den Neurosen und Psychosen der Keifejahre ebenso wie der Wechseljahre und sonstigen E- und Involutionsperioden einerseits und den Veränderungen der Sexualorgane andererseits ein kausaler Zusammenhang besteht. Sehr o-estützt wird diese Annahme dadurch, daß fast allen diesen Leiden, wie freilich oft erst bei ihrer tieferen Erforschung ersichtlich ist, auch eine direkte sexuelle Färbung anhaftet. Hinsichtlich ihrer Zeitdauer und Prognose lassen sich die Leiden der Pubertät in drei Gruppen teilen: Eine Anzahl, wie beispiels- weise der Veitstanz, entsteht und verschwindet nach kürzerer oder längerer Zeitdauer während der Pubertät, andere hören erst mitdemEndeder vielfach dabei etwas in die Lange gezogenen Pubertät auf. Mit anderen Autoren konnte ich bei sehr vielen Psycho- pathen, die sich bis in die Mitte der zwanzig noch höchst ungebärdig, unlenksam und unreif gaben, gegen Ende der zwanzig und Anfang der dreißig eine entschiedene Nachreife feststellen. Für manche dieser Kategorie paßt das Wort, „wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, er gibt zuletzt doch noch 'nen Wem . Eine dritte Gruppe dieser Störungen setzt in der Pubertät ein, nimmt langsam zu und entwickelt sich zu einem das Leben umfassenden Dauerzustand, der sich teils gleich bleibt, teils sich durch An- passung ein wenig bessert, teils 'sich nach und nach verschlechtert, wie es vor allem bei der Dementia praecox die Regel ist. Immer- hin habe ich auch hier Ausnahmen, sogar Fälle scheinbarer Heilung von Dementia praecox gesehen. Wenden wir uns nun den Pubertätsstörungen im e i n z e 1 n e n zu, so ist zunächst der V e i t s t a n z oder die Chorea minor zu nennen, die meist im ersten Beginn der Geschlechtsreife einsetzt. Sie befallt mehr Knaben wie Mädchen. Oft erstrecken sich die Zuckungen nach IV. Kapitel: Sexualkrisen 91 und nach auf alle Muskelgruppen. Oft beschränken sie sich nur auf wenige, beispielsweise im Gesicht, wo sie zu krankhafter Gri- massenschn eiderei führen. Sie tragen dann mehr den Cha- rakter sogenannter T i k s. Nicht selten vergesellschaftet sich der Veitstanz mit Herz af f ektionen (Endokarditis), Gelenk af f ektionen (Arthritis) und psychischen Alterationen, alles Anzeichen, die auf eine toxische Ursache, Störungen im inneren Chemis- mus, hinweisen. Einen tikartigen Charakter trägt auch das auf nervösen Zwangshemmungen beruhende, besonders im pubischen Alter auftretende Stottern. Verschiedentlich sah ich auch in dieser Lebensphase Schluck hemmungen. Ein zwanzigjähriger Psychopath meiner Beobachtung konnte beim Trinken in Gesell- schaft, namentlich beim Zuprosten nicht das aufgenommene Flüssig- keitsquantum — gleichviel ob groß oder klein — herunterbringen, es blieb ihm im Halse „stecken" und führte zu Würgbewegungen. Er litt gleichzeitig an zwangsmäßigem „Abknabbern" der Finger- nägel, einer vielfach zwar schon vor, oft aber auch erst während der Pubertät auftretenden Zwangshandlung von großer Hartnäckigkeit. Bei unserem Patienten verlor sich beides, als er mit 21 Jahren in den Krieg zog. Eine weitere in der Pubertät beginnende nervöse Störung mit sexueller Färbung ist das Rotwerden verbunden mit und in der Hauptsache verursacht durch Errötungsfurcht, unter der viele Jugendliche ungemein leiden. Es quält sie die Vorstellung, daß durch das Erröten etwas verraten wird, was sie schamhaft zu verbergen bemüht sind. Manche erröten stets bei ganz bestimmten Namen, Worten oder Zahlen, andere bei Handlungen, die den meisten ganz gleichgültig sind, wie beim Durch- gang durch ein Restaurant oder beim Fordern gewisser Waren; fast stets aber liegt dem Vorgang eine unbewußte Gedanken- verknüpfung mit erotischen Regungen zugrunde. Einer, der bei der Zahl 18 errötete, hatte eine besondere Vorliebe für Mädchen dieses Alters, ein anderer, der rot wurde, wenn eine Ware 1,75 Mark kostete und sich deshalb im Gasthaus oder Geschäft niemals etwas geben ließ, was mit diesem Preise ausgezeichnet war, litt an homo- sexuellen Regungen. Einige meiner jugendlichen Patienten hatten die Gewohnheit angenommen, wenn die Errötungsfurcht eintrat, Gegenstände fallen zu lassen, nach denen sie sich bückten ; sie wollten das Rotwerden so verbergen oder den Anschein erwecken, als ob ihnen durch das Herabneigen das Blut zu Kopf gestiegen sei. Stellt das Erröten eine Lähmung der Gefäßnerven dar, so beruht ein anderes, häufig in der Pubertät beginnendes Kopf- leiden — die Migräne — meist auf einem Gefäßkrampf. Sie 92 IV. Kapitel: Sexualkrisen findet sich beim weiblichen Geschlecht häufiger, wie beim männ- lichen; ihr erstes Auftreten fällt oft mit der ersten Menstruation zusammen, deren regelmäßiger Begleiter sie dann bis in die Wechseljahre hinein ist. Wohl jeder Arzt hat Fälle von Hemikranie gesehen, die mit Erbriechen, starker Lichtscheu und Benommenheit ganz das Bild einer schweren Intoxikation boten. Alle bisher genannten Nervenleiden werden an Schwere nun aber weit übertreffen von einer Erkrankung des Zentralnerven- systems, die gleichfalls nur allzu häufig über die Schwelle der Pubertät in dias Leben junger Mädchen und Männer tritt, von der Epilepsie. Häufig handelt es sich um die typischen epileptischen Krampfanfälle, die plötzlich einsetzend, nicht selten mit einem gellenden Schrei beginnend gekennzeichnet sind durch völligen Schwund des Bewußtseins, Schütteln und Zuckungen namentlich der Arme und Beine, durch Zungenbiß, Schaumaustritt aus dem Mund, erweiterte, nicht reagierende Pupillen und Urinabgang. Kommen die Kranken zu sich, so besteht entweder noch eine Weile Verwirrtheit, oder es tritt ein tiefer Schlaf ein, oder aber es schließt sich eine innere Unruhe mit heftigem Harndrang an. Bei näherem Nachforschen ergibt sich nicht selten, daß sexuelle Erregungszustände bei Epileptischen eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. So behandelte ich ein achtzehnjähriges Mädchen an starker Epilepsie, die fast jede Nacht von der Vor- stellung gepeinigt wurde, daß nackte Männer auf ihr kauerten oder daß mehrere völlig entblößte Männer mit übergroßem aufgerichteten Gliede in das Zimmer drangen, um sie zu vergewaltigen; eine andere Epileptika — Tochter eines Landwirts — geriet, wenn fremde Männer sich am Tische aufhielten, in eine kaum beherrschbare ero- tische Erregung, in der sie weder sprechen noch essen konnte. Ihrem Wesen nach den epileptischen Anfällen nahe verwandt sind die Absenzen, das „petit mal" der Franzosen. Auch dieses Leiden tritt mit Vorliebe im pubischen Alter auf. Das petit mal verhält sich zur Epilepsie wie der Tik zur Chorea. Es besteht darin, daß meist nur für wienige Sekunden das Bewußtsein schwindet. Die Patienten machen plötzlich im Gehen Halt, der Schirm, oder was sie sonst in der Hand tragen, entfällt ihnen zu Boden oder sie hören mitten im Reden, Schreiben, Klavierspielen, Essen auf, taumeln ein wenig, blicken starr ins Leere, wenden den Kopf zur Seite oder ver- drehen die Augen, zucken mit den Mundwinkeln oder machen zupfende Bewegungen mit den Fingern. Kaum bemerkt sind diese Anfälle oft schon vorüber, die öfter, wenn auch keineswegs immer, mit der Zeit, wie die Epilepsie selbst, zu epileptischer Charakter- veränderung, namentlich Umständlichkeit und Heftigkeit, ja schließ- lich auch zu epileptischer Verblödung führen können. IV. Kapitel: Sexualkrisen. 93 Zu den epileptischen Äquivalenten werden periodische Dämmerzustände, periodische Verstimmungen und periodische Kopf- schmerzen gerechnet, vielfach auch gewisse periodisch e D r a n g - zustände, die in den Entwicklungsjahren zutage treten und den An- gehörigen und Gerichten oft viel zu schaffen machen, wie der Drang, von Hause fortzulaufen („auszurücken", zu „türmen"), abenteuer- liche Reisen zu unternehmen, zu vagabundieren - — die Dromo- manie ■ — , der Drang, sich zeitweise zu berauschen — die Dipso- manie ■ — , der Trieb, Feuer anzulegen — die Pyromanie — , Gegenstände zu entwenden — die Kleptomanie — , oder sich vor anderen zu entblößen: der später noch gesondert zu behandelnde Exhibitionismus. So viele dieser Fälle ich auch schon be- obachten konnte, namentlich von der Dromomanie, der Dipsomanie und dem Exhibitionismus, so sehr sie in der anfallsweisen Peri- odizität, in dem voraufgehenden Angst- und folgenden Entspannungs- gefühl epileptischen Anfällen ähnlich sind, so wenig habe ich mich davon überzeugen können, daß es sich in der großen Mehrzahl der Fälle um ausgesprochene Dämmerzustände handelt. Meines Erachtens handelt es sich in fast allen diesen Fällen um krankhafte Zwangszustände auf dem Boden einer psychopathischen Konstitution. Mit dem Begriff der psychopathischen Konstitution, der nahezu gleichbedeutend ist mit dem der psychopathischen Minder- wertigkeit, der Entartung oder der degenerätiven Belastung, gelangen wir wieder zu einem Sammelbegriff, der unentbehrlich ist für das Verständnis der in der Pubertät zutage tretenden Seelen- störungen. Gewiß läßt dieser Krankheitsbegriff, wie so mancher, an Präzision zu wünschen übrig; er ist sehr allgemein gehalten und nicht scharf abgegrenzt vom Bereich einer gesunden, normalen, physiologischen Konstitution als Gegensatz, und doch können wir ohne ihn nicht auskommen, wollen wir in der Fülle schwankender Erscheinungsformen nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Auch eine präzise Einteilung der psychopathischen Konsti- tutionen stößt auf Schwierigkeiten. Wir werden am besten tun, die hauptsächlichsten Typen herauszugreifen, die in Wirklichkeit frei- lieh selten ganz isoliert vorkommen. Wir beginnen mit den krankhaften Phantasten, deren sprudelndem Gehirn es unmöglich zu sein scheint, in der Wirklich- keit und Wahrheit Genüge zu finden. Diese jungen Leute verfälschen Erinnerungen, fabulieren und geben unbedenklich die seltsamsten Produkte ihrer Pseudologia phantastica zum Besten, nur um sich interessant zu machen oder ein Ansehen zu geben. Viele nehmen an ihren Namen Veränderungen vor, indem sie sich einen Doppelnamen geben (einer der Wolf f hieß, nannte sich Wolf- Wolfenstein) oder sich ein Adelsprädikat vorsetzen oder einen 94 ihnen nicht zukommenden Titel annehmen. Auch absonderliche, fremdländisch klingende Vornamen sind bei ihnen beliebt, wie Mario statt Max, Jonny statt August. Viele rühmen sich ihrer hoch- adligen Verwandtschaft, ihre Mutter stamme aus altem Geschlecht oder sie selbst seien eigentlich illegitime Kinder einer sehr hochge- stellten Persönlichkeit. Andere phantasieren von ihren vor- nehmen und einflußreichen Beziehungen, sie wären gestern bei Ihrer Durchlaucht zum Tee gewesen, es wäre wieder entzückend gewesen, der Großherzog von bürg war auch da und habe sie eingeladen. Manche fabulieren von ihrem Reichtum, was sie nicht hindert, wenige Minuten nachher sich bei der Person, der sie von ihren Schätzen erzählt haben, eine Mark oder Fahrgeld zu borgen; ein Jüngling von 18 Jahren berichtete jedermann von dem berühmten prachtvollen „Familienschmuck" seiner Eltern, der nach Angabe der Mutter in einer ererbten alten Brosche von nur geringem Wert be- stand. Ein anderer, 21 Jahre alt, gab sich als Sohn eines ameri- kanischen „Multimilliardärs" aus, er ging in die ersten Hotels, fragte, was das ganze erste Stockwerk für seinen Vater und dessen Be- gleitung kosten würde, ließ sich die teuersten Zimmer zeigen und entfernte sich mit einer herablassenden Geste. In Wirklichkeit ver- fügt der Milliardärssohn über einen Monatswechsel von 8 0 Mark. Manche schildern in glühendsten Farben ihre Reisen in tro- pischen Ländern, die ihr Fuß niemals betreten hat, einer, dessen Eltern mich aufsuchten, hatte 8 Monate lang ausführliche Feldpost- briefe nach Hause geschrieben, in denen er eingehend die großen Kämpfe schilderte, an denen er teilgenommen hatte, das Leben im Schützengraben, die gefahrvollsten Sturmangriffe. Schließlich stellte es sich heraus, daß er niemals die mitteldeutsche Garnisonstadt ver- lassen hatte, überhaupt seit Monaten nicht mehr Soldat war, er war nach kurzer Dienstzeit als nervenleidend entlassen. Als p a t h o - logischeS chwindler werden die krankhaften Phantasten nicht selten kriminell, indem ihnen Geschäftsleute, Gastwirte, Zimmer- vermieterinnen, die sie durch ihre Erdichtungen täuschen, beträcht- lichen Kredit gewähren. Meistens lassen es die Verwandten aller- dings nicht soweit kommen, was natürlich vom prophylaktisch- therapeutischen Gesichtspunkt nichts weniger als vorteilhaft ist. In anderer Weise wie beim Pseudologen gibt sich die psychische Unausgeglichenheit und Überspanntheit, das desequilibrierte Wesen beim pathologisch Exaltierten kund, den jugend- lichen Querulanten und Weltbeglückern. Auch ihre verstiegene Phantasie schwebt in höheren Regionen, aber es sind utopistische Ideale, denen sie nachjagt, umstürzlerische Ideale in Politik, Tech- nik, Kunst und Wissenschaft. Greift der pathologische Schwindler in der Wahrheit, so greift der patholo- gische Idealist in der Wahrscheinlichkeit daneben. IV. Kapitel: Sexualkrisen 95 In allen Reformbewegungen und Sekten ist dieser Typus vertreten. Bald tritt er uns als Anarchist oder Adventist, bald als Futurist oder Kubist, bald als Mitglied einer Nacktloge oder eines spiritistischen Zirkels entgegen. Ein in diese Gruppe gehöriger Jüngling gründete mit 19 Jahren einen Bund für Menschheitsduldung. Bis zu seinem 20. Lebensjahre schwebten gegen ihn bereits folgende Strafverfahren: wegen § 110, Aufforderung zum Ungehorsam gegen Staatsgesetze — er hatte impfgegnerische Vorträge gehalten - — , wegen Freiheits- beraubung, wegen Achtungsverletzung gegenüber einer militärischen vorgesetzten Behörde, wegen Hausierens im Umherziehen. Alle Ver- fahren wurden eingestellt. Ferner machte er sich verdächtig, weil er in seine Wohnung viele Kinder — Knaben und Mädchen — kom- men ließ, denen er Schularbeiten nachsah und „selbsterdachte Ge- schichten und Märchen erzählte", um sie, wie er sagte „aus der Gefangensehaft fremden Wesens zu befreien". Als diesem Tun schließlich seitens der Schule ein Riegel vorgeschoben wurde, war er so unglücklich, daß Selbstmordgedanken auftauchten. In seinen Aufzeichnungen schreibt er: „Zu den Kindern fühle ich mich im Ver- hältnis einer Mutter. Die natürlichen Eltern sorgen für Leib und Leben; Gefühle und Gedanken der Kinder sind ihnen gleichgültig, oder sie kümmern sich nicht darum. Ich bin ihnen die Mutter ge- wesen, die ihr Fühlen und Denken miterlebte. Mir kam dies so recht zum Bewußtsein, als ich die Beschäftigung mit den Kindern aufgab. Da war mir es so, als hätte mir die Welt meine Kinder geraubt." Über das Geschlechtsleben äußert er sich: „Das wahre Wesen des Menschen, sein Ewiges, ist ungeschlechtlich. Enthaltsamkeit ist das Richtige bis zur Ehe. In der Ehe ist die Vereinigung eine Opfer- handlung zum Schaffen der leiblichen Hülle für das aus seiner geistigen Heimat herabsteigende Wesen." In einem anderen Falle hatte ein Junge von 15 Jahren während des Krieges in großem Umfange folgenden „Aufruf" ver- faßt, unterzeichnet und versandt: „Ihr, die Ihr zurückgeblieben seid, werdet gewiß viele und große Opfer dem Vater- land gebracht haben. Aber Eure Opfer sind doch klein! Das Vaterland braucht jetzt und für die Zukunft eine gesunde, starke und gestählte Jugend. Manches Kind ist krank gewesen und soll sich erholen, aber oft findet es die Erholung nicht. Aus diesem Grunde habe ich mich entsclüossen, eine Anstalt zu gründen. Diese soll sanatorium- artig sein. Hier sollen die Kinder in die Gärtnerei eingeführt werden, und wenn sie gesund sind, aber noch keine passende Position haben, von der Anstalt eine solche besorgt bekommen. Außer in der Gärtnerei sollen die Mädchen im Waschen, Plätten, Fensterputzen usw. unterrichtet werden. Es gibt viele Mädchen, welche im Haushalt nichts tun wollen, wenn sie aber sehen, daß andere sich nützlich machen, so wollen sie dies auch, und wenn sie dann wieder zurück ins Elternhaus kommen, so sind sie der Mutter eine wahre Stütze. Ihr könnt nun das größte Opfer bringen und Eure Wohnung durchsuchen, um alles das, was entbehrlich ist, an untenstehende Adresse zu senden. Z. B. alte Teppiche, IV. Kapitel: Sexualkrisen Bettvorleger, Bettstellen, Betten, Matratzen, Stühle, Tische, Gardinen usw. Da aber die Anstalt erst gebaut werden soll, so ist in erster Linie Geld erforderlich. Darum schafft Geld! Jeder Pfennig ist ein Tropfen des Stromes. Diejenigen Personen, .wie Ärzte, Kochlehrerinnen, Gärtner und Krankenpflegerinnen, die an diesem Werk per- sönlich teilnehmen wollen, werden gebeten, sich bei untenstehender Adresse zu melden. Auch Grundstücksbesitzer, die einen Teil des Grundstückes für diesen wohltätigen Zweck hergeben wollen, mögen sich dort melden. Auch Architekten, die kostenlos Haus- einrichtungen entwerfen wollen, werden gebeten, sich an diese Adresse zu wenden." Dieser Junge wör später auch kriminell geworden. Er hatte auf Postämtern Umschläge von postlagern den Sendungen aufgelesen, die von den Empfängern achtlos beiseite geworfen waren. Diese forderte er dann am nächsten Tage, wie er versicherte „aus Neugierde", ab. Er gibt folgende Schilderung seiner Straftat: „Der Postbeamte gab mir die Postsachen. Hierunter waren auch zwei Postanweisungen, die eine mit 75 Pfennigen, die andere mit 123 Mark. Der Beamte sagte zu mir: Das braucht bloß unterschrieben zu werden. Ohne Be- denken quittierte ich, indem ich den Namen des Empfängers hin- schrieb. Der Postbeamte sagte: „Die Unterschrift nehme ich nicht an." Als ich dieses hörte, las ich mir die Postsachen unterwegs durch und warf diese mit beiden Postanweisungen in den Gulli. Am andern Tage wollte ich wieder die Postsachen abholen. Da wurde ich festgenommen. Ich weiß und wußte nicht, daß es eine straf- bare Handlung war, was ich tat." Überwiegt bei den letztgenannten Psychoneurosen die ver- stau desmäßige die gefühlsmäßige Unausgeglichen- heit, so überragt bei der nächsten großen Gruppe pubischer Neurotiker, den Hysterikern, die Haltlosigkeit des Ge- fühls die des Verstandes. Ohne an dieser Stelle auf das bunt- scheckige Bild der Hysterie einzugeben, sei nur hervor- gehoben, daß bei den jugendlichen Hysterikern weiblichen und männlichen Geschlechts drei Erscheinungen in den Vorder- grund treten: einmal der unberechenbare Stimmungswechsel, der sprungweise zwischen den Extremen höchster Übersehwenglich- keit und tiefster Niedergeschlagenheit ohne mittlere Stimmungs- lagen schwankt, zweitens die bekannten hysterischen Sensa- tionen von selten fehlendem Kloßgefühl im Halse bis zu allen möglichen hysterischen Krämpfen und Lähmungen — besonders häufig begegnet man in der Pubertät dem hysterischen Tremor — und drittens und hauptsächlich das hysterische Gebaren. Dieses ist gekennzeichnet durch eigenwillige Rücksichtslosigkeit, durch Leidenschaftlichkeit — in der Erotik vielfach als Tempera- ment bezeichnet — sowie durch exzentrische Einfälle und Ausfälle. Man kann oft beobachten, daß Hysteriker einen Menschen um so mehr peinigen, je mehr sie ihn lieben. Niemand ist imstande, 97 seiner Umgebung das Leben durch „Liebeshaß"1) in so unerträg- licher Weise zu vergällen, wie der Hysteriker. Erst stoßen sie eine Person durch Vorwürfe, Beschimpfungen, selbst tätliche Angriffe zurück, um sie, sobald sie sich zurückzieht, mit Liebesbezeugungen, Zärtlichkeiten, Versprechungen zu überschütten, sie werfen sich dann hin, schreien, rasen und schrecken vor keinem Aufsehen zurück. Die berühmte Stelle aus der Oper Carmen: „Ja, ich habe sie getötet, meine angebetete Carmen," entspricht so recht der h y s t e r o - erotischen Stimmungslage. Ich habe viele Fälle gesehen, in denen hysterische Männer und Frauen durch schwere Drohungen Liebe zu erpressen suchen; nicht nur, daß sie der geliebten Person ankündigen, sie würden sie töten, sondern oft genug stellen sie ihr auch in Aussicht, sie würden sie, f a 1 1 s sie ihre Neigung nicht erwiderte, unglücklich machen, bloßstellen, anzeigen. Die Differen- tialdiagnose zwischendemreinkriminellenundhystero- sexuellen Erpresser zu ziehen ist oft recht schwierig und nur durch große Erfahrung möglich, die auch lehrt, daß der krank- haft hysterische Erpresser seine Drohungen viel häufiger wahrmacht, wie der gewöhnliche kalt überlegende Erpresser und Chanteur, dem es nur um das Geld zu tun ist. Auch der hysterische Selbstmordkandidat neigt dazu, durch Selbstmordversuche seine mehr oder weniger ernsten Ab- sichten, die er durchaus nicht immer vorher kundgetan hat, in die Tat umzusetzen. Sind wir auch durchaus Plaezeks2) Meinung, daß es neben einem pathologischen einen physiologischen Selbstmord gibt, so haben wir doch allen Grund anzunehmen, daß bei kindlichen und jugendlichen Selbstmördern in der übergroßen Mehrzahl der Fälle eine psychopathische Konstitution vorliegt. Der äußere Anlaß, der in den Selbstmordstatistiken meist als Ursache angeführt wird — schlechte Zensur, unglückliche Liebe — , spielt eine sehr untergeord- nete, meist zufällige Kolle gegenüber der reaktiven, reizbaren, labilen Psyche, auf die es in erster Linie entscheidend ankommt. Gleichwohl besteht aber zu Eecht, wenn Scholz3) schreibt: „Die oft schweren Konflikte zwischen Schamgefühl und religi- ösen Keuschheits vorstellungen einerseits und dem heftigen sexuellen Drängen andererseits bedeuten mitunter für empfindsame und grüblerische Kinder oder Jugendliche harte Kämpfe, die das psychische Gleichgewicht verhängnisvoll gefährden. Einzelne über- winden die Krisis überhaupt nicht und sie gehen zugrunde an dem Konflikt zwischen Ekel und Begierde." 1) Vgl. Gr. Meisel-Heß: „Die sexuelle Krise". Kap. V. Abschnitt: Liebeshaß. 2) Dr. P 1 a c z e k : Selbstmordverdacht und Selbstmordverhütung. Eine Anleitung z\u Prophylaxe für Arzte, Geistliche, Lehrer und Verwaltungsbeamte. Leipzig 1915. 3) Zitiert nach Frau Dr. Gervai: Kindliche und jugendliche Verbrecher. S. 40. Hirschfeld, Sexualpatholog-ie. I. 7 98 IV. Kapitel: Sexual krisen Wenn aber durch die Literatur der Fall hysterischer Kinder geht, die sich das Leben genommen haben, lediglich „umihreElternzu ärgern", so kann ich aus meiner Praxis nur von Fällen berichten, in denen Jungen sich töteten, uin ihre Eltern nicht, oder nicht mehr zu ärgern. So ist mir unter mehreren andern besonders der Freitod eines 18jährigen Jünglings in Erinnerung geblieben, der, wie viele Kinder psychopathischer Konstitution im Grunde sehr gut- mütig war, aber zu Diebstählen bei seinen Angehörigen neigte. Immer wieder entwendete er den Eltern Gegenstände, die er ver- setzte, um den Ertrag mit Genossen zu verbringen. Er hatte ihnen so allmählich ihre sämtlichen Silbersachen, fast alles Hochzeitsge- sckenke, geraubt. G. war zudem exzessiver Onanist, der es täglich 4— 5mal zur Ejakulation kommen ließ. Eines Morgens fanden ihn die Eltern erschossen vor seinem Bette liegend. Der Abschiedsbrief, den er vor die Schlafzimmertüre der Eltern gelegt hatte, lautete wörtlich : „Meine liebe Mutter und lieber Vater. Ich stand jetzt 1 Stunde vor Eurem Schlafzimmer und lauschte, wie Ihr beide so ruhig schlieft. Bei Euren gleichmäßigen Atemzügen umklammerte meine Rechte den Browning, der Euch von mir erlösen soll. Ich habe Euch vielen Verdruß bereitet und Eure Güte schlecht vergolten. Wie es dazu kam, ich weiß es selber nicht. Wenn ich weiterlebe, fürchte ich, daß Ihr auch in Zukunft viel Leid durch mich erfahren werdet. Deshalb will ich Euch das Leben zurückgeben, das Ihr mir geschenkt habt. Nehmt es mir nicht übel. Meine Absicht ist eine gute. Euer Sohn Friedel." Ein Vetter dieses Jünglings tötete sich neunzehnjährig, zwei Monate später unter ähnlicher Begründung. Wie bei den Selbstmördern ist es auch unter den jugend- lichen Verbrechern keineswegs immer leicht, die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit, und bei Krankheit zwischen den ein- zelnen Psychosen wie Hysterie, manisch - depressivem Irresein, Schwachsinn, beginnender Dementia praecox, zu ziehen. Man wird in der Mehrzahl der Fälle sich mit der Sammeldiagnose: psycho- pathische Konstitution begnügen müssen. Da die Untersuchungen Gruhles und anderer ergeben haben, daß unter den jugendlichen Kriminellen ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz krank ist — unter 105 Verwahrlosten fand G r u h 1 e beispielsweise nur 15 Jungen körperlich und psychisch gesund — , sollte unbedingt gefordert wer- den, daß jeder Jugendliche vor seiner Aburteilung ex officioeinerspezialärztlichenUnter suchung unter- zogen wird. Zwei Beobachtungen und Begutachtungen aus meinem um- fangreichen Material mögen als Beispiele das Gesagte belegen: a) „Der am 23. April 1896 geborene jetzt achtzehnjährige Handlungsgehilfe H. ist von uns (Dr. Burchard und mir) gemeinsam beobachtet, wiederholt exploriert und IV. Kapitel: Sexualkrisen •99 eingehend untersucht worden. Wir haben seine Angaben nach Möglichkeit durch Befragen seiner Verwandten sowie einer Dame, die früher mit ihm zusammen in einem Geschäft tätig war, ergänzt und uns auf Grund dieser Unterlagen ein Urteil über seinen Geistes- zustand gebildet. Wir geben demselben im folgenden unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob und inwieweit bei H. eine strafrechtliche Verantwortlich- keit für ihm zur Last gelegte Delikte besteht, gemeinsamer Uberzeugung gemäß, gut- achtlich Ausdruck. Vorgeschichte: H. wird zur Last gelegt, daß er in der Garderobe seines frü- heren Geschäfts die Paletottaschen seiner Mitangestellten durchstöbert, ihnen Brieftaschen entnommen und den Inhalt beiseite gebracht habe. H. beteuert, er habe dieses nicht getan, um sich zu bereichern, sondern aus einem ihm unerklärlichen Drange, den er selbst nur als krankhafte Neugier ansehen könne. — H.s Vater soll sehr nervös, schwer nierenleidend und erblindet sein. Eine ältere, verheiratete Schwester, die wir selbst kennen lernten, ist ebenfalls hochgradig nervös; deren Tochter ist ein in der Entwicklung zurückgebliebenes Kind. H. soll von seinen Eltern — besonders dem Vater — in wenig konsequenter Weise erzogen, einerseits mit außerordentlicher Strenge, andererseits mit übergroßer Ängstlichkeit und Verweich- lichung behandelt und umgeben worden sein. Von Kindheit an zeigte er Eigenarten neuropathischer Konstitution, Hang zur Einsamkeit, zu phantastischen Träumereien und Einbildungen, Furcht, allein im Dunkeln zu sein und schreckhafte Träume mit nächtlichem Aufschreien. Es entsprachen dem auch allerlei für neuropathische Kinder charakteristische Gewohnheiten, wie Nägel- kauen usw. Im achten Lebensjahre soll H. eines Morgens ohne eigentlichen Grund — er selbst gibt einen unwesentlichen Ärger über seine Schwester als Grund an — planlos fort- gelaufen sein. Am späten Nachmittag — er war inzwischen über die Grenze, ziellos geradeaus gewandert — sei er zur Besinnung gekommen und wurde dann zu den Eltern zurücktransportiert. Er hatte eine abenteuerliche Entführungsgeschichte als Grund seines Fortbleibens erfunden, die ihm auch geglaubt und in der heimatlichen Tages- zeitung wiedergegeben wurde. Es beherrschte ihn in diesem Alter nämlich ein dunkler Drang, Krüppel zu werden, der, wie er selbst jetzt meint, das eigentliche, ihm selbst damals natürlich noch nicht klare Motiv dieser eigenartigen Wanderung war. — Überhaupt konzentrierte sein reges Phantasieleben sich zu dieser Zeit und später vor- wiegend auf die Vorstellung von Krüppeln und dem — aller Wahrscheinlichkeit nach einer unbewußt masochistischen Sexualphantasie entspringenden — Wunsch, selbst ein Krüppel zu sein. ' Mit dem Beginn sexueller Reife nahmen diese Phantasien mehr und mehr einen bewußt erotischen Charakter an. Er spann sich in solche Träumereien ein und ent- spannte die Zwangsvorstellung durch onanistische Handlungen. Seine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht haben bis jetzt noch nicht den Charakter nach Betätigung drän- gender Sexualität angenommen, sondern bestehen in platonischer Verehrung einer ange- schwärmten Dame. Ein weiteres auffallendes Moment, das sich in früheren Jahren bei H. bemerkbar machte, war ein — seinen Schilderungen nach geradezu krankhafter — Drang zur Neugier. Dieser äußerte sich sowohl in sexuellen Dingen wie auch unabhängig davon, in der Sucht, alles zu durchsuchen und durchstöbern, die Schubladen und Schriftstücke seines Vaters, die Sachen seiner Schwester usw. — Dieser Hang zur Neugier soll sich bis jetzt nicht verloren, eher gesteigert haben. — Im übrigen wird H. als ein auffallend stiller und solider Mensch, dessen einzige Liebhaberei Interesse für gute Theaterkunst ist, geschildert. Er klagt über häufige, periodisch auftretende Kopfschmerzen in der linken Schläfe und Stirn sowie über ebenfalls zeitweise auftretende depressive Verstimmungen. Diese Erschei- nungen werden von seinen Bekannten bestätigt. Der körperliche Befund ergibt bei H. bei kräftigem Körperbau die zarte Haut- farbe, welche Rotblonde so oft zeigen, eine auffallende Asymmetrie im Körperbau, namentlich in der Bildung des Hirn- und Gesichtsschädels sowie der Ohren. Außerdem 7 * 100 IV. Kapitel: Sexualkrisen besteht hochgradige Kurzsichtigkeit und Anlage zur Plattfußbildung. Des weiteren fallt die leichte Erregbarkeit der Herzaktion, die lebhafte Reflex- und Gefäßerregbarkeit auf. In psychischer Hinsicht zeigte H. ein ruhiges Wesen, aus dem aber die Neigung zu Veränderungen des Affekts sich deutlich abhob, indem er bald eine gedrückte, ver- schlossene Stimmung, bald ein lebhaft gesprächiges Verhalten an den Tag legt. — Der Intellekt bot in bezug auf Kenntnisse, Interessen und Fähigkeiten nichts Besonderes. Es unterliegt keinem Zweifel, daß H. mancherlei Merkmale einer degenerativen und neuropathischen Konstitution zeigt. — Mit den Erscheinungen, die von ihm selbst in glaubwürdiger und innerlich wahrscheinlicher Weise mitgeteilt und von Personen, die ihn genau kennen, bestätigt, werden, stimmen unsere Beobachtungen überein. Die Neigung zu ausgesprochenen Affektschwankungen, periodischer Verstimmung und anfallartigen Kopfschmerzen von zweifellos migräneartigem Charakter stehen in Über- einstimmung mit den neuropathischen Zügen und Vorkommnissen seiner Entwick- lungsjahre. Neben den in dieser Hinsicht charakteristischen Angewohnheiten, wie Nägelkauen, ist der bereits in frühesten Kindheitsjahren geradezu triebartig hervor- getretene Wunsch, ein Krüppel zu sein oder zu werden, ferner das an Epilepsia prae- cursiva erinnernde unmotivierte Fortlaufen von Hause und der ebenfalls früh bemerkte Hang zu einer geradezu krankhaften Neugier besonders hervorzuheben. H. gehört demnach einer besonders zu zwanghaften Antrieben dis- ponierten Kategorie von Neuropathen an. Hiermit verbindet sich ein gleichfalls auf psychopathischem Boden beruhender Drang zu krankhafter Neugier. Vom psychiatrischen Standpunkte erscheint es einleuchtend, daß diese beiden Momente bei den H. zur Last gelegten Delikten ursächlich und bestimmend in Betracht kommen. Es handelt sich hierbei natürlich nur um eine Möglichkeit, die aber für den Sachverständigen den Vorzug innerer Wahrscheinliclikeit hat und das sonst unver- ständliche Handeln des von allen als sehr solid und zuverlässig geschilderten Ange- schuldigten ungezwungen erklären würde. Es lag demnach unserer gemeinsamen sachverständigen Überzeugung nach bei H. zur Zeit der ihm zur Last gelegten Delikte ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vor, der Zweifel an seiner freien Willensbestimmung im Sinne des § 51, zum mindesten aber eine wesentliche Herabsetzung seiner Verantwortlichkeit auf dem Gebiete subjektiver Wil- lenstätig kcit beding t." b) „Ich bin aufgefordert worden, ein Sachverständigengutachten abzugeben über den Geisteszustand des Gardejägers Wilhelm Peter J., dem eine Reihe straf- barer Handlungen, wie Fahnenflucht, Urkundenfälschung, Diebstahl, zur Last gelegt werden, die er sich während der Kriegszeit zuschulden kommen ließ. Die Unterlagen meines Gutachtens sind wiederholte persönliche Untersuchungen des Angeschuldigten im Militärarrestgebäude in T., eingehende Rücksprachen mit seinem Vater, sowie eine ganze Anzahl mir unterbreitete Schriftstücke, die teils von dem Angeschuldigten selbst herrühren, teils von Personen, mit denen er in Berührung ge- kommen ist, beispielsweise den Wirtinnen, bei denen er wohnte. Vorgeschichte und Befund. Wilhelm J. ist am 10. September 1890 als einziges Kind des Kaufmanns Wilhelm J. in M. geboren. Er besuchte die dortige Realschule vom 6. bis 15. Lebensjahre bis einschließlich Quarta, aus der er Ostern 1905 konfirmiert wurde. Dann erlernte er seinen Jugendwünschen gemäß das Bauhandwerk. Gegen den kaufmännischen Beruf, dem sein Vater mit Rücksicht auf sein eigenes Ge- schäft den Vorzug gegeben hätte, hatte er eine Abneigung. Im Anschluß an die prak- tische Ausbildungszeit besuchte er die Kgl. Baugewerksschule in D., woselbst er am 23. August 1910 die Abschlußprüfung bestand. Vom 24. August 1910 bis zum 31. März des nächsten Jahres war er im Baugeschäft eines Architekten in M. beschäftigt, später IV. Kapitel: Sexualkrisen 101 in L. bis zu seinem Eintritt beim Gardejäger-Bataillon, demselben Truppenteil, in dem auch sein Vater einst diente. Nach zweijähriger Dienstzeit hatte er bis zum Ausbruch des Krieges wiederum Stellungen in R. und S. Die seinem Vater gemachte Angabe, daß er auch in T. in Stellung gewesen sei, stellte sich später als unwahr heraus. Am ersten Mobilmachungs- tage ist er in sein altes Bataillon getreten und am dritten mit demselben nach dem Westen ausgerückt. Mit der III. Kompagnie machte er die Gefechte, Aufklärungen und zum Teil sehr anstrengenden Märsche mit bis zum 21. September (Marneschlacht), wo er verschüttet und verwundet wurde (Handschuß). Am 27. Oktober 1914 wurde er aus dem Kriegslazarett in Frankreich zum Truppenteil entlassen, und zwar erhielt er den Auftrag, sich allein zu seinem Bataillon zu begeben. Er begab sich jedoch nicht zu diesem zurück, sondern .bummelte' zunächst 14 Tage in Lille. Dann trat er mit selbst ange- fertigten Fahrscheinen eine Fahrt durch Deutschland kreuz und quer an, und zwar hielt er sich nachweislich u. a. in Brüssel, Dirschau, Hamburg, Kiel, Fürth, Riesa und Breslau auf. Am 31. März 1915, also nach mehr als fünfmonatiger Wanderfahrt durch Deutschland, wurde er in Wolgast verhaftet. Nach einer Erklärung seines Verhaltens gefragt, gibt er sehr naive Antworten, wie ,Ich wollte zum Osten durch'. Auf das Kindische dieser Begründung hingewiesen, gibt er nähere Auskünfte, wie ,der Stellungskrieg ist so langweilig, Be- wegung muß sein'. Die Frage, weshalb er auf seiner Reise ein paar Stiefel gestohlen habe, beantwortet er kurz dahin: ,Meine waren kaputt'. Der Gedanke, er könne sich durch seine Entfernung von seinem Truppenteil strafbar gemacht haben, sei ihm gar nicht gekommen. Er wäre ,für sein Leben gern draußen', ,er könnte weinen und tue es auch oft, daß er nicht mehr dabei sei'. Daß er sich in der Tat zum Soldatenberuf hingezogen fühlte, geht daraus hervor, daß er, als er seinerzeit bei seiner freiwilligen Meldung zum Militär von dem Stabs- arzt zurückgewiesen wurde wegen zu erregter Herztätigkeit — er soll damals einen Puls von 130 — 140 Schlägen in der Minute gehabt haben — , er sich von zwei Ärzten Atteste besorgte, die ihn körperlich für gesund erklärten. Damit erreichte er dann in der Tat seine Einstellung. Während seiner militärischen Dienstzeit ereigneten sich verschiedene Vorfälle, die für seinen geistigen Zustand überaus bezeichnend sind. Er erbat sich wiederholt Urlaub unter Angabe von Gründen, die seine ethischen Defekte und seine mangelnde Urteils- ' fähigkeit scharf beleuchten. Einmal gab er an, sein Vater sei verstorben, dann wieder, die Mutter hätte einen Schlaganfall erlitten, ein anderes Mal, d i e Mutter sei gestorben, ein viertes Mal handelte es sich um Regulierung der Erbschaft, wieder einmal war der Vater schwer erkrankt. Alle diese Angaben waren völlig aus der Luft gegriffen, so daß J. entsprechende Militärstrafen erhielt. Später erbat er einmal Urlaub, um sich in T. eine Stellung zu suchen, kehrte aber nicht rechtzeitig vom Urlaub zurück. Nach seiner Entlassung vom Militär ging er nach T., um diese Stellung anzutreten. Er hielt sich dort zwei Monate auf und reiste dann nach Kiel. Durch Zufall stellte es sich dann heraus, daß er gar keine Stellung in T. gehabt hatte, und daß die ganze Sache erfunden war. Auch sonst hat er noch, wie der Vater sich ausdrückt, ,sehr viel Dummheiten' gemacht; meistens bezogen sich diese auf Schulden und .grobe Unwahrheiten', die bei allem scheinbaren Raffinement doch stets den Stempel einer gewissen geistigen Be- schränktheit und Urteilsschwäche nicht verleugneten. Im übrigen zeigte sein Verhalten ein sehr wechselvolles Bild. Das Lernen wurde ihm im allgemeinen schwer, doch zeigte er sich für einzelne Fächer, wie Mathematik und Zeichnen, gut befähigt. Manchmal zeigte er einen starken Arbeitsdrang, ,ich zeichne dann die ganze Nacht hindurch', zu anderen Zeiten aber wirft er die ganze ■ Arbeit hin; er kann sich nicht konzentrieren und kann, wie er sich ausdrückt, dann ,nicht 2 und 2 zusammenziehen'. Er selbst, der in keiner Weise den Eindruck eines Simulanten macht, sagt: ,Es kommen Zeiten, wo ich nicht weiß, was ich tue.' 102 IV. Kapitel: Sexualkrisen Sehr wechselnd ist auch seine Schrift. Wie der Vater erzählt, trugen auch seine beiden Briefe aus dem Lazarett, die letzten bevor er sich strafbar machte, verschiedene Schrift und ganz verschiedenen Charakter. Der erste Brief war gut und deutlich in Schrift, verständig im Sinn und von Dienstpflicht erfüllt; der zweite Brief dagegen war kaum zu lesen und ganz unverständlich im Inhalt. Dem Vater fiel dies so sehr auf, daß er die Briefe gleich zu Anfang des Verfahrens einlieferte, ehe ihm die Tat- umstände näher bekannt waren, durch die sein Sohn sich strafbar gemacht hatte. Ich selbst habe die Originale dieser Briefe nicht einsehen können, kann aber hinsichtlich der mir bekannten, von der Hand des Angeschuldigten herrührenden Schriftstücke be- stätigen, daß sie in Form, Schrift und Inhalt sehr differieren. Im allgemeinen ziemlich ruhig, zeigt J. gelegentlich heftige Wutanfälle. Bei der Schlußprüfung in F. geriet er wegen einer Aufgabe mit einem Lehrer in Meinungsverschiedenheit und wurde dabei so heftig, daß er im Beisein der ganzen Regierungskommission ihm die Kreide vor die Füße schleuderte. Ich selbst hatte auch Gelegenheit, eine ungewöhnlich heftige Erregung bei ihm zu beobachten. Es handelte sich um seine in Aussicht genommene Abführung aus der Militärarrestanstalt. Mit funkelnden Augen erklärte er, er würde sich nur im Wagen transportieren lassen; sollte man ihn zu Fuß als Gefangenen durch die Straßen von D. transportieren, dann würde er sich hinwerfen und nur mit Gewalt fortschleifen lassen. ,Ich mache dann einen Affentanz', stieß er hervor, wobei er am ganzen Leibe zitterte und seiner selbst kaum mächtig schien. Bemerkenswert ist nun noch die bei J. vorhandene Neigung, mit den Fingern tief in den Mastdarm zu bohren und mit dem Kot Bettlaken, Hemde, Wände, Bettbretter usw. zu beschmieren. Diese zweifellos sehr schwere Zwangshandlung .führte den Untersuchungsrichter zu der Annahme, es könne sich hier um eine mit homo- sexueller Triebrichtung in Zusammenhang stehende Störung handeln. Dies ist nicht der Fall; es findet zwar eine Art analer Onanie statt, aber der wesentliche Charakter dieser Fingerbohrungen und Kotbesudelungen ist kein rein sexueller, sondern ein auf allge- meiner Psychopathie beruhender. Trotzdem J. sehr unter dieser häßlichen Neigung leidet, die ihm, wie er berichtet, überall im Wege stand, ihm bisher sein Leben ver- gällte und ihm vielfach Schimpfnamen eintrug, die er sich sehr zu Herzen nahm, konnte er nicht davon lassen. Ich gebe hier einige Zeugenaussagen von Wirtsleuten wörtlich wieder, die sich über diese Schmiersucht geäußert haben: Frau Z. in Kiel schreibt: ,Der Techniker Willi. J. hat während seiner Lehrzeit im Jahre 1908, desgleichen im Frühjahr 1914 längere Zeit bei uns gewohnt. In dieser Zeit hat er sehr oft nachts das Bett mit Kot beschmiert, desgleichen seine Bettwäsche, auch Taschentücher. Den Kot selbst hat er öfter an verschie- denen Stellen seines Zimmers zwischen den Möbeln, Kommode, Vertikow, Matratzen, ver- steckt, wo er dann tage-, ja wochenlang liegen blieb. Machten wir ihm Vorhaltungen des- wegen, so unterblieb es doch nicht. Wir sind der Meinung, daß Wilh. J. krankhaft be- anlagt ist; er hatte oft ein schlechtes, fahles Aussehen; außerdem war er sehr nervös und überreizt.' Frau K. aus F. äußert sich ähnlich: ,Der Bautechniker Wilh. J. hat im Jahre 1907 und 1908 vom Frühjahr bis Semester Schluß bei mir gewohnt. Er hat während dieser Zeit sehr oft das Bett beschmutzt und seine Bedürfnisse zuweilen im Papier oder Taschentuch im Schrank oder seinem Handkoffer aufbewahrt. Da er sonst solide und nie betrunken in der Zeit gewesen ist, haben wir es ihm als eine Krankheit ange- rechnet.' Ebenso berichtet Frau H. aus R. Auch von Lehrer Julius S., bei dem J. in W. wohnte, liegt eine ähnliche Be- kundung vor. Ich selbst konnte diese unabhängig voneinander gemachten Mitteilungen durch die Besichtigung seines Hemdes und Bettes bestätigen, die zahlreiche Kotschmier- flecke aufwiesen. In seinen Lebensgewohnheiten ist J. ziemlich anspruchslos; sexueller Verkehr hat nur selten stattgefunden; auch im Genuß alkoholischer Getränke ist er mäßig, dagegen zeigt er im Rauchen das Verhalten eines Periodikers. Wochen- und Monatelang ist IV. Kapitel: Sexualkrisen 103 kein Bedürfnis nach Tabak vorhanden, dann überkommt ihn eine förmliche Rauch- sucht. In solchen Zeiten läßt er die Zigarre oder Zigarette den ganzen Tag nicht aus- gehen. Er kann dann gut arbeiten. Diese süchtige Periode wird von einer des Ekels abgelöst; dann kann er, wie er berichtet, .nicht einmal den Rauch der Zigarre riechen oder vertragen'. Noch einige andere subjektive und objektive Krankheitserscheinungen seien er- wähnt: Häufiges Kopfweh, Schlaflosigkeit, krampfartiges Ziehen in den Beinen, und eine eigenartige Störung der Vasomotoren. Beim Entkleiden zeigen sich auf der Haut große rote Flecken, die erst nach ziemlich langer Zeit verschwinden. Auch die Sehnen- reflexe sind gesteigert. Zusammenfassung und Gutachten. I. Halten wir alle die genannten Erscheinungen zusammen, so unterliegt es keinem Zweifel, daß der Gardejäger Wilhelm J. an einer ausgesprochenen psychopathischen Konstitution leidet. Im Krank- heitsbilde finden sich Anzeichen von Hysterie und Hebephrenie. Daneben geht eine recht erhebliche reizbare Nervenschwäche. IL Dieser Zustand, an dem J. bereits vor dem Kriege litt und auch jetzt noch leidet, blieb sicherlich nicht unbeeinflußt von den außerordentlich starken körperlichen und seelischen Erschütterungen, denen der Patient in den ersten Kriegsmonaten ausgesetzt war. Den gewaltigen Anforderungen, die an seine Truppe gestellt wurden — bei denen fast das ganze Bataillon in kurzer Zeit aufgerieben wurde — , war der hoch- gradig psychopathische und neuropathische J. nicht gewachsen. III. Daher muß man mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit an- nehmen, daß J. zu der Zeit der ihm zur Last gelegten Handlungen, d. h. vom 27. Oktober 1914 bis 31. März 1915, nicht im Besitze seiner geistigen Gesundheit war, vielmehr an einer so hochgradigen Störung der Geistestätigkeit litt, daß seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 RStGB. als nicht vorhanden angenommen werden kann." Besonders zu erwähnen ist noch der erotisch betonte Degene- rationstypus, den man unter Zuhältern und Prostituierten zahlreich vertreten findet. Wer die Mühe nicht gescheut hat, die mißachteten Persönlichkeiten der Zuhälter innerhalb und außerhalb gerichtlicher Verwicklungen in ihrem Seelenleben zu erforschen — bisher ist dies nur sehr vereinzelt geschehen — , wird sich bald des Eindrucks nicht erwehren können, daß auch hier eine starke endo- gene psychopathische Komponente, erkenntlich vor allein an weitgehender Labilität und Suggestibilität, mit allerlei exogenen wirtschaftlichen oder sonstigen Anlässen zusammentrifft. Das Alter, in dem die Mehrzahl der jungen Leute zum Zuhältertum gelangt, ist das erweiterte Pubertätsalter, in dessen Verlauf sich der verhängnisvolle Vorgang häufig wie folgt abspielt: zwischen dem sich überschätzenden, nach Selbständigkeit drängenden heran- wachsenden Sohn und den um ihn besorgten Eltern entsteht allmäh- lich ein Mißverhältnis. Der Sohn will einen neuen, den Eltern phan- tastisch erscheinenden Beruf ergreifen, Kinoschauspieler, Artist, Flieger, Forschungsreisender; Vater und Mutter wollen davon nichts wissen, er soll werden, was der Vater war, Kaufmann, Beamter, Offizier; der Sohn neigt dazu, sich bis tief in die Nacht herumzutreiben, die Eltern verweigern ihm den Hausschlüssel; der Sohn glaubt mit 104 IV. Kapitel: Sexualkrisen 3 Mark wöchentlichem Taschengeld nicht auskommen zu können, wobei das von den Eltern meist gänzlich übersehene, von dem Sohn hoch bewertete, aber verschwiegene erotische Moment keine ge- ringe Rolle spielt. So häufen sich die Gegensätze und Zusammen- stöße bis der Sohn schließlich eine Nacht, dann mehrere überhaupt nicht' mehr nach Hause kommt. Unter den sich feilbietenden Mäd- chen, die ihm gefielen, hat er eine getroffen, der er gefiel. Sie nimmt ihn mit in eine Wirtschaft, in ein Tanzlokal, bezahlt für ihn, dann in ihre Behausung und der Zuhälter ist fertig. Oft genug besitzen auch die unfertigen, noch wenig verdorbenen Jün-linge in ihrer Haltlosigkeit und Hilflosigkeit für die nicht erloschenen mütterlichen Instinkte der Prostituierten eine be- sondere Anziehungskraft. Sie geben dem stellungslosen oder in seiner Stellung sich nicht wohlfühlenden Jüngling Unterkunft, Unterhalt und vor allem in reichlichem Maße Geschlechtsverkehr, und immer tiefer versinkt er in den Sumpf, aus dem eine Befreiung seit Ein- führung des unglücklichen Gelegenheitsgesetzes der Lex Heintze viel schwieriger ist, wie ehedem. Früher konnten jugendliche Zuhälter, wenn ihr Charakter und Wille sich gefestigt hatte, mit Hilfe wohl- meinender Dritter verhältnismäßig leicht vom Weibe loskommen. Wenn jetzt der Vater seinen Sohn abholen will, heißt es bei der Berliner Dirne nur zu oft: „Wat, der hat ja Jeld von mia jenommen, der bleibt bei mia oder ick bring ihn rin von wegen Zuhälterei." Ebenso leicht wie dem Zuhältertum und unter sehr ähn- lichen Begleitumständen verfällt der in seiner sexuellen Triebrich- tung noch nicht scharf differenzierte jugendliche Psychopath der männlichen Prostitution, nicht selten auch beiden gleichzeitig, indem sowohl er selbst, wie seine „Braut" ihren jugendlichen Körper ge- werbsmäßig zum Sexualverkehr feilbieten. Auch unter den Entstehungsursachen der weiblichen Pro- stitution in den Entwicklungsjahren, namentlich zwischen 15 und 25 Jahren, ist neben den exogenen Anlässen, wie wirtschaft- lichem und häuslichem Elend, schlechten Wohnungsverhältnissen, Hungerlöhnen, Zank und Streit in der Familie, die psycho- p a t h i s c h e K o n s t i t u t i o n als die in den meisten Fällen endogene gegebene Vorbedingung nachzuweisen. In vielen Fällen konkurriert die psychopathische Konstitution mit manisch-depressivem Irresein, in einigen auch mit Imbezillität. Ich habe wiederholt ausgesprochene Psychopathen in durchaus nicht anstaltsbedürftigem Zustande zu sehen Gelegenheit gehabt, die in jugendlichem Alter als Manischdepressive in Irrenhäusern waren. Geistesschwache Psychopathen sind seltener als intellektuell hoch- stehende; in der von den Franzosen als degeneres superieurs be- zeichneten Gruppe jugendlicher und älterer Psychopathen gibt es sogar geistig sehr hochstehende, ohne deren Leistungen die Welt 105 viel Wertvolles auf dem Gebiete der Kumt, Wissenschaft und Technik entbehren würde. Es wäre nun noch nötig, auf die schwerste der sich gewöhnlich im Pubertatsalter entwickelnden Psychosen einzugehen, die in der Mehrzahl der Fälle mit der Zeit zu einer völligen geistigen Ver- ödung und Verblödung führt, auf die Dementia praecox, auch rJebephreme und Schizophrenie genannt. Wir müssen hier aber auf die psychiatrischen Lehrbücher verweisen, da ein genaueres Ein- gehen auf diese organische Krankheit, die ihren anatomischen Aus- druck m dem Ersatz eingeschmolzener Nervenzellen der tieferen Hirnrindenschicht durch wuchernde Gliazellen findet, den Rahmen unseres Lehrbuchs der Sexualstörungen überschreiten würde. Nur das eine sei bemerkt, daß der Grund, weshalb diese Krankheit so häufig in den Entwicklungsjahren auftritt, darin zu suchen sein dürfte, daß das i n n e r e S e k r e t der Geschlechtsdrüsen entweder qualitativ oder quantitativ abnormal ist oder auf ein an und für sich fehlerhaftes Gehirn trifft, welches auf das als solches nor- male Sekret krankhaft reagiert. Kötscher4) sieht in der Puber- tatsentwicklung die wesentlichste Entstehungsbedingung der De- mentia praecox. Er führt aus, daß für diese Auffassung ganz be- sonders der Umstand spricht, „daß gewisse Formen derselben gerade wahrend der Entwicklungsjahre einsetzen, ferner die namentlich von Heck er betonte Anlehnung des klinischen Bildes an die gewöhn- lichen psychischen Veränderungen in jener Zeit. Dahin gehören du© lebhafte Tätigkeit der Einbildungskraft, die eigentümlichen Stim- mungsschwankungen, die Reizbarkeit, die Neigung zur Schwärmerei und Empfindsamkeit, die geschlechtliche Erregbarkeit, die Antriebe zu allerlei unvermitteltem und unüberlegtem Handeln. Alle diese finden sich in krankhafter Ausprägung namentlich bei den bebephrenischen Erkrankungen wieder. Allerdings, fügt er hinzu, haben wir es hier stets mit greifbaren und eigenartigen Zer- störungen m der Hirnrinde zu tun, über deren nähere Beziehungen zu den Entwicklungsvorgängen noch völliges Dunkel hängt." i- w <Üü\er hat in Annahme der sexuellen Ätiologie sogar mög- lichst frühzeitige doppelseitige Kastration zur Bekämpfung der Dementia praecox vorgeschlagen. Es ist ihm aber wohl hierin bis- her niemand gefolgt. Auch Tschisch (nach Kräpelin, Psych- iatrie IL Teil, S. 930) hat die Meinung vertreten, „daß die Unter- druckung oder mangelhafte Entwicklung der geschlechtlichen Tätig- keit als Ursache der Dementia praecox anzusprechen sei," und von -Krapelm selbst ist die Ansicht ausgesprochen, „daß möglicher- weise irgendein mehr oder weniger entfernter Zusammenhang der seine AnLirendSL67M- KötSCher: Das Erwachen *» Geschlechtsbewußtseins und 106 IV. Kapitel: Sexualkrisen Dementia praecox mit den Vorgängen in den Geschlechtsorganen be- stehen könne". Er betont indes, daß überzeugende Beweise für diese Annahme bisher noch nicht beigebracht seien. Mit Eecht wendet Kräpelin sich aber dagegen, daß aus dem Umstand, daß viele dieser Kranken jahrelang onaniert haben, ge- folgert werde, die Onanie könne eine Dementia praecox her- vorrufen; hat man doch früher der Hebephrenie zugehörige Krankheitsbilder geradezu als „Irresein der Onanisten" beschrieben. Kräpelin meint, daß die Onanie bei diesen Kranken durch ihre scheue Zurückhaltung gefördert wird, die ihnen oft die geschlecht- liche Annäherung an andere Personen unmöglich macht. Anderer- seits besteht aber bei ihnen meist eine sehr lebhafte geschlecht- liche Erregung, welche sich häufig auch in quälenden geschlecht- lichen Beeinflussungsideen kundgibt. Kräpelin hebt auch die Zu- nahme der Erkrankungen im Klimakterium hervor und äußert sich über die Beziehungen zwischen der Dementia praecox und dem Fort- pflanzungsgeschäft wie folgt: „Abgesehen davon, daß Menstruations- störnngen häufig sind, und zudem während der Menses vielfach Ver- schlechterungen des Krankheitszustandes beobachtet werden, beginnt die Dementia praecox in einer erheblichen Zahl von Fällen während der Schwangerschaft, im Wochenbette oder nach einem Aborte, bis- weilen auch erst in der Säugezeit. In Heidelberg sah ich von den katatonischen Erkrankungen bei Frauen nahezu 1/4 sich im An- schlüsse an das Fortpflanzungsgeschäft entwickeln, während von den hebephrenischen Fällen noch nicht Vio einen solchen Znsammenhang erkennen ließen. Einmal knüpften sich die 4 Schübe, in denen die Krankheit verlief, je an eine Geburt an, bis der letzte die endgültige Verblödung brachte. In einem andern Falle begann die Krankheit ebenfalls im Wochenbette, um nach einer längeren Bemission mit dem Eintritte neuer Schwangerschaft in schwerem Bückfall zu enden." Nach alledem dürfte ein Zusammenhang zwischen innerer Geschlechtsdrüsensekretion und Dementia praecox, wenn er auch im einzelnen noch unklar ist, nicht von der Hand gewiesen werden können. Wie der Eintritt erogener Stoffe in den Körper zur Zeit der Geschlechtsevolution neben den physiologischen Umwälzun- gen schwere pathologische Veränderungen des Nerven- und Seelen- lebens zur Folge haben kann, so bewirkt auch das Nachlassen und Aufhören der Sexualfunktion im Klimakterium vielfach Störungen im Zentralnervensystem, wenn auch nicht ganz so häufige und weittragende wie im Pubertätsalter. Jedenfalls stellen die Wechseljahre für die Psyche und insonderheit für die sexuelle IV. Kapitel: Sexualkrisen 107 Psyche eine kritische Zeit erster Ordnung dar. In erster Linie er- kranken freilich auch hier wiederum neuropathische und psychisch belastete Personen. . Unter den nervösen Störungen des Klimakteriums sind am ver- breiteten vasomotorische, die sich als Wallungen auf- steigende und fliegende Hitze nicht selten mit Flimmern vor den Augen und Ohrensausen äußern. Oft sind diese Erscheinungen mit Schwindelanfällen, Übelkeit, Ohnmachtsanwandlungen und kalten Fußen und Händen verbunden. Dabei besteht häufig Schlaflosig- keit. Es dürfte schwer zu entscheiden sein, was in diesen Zuständen auf Hyperamie und Anämie, was auf Hysteroneurasthenie oder aus- schließlich innersekretorischen Einflüssen beruht. Denn alles dies kommt als Wirkung der Geschlechtsdrüsen-Involution in Betracht. Höchst lästig sind bei Frauen gewisse neuralgische Sen- sationen imEückbildungsalter, unter denen die Mastodynie die „irritable breast" der englischen Ärzte und der Pruritus vulvae et vagmae vor allem zu nennen sind. Die als Mastodynie be- zeichnete Schmerzhaftigkeit der Brust ruft bei Frauen leicht die Befürchtung eines Brustkrebses hervor und kann damit den Aus- gangspunkt schwerer Hypochondrien und Melancholien bilden. Ich sah einen solchen Fall, wo schließlich zur Amputation der Brust geschritten werden mußte, trotzdem alle Ärzte Karzinom ver- neinten. Eine der unangenehmsten Erkrankungen im Klimakterium ist der g enitalePruritus,ein unerträgliches Brennen und Jucken in den Schamteilen, welches zu exzessiver Masturbation und förm- lichen libidinösen und orgastischen Krisen führen kann. Ich habe Falle von Pruritus beobachtet, in denen es in Verbindung mit hoch- gradiger Nymphomanie zu konvulsivischen Zuckungen kam. Auch die bloße Aufgeregtheit, Unruhe, Launenhaftigkeit und Heftigkeit im klimakterischen Alter ist nicht selten eine Folgeerschei- nung örtlicher Eeizzustände in den Genitalien; sie kom- men allerdings auch ohne diese vor. Die Schilderungen der dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis, welche seinerzeit viel Auf- sehen erregten, über Frauen „imgefährliehenAlte r", gehören m dieses Gebiet. Es sind dies aber Einzelfälle, die man nicht verall- gemeinern darf. Im Gegenteil, eine depressive Stimmungslage, eine gewisse Traurigkeit und Verdrießlichkeit, Ängstlichkeit und Mut- losigkeit findet sich in den Wechseljahren öfter vor, als eine ge- hobene, freudig erregte Gemütsverfassung. Dabei herrscht vielfach ein Gefühl der Insuffizienz und Überflüssigkeit. Nahezu die Hälfte aller weiblichen Selbstmorde ereignet sich zwischen dem 40. und 50. Lebensjahre. Auch unter den Psychosen im Klimakterium kommen Manien verhältnismäßig nicht so häufig vor wie Melancholie und 108 IV. Kapitel: Sexualkrisen Paranoia, welche die eigentlichen klimakterischen Geisteskrank- heiten sind. Bei Frauen, die viel geboren haben und mit ihren Man- nern zusammenleben, sind diese Leiden viel seltener als bei ledigen, kinderlosen oder kinderarmen, verwitweten oder geschiedenen Frauen; wiederholt beobachtete ich sie auch bei solchen, deren Männerüber ein Jahr im Felde standen. Dies gilt auch für die häufigste der klimakterischen Psychosen, die Paranoia. Sie ent- wickelt sich fast immer auf dem Boden einer nachweislich psycho- pathischen Familiendisposition. Viele dieser Frauen glauben, daß sie auf elektrischem, magnetischem oder hypnotischem Wege von einem bestimmten Manne verführt, entjungfert oder geschwängert seien. In einem S c h u 1 1 a 1 1 , den ich beobachtete, handelte es sich um eine 46jährige unverehelichte Lehrerin Emma K. Sie war mir bereits seit 16 Jahren bekannt, da ich ihre Mutter an einer schweren Geistes- störung (Altersverblödung) und ihren Vater an Neuralgien und Tremor behandelt hatte. Nach dem Tode der Eltern, die sie mit großer Aufopferung pflegte, ließ sich die ziemlich intelligente, aber etwas verschrobene und hysterische Tochter pensionieren und ging auf Reisen. Da sie ziemlich viel ererbt hatte, lebte sie ganz unab- hängig und verbrachte ihre Zeit in Museen, Bibliotheken und Hör- sälen. Als der Krieg ausbrach, befand sie sich seit einem halben Jahr in Grenoble, um sich im Französischen zu vervollkommnen. Sehr erregt reiste sie über die Schweizer Grenze nach Genf, wo sie er- krankte. Als ich sie kurz darauf sah, bot sie folgendes Bild: sie war ausschließlich von dem Gedanken beherrscht, ihr Professor in Grenoble hätte sich in sie verliebt und mache die größten An- strengungen, sich auf dem Wege drahtloserTelegraphiemit ihr in Verbindung zu setzen; man hätte sie zwar fälschlich als Franzosenfeindin und Spionin verdächtigt, aber er glaube an sie und ließe nicht von ihr ab. Hier in Deutschland mischten sich wieder andere in ihr Verhältnis mit dem Professor, den man ihr nicht gönne. Man hielte seine Briefe und Telegramme zurück, auch ihre würden nicht abgesandt. Die Kaufleute in dem Bezirk, in dem sie wohnte, hätten auch schon von der Liebschaft gehört und nannten sie hinter ihrem Rücken die Franzosenbraut. Man würde sie verhaften, wenn sie das Kind zur Welt brächte, das sie „infolge unbefleckter Empfängnis" von dem französischen Professor unter ihrem Herzen trüge. Die Untersuchung ergab, daß sie virgo intacta war. Wenn sie zu mir kam, war ihre erste erregte Frage, ob nicht ein Brief des Professors für sie unter meiner Adresse eingetroffen wäre. Diagnose lautete klimakterisches Irresein; Prognose war unter Berücksichtigung der starken erblichen Disposition als dubia ad malam vergens zu bezeichnen. IV. Kapitel: Sexualkrisen 109 Im übrigen habe ich oft die klassische Schilderung bestätigt gefunden, welche Kisch5) und Kowalewski von der klimak- terischen Paranoia entwerfen. Die Phantasie der von diesem Leiden Befallenen „konzentriere sich stets auf Männer; sie merken, daß die Männer überhaupt, besonders aber einige, ihnen nachsehen, mit ihnen liebäugeln, Andeutungen machen, Zeichen geben und beson- dere Aufmerksamkeit auf sie lenken. Die gewöhnlichsten, natür- lichsten, allgemein angenommenen Höflichkeitsformen werden bei der krankhaft gesteigerten Beobachtung solcher Frauen als Aus- druck einer besonderen Umwertung und Aufdringlichkeit gedeutet. Mit stockendem Herzen und besonderer Verliebtheit laufen sie diesen Männern nach und schreiben ihre eigene übermäßige Aufmerksam- keit den Männern in bezug auf ihre Person zu. Oft wird diese Periode der krankhaft gesteigerten Beobachtung auch von geschlecht- lichen Mißbräuchen in Form von Masturbationen usw. begleitet. Nicht selten haben solche Degenerierten wollüstige Traumbilder. Oft treten Halluzinationen im Gebiete geschlechtlicher Sensationen oder in Form vermeintlicher Angriffe auf ihre Jungfräulichkeit ein. Alle diese Zustände gehen bald in Verfolgungs- oder Argwohns- ideen über. Die Kranken meinen, daß dieser oder jener, oft unbe- kannte und sogar in einer andern Stadt lebende Mann mit ihnen in geistige und leibliche Verbindung tritt. Diese Beziehungen wer- den namentlich nachts auf dem Wege des Hypnotismus, Spiritis- mus und der Elektrizität unterhalten. Die Kranke setzt solchen Personen durch Briefe zu, glaubt sich mit ihnen in gesetzlicher Ver- bindung und gewährt ihnen nicht selten das Vergnügen, ihre Bech- lingen und Einkäufe zu bezahlen. Besonders oft hat in dieser Be- ziehung die katholische Geistlichkeit zu leiden, welche gemäß ihrer Pflicht in nähere geistliche Beziehung zu allen tritt. Nicht selten werden solche Frauen aus Verfolgten Verfolgerin- nen, indem sie ihre Opfer mit Briefen überschütten, ihnen Eifersuchtsszenen machen und zuweilen auch Skandalszenennichtscheuen. Ein solcher Liebeswahn wird nicht selten von geschlechtlichen Halluzinationen und Ideen be- gleitet, wobei solche Kranke sich für schwanger, entehrt und im Verkehr mit der einen oder der anderen Person halten, die sie oft nicht einmal kennen. In eine besonders schlimme Stellung kommen in dieser Hinsicht die Ärzte, welche nicht selten solche Personen unter vier Augen vornehmen müssen und dabei nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Oft wird ein solcher Verfolgungswahn von Anfällen offenbarer Nymphomanie begleitet, wo wiederum der unvorbereitete Arzt nicht selten in eine äußerst unangenehme Lage kommt. Dieser Wahn der Verfolgung seitens der Männer auf dem 5) Prof. Dr. E. H. Kisch: Das Geschlechtsleben des Weibes, S. 692. -qq IV. Kapitel: Sexualkrisen Wege des Hypnotismus, Spiritismus, Telephons usw. vereint mit dem geschlechtlichen Wahne und Nymphomanie erscheint so oft im klimakterischen Alter, daß er als klimakterisches Irresein par exellence gelten kann. Sehr oft hat diese Krankheitsform einen alten, hysterischen Zustand zur Grundlage." Auch beim Manne finden sich nicht selten zwischen 4o und 55 Jahren psychische Alterationen, die man als Klimakterium virile bezeichnet hat. (Kurt Mendel, Valletau de Mo- nillac.) Nach meiner Erfahrung treten diese Zustande bei Jung- gesellen, Witwern und feminin Veranlagten häufiger auf als bei ver- heirateten Männern vom virileren Typus. Wenn Mendel und Hollander daher eine gewisse Effe- mination, Auftreten von allerlei weiblichen und weibischen Eigen- schaften, als charakteristisch für das männliche Klimakterium er- achten, so ist dies zwar in gewissem Sinne zutreffend, doch darf nicht übersehen werden, ob und inwieweit schon vor Eintritt klimak- terischer Störungen eine weibliche Wesensart vorlag. Man kann unter den klimakterischen Alterationen ziemlich deutlich zwei Formen unterscheiden, die depressiv-hypochondrisch- nielancholische Form, die nicht gar so selten in diesem Alter zu Selbstmorden und Selbstmordversuchen führt und die paranoide, querulatorische. Beziehungs- und Verfolgungswahnideen pflegen beiden Formen eigen zu sein. Leichtere Fälle tragen den Charakter endogener Verstimmung und Skrupelsucht, wobei oft Eifersuchts- quälereien, sich selbst und anderen bereitet — beispielsweise ihre Frauen reagierten auf die Blicke fremder Männer — , vorherrschen. Neuerdings ist von Max Marc use eine beachtenswerte Arbeit6) veröffentlicht worden, in der er die Auffassung vertritt, daß das männliche Klimakterium „auf einer Hypofunktion oder Dysfunk- tion" der innersekretorischen Organe, und zwar in erster Linie der Prostata, beruht. Er will diese bei 16—20 Patienten mit In- volutionsbeschwerden stets krankhaft verändert gefunden haben, und zwar sei sie bei der Mehrzahl atrophisch gewesen, wobei sich die Vorsteherdrüse schlaff anfühlte — „Wie ein leerer, in sich zu- sammengefallener Beutel". Bei den andern sei sie sehr hart ge- wesen, meist hypertrophisch und mit derben höckrigen Knoten in den tieferen Gewebsschichten. Gewöhnlich seien bei diesen Patienten, trotzdem sie erst in den vierziger Jahren standen, Zeichen von Arteriosklerose, wenn auch nicht sehr erheblichen Grades, vorhanden gewesen. Für ätiologisch eindeutig halte ich die Marcuse- schen Fälle nicht. Da bei den meisten Harnbeschwerden im Vor- e) Max Marcuse: Zur Kenntnis des Climacterium virile, insbesondere über urosexuelle Störungen und Veränderungen der Prostata bei ihm. Neur. Zentralbl. 1916, Nr. 14, 16. Juli, S. 577. IV. Kapitel: Sexualkrisen 111 dergrunde des Krankheitsbildes standen, — auch ich sah bei Männern im klimakterischen Alter wiederholt Enuresis nocturna auftreten — , bei sehr vielen gewohnheitsmäßiger Coitus interruptus voraufgegangen war, eine beträchtliche Anzahl auch an all- gemeiner Arteriosklerose litt, ist nicht recht einzusehen, weshalb wir in den organischen Prostataveränderungen nicht eben so gut eine Folge als eine Ursache der Erkrankung erblicken dürfen. Völlig stimme ich aber mit M a r c u s e überein, daß, wenn auch die extra- sekretorischen generativen Organteile des Mannes nicht, wie bei der Frau, in den Wechseljahren außer Funktion treten, sehr wohl die innersekretorischen Anteile eine Eückbildung erfahren können, die bereits Valletau de Monillac dahin beschrieben hat, daß im Alter von 50 Jahren eine deutliche Pigmentierung der interstitiellen Hodenzellen beginnt, verbunden mit einem ge- wissen Grad von Sklerose. Bezüglich des weiblichen Klimakteriums geht eine vielfach im Volke verbreitete Anschauung dahin, daß gewisse Störungen mit den Wechseljahren ihr Ende erreichen. Dies trifft auch bezüglich einiger Leiden tatsächlich zu, und zwar vornehmlich solcher, die mit der Geschlechtsreife und ersten Menstruation eingesetzt haben und jedesmal mit der monatlichen Eegel wiedergekehrt sind. Mit der letzten Menstruation im Klimakterium pflegen diese Leiden nicht selten völlig zu verschwinden. Es gehören hierzu viele Fälle von Migräne, Hysterie, Epilepsie und namentlich auch Zwangsvor- stellungen quälender Art, die mit der Periode immer wieder er- scheinen. Wir gelangen damit in das Kapitel der Menstruation s- neurosen und -psychosen, denen kein geringerer wie Krafft-Ebing eine ausgezeichnete Spezialarbeit 7) gewidmet hat. Es verrät den Scharfblick dieses großen Naturforschers, daß er die menstruellen Befindungsstörungen durch die Veränderungen des Blutdrucks und der Zirkulation für nicht hinreichend erklärt ansah, vielmehr der Vermutung Ausdruck gab, daß „hier die von Brown S e q u a r d angenommene innere Sekretion der Ovarien entweder im Sinne einer bloßen Hypersekretion, oder einer qualitativ geänderten Absonderung zur Geltung kommen dürfte"; es würden dadurch „auf toxischem Wege Allgemeinsymptome in analoger Weise vermittelt, wie dies der krankhaft veränderten und abnorm sezernierenden Thyreoidea bezüglich der Basedowkrankheit zugestanden wird. Daß die Ovarien nicht bloß zur Produktion von Ovula da sind, sondern vermöge von Sekretion (,Ovariue' als Analoga der Spermine) und Resorption derselben in den Blutkreislauf einen wichtigen Einfluß 7) R. v. Krafft-Ebing: Psychosis Menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart 1902. Ferd. Enke. S. 3. 112 auf Stoff Wechselprozesse und Ernährungsvorgänge des Gesamt- organismus ausüben mögen, läßt sich nicht bezweifeln, wenn, man die Wirkung des Flirts bei jungen Damen, die des normalen Koitus bei jugendlichen Ehepaaren beobachtet, die oft einem Aufblühen der Frau gleichkommt; dazu der gleiche Erfolg durch glucklich be- hobene menstruale Störungen und Genitalerkrankung, andererseits wieder der gewaltige Einfluß im ungünstigen Sinne: bei gestörter Entwicklung in der Pubertät, im Klimakterium, wo es doch wahr- lich nicht um das bloße Aufhören der Ovulationstätigkeit, sondern um einen großen Umwand lungs- bzw. Mauserungsprozeß im ganzen Organismus sich handelt." Auf die durch veränderte Eierstockssekretion bewirkte quali- tative toxische Blutänderung führt Kraf f t-Ebing einmal die psychischen Menstrnalstörungen zurück, wie gesteigerte Reizbarkeit und Stimmungsanomalien, ferner Affektionen sensibler Nervengebiete, wie Neuralgien, Paralgien, Kephaleia, dann aber auch vasomotorische Menstrualsymptome in Gestalt von wechselnder Blässe, Rötung, Kälte, Zyanose der Extremitäten, Ohnmachts- neigungen, Salivation, profuse Schweiße, während er bei anderen vasomotorischen Erscheinungen in Körperteilen, die in einem Kon- sensus zu den Menstruationsorganen stehen, wie bei der menstruellen Anschwellung der Mammae, der Schilddrüse, der Nasenschi eimhaut, einen solchen Zusammenhang nicht annimmt. Diese Unterscheidung scheint uns nach den wissenschaftlichen Fortschritten, die mittler- weile auf dem inneren Sekretionsgebiet gemacht sind, nicht mehr stichhaltig zu sein. Nicht immer bleibt es bei den erwähnten leichteren nervösen und psychischen Begleiterscheinungen des „Unwohlseins", es kommt zu weiter- und tief ergeh ernden Alterationen. Bei manchen Frauen steigert sich das weinerliche verdrießliche Wesen bis zu stumpfem Hinbriiten, feindlicher Reaktion gegen die Außenwelt, Furchtsam- keit — nach einer Statistik Hellers hatten unter 40 Selbst- mörderinnen außerhalb der Reife- und Wechseljahre 35^ die Periode — , bei anderen Frauen geht die Erregbarkeit bis zu Zorn- explosionen, starker Unruhe und Vielgeschäftigkeit, Drang umher- zulaufen, einzukaufen, reinzumachen (Waschsucht), einige quälen si, h und ihren Mann durch Eifersuchtswahn oder sie werden gar kriminell, indem sie in ungehemmter Aufgeregtheit Ehrenbeleidi- g ungen, Hausfriedensbruch, Brandstiftungen verüben. Ich hatte einen Fall zu begutachten, in dem eine Prostituierte wiederholt in der Menstruation auf andere Dirnen losgeschlagen hatte, einen anderen, in dem eine Dame der besseren Gesellschaft in dieser Zeit Herren auf der Straße die Zunge herausstreckte. Beide w urden freigesprochen. Nicht selten ist während der Menstruation eine Abschwächung des Gedächtnisses und der Urteilsfähigkeit be- IV. Kapitel: Sexualkrisen 113 merkbar und sehr häufig sind die Perioden von bestimmten Zwangs- vorstellungen begleitet; so suchte mich eine Frau auf, die beruhigt sein wollte, weil sie sich seit Beginn des Weltkrieges bei jedesmaliger Regel mit dem Gedanken abquälte, sie würde geisteskrank werden, wenn ihr Mann fiele. Unter den zwangsmäßigen Antrieben, die men- struell rezidivieren, nimmt die Dipsomanie eine der ersten Stellen ein. Bei den menstruellen Quartalstrinkerinnen, die ich beobachtete, wurden allerdings von einem Anfall zum anderen meist eine Reihe von Menstruationen überschlagen. Unter den eigent- lichen Menstruationspsychosen stehen die maniakalischen Exalta- tionen an Häufigkeit an erster, die melancholischen Depressionen an zweiter Stelle. Der Rest der Zustandsbilder trägt degeneratives Gepräge. Mit Recht sagt Krafft-Ebing: „Das menstruierende Weib hat Anspruch auf die Milde des Strafriehters, denn es ist unwohl zur Zeit der Menses und psychisch mehr oder weniger affiziert", und weiter fordert er, daß bei allen weiblichen An- geklagten festgestellt werden soll, ob die inkriminierte Tat mit dem Termin der Menstruation zusammenfiel. Er beruft sich dabei auf ein denkwürdiges Beispiel, das sich in Hitzigs Zeitschrift für Kriminal- rechtspflege findet und schon aus dem Jahre 1827 (Juli und August) stammt: „Eine Mutter tötete ihr Kind, indem sie es ins Wasser warf. Niemand ahnte einen unfreien Zustand zur Zeit des Mordes. Die unglückliche Mutter war geständig und zum Tode verurteilt. Kurz vor der Hinrichtung teilte sie einer Mitgefangenen mit, sie habe sich geschämt, dem Richter zu gestehen, daß sie zur Zeit der Tat gerade die Periode gehabt habe, in welcher sie regelmäßig von einer ihr unerklärlichen Unruhe und Angst gequält sei und an Lebensüberdruß leide. Die Vollstreckung des Urteils wurde suspen- diert, die Delinquentin während mehrerer Monate ärztlich beob- achtet, wobei sich ergab, daß sie zu dieser Zeit jeweils an Kopf- weh, Kongestion zum Kopf, Pulsbeschleunigung bis zu 130 Schlägen, Schlaflosigkeit, Bangigkeit, Lebensüberdruß und allen Erschei- nungen einer tiefen Melancholie litt. Die Unglückliche ward daraufhin freigesproche n." Auch menstruierende Zeuginnen, sowohl solche, die während ihrer Vernehmung unwohl sind, wie solche, die es zur Zeit der Vorfälle waren, über die sie gehört werden, soll man mit Vorsicht bewerten. Namentlich bei Schwachsinnigen nimmt die geistige Einengung zur Zeit der Men- struation zu. In einem Mordprozeß, zu dem ich als Gutachter zugezogen war, bemerkte man, wie der Hauptbelastungszeugin, einer psychopathischen Prostituierten, während ihrer stundenlangen Be- fragung vor aller Augen das Menstrualblut abträufelte, so daß sich am Ende ihrer Aussage an der Stelle, wo sie stand, eine ansehn- Hirschfeld, Sexualpathologie. I. o 114 IV. Kapitel: Sexualkrisen liehe Blutlache gebildet hatte. Die *^™^}*^0^l der Freundin der Ermordeten, mit der sie bis unmittelbar vor ihrem Tode zu —gewesen war, grenzte an Echolalie. Sie sollte d e Frage entscheiden, ob ein Angeklagter mit dem Be_ ernst", tatsächlich mit dem Manne identisch Freundin in die Kajüte eines Spreekahns begeben hatte m ^der sie Getötet mirde Sie bejahte dies. Ich legte als Gutachter dar, daß Ä^Festetellini auf dem schwachen Fundament der Bekun- dung einer jugendlichen Straßenprostituierten, die sich noch im Srtätealter befände und zudem gerade menstruierte, nicht auf- SSÄ Bas Gericht schloß sich £ Ähnlich wie gelegentlich bei Mannern klimakterisch Neurosen und Psychosen vorkommen, ohne daß streng : ge- nommenTm Klimakterium im Sinne einer Menopause^ sein kann, kommen auch ausnahmsweise bei männlichen Per onen Rudimente menstrueller Störunge, jor ,dm an, an das weibliche Unwohlsein erinnern. Namentlich bei sehr fenu- nmen Mannern und unter diesen besonders häufig bei Transvestiten habe ich solches beobachten können. Dieselbe Rücksicht wie das menstruierende verdient auch das schwangere und gebärende Weib, ebenso die Woch- io!d die stillende Mutter. Denn ebenso wie wahrend der Pubertät, der Menstruation und dem Klimakterium erleidet auch während der Gravidität, der Niederkunft ^ Woche»- bett und in der Stillzeit das ganze Getriebe des Korpers der Seele, besonders aber das D r ü s e n 1 e b e n eine vielgestaltige Be- einflussung, von der nicht selten das gesamte Nervensystem, sei es vorübergehend, sei es dauernd, schwer betroffen wird. Kommen doch hier zu der qualitativen innersekretorischen Blutveranderung quanti- tative hinzu, wie veränderter Blutdruck und Gehirndruck außerdem direkte psychische Erschütterungen, ferner die Erschöpfung durch die Geburtsarbeit, der Blutverlust, der Einfluß der Schmerzen, die plazentare Autointoxikation oder womöglich gar Infektionen und Embolien, kurz eine Menge Schädigungen und Gefahren, die es be- greiflich machen, daß namentlich dort, wo eine endogene Dis- positionsschwäche gegeben ist, nur zu leicht Störungen Platz grei Im' einzelnen muß hier auf die Lehrbücher für Gynäkologie ver- wiesen werden, nur sei angeführt, daß der Häuf igkeit nach unter den Generationspsychosen die des Geburtsakts und Wochenbetts an erster Stelle stehen, die der Laktation an zweiter, die der Schwangerschaft an dritter ; ihrem psychopathologiscüen Gesamtcharakter nach erinnert die Stillzeit am meisten an die Wechseljahre, das Puerperium an die Pubertät und die Schwanger- schaft an die Menstruation. IV. Kapitel: Sexualkrisen Dementsprechend prävalieren in der Gravidität depressive und angstvolle Affekte neben manischen Verstimmungen. Im Wochenbett können alle möglichen Arten von Geistesstörungen zum Ausbruch gelangen. Besonders häufig tritt in dieser Phase die akute halluzinatorische Verwirrtheit (Anientia) auf. In der Geburts- periode selbst ist namentlich bei neuropathischen und hysterischen Frauen nicht selten eine impulsive Neigung zu Gewaltakten beobachtet worden, die Wut der Gebärerinnen, die sich besonders auch gegen das eigene Kind richten kann. In der Literatur sind Fälle beschrieben, in denen psychopathische Wöchnerinnen in einem un- bewachten Augenblick das eben geborene Kind an die Wand schleu- derten, aus dem Fenster herauswarfen, erwürgten oder erdrückten. Kein Fall vonKindesmord sollte ohne Hinzuziehung eines ärztlichen Sachverständigen abgeurteilt wer- den. Die in der Säugezeit auftretenden Seelenstörungen unter- scheiden sich insofern von den übrigen Generationspsychosen, als sie chronischer und unheilbar zu sein pflegen. Namentlich fest in der Psyche verankerte Wahnvorstellungen der Paranoia nehmen von dieser Zeit ihren Ursprung; aber auch Melancholien, Manien, Ver- wirrtheitszustände und vor allem . Angstzustände mit Zwangs- gedanken sind in der Laktationsperiode vertreten. In unehelichen Schwangerschaften wirken naturgemäß neben den endogenen auch die exogenen Gründe auf ein labiles Nervensystem sehr nachteilig ein, ja psychopathische Mädchen und Frauen können durch den graviden Zustand ganz aus der Fassung gebracht werden. Dieser Gesichtspunkt darf bei der Strafver- folgung krimineller Aborte nicht außer acht gelassen werden. Mit der Anführung eines hierher gehörigen Falles, den ich mit Dr. Ernst Burehard zu begutachten hatte, will ich dieses Kapitel schließen. Das Gutachten, aus dem alles Nähere ersichtlich ist, lautete: Seitens der Verteidigung des am 9. Oktober 1887 zu Neu-Ruppin geborenen Fräulein Therese L. sind wir ersucht worden, ein Gutachten über den Geisteszustand der Ange- klagten, unter besonderer Berücksichtigung der Frage ihrer strafrechtlichen Verantwort- lichkeit für das ihr zur Last gelegte Delikt, abzugeben. Wir haben Fräulein L. während nahezu eines Vierteljahres eingehend beobachtet, körperlich untersucht und vielfach exploriert. Uber die Vorgeschichte, insonderheit die familiären Verhältnisse hat uns die Schwester der Therese, die Mitangeklagte Martha, besonders eingehende Angaben gemacht, die wir durch Erkundigungen bei Bekannten der Geschwister L. nach Möglichkeit nachgeprüft und ergänzt haben. Auf Grund diese* Unterlagen haben wir uns, gestützt auf eine langjährige spezialistische Erfahrung in sexualwissenschaftlichen und psychiatrischen Fragen, ein Urteil über das uns obliegende Beweisthema in gemeinsamen Beratungen gebildet. Es liegt bei der Angeklagten eine äußerst schwere erblicheBelastung — insbesondere in nervöser und psychischer Hinsicht — vor. Der Vater soll in seiner Jugend und auch während der ersten Jahre der Ehe ein äußerst ausschweifendes Leben geführt, in Alkohol und sexueller Betätigung stark exzediert haben. In späteren Jahren stellten sich bei ihm allerlei Zwangsvorstellungen und seltsame Neigungen ein, 8* 116 IV. Kapitel: Sexualkrisen bis er an einem psychischen Leiden erkrankte, das den geschilderten Symptomen nach sich fraglos als Paralyse charakterisiert und zum Tode führte. Die Mutter ist hochgradig nervös und litt an epileptischen Krampf- anfällen, die nach der Geburt des dritten Kindes mit besonderer Heftigkeit auf- traten und erst in späteren Lebensjahren an Stärke und Heftigkeit abnahmen. Außer- dem ist sie schwer herzleidend und nervös. Einige Geschwister der Angeklagten waren nicht lebensfähig und starben bald nach der Geburt. Von den lebenden Geschwistern ist uns die älteste Schwester ärztlich genau bekannt und ebenfalls von uns eingehend beobachtet. Sie soll als Kind dauernd schwer krank gewesen sein, an Gelenkrheumatismus und Veitstanz gelitten und sich so spät entwickelt haben, daß sie erst mit 8 Jahren sprechen lernte. — Nach den anschaulichen und innerlich wahrscheinlichen Angaben, welche uns Bekannte gemacht haben, zeigten sich im späteren Leben bei ihr typische Symptome ausge- sprochener Hysterie. Sie hatte wiederholt schreckhafte Sinnestäuschungen, an welche sich Angstzustände anschlössen, die sich suggestiv auch auf die anderen Familien- mitglieder übertrugen. — Vor einigen Jahren ist ein äußerst charakteristischer Dämmerzustand bei ihr beobachtet; sie ging in das Wasser des Wannsees und wurde von Passanten herausgeholt, als ihr das Wasser bereits bis zum Halse ging. Sie hatte — unter dem Einfluß einer hysterischen Illusion — den Spiegel des Sees für Asphalt gehalten und die Nässe des Wassers nicht gespürt. — Im Anschluß an diesen Vorfall wurde sie in eine Nervenheilanstalt überführt, wo sie mehrere Monate blieb. Die zweite Schwester leidet ebenfalls von Jugend auf an nervösen Störungen, ins- besondere charakteristischen Zwangsantrieben (Kauen von neuem Leder, frischbedrucktern Zeitungspapier usw.). — Sie lebt nach unglücklicher Ehe, aus der ein — ebenfalls nerven- krankes — Kind stammt, von ihrem Manne getrennt. In der weiteren Verwandtschaft war unter anderem ein Bruder der Mutter geisteskrank und endete durch Selbstmord (Erhängen). Die Angeklagte selbst soll von den Geschwistern von Kindheit an die schwächlichste und kränkste gewesen sein. — Geistig äußerst schwerfällig, entwickelte sie sich sehr langsam, lernte spät gehen und sprechen. Auch bei ihr traten in nervöser Hinsicht bereits in jugendlichem Alter Erscheinungen von typisch hysterischem Gepräge auf. So bestand bei ihr jahrelang ein als „Dämmerungsblindheit" bekannter Zu- stand, der darin bestand, daß sie bei schwindendem Tageslicht absolut nichts sehen konnte. Als heranwachsendes Mädchen soll sie einmal zwei Tage lang in einem Starrkrampf gelegen haben. Um das 15. Lebensjahr bestand bei ihr ein zwangsmäßiger Hang zum Entwenden und Verstecken zweckloser Gegenstände. Die Periode trat spät — mit 19 Jahren — ein und blieb dauernd unregelmäßig, von heftigen Beschwerden begleitet. Je älter sie wurde, desto mehr fiel ihrer Um- gebung ihre Interesse- und Teilnahmlosigkeit auf. Im Verkehr mit Fremden und nament- lich mit Männern war sie scheu und schloß sich förmlich ängstlich ab. Ihre Stimmung wird als eine ständig gedrückte bezeichnet, ihr Wesen ist stumpf und apathisch. Unsere eigene Beobachtung hat diese Angabe in vollstem Umfange be- stätigt. Ebenso überzeugten wir uns in eingehenden psychischen Untersuchungen von der überaus eigenartigen und krankhaften Art ihres psychischen Reagierens. Bei den ersten Explorationen versetzten sie einfache Fragen in einen Zustand völliger Verblüfft- heit und Verwirrung, der gewöhnlich damit endete, daß sie in Tränen ausbrach. Erst als sie sich etwas an uns gewöhnt hatte, gab sie uns zögernd und mühsam Antworten, welche uns ein Bild von der Armut ihrer Interessen, der Lückenhaftigkeit und Zu- sammenhanglosigkeit ihrer Vorstellungen und Kenntnisse gaben. Versuchten wir aber — nach langer Beobachtungsdauer — Assoziationsprüfungen mit ihr vorzunehmen, ihr Kombinations- und Urteilsvermögen durch einfache Aufgaben, Erklärung von Sprichwörtern, kleinen Rätseln, leichtverständlichen Witzen auf die Probe zu stellen, dann stellte sich rasch wieder ein Versagen, verbunden mit Weinen, ein. IV. Kapitel : Sexualkrisen Noch stärker reagiert sie auf relativ geringfügige Erschütterungen ihres Gefühls- lebens, die gleichfalls zunächst depressive Affektäußerungen und dann ein apathisches Erstarren hervorrufen. In gleicher Weise soll ihr Verhalten sein, wenn einem ihrer Angehörigen etwas zustößt, eine Erkrankung in der Familie auftritt oder ihr selbst irgendein unge- wöhnliches Erlebnis begegnet. Sie reagiert darauf mit einem Zustande schwerer Apathie, der in anscheinender absoluter Gleichgültigkeit oder völliger Willenlosi<*keit zum Ausdruck kommt. Diesem psychischen Befund entsprechen körperlich nervöse Symptome: Störungen der Sensibilität, der Schweißsekretion, der Gefäß- und Reflex- erregbarkeit. Die Kopfhaut zeigt Spuren eines für derartige nervöse Zustände charakte- ristischen (sogenannten trophoneurotischen) Hautausschlages, das Gesicht zahlreiche Narben, die von multiplen Eiterherden herrühren, deren Verbreitung gleichfalls für Hysterie typisch ist. Gutachten: Es wird Therese L. zur Last gelegt, daß sie eine Abtreibung an sich hat vornehmen lassen, und ist es unsere Aufgabe, unsere sachverständige Ansicht darüber zum Ausdruck zu bringen, inwieweit in Anbe- tracht des geschilderten Geisteszustandes eine Beschränkung oder Aufhebung ihrer freien Willensbestimmung für das in Frage stehende Delikt vorlag. Therese L. ist eine nervenkranke Person, bei der auf dem Boden schwerster erblicher Belastung sich ein Zustand hochgradiger konstitutioneller Psychopathie hysterischer Natur entwickelt hat. Das Charakteristische und Wesentliche dieses Zustandes beruht nicht sowohl auf der mangelhaften Anlage einzelner psychischer Eigenschaften und Fähigkeiten als viel- mehr auf dem völlig abnormen Funktionieren des gesamten psychischen Apparates. Der seelische Mechanismus — wenn wir uns der Anschaulichkeit halber dieses über- tragenen Ausdruckes bedienen dürfen — ist in allen seinen Funktionen gehemmt und reagiert auf Anreize im Sinne einer bis zur Lähmung sich steigernden Hemmung. Wie dieses Verhalten auf dem Gebiete des Affektlebens sich in einer ständigen Depression, welche bei Gefühlserregungen in völlige Apathie umschlägt, bekundet, auf dem Gebiete der Verstandesfähigkeit in einem völligen Versagen der Kombinations- und Urteilsfähigkeit bei relativ geringer geistiger Anspannung zum Ausdruck kommt, tritt es in analoger und besonders markanter Weise hinsichtlich der Willenstätigkeit zutage. Ereignisse und Anforderungen, welche den normalen Menschen zu besonders konse- quentem, planvollem und zielstrebigem Handeln veranlassen, bewirken bei pathologischen Naturen von der Art Therese L.s ein völliges Versagen aller zweckmäßigen und ge- ordneten Willensäußerungen und bedingen, in Verbindung mit den in solchen Situationen gleichfalls eintretenden Veränderungen der Gefühls- und Verstandestätigkeit einen Zustand völliger A b u 1 i e , in dem die Kranke entweder ein wehrloses Werkzeug in der Hand anderer ist oder aber bei dem Fehlen geordneter Willenstätigkeit unter dem Einfluß impulsiver Antriebe handelt. Daß diese pathologische Einstellung der psychischen Funktionen während der Schwangerschaft bei Therese L. in besonders ausgesprochener Weise bestand, war, wissenschaftlicher Erfahrung nach, zu erwarten und wird durch ihr Verhalten in der Tat durchaus bestätigt. ^ Der Zustand krankhafter Reaktion, der auch sonst bei ihr infolge besonderer Er- lebnisse eintritt, war in dieser Zeit unter dem ständigen Einfluß der außergewöhnlichen und beängstigenden Sachlage ein perma- nenter geworden. Unserer Uberzeugung nach lag demgemäß bei Therese L. zur Zeit der Begehung des ihr zur Last gelegten De- likts ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vor, welcher die freie W i 1 1 e n s b e s t i m m u n g im Sinne des §51 des S t G B.s ausschloß. Die Angeklagte wurde freigesprochen. V. KAPITEL Die Onanie (Ipsation) Inhalt: Name und Betrriff— Die deutsche Bezeichnung Selbstbefriedigung — Der unzutreffende Gebrauch des Wortes Masturbation — Entstehung und Ver- breitung des Ausdrucks Onanie — „Mutuelle Onanie", ein Widerspruch in sich — Andere Bezeichnungen — Ipsation von ipse = selbst — Ipsation mit und ohne Vorstellungen — Die Ursachen der Ipsation — Zentrale und periphere Veranlassungen — Der i n s t i n k t i v e Entspannungsdrang — Die Erotisierung des Geschlechtszentrums — Objektive Bedeutung der V e r f ü h r u n g — Die L e i c h 1 1 g - keit der ipsatorischen Lustfindung — Hemmungen durch Willen und Wissen - Taktile Reize — Angaben von Onanistinnen — Reizbarkeit und neuro- p a t h i s c h e Disposition — Die angebliche Gefährlichkeit der Säuglingspflege — Örtliche Irritamente der Genital- und Analzone — Reibung und Reizung — Lustbetonte „Spielereien" — Haut- und Schleimhautaffektionen beim männlichen und weiblichen Geschlecht — Entferntere R e i z s t e 1 1 e n — Die motorische Unruhe — Ekzessive Onanie der Psychopathen — Schädlichkeit der Schlaflosigkei t — Die Surrogat onanie — Abstinenz- Onanisten — Notonanie normalsexueller Frauen — Ipsation infolge Ejaculatio praecox des Mannes — Vorstellungsonanie der sexuell Abnormalen — Die geistige Onanie, ein veralteter Begriff — Beispiele unbewußter Ipsation — Pollutionsonanie — Verbreitung und Häufigkeit der Ipsa- tion — Schätzungen und Statistiken — Ergebnis eigener Statistiken — Verbreitung der Ipsation in den verschiedenen Lebensaltern — B e g i n n der Onanie — Unerotische Lust- handlungen im Kindesalter — Extensität und Intensität der Onanie — Onanie- kalender — Dauer der Ipsation — Verbreitung der Onanie beim weiblichen Geschlecht — Ipsation bei wilden und zivilisierten Völkern — Bei Tieren — In älterer und neuerer Zeit — Ipsationsformen — Die m a n u e 1 1 e , f e m o r al e und koha- b i t o i d e Form — Lustverstärkungen und Varianten der manuellen Ipsation — Schilderung eines Apressionsonanisten — Solitäre Koitusimitationen — Onanie in scheidenartige Öffnungen — Klitorisvibration — Phallusersatz — Orale Onanie — Urethrale Ipsation — Mammal onanie — Larvierte Onanie — Onanie prolongata — interrupta — incompleta — Einfluß der Sexualhypochondrie und Sexualneurasthenie auf die Ipsation — Diagnose der Ipsation — Un- sicherheit der Indizien — Untersuchung der Samenflecken — Aussehen der Onanisten — Onaniehypochondrie — Eingebildete und trügerische Merkmale der Onanie (Tissots „signes de Ponanisme") — Gibt es M a s t u r b ati o n schar ak t e r e? — Opfer falscher Diagnostik und Dogmatik — Ipsationsfol gen — Übertrei- bungen, Irrlehren und Massensuggestionen — Onanistenbriefe — Unkenntnis in der Anatomie und Physiologie der Genitalorgane — A b s c h r e c k u n g s Schriften, Tissots großer Einfluß — Gesunde Onanisten — Stoffverlust und Schuld- bewußtsein — Körperhöhe, sexuelle, nervöse und psychische Schäden — Angebliche Umgestaltung des Genitalapparates — Ejaculatio praecox und Impotenz im Gefolge der Onanie — Organische, spinale, nervöse und autosuggestive Impotenz — V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) 119 Gegensuggestionen — Wechselseitige Onanie und Homosexualität — Onanie als Schutzmittel — Wirkung der Onanie auf das Nervensystem — Funktionelle Störungen — Vasomotorische Neurosen — Urtikaria nach Onanie — Angst- neurosen — Viszerale und Blasenneurosen — Beeinflussung des Geisteslebens durch die Ipsation — Depressionen, Hypochondrien, Versündigungs- und Selbstmordideen der Onanisten — Verschlimmern Phantasievorstellungen die Nachteile der Onanie? — Es gibt keine spezifischen Onanieschäden — Koliaiidlumr der Ipsation — Be- seitigung der Onanie und Onaniefolgen — Psychische, hygienische, medikamentöse, instrumentelle und operative Mittel — Hypnotische Suggestions- behandlung — Ärztliche Aufklärungsmethode — Innehaltung der Wahrheit und Fernhaltung von Übertreibungen und Drohungen — Die sexuelle Erziehung als Teil der hygienischen Erziehung — Geschlechtskunde — Bedenklichkeit der Keuschheitsgelübde — Die sechs Gebiete der hygienischen Therapie: Körperpflege und Körperübung, Bekleidung und Er- nährung, seelische und sexuelle Diätetik — Vermeidung von Juckreizen — Hydro- therapie — Gymnastik — Wichtigkeit der künstlichen Körperhüllen: Bett und Kleid — Hosen und Hosentaschen — Menge und Art der Speisen — Das Nacht- mahl — Der Alkohol — Pflanzenkost — Diätetik der Seele — Wissensschatz und Willensschatz — Uberwindung der Willensschwäche — Gewöhnung und Plan- mäßigkeit — Sexuelle Selbstbeherrschung — Verwerflichkeit des Spürsystems — Gutachten über einen relegierten Schüler — Das geschlechtliche Dilemma von der Reife bis zur Ehe — Heilkraft einer ideellen Liebe — Ein- klang zwischen Biologie und Soziologie — Arzneien, Apparate und Operationen zur Bekämpfung der Ipsation — Sedantien und Koborantien — Infibulation, Klitoridektomie und Kastration. Name und Begriff. Unter den sexuellen Begleite rscheinungen der Entwick- lungsjahre kommt keine an Häufigkeit derjenigen gleich, mit der wir uns im folgenden Kapitel zu beschäftigen haben, der Selbst- befriedigung. Ihr Fehlen ist im Alter der Pubertät viel seltener wie ihr Vorkommen, so daß beachtenswerte Forscher dazu neigten, in dieser primären Sexualbetätigung „an und für sich" keine pathologische Anomalie, sondern eine physio- logische Entspannungsform der Reifezeit zu erblicken. "Der deutsche Ausdruck „Selbstbefriedigung" deckt das, worum es sich hier handelt, besser, als irgendeine der sonst ge- bräuchlichen Bezeichnungen. Masturbation, umgebildet aus Manustupration, zusammengesetzt aus manus ■= Hand und stup- rum = Schändung, ein altes Wort1), das neuerdings dadurch wieder mehr in Aufnahme gekommen ist, daß Rohleder es zum Titel seiner bekannten Monographie über den Gegenstand wählte, ist in- sofern unzutreffend — ebenso wie die seltenere dem griechischen entlehnte Bezeichnung Cheiromanie, gebildet aus xsiq — Hand und fiavia = Sucht — , als, wie wir wissen, es durchaus nicht *) Das Substantivum Masturbatio kommt im klassischen Latein nicht vor, dagegen das Verbum masturbari; Martial XI. 104, 13: masturbantur Phrygii post ostia servi; Martial XIV. 103 steht masturbator = Onanist. 120 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) immer die Hand ist, welche die durch Reibung hervor- gerufene G enitalerregung vermittelt. Die Griechen selbst sprachen übrigens in diesem Sinn nicht von Cheiromanie, son- dern von %£iQovQystv oder dicpstv (eigentlich „kneten"). Noch weniger wissenschaftlich befriedigend ist der sehr volks- tümliche internationale Name : Onanie. Er wird zurück- geführt auf eine Stelle im ersten Buche Mosis, Kapitel 36, Vers 9, wo von Onan , dem Sohne des Juda und der Suah, dem Enkel Israels die Rede ist. Von diesem soll sein Vater gefordert haben, daß er nach altjüdischem Gesetz die Witwe seines verstorbenen Bruders Her eheliche, um mit ihr Kinder zu erzeugen. Dies aber wollte Onan nicht, deshalb ließ er, als er ihr beiwohnte, seinen Samen zur Erde fallen und verderben, damit keine Kinder aus dem Verkehr mit seiner Schwägerin entständen. „Dies mißfiel Gott so sehr, daß er ihn sterben ließ." Es ist ohne weiteres klar, daß diese Handlung Onans, der Coitus interruptus oder reservatus, etwas ganz anderes darstellt, als diejenige Betätigung, durch die sein Name unsterb- lich geworden ist. Trotzdem hat, namentlich seitdem der Lausanner Arzt Simon AndreeTissotim Jahre 1760 sein berühmtes Werk : „De 1 ' 0 n a n i s m e ou dissertation physique sur les maladies pro- duites par la masturbation" schrieb, das Wort „Onanie" — englisch Onania — in allen Sprachen Eingang gefunden. Es wird zum Teil ganz sinnwidrig angewandt, denn, bedeutet es das- selbe wie Selbstbefriedigung, so ist beispielsweise die verbreitete Wendung mutuelle oder gegenseitige Onanie gleich wechsel- seitiger Selbstbefriedigung ein Widerspruch in sich. Das Typische der Onanie ist gerade das Einseitige. Ist ein ona- nistischer Akt gegenseitig, so fällt er in eine ganz andere Kategorie. Auch die vielen Bezeichnungen, die mehr oder weniger moralische Werturteile enthalten, wie „Schoßsünde", „stum- mes Laster", „Jugendverirrung", „Selbstbefleckung" können auf wissenschaftliche Verwendung keinen Anspruch erheben. Da das Wesentliche der onanistischen Sexualbetätigung die am eigenen Körper selbst vorgenommene Geschlechts- erregung, das Solitäre ist, kommt dem Kern der Sache sehr nahe ein Ausdruck, den ein polnischer Autor, Dr. Kurkiewicz aus Krakau, in einer Schrift über den Gegenstand gebraucht hat: „Ipsatio", was eine geschlechtliche Handlung, die von jemanden selbst an sich selbst vorgenommen wird, bedeuten würde. Sprachlich verwandt ist dieses lateinische Wort dem von Bleuler eingeführten, vom Griechischen hergeleiteten Ausdruck Autismus. Doch wird hier schon mehr an eine seelische Bezugnahme auf die eigene Persönlichkeit gedacht, eine Voraussetzung, die keines- wegs für die große Mehrzahl der Fälle von Selbstbefriedigung zu- V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 121 treffen würde. Ähnliches gilt auch von dem Ausdruck Auto- erotismus, den Havelock Ellis in die Sexualwissenschaft eingeführt hat (Geschlechtstrieb und Schamgefühl S. 163), und ebenso von Latamendis Autoerastie und Näkes Narzißmus. Hier ist mehr oder weniger der eigene Körper nicht nur das 1 e i b 1 i c h e , sondern auch das p s y c h i s c h e Objekt des onanierenden Subjekts.' Das aber geht schon über den Begriff der g e w ö h n 1 i c h e n Onanie im Sinne von Selbstbefriedigung oder Ipsation hinaus. Unterscheiden wir als zwei Hauptgruppen der Onanie die m i t und ohne Vorstellungen, so ist es klar, daß bei. der ohne Vor- stellungen die eigene Person als Gegenstand erotischer An- ziehung überhaupt nicht in Frage kommt; aber auch bei der durch Vorstellungen ausgelösten spielt die eigene Persönlichkeit nur eine untergeordnete Polle, indem es zumeist andere Menschen oder Dinge sind, auf die sich die Gedanken erstrecken. Die Fälle, in denen sich diese dennoch auf die eigene Individualität beziehen, werden wir in dem nächsten (VI.) Kapitel über „Automonosexualis- mus" ausführlicher behandeln. Ursachen der Ipsation. Welches sind die Ursachen dieser so weitverbreiteten Ge- schlechtsbetätigung? Da muß man zunächst zweierlei voneinander trennen: die zentrale und periphere Veranlassung. Der zen- trale Grnnd ist der bei einem gesunden Menschen spontan und instinktiv auftretende Trieb, sich sexuelle Lustgefühle zu verschaffen. Dieser Entspannungsdrang tritt gewöhnlich erst dann m größerem Umfange auf, wenn durch das innere Sekret der Geschlechtsdrüsen, die Sexualhormone des Mannes und des Weibes, Andrin und Gynäzin, das nervöse Ge s c h 1 e c h ts z en tr u m in den Zustand erotischer Spannung versetzt, wie Stei- nach es kurz nennt, „erotisiert" wird. Der bei der Entspannung ein- tretende Rausch ist das erstrebte Ziel der Selbstbefriedigung. In- sofern gleicht das onanistische Verlangen anderen süchtigen Be- gehrungen von Pauschsubstanzen mit dem Unterschiede, daß der das Nervensystem chemisch verändernde Stoff nicht von außen, sondern von innen in das Blut gebracht wird. Wir können Bloch 2) daher vollkommen beistimmen, wenn er sagt: „die innere Se- kretion hat uus auch das Verständnis für das Wesen der Mastur- bation eröffnet, für die man bisher fast ausschließlich sekundäre Gelegenheitsursachen in Anspruch genommen hatte". 2) Bloch: Aufgaben und Ziele der Sexualwissenschaft. Zeitschr. f. Sexualw. 122 V.Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Die Erfahrung, daß ein solcher Lustgewinn am eigenen Körper möglich ist, wird vielfach durch andere vermittelt durch die sogenannte „Verführung", die von Alteren oder Gleich- altrigen, seltener von Jüngeren ausgeht. Die objektive Bedeu- tung der Schuld des Verführers ist nicht so groß, wie sie ge- meiniglich erscheint. Denn von der Mehrzahl männlicher und weiblicher Onanisten wird versichert, daß sie ganz von allem zur Selbstbefriedigung gelangt seien, so daß wohl angenommen wer- den kann, daß die meisten auch unverleitet dazu gekommen waren. Ist doch der Weg zu dieser Lustquelle nur zu leicht gefunden. Ver- gegenwärtigt man sich, daß unwillkürliche Erektionen m der Pubertätszeit fast niemals ausbleiben, daß schon ein leichtes Streifen der Bettdecke oder Beinkleider an den Krauseschen End- körperchen der Glans eine leicht lustbetonte Reizung bewirkt, ferner, daß der ausgestreckte Arm fast stets genau bis zu der Genitalzone reicht, so ergibt sich schon aus diesen drei Momenten: Häufigkeit spontaner Erektionen, Empfindlichkeit der Glans, Länge des Arms, die außerordentliche Leichtigkeit, mit der ein jugend- licher Mensch zur Selbstbefriedigung gelangen kann, bei dem die Hemmungen durch den Willen nur schwach, die Hemmungen durch Wissen vielleicht überhaupt nicht vorhanden sind. Beim weiblichen Geschlecht liegen ganz ähnliche Einflüsse vor, die nament- lich durch die Sensitivität des Kitzlers und der kleinen Labien gegeben sind. Vielfach werden von den Patienten und Autoren stärkere tak- tile Reize als die geschilderten oberflächlichen Berührungen für die Auslösung der Onanie verantwortlich gemacht, beispielsweise das bei Knaben beliebte Rutschen auf dem Treppengeländer, Stangen- klettern oder Hochziehen am Tau, bei Mädchen Radfahren oder Reiten im Herrensitz. Es kann auch nicht in Abrede gestellt werden, daß solche Umstände eine verhängnisvolle Bedeutung gewinnen können. Ich will als Beispiele aus meinem Material Schilderungen zweier Onanisten anführen, die intelligent und zuverlässig sind. Die eine rührt von einem 30jährigen Manne aus dem Arbeiterstande her, die andere von der ebenso alten Gattin eines Kriegsgefangenen. Ersterer schreibt: „Ich glaube, ungefähr im Alter von 11 — 12 Jahren mit der Onanie angefangen zu haben, allerdings erst unwissentlich und weiß ich mich zu entsinnen, das ich durch etwas ganz Besonderes dazu gekommen bin: Ich war nämlich mit Quirlen von Eiweiß be- schäftigt und wie man's gewöhnlich tut, klemmt man den Topf zwischen die Beine und quirlt. Doch dauert es immer geraume Zeit, ehe das Eiweiß fest wird, und da man's nun erzwingen will, drückt man immer fester den Topf an sich und speziell an die Geschlechts- teile. Da löste sich nun damals plötzlich das eigentümliche Gefühl los und ich war wie berauscht davon. Wußte natürlich lange Zeit V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 123 noch nichts über das Wesen des Vorgangs, doch versuchte ich es zu wiederholen, eben bloß durch das Aneinanderpressen der Beine, und es gelang mir und es wurde eine unselige Leidenschaft daraus, die ich vielleicht an manchen Tagen 5 — lOmal ausgeübt haben mag. Es war noch in einer Zeit, wo keine Pollution eintrat. Doch wurde es später auch nicht viel besser, als dasselbe geschah. Im Gegenteil, nun las man öfter Schwarten auf schlechtem Zeitungs- papier, die irgendein Kamerad plötzlich aus der Tasche zog und die nun heimlich verschlungen wurden. So dauerte es nicht lange und ich benutzte die Hand zum Onanieren und übte es öfters des Nachts im Bett und am Tage im Abort aus. Doch der Trieb war stärker als meine Willenskraft und so reizte mich bald die kleinste Ursache, Bilder von halbnackten Frauen, Zeitungsberichte über sexuelle Dinge, schwangere Frauen, sogar das Wort junges Mädchen ge- nügte, um bei mir den Drang hervorzurufen, und ich habe es auch bis heute noch nicht fertiggebracht, ganz der Onanie zu ent- sagen." In dem anderen Bericht heißt es: „Zum erstenmal hatte ich es in der Schule gesehen von einem kleinen Mädchen, und obgleich ich diesem kleinen Mädchen meine Verachtung ausdrückte über so etwas Häßliches, so tat ich es doch selbst, als ich zu Hause war und im Bett lag. Ich erinnere mich nicht, ob ich mir dabei etwas dachte, wenn ich es tat, es mußte nur dunkel sein und still — ich weiß, ich kroch ganz unter die Decke. Wenn es geschehen war, weinte ich oft über mich selbst, fürchtete mich zu beten und konnte doch ohne zu beten nicht einschlafen, so war ich immer in schrecklicher seelischer Verfassung und ich versprach mir selbst, es nie mehr zu tun, bis ich mich be- ruhigte und einsehlief. Mein gegebenes Versprechen habe ich nie gehalten, es geschah immer wieder, weiß nicht in welchen Abständen, aber doch nicht öfter als einmal im Monat glaube ich. Ich weiß es nicht genau. Jahrelang gelassen habe ich es, als meine Mutter mich dabei überraschte und mir eine eindringliche strenge und doqh gütige Rede hielt. Da habe ich es meiner Mutter zuliebe gelassen, bis kurz vor der Menstruation. Da quälte und juckte es mich so, daß ich es wieder mit einer großen Leidenschaft- lichkeit tat. Am nächsten Morgen sah ich, daß ich blutete und hatte Schmerzen in den Knien und in den Beinen und konnte nicht aufstehen. Ich gestand meiner Mutter, daß ich es wieder getan hätte und ganz blutig sei, ich glaubte, es sei die Folge davon und weinte heftig. Mutter beruhigte mich und hielt mir die zweite Rede; ich war damals 13 Jahre alt." Ist es in dem einen der eben angeführten Fälle der einge- klemmte Topf, so ist es in dem anderen der erregende erste Men- struationsvorgang, welcher den genitalen zur Onanie füh- -^24 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) renden Reiz vermittelte. Dabei ist hier, wie bei allen ähnlichen An- lässen der Grad der allgemeinen nervösen Reizbarkeit, der neuropathischen Disposition und' Konstitution wohl zu berück- sichtigen. Je stärker das Nervensystem ist, um so stärkerer Außen- reize, je schwächer es ist, um so schwächerer Anlässe bedarf es, um onanistische Manipulationen auszulösen. Die Preudsche Schule hat sich auch hier wieder ihre eigene Lehre zurechtgelegt. Weil es in der Tat vorkommt, daß bei der Säuberung kleinster Kinder „von den Endprodukten des Stoff- wechsels" durch Abwaschen und Trockenreiben der Genitalgegend von Müttern und Wärterinnen unbeabsichtigteLustempfin- d u n g e n an diesen empfindlichen Stellen wachgerufen werden, die zu Selbstspielereien Anlaß geben können, verallgemeinert Sadgar3) dies und schreibt: „Um es kurz zu sagen und in einem Satze: Die letzten Wurzeln jeder Selbstbefriedigung ruhen in der notwendigen Säuglingspflege." Und Tausk4) geht in demselben Sammelbande der Wiener psycho- analytischen Vereinigung noch weiter, indem er ausführt, daß „die vom Pflegepersonal durch Berührung und Priktion der sexuell empfindlichen Organe beim Reinigen und Klei- den der Kinder gesetzten Erregungen die ersten sexuellen Verführungen seien, denen das Kind unterliege. Es lerne auf diese Weise die Lustquelle kennen, die in der Berührung sexueller Zonen durch andere Personen liegt, und es lerne sie auch unverdächtigerwei&e gebrauchen. Diese ersten Verführungen seien von allergrößter Wichtigkeit für das Leben des Menschen. Sie seien der Anlaß dazu, daß das Kind seine Lustbedürfnisse von andern Mensehen abhängig mache und bei anderen Menschen zu befriedigen suche; sie seien einfach die erste und unerläßliche Bedingung für die Entstehung der Neigung zum Men- schen, für die Entstehung der Liebe." So Tausk. Es bedarf wohl keines Hinweises, daß wir diese mit so dogmatischer Sicherheit vorgetragenen Lehrsätze für ebenso unbewiesen, wie ein- seitig und übertrieben halten. Mit Recht macht auch St ekel gegen diese Hypothesen geltend, daß sie nicht die Onanie der T i e r e erklärten, indem ja doch Hunde und Affen des Wartepersonals er- mangelten, das ihnen beim Säubern von Verunreinigungen an den Geschlechtsteilen zerren könnte. Unter den örtlichenlrritamenten,die häufig zur Selbst- befriedigung führen, stehen bei beiden Geschlechtern allerdings die Haut- und Schleimhautaffektionen der Genital- und s) Die Onanie. Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener Psychoanaly- tischen Vereinigung". Wiesbaden 1912. J. F. Bergmann. J. Sadger, S. 13. *) Ebendaselbst. Viktor Tausk, S. 54. V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) 125 benachbarten Analzone obenan. Jedes Kribbeln, Jucken und Kratzen bewirkt in dieser Kegion Reize, bei deren Bekämpfung es zu Reibungen an den Geschlechtsteilen kommen kann. Die Reibung erhöht den Reiz, der vermehrte Reiz verstärkt die Reibung und so wird fast unmerklich die Grenze überschritten, die von der lustbetonten Beseitigung peripherer Juckgefühle zu wollüstigen „Spielereien" an den Geschlechtsteilen führt. Namentlich bei Kindern spielt dieser Zusammenhang eine be- trächtliche Rolle; bei kleineren Knaben und Mädchen sind hier in erster Linie die so häufigen Darmschmarotzer aus den Gattun- gen Oxyuris und Askaris (Springwürmer und Spulwürmer) zu nennen. Ich habe viele Kinder zwischen dem zweiten und dem zwölften Lebensjahre behandelt, bei denen die Beseitigung der Ein- geweidewürmer zur Behebung des Brennens und Bohrens in der affizierten Zone und damit zur Heilung von der Onanie führte. Unter den äußeren parasitären Erkrankungen ähnlicher Wirksamkeit sind vor allem S k a b i e s und Pedikulosis (Krätze und Läuse) zu erwähnen. Aber auch alle anderen Hautleiden können die gleiche Bedeutung gewinnen, beispielsweise die Urtikaria, das gewöhnliche Ekzem, die bei nicht sauber gehaltenen Kindern so häufige Intertrigo, auch Liehen ruber und vor allem der rein nervöse Pruritus, für den beim männlichen Geschlecht die Pubes, beim weiblichen die Vulva Prädilektionsstellen sind. Nament- lich bei Frauen habe ich Fälle gesehen, in denen der Pruritus vul- vae die Patientinnen förmlich zur Verzweiflung brachte und ex- zessiveste Masturbation bewirkte. Von Störungen, welche an den Sexualorganen selbst irrita- torisch wirken, kommt bei Knaben die angeborene Verengerung der Vorhaut — die Phimose — an erster Stelle in Betracht; neben ihr und durch sie ruft die gesteigerte Absonderung der Schleimhaut von Eichel und Vorhaut sowie die Ansammlung dieser Sekrete unter dem Präputium und die dadurch verursachten entzünd- lichen Erscheinungen ein Prickeln an den Nervenendkörperchen der Glans hervor, das zum Hingreifen und Onanieren Anlaß gibt. Bei weib- lichen Personen kommen teils entzündliche Reizzustände an der Klitoris und den Schamlippen in Betracht, teils reizende Schleimabsonderungen aus der Scheide, der w e i ß e F 1 u ß , der bei Mädchen vielfach bereits in frühem Kindes- alter auftritt, namentlich bei Anämie und Chlorose. Vielfach geht der zur Onanie führende Impuls nicht un- mittelbar von der Genital- und benachbarten Analzone, son- dern von entfernteren Reizstellen aus. Besonders er- regend und erigierend wirken hier die mit Schleimhaut be- deckten und mit Haaren versehenen Stellen der Körperober- fläche, vor allem die regio mammillaris. Ferner finden sich 126 V. Kapitel : Die Onanie (Isopation) sexuelle Erregungsstellen dort, wo die Oberhaut besonders prall gespannt ist und ohne viel Unterhautfettgewebe den Muskeln und Knochen aufliegt. Bei den Menschen sind derartige Reizstellen die Handteller, die Fußsohlen, die Fingerspitzen, die Zehen- spitzen, Knie und Ellenbogen. Weitere erogene Zonen sind bei vielen die innere Seite des Oberschenkels, der Nabel, die Nacken- gegend, der Hals, die Ohrmuschel und Ohrläppchen, bei manchen die behaarte Kopfhaut. Auch hier gibt es wiederum ganz individuelle Besonderheiten, welche anatomisch vermutlich durch eine stärkere Anhäufung sexueller Nervenendkörperchen an gewissen Stellen charakterisiert sind. Um einige hierher gehörige Seltenheiten anzu- führen, erwähne ich den Fall eines Mannes, der angab, daß er durch Zwicken des äußeren Augenwinkels, eines anderen, der durch Einführen des Fingers in die äußere Öffnung des Gehörganges, eines dritten, der durch Spielen mit der Zungenspitze am Gaumen- gewölbe erotische Lustgefühle vermittelt erhielt. Alle diese Per- sonen erregten diese Partien künstlich bei sich selbst zu mastur- batorischen Zwecken. Zu diesen örtlich auslösenden Momenten gesellen sich nervöse Zustände allgemein gesteigerter Unruhe, welche ebenfalls einen motorischen Drang zu onanistischen Manipulationen herbei- führen können. Es sind hier besonders der Veitstanz in seinen ver- schiedenen Abstufungen von der Chorea minor bis zu den sich in Zuckungen einzelner Muskelgruppen äußernden Tiks zu nennen. Es wird hier im Einzelfalle nicht immer ganz leicht zu entscheiden sein, ob die Onanie eine Folge der motorischen Unruhe ist, oder mit dieser zugleich auf dem Boden der neuropathischen Konstitution erwachsen ist. Denn zweifellos ist diese ebenso wie die weiter- gehende psychopathische Konstitution an und für sich ein Faktor, der stark zur Selbstbefriedigung disponiert. Alle geistigen Schwächezustände begünstigen schon deshalb den Drang, am eigenen Körper sexuelle Lustgefühle herbeizuführen, weil bei ihnen die intellektuellen und ethischen Hemmungen eingeschränkt und die Ausübung normalgeschlechtlichen Verkehrs äußerlich und inner- lich erschwert ist. Die exzessivesten Onanisten, die ich sah, waren ausgesprochene Psychopathen bald mehr imbeziller, bald mehr hysterischer oder epileptischer Färbung. Es ist sehr beachtenswert, daß geistige Defekte sehr viel häufiger eine Ursache als eine Folge sexueller Ausschweifungen sind. Sehr zutreffend bemerkt Ziehen: „Unmäßige Onanie ist öfter ein Symptom als eine Ursache einer psychopathischen Konstitution5), 5) Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen (krankhaft seelischen Ver- anlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte Kinder. Voa Prof. Dr. Ziehen. Dritte Auflage. Berlin 1916. S. Karger. S. 22. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 127 Sie tritt bei psychopathischen Kindern oft schon sehr früh auf." Unter den Psychopathen findet man auch die be^ fremdlichste Gruppe der Onanisten, jene, für die zeitlebens die Onanie die adäquate Befriedigungsform bleibt, zu der sie immer wieder zurückgreifen, selbst wenn sie innerhalb oder außerhalb der Ehe reichlich Gelegenheit zum normalgeschlechtlichen Koitus haben. Noch zwei weitere Ursachen der Onanie finde ich in meiner Kasuistik vielfach aufgeführt: Schlaflosigkeit und geschlecht- liche Abstinenz. Namentlich von älteren, aber auch von jüngeren nervösen Onanisten kann man nicht selten hören, daß sie sich der Onanie gleichsam als eines Schlafmittels bedienen. Sie ver- möchten erst nach dieser Entspannung die für die Ruhe er- forderliche Abspannung zu finden und so sei die Selbstbefrie- digung für sie eine allabendliche Gewohnheit geworden, wie für andere die Sucht, sich durch Morphium zu berauschen oder durch alkoholische Getränke die nötige „Bettschwere" zu verschaffen. Ist dieses Motiv verhältnismäßig selten, so findet sich um so häufiger sowohl bei Männern als bei Frauen die Angabe, sie „hülfen sich" mit Selbst bef riedigung, weil ihnen die Be- friedigung mit anderen, der sie den Vorzug geben würden, versagt sei. Diese Surrogatonanie, auch Notonanie genannt, ist zweifel- los sehr häufig, wird sie doch gelegentlich geradezu selbst von ärzt- licher Seite empfohlen. Namentlich von jungen Leuten zwischen 20 und 30 Jahren habe ich häufig erfahren, daß sie aus Furcht vor Ansteckung mit onanistisehen Ersatzakten vorlieb nehmen, und Max Marcuse führt einen Autor an, der bemerkt: „Die Onanie, mäßig geübt, hat sehr viele Vorteile, besonders für studierende Jünglinge; es wird dabei Geld und, was noch wertvoller ist, Zeit erspart; man entgeht allen unangenehmen Verbindlichkeiten und Verhältnissen, macht niemanden unglücklich und läuft nicht Gefahr, venerische Krankheiten zu erwerben." Gelegentlich kann man auch von Ver- lobten und von ihren Frauen örtlich getrennten Ehemännern hören, daß sie in der Onanie eine Nothelferin zur Bewahrung der Treue erblicken. Man kann die Abstinenzonanisten in zwei Gruppen teilen: die geschlechtlich normalen und die abnormal veran- lagten. Daß der Normalsexuelle in eingeschlechtlicher Um- gebung — auf Schiffen, im Felde, in Erziehungsanstalten, im Ge- fängnisse, kurz überall dort, wo ihm die Gelegenheit zum Beischlaf fehlt — vielfach dazu gelangt, sich in größeren oder kleineren Ab- ständen „brevi manu" selbst zu entspannen, meist unter Vorstellungen des Weibes, ist eine alt- und allbekannte Tatsache. Manche drücken dabei das Kopfkissen in die Arme und bedecken es mit liebkosenden Worten und Küssen, andere machen sich aus dem Bettuch eine Art 128 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Vagina zurecht. Die a k t i v e Neigung faute de niieux (Blochs Pseudohomosexualität") statt mit einem Weibe mit einer Person gleichen Geschlechts sexuellen Umgang zu pflegen, sei es mastur- batorisch, oder weitergehend, ist bei Normalsexuellen nicht so häufig, wie die solitäre Onanie, dagegen ist bei abstinenten Normalen die Widerstandsfähigkeit homosexuellen Antragen gegenüber geringer und dementsprechend die passive Geneigtheit „mitzumachen" größer. m Beim weiblichen Geschlecht liegen die Verhaltnisse ganz analog. Viele jüngere und ältere Mädchen, vereinsamte Frauen, Witwen, „Strohwitwen" onanieren unter der Vorstellung sexuellen Umgangs mit einem Manne, wobei nicht selten die Phantasie materiell durch Phallusimitationen unterstützt wird. Wiederholt konnte ich Fälle beobachten, in denen Frauen zu Onanistinnen wur- den, weil der Gatte an Ejaculatio praecox litt. Dieses Leiden des Mannes bewirkt, daß die Erregungskurve der Frau noch ansteigt, während sie beim Manne bereits abgeklungen ist. Infolge- dessen fühlt die Frau sich nach dem Akte in keiner Weise entspannt und sucht durch Selbsthilfe eine Entlastung herbeizuführen. Diesen solitären onanistischen Ersatzhandlungen verwandt ist es, wenn sich normalsexuelle Frauen in Ermangelung eines Mannes von Viragines befriedigen lassen, sei es durch Digitatio oder cunni- 1 i n c t i o. Dabei pflegen sie sich ihrerseits meist passiv zu verhalten und vermeiden aktive Berührungen der weiblichen Person. Sehr häufig ist die surrogative Onanie bei sexuell Ab- normen aller Art. Auch hier ist die Auffassung, es entständen Perversionen aus Onanie, dahin zu berichtigen, daß die Onanie vielmehr eine Folge der nicht befriedigten Perver- sion ist. Bald ist es die mangelnde Gelegenheit zu adäquater Ent- spannung, bald die Furcht vor ihr und den Folgen, die diese Per- sonen zur Ipsation treibt. Ich kannte einen höheren Geistlichen, der lediglich aus Angst, er könnte einmal in der Beherrschung seiner krankhaften Neigungen versagen, jahrelang täglich vier- bis fünfmal masturbierte. Gewöhnlich pflegen sich die in ihrer geschlechtlichen Trieb- richtung von der Norm abweichenden Männer und Frauen bei der Onanie die Person, Sache oder Handlung vorzustellen, die sie geschlechtlich erregt ; homosexuelle Frauen denken an Frauen, Urninge an Männer ihrer Geschmacksrichtung, Fetischisten an ihr ■Symbol, Masochisten und Sadisten an die Passionen, welche sie be- gehren. Vielfach werden diese Vorstellungen durch das Lesen ent- sprechender Schilderungen oder den Anblick adäquater Keize ver- tieft. Fast jeder sexuell Anormale hat Bilder der ihn anziehenden Subjekte oder Objekte in seinem Besitz, viele erregen sich vor Schau- fensterauslagen. Erst kürzlich bildete sich um einen alten Mann, der V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 129 vor einem Korsettgeschäft in der Tauentzienstraße in Berlin unent- blößt, aber doch unverkennbar onanierte, ein Kreis spöttischer Beob- achter. Oder sie folgen auf weiten Wegen den sie sexuell anziehenden Gestalten, ohne sich im übrigen irgendwie auffällig zu machen. Bei Neuropathen oder Personen, deren Libido durch lange Enthaltung sehr gesteigert ist, kommt es dabei gelegentlich wohl auch, zu Eja- kulationen und zum Orgasmus, o h n e F r i k t i o n des Sexualorgans, lediglich durch die hochgradige geistige Sexualerregung. Diesen Vorgang hat man auch als g e i s t i g e oder Gedanken- onanie bezeichnet, auch als „moralische" Onanie (R o h 1 e d e r) oder „Onanie durch bloße Gedankenunzucht" (Hammond). Sie gilt als ganz besonders schädlich wegen „der immensen Verschwendung der Nervensubstanz und der dadurch herbeigeführten geistigen Schwä- chung". (R o h 1 e d e r 1. c. S. 28.) Seitdem H u f e 1 a n d in seiner be- rühmten Makrobiotik gesagt hat: „Die geistige Onanie ist ohne alle Unkeusckheit des Körpers möglich, sie besteht in der Anfüllung und Erhitzung des Gehirns mit wollüstigen Bildern", schlängelt sich der Begriff der psychischen Onanie durch die Fachliteratur, ohne daß er im Laufe der Zeit an Klarheit gewonnen hätte. Soweit ich die Ausführungen der Autoren übersehe, ist es dreierlei, was sie darunter verstehen: Einige sehen in der psychischen Onanie ledig- lich „Gedankenunzucht"; auch Hufeland scheint dies ge- meint zu haben, denn er spricht lediglich von der Anfüllung und Erhitzung des Gehirns mit wollüstigen Bildern, ohne Andeut ung einer dadurch bewirkten Ejakulation. Dies wäre aber etwas ganz anderes als das, was gewöhnlich unter Onanie verstanden wird. Andere meinen mit Gedankenonanie Onanie m i t bestimmten Vorstellungen im Gegensatz zu der gedankenlosen. Es wäre dies die oben als Surrogatonanie bezeichnete Form der Onanie, die an und für sich nicht schädlicher ist, als die ohne zentrale Phan- tasien ausgeübte. Noch andere stellen sich unter psychischer Onanie die durch bloße Vorstellungen ohne Manipulation an den Geni- talien bis zur Ejakulation gesteigerte Geschlechts- erregung vor. Das aber ist dann auch keine eigentliche Onanie, sondern gehört in das Gebiet der sexuellen Hyperästhesie. Deshalb ließe man in der Fachliteratur den Ausdruck psychische Onanie, den Huf eland wahrscheinlich ursprünglich nur bildlich und über- tragen gemeint hat, e t w a im Sinne dessen, was Ellis später unter sexuellem Tagtraum oder Eulenburg unter i d e e 1 1 e r K o - habitation verstanden hat, am besten gänzlich fallen. Tritt bei der sogenannten geistigen Onanie die Gehirntätig- keit ganz in den Vordergrund, so rückt sie bei einer weiteren Form, der unbewußten Onanie, fast völlig in den Hintergrund. Es wird nämlich vielfach von männlichen und weiblichen Personen behauptet, sie onanierten im Schlaf oder Halbschlummer, ohne daß sie Hirschf eld, Sexualpathologie. I. q V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation)^ sich dessen bewußt wären. Einer sorgsamen Nachprüfung hal len diese Angaben meistens nicht stand, ebensowenig wie die nicht seltenen Bekundungen, es habe jemand ein ihm zur Last gelegtes sexuelles Delikt im Schlaf begangen. . Doch pflegen dann meistens die von den Zeugen berichteten Nebenumstände derartig zu sein, daß sie die behauptete Bewußtlosig- keitwiderlegen. Andererseits kann aber nicht m Abrede gestellt wer- den daß es vorkommt, daß Personen, die einen wollustigen Traum haben, schlafend mit dem erigierten Gliede stoßweise Bewegungen ad ejaculationeni ausführen oder während der Pollution mit der Hand nach dem Geschlechtsteil greifen, wobei es sich dann m der Tat um ein Zwischending zwischen Pollution und Onanie handeln würde. Noch eine andere Art unbewußter Onanie, die wachend vorgenommen wird, ist zu erwähnen. Sie besteht dann, daß die Ge- schlechtsteile durch Gegendrücken an einen festen Gegenstand erregt werden, ohne daß die Betreffenden wissen, daß es sich um eine&Onanie handelt. Namentlich bei Mädchen und Frauen bin ich dieser unbewußten Onanie oft begegnet. So schreibt eine geistig hochstehende Frau von 27 Jahren, eine Oberin: „Ich onanierte nie- mals, aber als ich 5 Jahre alt war, lehnte ich mich einmal mit dem Leib an ein Geländer. Durch den starken Druck gegen die Schoß- und Schamgegend löste sich ein eigenartiges Gefühl bei mir aus, das sehr schön war. Ich sagte damals zu meiner kleinen Cousine, sie möchte das auch einmal probieren, es wäre dann in einem wie wundervolles G lockenläuten. Ich habe dies dann sehr oft wiederholt an Fensterbänken und Bettstellen, ohne eine Ahnung zu haben, daß es etwas Sinnliches wäre. Erst mit 14 Jahren wurde es mir klar, daß es ein richtiges geschlechtliches Gefühl sei. Bis heute noch ist meine einzigste sexuelle Auslösung dieser feste fast schmerzhafte Druck gegen einen Bettpfosten oder eine hölzerne Lehne. Fast alles, was ich im Leben an Befriedigung empfunden habe, verschaffte ich mir auf diese Art. Beim Manne — Patientin ist jetzt verheiratet — reagiere ich sehr schwer und äußerst selten." Eine andere Dame, eine Engländerin, berichtet: „Im Alter von 27 Jahren begann ich zu onanieren, als ich erkältet an der Riviera im Bett lag. Ich hatte eine Wärmflasche bekommen und verspürte ein so angenehmes Ge- fühl, als ich sie gegen die Geschlechtsteile drückte, daß ich es immer wieder tat. Daß dies die Onanie sei, wußte und begriff ich lange Zeit nicht. Es war mir bis dahin überhaupt unbekannt, daß von diesen Partien beim Anrühren solche Empfindung ausstrahlt." V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Verbreitung und Häufigkeit der Ipsation Berücksichtigen wir die vielen zentralen und peripheren Ur- sachen, die zur Onanie führen, so kann es nicht wundernehmen, daß die Zahl derjenigen, die in ihrem Leben niemals onaniert haben, verschwindend gering ist im Vergleich zu der übergroßen Mehr- zahl männlicher und weiblicher Personen, die für kürzere oder längere Zeit der Selbstbefriedigung ergeben waren. Die meisten Sachkenner stehen heute mit K o h 1 e d e r auf dem Standpunkt, daß „neunzig Prozent Masturbanten unter dem Menschengeschlecht" nicht zu hoch gegriffen sind. Allerdings sind wir dabei im wesent- lichen auf Schätzungen angewiesen, denn die bisherigen sta- tistischen Untersuchungen erstrecken sich auf zu wenig Personen, um eine geeignete Unterlage zu bieten. Julian Marcus« wurde unter 210 Fällen 196mal stattge- fundene Onanie bejaht, 14mal verneint, das wäre ca. 93%. Eine Umfrage, die Meirowsky unter Ärzten veranstaltete, ergab, daß von 88 nur 10 nie h t masturbiert hatten, mithin betrug der Prozent- satz der Onanisten 88,7. Bei einer früheren Rundfrage fand er unter 170 Studenten 121 Onanisten. Eine in Budapest vorgenommene sexualpädagogische Enquete ergab 96,7% Masturbanten. Pro- fessor Duck ermittelte unter 119 erwachsenen Männern folgendes- 4 (3,4%) hatten weder onaniert noch koitiert; 7 (5,8%) hatten schon koitiert, niemals aber vorher onaniert; 68 (57,2%) onanierten, weil ihnen die Gelegenheit zum Koitus fehlte; 40 (33,6%) geben, trotzdem sie ebenso leicht hätten koitieren können, der Onanie den Vorzug zusammen also 90,8% Onanisten. In England stellte der Schularzt Dukes bei 90—95% der Schuler Onanie fest; aus Amerika berichtet Seerley, daß von 125 Studenten nur 6 Onanie in Abrede stellten. Einige Autoren sind zu noch höheren Zahlen gelangt, so spricht Professor Oskar Berger sich (im Archiv für Psychiatrie Bd. 6, 1876) dahin aus daß jeder Erwachsene ohne Ausnahme in seinem Leben einmal Onanist gewesen sei. Er sagt: Die Masturbation ist eine so ver- breitete Manipulation, daß von hundert jungen Männern und Mäd- chen 99 sich zeitweilig damit abgeben und der Hundertste, wie ich zu sagen pflege, der reine Mensch, die Wahrheit verheimlicht6) " Und Stekel\> erklärt geradezu: „Alle Menschen ona- nieren. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme, wenn man einmal weiß, daß es eine unbewußte Onanie gibt." Auch ich bin auf Grund umfangreicher Nachforschungen zu dem Ergebnis gelangt, daß Männer und Frauen, die niemals bewußt a) Zitiert nach Rohleder, S. 50. 7) Wiener Diskussion S. 31. 9 ' 132 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) oder unbewußt onanistische Handlungen an ihrem Korper vorge- nommen haben, selten sind. Jedenfalls bilden sie Ausnahmen von der Kegel und ich kann nicht behaupten, daß sie sich von denen, die Selbstbefriedigung zugeben, durch hervorragende körperliche oder geistige Fähigkeiten auszeichneten. Sie machten eher den Eindruck von Sonderlingen als die Onanisten. Namentlich machte es mich stutzig, daß unter denen, die mich konsultierten, weil sie sich nach Eingehung der Ehe zu ihrer eigenen schmerzlichen Uber- raschung als impotent erwiesen, mehrere waren, die nicht nur jeden früheren Geschlechtsverkehr, sondern auch jegliche Vornahme von Onanie in Abrede stellten. Neuerdings habe ich unter 500 für zuverlässig gehaltenen Per- sonen verschiedenen Alters und Standes, teils Patienten, teils anderen eine Umfrage über Vorkommen, Beginn, Häufigkeit und Formen der Selbstbefriedigung veranstaltet. 480 unter 500 gestanden zu, zu onanieren oder früher onaniert zu haben. Mithin: Onanisten 96°/0 Nichtonanisten. . . 4°/0 Sehr verschieden ist die Verbreitung der Ipsation nach den ver- schiedenen Altersklassen. In erster Linie ist sie eine Erscheinung der Entwicklungsjahre. In unseren Breiten dürfte es das Alter von 14 bis 18 Jahren sein, in dem bei weitem am meisten onaniert wird. Auch 3 bis 4 Jahre vorher und nachher, also im Alter von 10 bis 14 und von 18 bis 22 Jahren ist die Zahl der Onanisten noch recht bedeutend; wesentlich geringer ist sie dann in der Zeit vor dem 10. und nach dem 22. Lebensjahre, sie kommt aber auch noch nach dem 30. Jahre und später bis ins höchste Greisenalter hinein vor, wie es andererseits auch Fälle gibt, die bis in das früheste Säuglingsalter zurückreichen. Ob freilich durch das „Spielen" der Kinder am Gliede schon regelrechteOrgasmen ausgelöst werden, erscheint zweifelhaft, obwohl die Angehörigen nicht selten Fälle berichten, in denen das erregte Gebaren der Kinder solches vermuten läßt. Donner be- obachtete einen 21/2jährigen Onanisten, den Sohn eines Offiziers, welcher auf dem Boden herumrutschte, bis er eine Erektion und an- seheinend wollüstige Gefühle hervorrief, schließlich provozierte er diese ihm angenehme Sensation täglich 8 bis lOmal. Der Junge magerte sehr ab, war sehr ermattet und bekam Krämpfe. Durch einen mehrmonatlichen Aufenthalt an der See erholte er sich dann wieder. Man hat auch in dem Daumenlutschen und sonstigen Ludel- bewegungen der Kleinen, dem Suctus voluptabilis eine erotische onanistische Handlung erblicken wollen; ebenso im Nasenbohren. Daß dieses Saugen und Bohren den Kindern Lust bereitet, ist ohne weiteres zuzugeben, ob aber diese Lust eine geschlecht- V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 133 liehe ist, erscheint mehr wie zweifelhaft, es sei denn, man hält jegliche Lust für erotisch. Mit demselben, ja mit mehr Recht, wie man das Lutschen für eine sexuelle, kann man das gedankenlose Spielen am Gliede bei Kindern für eine unerotische Lusthandlung ansehen, da wohl die empfindsamen peripheren Tastkörperchen, nicht aber die eroti- sierende Rauschsubstanz vorhanden ist, die erst nach der Reife die Nervenzentren umspült und erotisiert. Daß allerdings die Spermasekretion kein unbedingtes Erfordernis wollüstiger Er- regung ist, zeigen die übereinstimmenden Angaben von Knaben, die bereits vor der Samenabsonderung mit Lustgefühlen onanierten, sowie die oben S. 10 von mir erwähnte Tatsache, daß auch Personen, bei denen infolge von Hodenverkümmerung überhaupt kein Sperma gebildet wird, mit Wollustempfindungen der Onanie frönen. Den Beginn der Onanie festzustellen ist für die Sexual- pädagogik von höchster Wichtigkeit. 437 von 500 machten mir glaub- hafte Angaben über den Zeitpunkt, in dem sie der Selbstbefriedigung verfielen. Das Ergebnis veranschaulicht folgende Kurve. Die oberste Zahlenreihe enthält die Lebensjahre von 4 — 24. Die unterste Zahlenreihe gibt an, wie sich in absoluten Zahlen die Onanisten auf diese Lebensjahre verteilen, beispielsweise begannen von 437 66 im Lebensjahr 4. 5. 6. 7. S. 9. 10 lt. 12 13. 11 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 2k 15% »X 13% 12% 11% 10% 9% 8% '7% 6% 5% i-l 3% 2% n o% m % '37% \ 7% — 'O 3% V ^2.8 2 '1.8' % 1.6% 4 25% 95% 025 $37 134 V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 12., 60 im 13. und 68 im 14. Lebensjahr mit der Onanie. Die seit- liche Reihe enthält die in Betracht kommenden Prozentzahlen von 0— 16°/o, während neben der Kurve selbst die genauen Prozentzahlen in den betreffenden Lebensjahren vermerkt sind. Nach dieser statistischen Tabelle fällt der Beginn der Ona- nie vorzugsweise in das Alter von 12—14 Jahren, es begannen von 437 Onanisten: 194 d. s. 44,4°/0 zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr, 101 d. s. 22,9°/o vor dem 12. Lebensjahre, 142 d. s. 32,7°/0 nach dem 14. Lebensjahie. 437 = 100 °/o. Im allgemeinen kann man sagen, daß mit dem Abschluß der Reifezeit und der Aufnahme regelmäßigen Geschlechtsverkehrs der onanistische Drang nachläßt und bald völlig verschwindet. Dies gilt aber nicht für alle, ja es gibt sogar verheiratete Männer und Frauen, die Kinder haben, welche selbst bereits schon onanieren und die doch nicht von zeitweiser Selbstbefriedigung lassen können. Namentlich finden wir diese Fälle unter gewissen Psychopathen und Neuropathen, bei denen die Onanie den Charakter einer Zwangs- handlung trägt oder bei denen sie dauernd die ihnen entsprechendste Form sexueller Entspannung bleibt. Sehr verschieden ist die Anzahl onanistischer Akte beim ein- zelnen. Ich selbst habe Fälle gesehen, und auch von anderen sind sie beschrieben worden, in denen Leute sehr lange Zeit fünfmal und öfter am Tage masturbierten. Eine beträchtliche Menge ona- niert täglich einmal, meist abends im Bett oder früh, viele gewohn- heitsmäßig zwei- bis dreimal in der Woche. Manche wiederum ona- nieren fast regelmäßig einmal in der Woche und andere nur ein- bis zweimal im Monat. Es gibt auch Personen, bei denen dieser Akt nur einmal vierteljährlich, halbjährlich oder jährlich vorkommt; 5 Fälle kenne ich, davon betreffen 3 Frauen, die in ihrem Leben nur ein einziges Mal und dann nie wieder Selbstbefriedigung ge- trieben haben. Unter den 500 von uns befragten machten 283 glaubhafte An- gaben über die Häufigkeit der onanistischen Betätigung, und zwar betätigten sieh: 109 => 39°/o zweimal wöchentlich oder seltener, 174 = 61°/o öfter als zweimal wöchentlich. 283 = 100°/o. Nicht selten führen Onanisten genau Buch über die einzelnen Daten. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 135 In meinem Besitze befinden sich mehrere Onaniekalender, die mir von Patienten übergeben wurden. Ich gebe zwei Proben. So finden sich in einem kleinen Notizbuch mit der Überschrift „1897" folgende Eintragungen: 1897: 5. I. — 7. I. — 9. I. — 15. I. — 17. I. — 20. I. — 23. 1. — 25. I. — 31. I. — 3. IL — 6. IL — 10. IL — 16. IL — 17. IL — 5. III. — 10. III. — 13. HL — 17. III. — 21. III. — 23. III. — 28. III. - 2. IV. — 8. IV. — 15. IV. = P. — 23. IV. — 25. IV. — 28. IV. — 3. V. — 4. V. — 11. V. — 15. V. = P. — 16. V. — 21. V. — 23. V. — 27." V. — 30. V. — 2. VI. — 6. VI. — 7. VI. = P. — 18. VI. — 22. VI. — 27. VI. — 1. VII. — 4. VII. = P. — 6. VII. — 10. VII. — 15. VII. — 17. VII. — 26. VII. = P. — 27. VII. — 29. VII. — Auf der Reise: 3. VIII. — 10. VIII. — 12. VIII. — 13. VIII. — 15. VIII. =T. — 17. VIII. = 2°. — 3. IX. — Beilin: 10. IX. — 16. IX. — 23. IX. — 26. IX. — 3. X. — 5. X. = P. — 7. X. = P. — 15. X. — 17. X. — 20. X. — 22. X. — 25. X. — 31. X. — 3. XL — 8. XI. — 12. XL — 15. XL — 20. XL = P. & O. — 21. XL — 26. XL = P. — 28. XL - 30. XL — 1. XII. — 10. XH. — 19. XII. — 30. XII. Ein anderer (1890 geboren) überreichte mir die folgende Tabelle seiner „Onanien (+), Pollutionen (=) und durch Berührung weib- licher Hände herbeigeführten Ergüsse (i)". Einen regelrechten Koitus hatte er bisher aus Furcht vor den Folgen noch nicht voll- zogen : Jahr .lan. Felir. März April Mai Juni Juli Aug Sept. Okt. Nov. Dez. d S 65 + + + + + + + + + + + + f ! r + + + + + + + + + 4- + + + + + + + + i ; + + + 1908 4 1 9 7 5 7 1 6 1 1 ■■'> 1 2 ir, 3 3 1909 4 1 5 2 5 I 6 2 4 1 1 7 1 1 6 1 8 7 4 3 5 1 Hl !) 3 1910 5 2 4 ii 3 1 8 1 (i 1 8 1 6 9 4 1 S 1 5 7l> 8 0 1911 7 5 7 1 3 1 8 7 h\ 5 3 I Ii 4 5 1 6S 4 0 1912 6 1 3 2 4 5 3 I 4 I 3 1 4 1 2 2 5 4 4 47 9 0 1913 Die Anzahl der Jahre, in denen die einzelnen Selbst- befriedigung treiben, beträgt in den meisten Fällen 3 bis 4 Jahre, oft auch nur 1 bis 2 Jahre, häufig aber auch 5 bis 10 Jahre, selbst mehr, doch sind mir und anderen Sexualforschern auch Fälle vor- gekommen, in denen sich die Onanie von der Keifezeit an über die ganze Lebensdauer erstreckte. Viel umstritten ist die Frage, ob die Ipsation bei dem weiblichen Geschlecht ebenso verbreitet ist, wie bei dem männlichen. Nach meinen Erfahrungen ist dies zu bejahen. Nur bestehen binsichtlich der Onanie in den verschiedenen Lebens- altern gewisse Unterschiede. In der ersten und zweiten Kindheit bis zur Pubertät ist ihr Vorkommen bei beiden Geschlechtern 136 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) gleich. Inder Eeifezeit selbst aber scheint sie bei den J ungen verbreiteter infolge der größeren motorischen Unruhe und Aktivität des männlichen Geschlechts, andererseits sind aber bei den Mädchen durch periodische Äff luxe allerlei sensitive Reize an den Genitalien gegeben, die bei den Knaben fehlen. Nach Ab- schluß der Reifezeit aber bieten sich für die Männer viel mehr Möglichkeiten und Gelegenheiten zu der ihnen entsprechen- den Geschlechtsentspannung als für die zahllosen unbefriedigten, vereinsamten, ledigen Frauen, so daß etwa vom 20. Lebensjahre ab die weibliche Surrogatonanie an Häufigkeit die männliche weit übertrifft. Infolgedessen dürfte die Ge- samtziffer onanistischer Akte sicherlich wohl bei beiden Geschlech- tern die gleiche sein. Abwegig ist auch die Annahme, wie sie beispielsweise noch Paul Mantegazza vertrat, die Onanie sei „eine der bitteren Früchte der Zivilisation". Es trifft ja zu, daß Ehelosigkeit unter Männern und Frauen der Naturvölker eine sehr seltene Er- scheinung ist und daß dadurch die aus Mangel an sexuellem Ver- kehr entstehende Selbstbefriedigung weniger oft vorkommt, im übrigen aber ist die Onanie auf der Erde so ubiquitär wie der Koitus selbst; wir finden sie unter allen Himmelsstrichen, in Stadt und Land, bei arm und reich, hoch und niedrig in gleicher Weise vertreten und heute genau so wie schon in biblischer Zeit. Gerade diese ihre Allgemeinheit legt immer wieder den Gedanken nahe, daß ihr bis zu einem gewissen Grade ein physiologischer Charakter innewohnt. Ist sie doch auch bei Tieren nachgewiesen und vielfach beob- achtet worden; teils klopf en diese mit dem harten Geschlechtsglied an eine festere oder weichere Unterlage, teils drücken sie es reibend zwischen die Hinterbeine oder bedienen sich noch anderer Kunst- griffe, bis der Same abspritzt. Nicht nur bei Pferden, Hunden und A f f en, welch letztere mit den Händen masturbieren, hat man solches gesehen, sondern auch bei vielen anderen Tieren, wie brünstigen Hir- schen, die sich an Baumstämmen reiben, Schafen, Katzen, Kamelen und Elefanten. Wenn allerdings Röhl «der8) sagt: „Es muß immer wieder betont werden, daß Tiere nur onanieren, wenn sie keine Gelegenheit haben, den Normalakt zu vollführen", so scheint es mir, als ob wir bisher in die seelischen Regungen der Elefanten und Kamele denn doch zu wenig eingedrungen sind, um über die positiven und negativen Beweggründe ein Urteil abgeben zu können, welche bei ihnen masturbatorische Handlungen auslösen. Wie Mantegazza irrtümlicherweise meinte, daß die Onanie nur bei zivilisierten Völkern vorkomme, versuchte Donner zu s) Rohleder, 1. c. 55. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 137 beweisen, daß sie sieh erst in neuerer Zeit, und zwar hauptsäch- lich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in so riesigem Umfange verbreitet hätte. Er schreibt: „Wenn auch an- genommen werden kann, daß die Onanie jahrhundertelang ihr Wesen im Verborgenen treiben konnte, so ist doch sicher, daß sie mehr die neueren Geschlechter aufsucht, und ihre Verheerungen scheinen immer mehr zuzunehmen. Bei den alten Griechen und Kömern spielte die Gymnastik eine große Rolle. Die Schönheit, Grazie, Kraft und Behendigkeit des Körpers, mit welcher die Onanie nicht vereinbar ist, genoß eine Art göttlicher Verehrung, und was mir noch wichtiger erscheint, die Geschlechtsbedürfnisse konnten auf jede Weise befriedigt werden, da man den jungen Leuten nicht nur keine Hindernisse in den Weg legte, sondern ihnen diesen Ver- kehr geradezu ermöglichte und erleichterte, und da weiterhin die Geschlechtskrankheiten noch nahezu unbekannt waren." Die Annahme, daß die antiken Schriftsteller die Onanie nicht erwähnten, trifft nicht zu. Bekannt ist die Erzählung über den Philosophen Diogenes, der auf dem Markte onaniert und bemerkt haben soll, er bedaure, sich den Hunger nicht ebenso vertreiben zu können, wie die Geilheit. Ebenso wie in der attischen Komödie spielt bei den römischen Satirikern, zumal bei Martial, Juvenal und Petron die Onanie eine sehr große Rolle9). Auch auf die weibliche Selbstbefriedigung wird vielfach Bezug genommen, und zwar ähn- lich wie in der Bibel, wo der Prophet H es e kiel sich beschwert, daß die Weiber mit Nachahmungen männlicher Glieder aus Edel- metall „gehuret" hätten, gewöhnlich auf die instrumentale Onanie. So spielt Aristophanes in der Komödie „Der Friede" auf Selbst- befriedigung der Weiber mit einer Möhre an. Daß bei den Medi- zinern des Altertums, Hippokrates, Galenus und Celsus, nichts über Onanie vorkommt, läßt nur den Schluß zu, daß sie die Onanie nicht als pathologisch betrachteten, keineswegs aber, daß sie sie nicht gekannt haben. Ipsatioiisformen Sowohl bei dem weiblichen wie bei dem männlichen Ge- schlecht kann man drei Hauptformen der Ipsation unterscheiden, die manuelle, femorale und kohabitoide (beischlafsartige). Erwähnenswert ist, daß fast jeder dieihmeigeneOnanieform dauernd beibehält. Der Schenkel onanist wird sich nur selten der 8) Vgl. die Arbeiten von Licht über den nai6oiv igus in der griechischen Dichtung im Band VIII und IX der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen und Band VII der Anthropophyteia. 138 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) Hände, der Manusturbant im ursprünglichen Sinne dieses Wortes kaum je der Schenkel bedienen. Die verbreitetste Art der Onanie ist zweifellos bei beiden Ge- schlechtern die manuelle. Hierbei werden die empfindsamen Wollustkörperchen der glans penis oder glans clitoridis durch Streichungen und Vibrationen, unmittelbar oder mittelbar, beispiels- weise durch Hin- und Herstreifen des Präputiums, oder Zerren der Labia minora (die gewissermaßen das Präputium der clitoris sind 10), so lange gereizt, bis sich die kumulierende Erregung re- flektorisch ähnlich wie beim Koitus auf das spinale und zere- brale Sexualzentrum fortpflanzt, von wo aus die Erschütterung dann zentrifugal auf die motorischen Nervenbahnen übergeht. Durch diese wird dann schließlich gleichzeitig eine Aus- stoßung externer Sekrete nach außen und interner Rausch Stoffe über zerebrale Nervenganglien bewirkt. Nach den an meinem Material gesammelten Erfahrungen onanieren über dreiviertel aller männlichen Ipsanten in dieser Weise manuell und auch von den weiblichen gut die Hälfte. Zur Reiz- und Lust- verstärkung werden nicht selten drückende und ziehende Bewegungen in der Umgebung, von Frauen mit Vorliebe an den kleinen Scham- lippen, von Männern an der Skrotalhaut vorgenommen. Varianten der meist mit der rechten Hand vorgenommenen manuellen Ipsation sind die bimanuelle, bei welcher das Membrum zwischen den beiden flachen Händen hin- und hergerollt wird, eine bei wilden Völkern viel geübte Abart. So berichtet Günther Teß- m a n n ") von dem westafrikanischen Negerstamm der Pangwe, daß sie bei der Onanie dadurch die Geschlechtslust auslösen, daß sie das Glied „quirlen". Eine andere Methode besteht darin, daß die Hohlhand nicht bewegt, sondern stillgehalten wird und mit dem Körper stehend oder liegend in sie hinein beischlafähnliche Be- wegungen ausgeführt werden. Diese Abart, bei der die Hand ge- wöhnlich eingefettet wird, stellt einen Übergang dar zwischen der manuellen und der kohabitoiden Ipsation. Die zweithäufigste Art der Onanie ist bei Männern die femorale, wobei das Membrum zwischen die vibrierende Oberschenkelmuskulatur gepreßt wird. Auch beim Weibe findet sich diese Form des Drückens der Klitoris und der Labien durch die aneinandergepreßten Schenkel. Dem Schenkelreiben wird deshalb vielfach der Vorzug gegeben, weil es die Selbstbefriedigung in Anwesenheit anderer, an öffentlichen Orten, vielfach im An- 10) Vgl. Otto Adlers Diskussionsbemerkung zum Vortrag Liebermann „Uber erogene Zonen". Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 1, S. 35. ") Die Pangwe. 18. Abschnitt von GüntherTeßmann. Völkerkundliche Mono- graphie eines westafrikanischen Negerstamms. Ergebnisse der Lübecker Pangwe-Expedition. 1907—1909 und früherer Forschungen, 1904—1907. Berlin 1913. Wasmuth. V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 139 blick eines Fetischs, ermöglicht, ohne daß jemand den Vor- gang wahrnimmt. So hatte ich einen Patienten, der in der elektrischen Straßen- bahn oder im Eisenbahnwagen, wenn er Frauen mit über- geschlagenen Beinen sich gegenübersah, diese von keinem beobachtete Manipulation bis zur Ejakulation an sich vor- nahm; eine von mir behandelte Frau tat das gleiche bei der Be- obachtung hoher Sporenstiefel. Ein Kechtsanwalt meiner Klientel ejakulierte auf diese Art täglich fünfmal, und zwar mit erstaunlicher Kunstfertigkeit. Namentlich wenn der von Hause aus sehr neuropathische Mann in Aufregung und Angst war, entspannte er sich durch Oberschenkeldruck mehrere Male hintereinander, beispielsweise während er im Gerichtsgebäude auf eine Verhandlung wartete; indem er sich im Korridor mit dem An- geklagten unterhielt, lehnte er sich an eine Säule und onanierte unbemerkt. In seinen Aufzeichnungen heißt es: „Soweit ich mich entsinnen kann, fing es in der dritten Volksschulklasse an, im Alter von etwa 9 Jahren. Entstanden ist es bei Gelegenheit der Be- arbeitung einer Bechenaufgabe. Ich konnte diese nicht gleich lösen, geriet darüber in große Erregung, schlug die Beine zusammen, drückte heftig und hatte gleich darauf ein unbeschreiblich wohliges Gefühl. Seitdem blieb bis auf den heutigen Tag ein Hauptmotiv zur Onanie eine schwierige geistige Arbeit, an die ich mich zu machen hatte. Das ist mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich bei fast jeder geistigen längeren Arbeit einige Male onaniere; ohne dies kann ich fast gar nicht arbeiten. Je drängender und wichtiger die Arbeit ist und je kürzer die dazu zur Verfügung stehende Zeit, um so leidenschaftlicher und heftiger ist der Drang zur Onanie. Namentlich bei schriftlichen Prüfungen ist dieser Drang ein ganz ungeheurer gewesen. Nie onanierte ich vielleicht mehr als zur Zeit, da ich mein juristisches Staatsexamen ablegte (schriftliche Prüfung). Hier onanierte ich täglich vielleicht 15mal odermehr; an manchen Tagen (der Konkurs dauerte 14 Tage) auch etwas weniger. Ob ich die Arbeiten daheim oder auswärts mache oder in der Kanzlei, stets ist der Drang zur Onanie dabei gleich heftig, und muß ihm ohne Widerstand nachgegeben werden." Eine dritte Form der Ipsation, die ebenfalls recht häufig ist, imitiert den Koitus. Männer führen durch beischlaf ähn- liche Bewegungen gegen eine Unterlage, wie Kissen, Bettzeug, Erektion, Orgasmus und Ejakulation herbei. Sie verfertigen sich dabei nicht selten aus Tüchern scheidenartige Öffnungen oder stecken den Phallus in vorhandene Löcher und Spalten. Einer meiner Patienten, ein 21jähriger Student, gibt folgende Besehrei- bung: 140 V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) „Seit meinem 14. Jahre ahme ich den Geschlechtsakt durch Stoßen mit dem Bauch gegen das Bett nach; zuerst tat ich es zwei Wochen lang jeden zweiten Tag, dann lange Zeit ganz regelmäßig jede Woche, dann in größeren unregelmäßigen Abständen, jetzt oft monatelang nicht. Zeitweise übte ich auch folgenden Modus: Aus- gekleidet in der Badekabine habe ich, vor oder nach dem Bad, das ge - spannte Leintuch unter dem erigierten Penis mit beiden Händen gehalten und ihn so lange durch rasches Spannen und Nachlassen gereizt, bis die Ejakulation kam; oder ich führte dasselbe durch Ziehen und Reiben eines Handtuchs über den Penis herbei. Ich bin der vollen Überzeugung," fügt Patient hinzu, „daß ich nie in Onanie verfallen wäre, hätte ich von Jugend auf mit Mädchen intim — ich meine nicht körperlich — verkehrt. Denn zur Zeit meiner Tanz- stunde, in der ich auch ein Mädchen liebte, erlosch jegliche Onanie» und ich war die ganze Woche in einem angeregten Zustand. Als die Tanzstunde aufhörte, kam die regelmäßige Onanie wieder. Mich zu befreien, ist trotz größter Anstrengung bisher unmöglich ge- wesen." Ein anderer Masturbant, der zu mir kam, onanierte, indem er sich auf eine Kleiderbürste setzte. Diese verknüpfte er mit der Vorstellung einer behaarten Vulva. Er gibt an, daß ihm „die Natur zum erstenmal gekommen sei", als er als Junge von 14 Jahren zu- fällig nackend auf einer Kleiderbürste saß; seitdem — er ist jetzt im 28. Jahre — befriedigt er sich mehrmals wöchentlich auf diese Art. Beim weiblichen Geschlecht dürfte die kohabitoide Form, bei der ein phallusersetzender Gegenstand bis zum Orgasmus in der Scheide hin- und hergeschoben wird, neben der Klitorisvibration die üblichste Onanieform sein. In erster Linie wird zu diesem Zweck ein Fiuger benutzt, gelegentlich auch zwei, oder ein künstliches Glied aus Gummi — es gibt solche mit milchgefüllten Druckballons — oder irgendein beliebiger Gegenstand. Seitdem sich der Anatom Hyrtl eine merkwürdige Sammlung von Körpern anlegte, die er bei Obduktionen aus dem oberen Scheiden gewölbe entfernt hatte, zieht sich durch die Literatur ein seltsames Verzeichnis dieser Artikel, das mit Rüben, Bananen und Siegellackstangen zu beginnen und mit Rosenkränzen, Rasierpinseln, einem Maikäfer und einer zu- sammengeknitterten Speisekarte zu enden pflegt. Mir selbst teilte vor einiger Zeit ein Kollege folgenden Fall mit: „Kürzlich onanierte in einem großen Werke eines Elektrokon- zerns auf dem Abort eine Arbeiterin mit einer Selterwasser- flasche. Durch die Bewegungen bildete sich in der Flasche ein Vakuum, das ein Herausziehen unmöglich machte. Auf ihr Stöhnen hin kam eine Kollegin zu Hilfe. Die Arbeiterin wurde ohnmächtig, worauf der Heilgehilfe des Werkes sowie der Vertrauensarzt herzu- gerufen wurden. Bis zum Eintreffen des Arztes bemühten sich der V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 141 Heilgehilfe und die Arbeitskollegin vergebens, den Eindringling zu entfernen. Der Arzt ließ sich einen kleinen Hammer geben, mit dem er den Boden der Flasche einsehlug und erlöste dadurch die Arbeiterin von ihrem Übel." Eine sehr seltene Abart der Selbstbefriedigung ist die orale, ausgeführt durch Heranbringung des eigenen Mundes an die Geni- talien. Beim Weibe dürfte diese Form wohl überhaupt nicht möglich sein, beim Mann aber kommt sie ausnahmsweise vor; Voraussetzung ist eine ungewöhnliche Biegsamkeit des Körpers. K r a f f t - E b i n g berichtet einen Fall, in dem ein Patient die Fellatio an sich selbst vornahm. Von einem Aktphotographen wurde mir vor Jahren die Photographie eines Römers übersandt, der sich in dieser Stellung aufnehmen ließ. Ferner besitze ich von zwei anscheinend zuverlässigen Patienten entsprechende Mitteilungen, der eine schreibt, daß er onaniert, indem er auf dem Rücken liegend die Beine über den Kopf schlage und so membrum suum in os proprium praktiziere. Noch zwei weitere Formen der Onanie sind zu erwähnen: die urethrale und mammillare. Man hat wiederholt beobachtet, daß sowohl Kinder wie Erwach- sene allerlei Objekte in die Harnröhre praktizieren, wie Erbsen, Bohnen, Blumenstiele, Strohhalme, Kornähren, Zahnstocher, Strick- nadeln, Stecknadeln, Bleistifte, Federhalter, Sonden, Streichhölzer und ähnliches. Sowohl männliche wie weibliche Personen hat man bei solchem Tun betroffen und etliche Male hat man auf operativem Wege aus der Harnröhre derartige Gegenstände entfernen müssen, die sich hierbei festgebohrt hatten; ja selbst aus der Harnblase, in die sie hineingeschlüpft waren, mußten sie extrahiert werden. Ich bin der Meinung, daß man von einer eigentlichen Onanie hier nicht reden kann. Teils handelt es sich um Spielereien, wie sie analog von Kindern an allen Körperöffnungen, Gehörgang, Nase, After vorgenommen werden. Nicht selten liegt auch eine absichtliche Schmerzerzeugung auf automasochisti scher Grundlage vor. Auch kommt es bei Frauen vor, daß versehent- lich ein spitzer Gegenstand von der Vaginal- nach der benachbarten Urethralöffnung gleitet. Sicherlich kann auch durch leichtere Be- rührungen der inneren Harnröhrenschleimhaut eine Art Kitzel her- vorgerufen werden, daß aber dieser eine geschlechtliche Er- regung oder gar eine Ejakulation bewirkt, halte ich nach den Erfahrungen meiner Praxis für nahezu ausgeschlossen. Anders ist es mit der Mammalonanie. Die erektilen Brust- warzen stellen in der Tat bei beiden Geschlechtern eine erogene ZoneersterOrdnung dar. Ihre Nervenendkörperchen stehen mit den Genitalorganen in engem Konnex. Sie verhalten sich darin ganz ähnlich wie die der Lippenschleimhaut. Es ist ja bekannt, wie leicht die Mundberührung im Kuß zu Erektionen führt. Die Mammal- 142 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) onanie, welche gewöhnlich mittels Eeiben der Brustwärzchen zwischen zwei sich bewegenden Fingern ausgeführt wird, wird teils als Reizverstärkung bei der gewöhnlichen Onanie vorgenom- men, teils aber auch als ausschließliches Reizmittel bis zum Höhepunkt der Erregung fortgesetzt, indem es dann beim Weibe zum Ausstoßen des Zervikalpfropfes, beim Manne zur Ejakulation kommt. Erst kürzlich wurde ich in einem Falle um Rat angegangen, in dem ein SOjähriger Mann seit vielen Jahren vor dem Spiegel ledig- lich durch Ziehen, Rollen und Reiben der Brustwärzchen so lange masturbierte, bis Pollution eintrat. Auch hier handelt es sich oft um eine unbewußte oder lar- vierte Onanie, besonders dann, wenn es vermieden wird, die star- ken Lustgefühle bis zur Spermasekretion zu steigern. Im Zusammenhang hiermit muß endlich noch kurz auf drei Onanievariationen eingegangen werden, die Onania pro- longata, interrupta und incompleta. Die protra- hierte Onanie besteht darin, daß der mit der Ejakulation verknüpfte Lusthöhepunkt absichtlich recht lange hinausgeschoben wird. Sobald der Onanist merkt, daß die Vorlust sich diesem Endstadium nähert, stellt er die Friktionen ein, um sie nach einer Pause wieder aufzunehmen. Es gibt Fälle, in denen der sexuelle Akt durch diese Unterbrechungen bis zu einer Stunde und darüber hinaus verlängert wird. Daß der Verbrauch von Nervenkraft dadurch erheblich vermehrt wird, liegt auf der Hand. Im übrigen ist die Zeit vom Friktionsbeginn bis zur Ent- ladung bei der Onanie individuell genau so verschieden wie beim Koitus, sie variiert zwischen wenigen Sekunden — sich damit dem Vorgang der Ejaculatio praecox nähernd — und vielen Minuten, 20 und mehr. Wie der übermäßig prolongierte, so greift auch der vor dem Endstadium gänzlich unterbrochene Masturbationsakt — die Onania interrupta — das Nervensystem infolge gestörter Reaktion stark an. Für beide gilt das, was Alexander Payer in seiner Broschüre „Der unvollständige Beischlaf" (Stuttgart 1890) ausführt. „Durch die Ejakulation und die dieselbe bedingende Kon- traktion der Genitalmuskeln wird nun der in seinen erektilen Ge- bilden und kavernösen Räumen mit Blut überfüllte Genitalschlauch von Blut entlastet und zugleich das Erektionszentrum mit dem Ejakulationszentrum funktionell außer Tätigkeit gesetzt,.., je vollkommener die Depletion des blutüberfüllten Genital- schlauches ist, um so behaglicher und wohler fühlt sich der Be- treffende. Gerade aber diese Bedingung fehlt beim Coitus reser- vatus." Von dem gewöhnlichen Coitus interruptus unterscheidet sich die Masturbatio interrupta wesentlich dadurch, daß bei jenem meist nur V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 143 die Ejaculatio in vagina (durch Extractio penis e vagina ante eja- culationem), bei dieser die Ejakulation überhau pt verhindert werden soll. Man kann bei der Masturbatio interrupta eine voluntaria und involuntaria unterscheiden, je nachdem sich die vorzeitige Beendigung mit oder gegen den Willen des Onanisten vollzieht. Das freiwillige Abbrechen beruht auf Gegenvorstellungen und hängt eng mit dem meist angestrengten Abgewöhnungskampf des Onanisten. zusammen, der sich mit tausend Eiden, Gebeten, Gelübden und Versprechungen Immer wieder vorgenommen hat, von seiner Schwäche abzulassen. Bald überwiegen mehr ethische, bald mehr gesundheitliche Be- denken, namentlich ist aber die keineswegs feststehende Annahme wirksam, nicht die geschlechtliche Erregung, sondern der Samen- verlust als solcher sei bei der Onanie das gesundheitsschädi- gende Moment. Die unfreiwillige Unterbrechung wird durch äußere Stö- rungen verursacht oder durch eine spontan eintretende Er- schlaffung des Gliedes bei längerer Fortsetzung der Friktionen ent- sprechend dem auch während der Kohabitation nicht selten vor- kommenden Zurückgehen der Libido und Erektion. Wie bei der freiwilligen Interruption die Sexualhypochondrie, so ist bei der unfreiwilligen die Sexualneurasthenie der haupt- sächlich ins Gewicht fallende Faktor. Was endlich noch die Masturbatio incompleta anlangt, so versteht Rohleder darunter den ziemlich seltenen Vorgang, daß ein völlig befriedigender Orgasmus ohne Samenausstoßung eintritt. Auch diese seltene und in ihrer Entstehung noch keineswegs klar- gestellte Erscheinung besitzt eine Analogie im normalen Koitus, bei dem gleichfalls, wenn auch nur in sehr vereinzelten Fällen, die Auslösung eines vollen Orgasmus ohne Ejakulation beobachtet wor- den ist. Diagnose der Ipsation Was nun die objektive Erkennung der Selbstbefriedigung be- trifft, so kann der Satz vorangestellt werden, daß es einen exakten Beweis der Onanie nicht gibt, es sei denn, daß jemand auf frischer Tat ertappt ist, oder daß man die in der weiblichen Vagina ge- fundenen Fremdkörper als ein untrügliches Indizium erachtet. Selbst die in der Bettwäsche, in Taschentüchern und Handtüchern oder an Kleidern vorhandenen Samenflecken sind keine sicheren Zeichen, denn sie können auch eine Folge unfreiwilliger Samenabgänge oder regulärer Kohabitationen sein. Immerhin ist es sehr verdächtig, wenn wiederholt in Taghemden steife, weißgraue, von der Umgebung sich ziemlich scharf abhebende Stellen beobachtet werden. Ist man 144 V. Kapitel: Die Onanie (lpsation) im Zweifel, ob es sich tatsächlich um Samen flecke handelt, so kann durch folgende Methoden der Nachweis erbracht werden: Ein verdächtiges Leinwandstück von ungefähr 2 qcm wird in eine 4 ccm konzentrierte Schwefelsäure und 1 ccm Wasser ent- haltende Eprouvette gebracht. Durch tüchtiges Schütteln erhöht sich beim Vermischen von Säure und Wasser die Temperatur auf 82 Grad. Nun gießt man rasch 15 ccm kaltes Wasser in die vorher durch einen Wasserstrahl erkaltete Eprouvette. Eine große Anzahl von Gasbläschen steigt an die Oberfläsche, sowie Klümpchen, welche die Spermatozoiden und die Epithelzellen enthalten. Diese Klümp- chen werden auf einem Objektträger ausgebreitet und drei- bis vier- mal durch die Flamme gezogen, um sie zu fixieren. Falls keine Klümpchen auf die Oberfläche steigen, verdünnt man die Schwefel- säurelösung mittels 15 Volumenteilen und zentrif ugiert ; dann be- finden sich die Spermatozoiden im Bodensatz. Als Färbungsmethode empfiehlt sich, während 10 Minuten 2—3 Tropfen einer alkoholischen V2prozentigen Eosinlösung einwirken zu lassen, dann mittels Wasser und nachher mittels absolutem Alkohol zu behandeln. Falls nur wenig Spermatozoen 12) im Präparat vorhanden sind, wird schließ- lich noch mit Löfflerblau während einiger Sekunden gefärbt. Demetrius Gasio13) gibt folgende Methode an: Von dem zu untersuchenden Gewebe werden Stückchen, die der Peripherie und dem Zentrum des Spermafleckes angehören, herausgeschnitten und 3—5 Minuten in eine 1 : 1000 Quecksilberchlorid-(Sublimat)lösung gelegt, dann abgepreßt. 1 Tropfen der Flüssigkeit wird bei leichter Flamme getrocknet und eine Minute in lprozentiger wässeriger Eosinlösung gefärbt; dann wird mit lprozentiger Jodkaliumlösung entfärbt bis zur Rosatönung. Die Färbung kann auch unterbleiben, ermöglicht aber die schnellere Auffindung der Spermien. — Eine andere Methode stammt von B. Baechie14): 1. Färbung eines ca. 1 qcm großen Stückes des befleckten Stoffes V* — 1 Minute in einer der folgenden Lösungen: lprozen tigern saurem Fuchsin oder Methylenblau, salzsaurem Wasser (1 : 100) 40 Teile oder lprozentigem saurem Fuchsin, lprozentiges Methylenblau aa 1 Teil, salzsaures Wasser (1 : 100) 40 Teile. 2. Abwaschen in salzsaurem Wasser (1 : 100). 3. Abtrocknen an der Luft oder Entwässerung in absolutem Alkohol. 4. Aufhellen in Xylol, auf dem Objektträger !2) Vgl. L. Marique : Neues Verfahren zum Nachweis von Spermatozoiden. Aich, internat. de med. legislat. Bd. 1, S. 111 — 139. Referat von Zuntz in den Jahres- berichten über die Fortschritte der Tierchemie 1911, Bd. 40, S. 461. «) Zur Auffindung der Spermatozoen in alten Sperraaflecken. D. med. Woch. Bd. 36, S. 1366—68, 1910. ") Vgl. „Über eine Methode zur direkten Untersuchung der Spermatozoen auf Zeugflecken". Vierteljahrsbericht für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts- wesen. 1912. H. 1. 145 Einbetten nach Belieben. Behufs mikroskopischer Untersuchung ist die stärker gefärbte Seite des Stoffes nach oben zu wenden. Andern- falls müssen beide Seiten des Stoffes untersucht werden. Ferner ist zu beachten, daß, wenn die Flecke nicht frisch sind, ein, je nach den Fällen verschiedenes, von 7a — 24 Stunden dauerndes Auffrischen in 20 — 30prozentiger Ammoniaklösung erforderlich ist, sowie späteres Verbringen in destilliertes Wasser im Moment der Färbung. Keinesfalls angängig ist es, aus dem scheuen Ge- baren, dem verlegenen Wesen, dem verstockten Gesichtsausdruck, den blauen Ringen unter den Augen oder den eingefallenen Wangen heranwachsender Jünglinge oder Jungfrauen Onanie zu folgern. Alles dies hat gewöhnlich ganz andere Ursachen und ist durchaus nicht beweisend. Es muß dies um so mehr betont werden, als sich die Onanisten selbst oft den größten Befürchtungen hingeben, jedermann könne ihnen ihr geheimes Laster ansehen. Ängst- lich stellen sie sich früh vor den Spiegel, prüfen ihre Gesichtszüge und beunruhigen sich in gänzlich ungerechtfertigter Weise. Es scheint, als ob diese Onaniehypochondrie von früheren Ärzten nicht als solche erkannt worden ist, denn sonst könnte man kaum verstehen, was von ihnen alles als „signes de l'onanisme" beschrieben worden ist: Unruhe, besonders abends, Magerkeit, trauriger Gesichtsausdruck, rauhe Stimme, unsteter Blick, kurzer Atem, schlottrige Kniee, unsicherer Gang, Wadenkrämpfe, Empfind- lichkeit gegen Kälte, Schweigsamkeit, Hang nach Einsamkeit und störrisches Wesen gegenüber den Chefs (embarasses vis-ä-vis leurs chefs). Auch die Freudsche Schule15) spricht neuerdings wieder von „Masturbations-Charakterzügen" und erwähnt als solche die Sparsucht („die ursprüngliche anale Sparsamkeit"), die Sammel- wut, den Reinlichkeitsfanatismus sowie „die Gewohnheit, Geschenke, und zwar meist Näschereien, die ja dem Verderben ausgesetzt sind, sich für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben, aufzusparen". „Professor Freud — berichtet Rank — konnte dieses Verhalten als typischen Masturbations-Charakterzug agnoszieren und meint, daß darin einer- seits der Zug zur Enthaltsamkeit zum Ausdruck komme, anderer- seits das Schuldbewußtsein, das sich des Geschenkes nicht würdig fühle." Fournier (de l'onanisme) bezeichnet als Merkmal der Onanie: „Besuche von verdächtigen Personen" (offenbar eine Ver- wechslung mit Homosexualität), und Baraduc (de l'ulceration des eicatrices recentes symptomatiques de la nymphomanie et de l'ona- nisme, Paris 1872) sieht es sogar als symptomatisch an, daß bei Onanisten Wunden schlecht heilen, weil in ihnen kleine gelbe Knöpf- chen entstehen (petites boutons, jaunätres peu proeminents). Auch «) Die Onanie. Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener Psychoanaly- tischen Vereinigung". Wiesbaden 1912. S. 123. Hirschfeld, Sexualpathologie. I, i/-> Back16) gibt noch Hautausschläge und Haarausfall als Zeichen der Gewohnheitsonanie an, während andere gerade im Gegenteil m Übereinstimmung mit einem alten verbreiteten Volksglauben meinen, daß Hautef floreszenzen, die sogenanntenKeuschheitspickel oder Jünglingspickel, von sexueller Enthaltsamkeit herrühren. Devay (Hyg. des faniilles, IL edit., 1858, S. 572) gibt als sicheres Mittel, die Onanie zu erkennen, an, daß die Pupille ein wenig nach oben, und zwar teils nach innen und teils nach außen verschoben sei (presque toujours dans ce cas la pupille est deformee, oblongue au lieu d'etre arrondie; eile ne se trouve plus dans Taxe de la cornee). Donner17), dem ich dies entnehme, will diesen Punkt be- stätigt gefunden haben. Doch kann ich ihm hierin auf Grund meiner Beobachtungen nicht beistimmen und ebenso- wenig in zwei anderen „objektiven Befunden", die er als patho- gnoniisch für Onanie ansieht: in der Umwandlung der hellroten Farbe des Colliculus seminalis in eine dunkelscharlachrote sowie dem Auftreten von Urethralfäden im Urin neben glashellem faden- ziehenden Schleim aus den Cowperschen Drüsen. Er meint, daß, wenn man solches im Urin bei jungen Leuten findet, die nocjh keinen Tripper gehabt haben, man „ziemlich sicher eine Onanie diagnostizieren könne". In Wirklichkeit handelt es sich hier aber nur um Reizerscheinungen und deren Folgen, die ebensogut von jeder anderen Art sexueller Betätigung, namentlich auch von häufigerem Koitus kommen können, aber durchaus nicht für Onanie beweisend sind. Gleichfalls sind es nicht: Brennen beim Urinieren, häufiger Harndrang und Bettnässen, aus denen andere auf Onanie haben schließen wollen. Es erhellt unschwer, daß unter den angeb- lichen körperlichen und seelischen Onaniemerkmalen viele sind, die wir im vorigen Kapitel als Erscheinungen und Störungen der Pubertät an und für sich beschrieben haben. Sie sind also mehr bedingt durch die innere Sekretion der Pubertätsdrüse, als durch die von den Onanisten künstlich bewirkte äußere Se- kretion. Die in den älteren Lehrbüchern für gerichtliche Medizin ange- führten „Indizien" der Onanie geben an Einbildungskraft den bisher erwähnten wenig nach. Es bietet mehrwieeinKuriosi- t ä t s i n t e r e s s e , diesen mit solcher Sicherheit vorgetragenen Irr- lehren nachzugehen. Zeigen sie uns doch, wie f est sich derartige Trug- schlüsse in der Wissenschaft einnisten und weiterschleppen, bis sie zu Dogmen erstarren, von deren Wahrheit die falschen Propheten ") Dr. Georg Back: „Sexuelle Verirrungen des Menschen und der Natur". Berlin 1910. S. 121. i?) Dr. med. H. Donner: Über unfreiwillige Samenverluste, ihre Ursachen, Folgen und Behandlung. Stuttgart 1898. S. 51. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 147 selbst durchdrungen sind, einfach, weil sie ihnen als Glaubenssätze von ihren Lehrern überliefert worden sind. Gerade auf sexuellem Gebiet wimmelt es von diesen Irrlehren und man würde sehr da- neben greifen, wollte man annehmen, daß sämtliche oder auch nur der größte Teil von ihnen schon jetzt überwunden sind. Schon die Gründe, weshalb man sich in den Lehrbüchern für gerichtliche Medizin mit der Onanie beschäftigt, verdienen Be- achtung. In Friedreichs Blättern für gerichtliche Anthropologie (für Ärzte und Juristen, Erlangen bei Enke 1856, VI, 69) heißt es dar- über: „Die Selbstbefriedigung kann sowohl von rechtlicher als auch polizeilicher Seite aus veranlaßt, Gegenstand einer gerichtlich- anthropologischen Untersuchung werden, wenn durch sie irgend- eine Kechtsverletzung erzeugt wurde: beispielsweise, wenn eine Ehefrau sich beklagt, ihr Mann treibe Onanie und schwäche sich dadurch so, daß er seine ehelichen Pflichten nicht mehr hinreichend erfüllen könne; oder wenn die durch Onanie hervorgerufene Geistesschwäche als Grund der Minderung oder Aufhebung der Zurechnungs- fähigkeit angezogen wird; wenn öffentliche Anstalten, als Erziehungsanstalten, Seminarien, Klöster usw. dieser bei ihnen eingerissenen Unzucht für verdächtig erklärt werden." Über die Merkmale der Onanie wird dann dem Gerichtsarzt und Polizei- arzt folgendes gelehrt: „diese Merkmale sind entweder allgemeine oder besondere, d. h. dem einzelnen Geschlecht eigentümlich a) Merk- male der Selbstbefriedigung bei beiden Geschlechtern sind: rote trübe, aufgeschwollene Augen, bläuliche Ringe um dieselben, ein matter Blick; kleine Ausschläge im Gesicht, besonders an der Stirn, blasses eingefallenes Aussehen, Niedergeschlagenheit, üble Launen, Hang zur Einsamkeit, eine besinnungslose Starrheit, Flecken in der Leib- wäsche und in dem Bette, oder auch wohl auf dem Fußboden an ein- samen Orten. Brück18) macht darauf aufmerksam, daß das K a u e n an den Fingernägeln, welches man so häufig in Irrenhäusern bei Blödsinnigen beobachtete, in der Regel nur von jenen solcher Unglücklichen geschehe, die zugleich Onanie trieben, und daß es deshalb als sicherer Verräter geheimer Sünden auch beiKnabenundMädchenBeachtungverdiene. b) Merk- male der Selbstbefriedigung nach dem Geschlechte sind: beim männlichen: ein schlaffer, lang herabhängend er Hoden- sack, erschlaffte Vorhaut, Schweiß in der Gegend der Geschlechts- teile; beim weiblichen Teile: eine sehr feuchte Mutterscheide, auf- geschwollene Schamlefzen; eine längere, dickere, besonders empfind- liche Klitoris und — wenn sich das Individuum seiner Finger be- dient — an denselben, besonders am Zeige- und Mittelfinger, Warzen und ein dem Sauerkohl nicht unähnlicher Geruch." 18) In Caspers Wochenschrift 1835, Nr. 45. 10* 148 V. Kapitel: Dio Onanie (Ipsation) Unter allen diesen Onanie-Indizien befindet sieh auch nicht ein einziges, auf das sich die Diagnose Onanie auch nur mit einiger Sicherheit stützen ließe. Wie viele aber mögen auch hier Opfer falscher Dog- matik und Diagnostik geworden sein, gestempelt vor anderen und was schlimmer ist, vor sich selbst zu sündhaften, lasterhaften und verbrecherischen Menschen, ehe sich die richtige Erkenntnis über Ursachen, Wesen und Folgen der Onanie durchsetzte. Ipsationsfolgen Die Tatsache, daß es unmöglich ist, aus dem Körperbefund eine objektive Diagnose der Onanie zu stellen, sollte logische Forscher auf den Gedanken bringen, daß es dann auch mit den Folgen der Onanie nicht so schlimm sein kann, wie vielfach von Ärzten und Laien angenommen wurde und zum Teil noch jetzt angenommen wird. Wir haben es hier mit einer Massensuggestion zu tun, der nutzlos und schuldlos im Laufe der Zeit eine große Menge von Men- schen zum Opfer gefallen sind; nicht nur, daß ihnen die besten Jahre ihres Lebens vergällt und verbittert wurden, nicht wenige sind direkt zum Selbstmord getrieben worden, weil sie meinten, daß aus ihnen nun doch nichts mehr werden könne ; viele strebsame Jünglinge sind diesem Irrwahn unterlegen. Die Ansicht Koh- leders"), daß die Onanie auch bei nervös belasteten Individuen nimmermehr zum Suizidium führen kann, vermag ich auf Grund meiner Erfahrungen n i c h t zu teilen. Mehr als einen jungen Mann habe ich gesehen, der sich die Pulsader aufschnitt, oder eine Kugel in den Körper jagte und nur mit knapper Not vom freigewählten Tode errettet werden konnte, weil er der Onanie nicht Herr werden konnte und ihm vor ihren Folgen graute. Auch weiß ich von man- chem Kriegsfreiwilligen, der, als er sich bei Ausbruch des Welt- krieges von vaterländischer Begeisterung geleitet, so schnell wie möglich meldete, nebenbei die stille Hoffnung hegte, eine feind- liche Kugel werde ibn von der sündigen Lust befreien. Von einem Primaner erhielt ich kurz vor dem Kriege folgendes Schreiben: „Hochgeehrter Herr Doktor! Gestatten Sie mir, daß ich als ein Ihnen ganz Fern- stehender mich mit der Bitte an Sie wende, mich durch Ihren Rat aus der unglück- lichsten Lage zu reißen. Ich habe keinerlei Eigenschaften auf meiner Seite, durch die ich meine Bitte genügend stützen könnte. Ich hoffe, daß dies keine Schranke be- deuten wird, sondern, daß Sie mir, geehrter Herr Dr., erlauben, an Ihre Menschen- liebe und an den Arzt zu appellieren. Ich möchte gleich in medias res gehen, um mich möglichst schnell von dem Alp zu befreien, trotzdem ich immer noch nicht weiß, wie ich vor einem andern erklären soll, was mir selbst ganz unerklärlich ist. »») L. c. S. 210. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 149 Ich habe jetzt mein 17. Jahr vollendet und seit vielleicht meinem 8. Jahr leide ich an der schrecklichsten Krankheit, der Onanie. Seien Sie versichert daß meiner Natur alles Unreine fremd ist, zuwider, ekelhaft. Und ich muß gegen allen Willen in diesem widerlichen Schmutz versinken! Denken Sie sich, seit meinem 8. Jahr, das heißt, wo ich noch nicht von dem, was ich tat, wußte; wo ich weder wissen noch ahnen konnte, daß es so etwas gibt. Jetzt, wo ich älter wurde, habe ich versucht, mir die Zusammenhänge zu suchen, aus denen ich vielleicht die Gründe zu meinem Leiden herleiten konnte. Es gibt da vieles, worüber man nur bei einer mündlichen Unterredung sprechen kann, doch soweit ich es vermag, will ich alles berichten: Meine Eltern sind beide nervös, am meisten meine Mutter, bei der die Nervosität oft zu heftiger Gereiztheit führt; sie teilt die Veranlagung mit den meisten Mitgliedern ihrer Familie. Meine Geschwister haben alle einen schlappen Körperorganismus. Bei allen ist er an tiefen Augenrändern erkennbar. Ich hätte mich selbst verantwortlich zu machen, wenn die Krankheit in einem Alter eingetreten wäre, wo ich die volle Entschließungsfreiheit über mein Tun besaß. So aber begann sie in einem Alter, wo ich mich ihrer nicht erwehren konnte, in dem ich nicht einmal wußte, daß es eine Krankheit war, wo sie sich geradezu wie eine unabweisbare Notwendigkeit einstellte. Und dieses Übel grub sich so tief in meinen Organismus ein, daß ich vollkommen ohnmächtig dagegen wurde, zumal es mir gerade die Kraft nahm, die ich brauchte, um es zu bekämpfen; einmal allerdings, für kaum D/4 Jahr hatte ich mich davon befreit; aber es kehrte wieder und beherrschte mich von neuem, allem meinem Wehren zum Trotz. Wenn ich jetzt an die Zeit zurückdenke, erscheint mir meine Anstrengung, auf die ich damals so stolz war, wie die Karikatur einer Energie. Und nun denken Sie, Herr Dr., jetzt vor einem Monat ist das Leiden von mir gewichen, ohne jedes besondere Bemühen meinerseits, es vergiftet nicht mehr meinen Körper und, was mich am meisten freut, nicht mehr mein Denken, ich bin vollkommen frei und rein. Sobald ich das merkte, unterstützte ich den Zustand sofort durch fleißige Körpergymnastik, trinke keine alkoholischen Flüssigkeiten, keinen Tee, ganz wenig Kaffee, viel Kakao und Milch. Ich fühle ganz genau, daß das Leiden nun nicht wieder kehrt! Aber was nützt mir das alles, es hat meinen Körper untergraben und vor allem mein Nervensystem, mein Gehirn. Ich fühle so eine entsetzliche Müdigkeit; ich lebe und lebe nicht. Versuchen Sie bitte, Herr Dr., sich diesen wahnsinnigen Zustand vorzu- stellen: Ich bin von Natur geistig und seelisch mit den besten Gaben ausgestattet, und muß nun alles verkümmern lassen. Ich kann kein Buch richtig lesen, diese bleierne Müdig- keit setzt sich jedem Bemühen entgegen, mich in die Gedankengänge eines schweren Schrift- stellers einzuarbeiten. Ich bin aber bei meiner ganzen geistigen Anlage darauf ange- wiesen und deshalb bedeutet der Zustand tausendmal mehr als das, was man mit dem Wort Tod ausdrücken kann; ein Tag vergeht wie der andere, jede Stunde ist ein neues Sterben, da jeder Versuch, scharf zu denken, mich an meine Ohnmacht erinnert. Ich bin so nervös, daß ich fortwährend zittere, jetzt wo ich schreibe ebenso wie bei jeder anderen Gelegenheit. Das Dilemma verstärkt sich noch, weil ich jeden Augenblick Herzklopfen bekomme, das mir zu starke körperliche Bewegung verbietet, während ich wiederum Körperübungen machen muß, um meine Kräfte wiederzuerlangen. Was tun! Mein Geschick setzt mich in fürchterliche Angst, die sich nicht ausdrücken läßt: Ich bin so gern bereit, gutzumachen, was die Natur an mir gesündigt hat. Ich wäre froh, wenn ich mir wenigstens Vorwürfe machen könnte. Ich möchte noch einmal betonen, daß meine Krankheit, von der ich sprach, aufgehört hat und daß ich an mir genau fühle, daß sie nicht wiederkehrt. Aber das, was bleibt, ist traurig genug, es heißt soviel wie 1 e b e n d i g t o t , was ohne alle Pose und Vorstellung gesagt ist, Herr Dr., und was Sie sicherlich verstehen werden, wenn Sie sich in meinen Zustand hineindenken. Deshalb bitte ich, mich aus meiner verzweifelten Lage durch irgendeinen Rat, irgend- ein Wort aufzurichten: Sagen Sie mir, ob es nicht möglich ist, durch vernünftiges Verhalten mich von dieser entsetzlichenMüdigkeitzu befreien, ob es nicht ge- lingen kann, mich wieder arbeitsfähig zu machen. Wenn ich einen Wunsch an das Schicksal habe, so ist es nur der, bis zum letzten Tage arbeiten zu können, die Schätze meiner 150 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Veranlagung heben zu können. Wie soll ich noch Achtung vor mir selber haben wo ich jeden Augenblick durch alles was ich angreife gedemütigt werde: es ist fürchter- lich Bei Ihrem Menschheitsgefühl bitte ich Sie, mir zu helfen. Aber bitte schonen Sie 'mich nicht. Ich bin vernünftig genug, und deshalb jeder Wahrheit gewachsen. Ich behandle mich ganz objektiv und habe ein ganz unpersönliches Interesse an mir. Ich finde die unzähligen Menschen so lächerlich, die so unendlich viel Wert auf ihr Persönchen legen und so viel Aufhebens davon machen, wenn ihnen die Menschlich- keit passiert, daß sie sterben sollen. Aber d a s ist zu bedauern, wenn man durch einen blöden Zufall um ein reiches Dasein betrogen wird und das unbenutzt liegen lassen muß, worin sich das Höchste, Größte manifestiert. Ich bitte Sie flehentlich, mir zu schreiben. Sollte eine Heilung sich nur durch eine persönliche Untersuchung bewerk- stelligen lassen oder eine längere Behandlung, so bin ich gern dazu bereit. Ich komme bald nach Berlin und da läßt sich dann weiteres tun. Ich bin Ihnen in ewigem Dank ergeben, wenn Sie mir die gütige Hilfe zuteil werden lassen. Es wird mir wie eine Neugeburt sein, wenn ich meine Fesseln erst abgeworfen habe. Ich habe beim Nachlesen gemerkt, daß ich etwas zu erwähnen vergessen habe: Ich habe mich, trotz meiner geschlechtlichen Überreiztheit, nicht in sexuellen Verkehr eingelassen (was übrigens bei vielen andern meines Alters keineswegs so selbstverständ- lich ist). Ich hatte eine heillose Scheu vor dem Schmutz." Aus der auf dieses Schreiben sogleich erteilten Antwort seien einige Stellen wiedergegeben: „Sehr geehrter Herr T. Mit großem, aufrichtigem Mitgefühl habe ich Ihr Schreiben gelesen. Auf Grund einer reichen Erfahrung auf dem in Frage stehenden Gebiete kann ich Ihnen aus vollster Überzeugung die Versicherung geben, daß Sie die Schädlichkeiten und namentlich die bleibenden Folgen der Onanie sehr erheblich überschätzen;" „Die Onanie, die übrigens eine in den Entwicklungsjahren nahezu allgemein geübte sexuelle Betätigungsart darstellt, bedingt nur inso- fern eine größere Gefahr als andere Geschlechtsakte, als sie infolge der unbeschränkten Gelegenheit vielfach in exzessiver Weise geübt wird und dadurch namentlich bei ohnehin nervös dis- ponierten jungen Menschen bisweilen recht unangenehme, aber immer reparable Störungen bedingt. Meistens ist die durch übertriebene Vorstellungen der schädlichen Folgen der Onanie hervorgerufene Angst ein weit gesundheitsschädi- genderes Moment als diese selbst. Eine gewisse Mattigkeit und Unfähigkeit sich zu konzentrieren, wie Sie sie gegen- wärtig bei sich beobachten, kann ja bis zu einem gewissen Grade durch übertriebene Onanie hervorgerufen sein, wird sich aber bei normaler und naturgemäßer Lebensweise sehr bald von selbst wieder verlieren. Sie kann aber auch, und das halte ich für das Wahr- scheinlichere, eine durchaus natürliche Begleiterscheinung der Puber- tätsjahre sein, die für jeden, besonders aber für den nervös ver- anlagten und dabei intelligenten Menschen eine Periode schwerer innerer Kämpfe und seelischer Konflikte zu sein pflegt." Es folgte nun die Aufforderung, sich möglichst bald zwecks Untersuchung vorzustellen; doch kam dies nicht mehr zur Ausführung, da der "V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 151 Krieg entbrannte. Der Schreiber trat sogleich freiwillig ins Heer und fiel wenige Monate später in Flandern. Ähnliche Onanistenbriefe sind mir, wie wohl jedem Sexual- forscher, m erklecklicher Anzahl zugegangen. In allen spiegelt sich der Seelenkampf wieder, den Tolstoi in der Kreuzersonate in die Worte faßt: „Ich quäle mich, und Sie haben sich gewiß auch gequält, und so quälen sich 99 unter 100 von unseren Knaben; ich entsetzte mich, ich litt, ich betete und fiel immer wieder zurück." Diese Selbstpeinigungen können auch nicht wundernehmen, wenn man liest, mit wie krassen Farben nicht nur in Laienschriften, sondern vielfach auch in ernsthaften medizinischen und theologischen Büchern „die unheimlichen Folgen heimlicher Verirrungen" ausge- malt werden. Zum großen Teil beruhten diese mehr oder weniger wohlgemeinten, jedoch mehr theoretischen, als auf Tatsachen- beobachtung gegründeten Warnungsschriften auf der ana- tomischen und physiologischen Unkenntnis der in Betracht kom- menden Organsysteme. Solange man mit Hippokrates glaubte, daß der aus den Genitalien entleerte Same direkt aus dem Ge- hirn und Eückenmark abflösse, durfte man auch annehmen, daß durch diesen Säfteverlust Rückenmarksschwindsucht und Gehirnerweichung eintreten oder das Zentralorgan so eintrocknen könne, „daß man es in der Schädelkapsel klappern hören könne". Es ist ein Zeichen der auch in der Naturwissenschaft herrschenden vis inertiae, daß man mit den fallenden Prä- missen nicht auch d ie Schlüsse fallen laß t. Denn als man langst wußte, daß der Same aus besonderen Geschlechtsdrüsen stammt und, gleichviel auf welche Weise abgestoßen, sich binnen kurzem wieder ersetzt, als man die der ganzen Natur eigene Verschwendung von Keimzellen erkannt und auch gefunden hatte, daß bei vielen der Onanie zugeschriebenen Krankheiten ganz andere Ursachen eine ausschlaggebende Rolle spielen, wie beispielsweise das luetische und alkoholische Toxin, die pathogenen Kleinlebewesen und die Here- ditat, als alle diese wissenschaftlichen Fortschritte die früheren Kausalitätshypothesen vollkommen umgestürzt hatten, hielt man doch immer noch zähe an dem Glauben oder richtiger Aber- glauben fest, daß eine Unzahl körperlicher und geistiger Erkran- kungen auf das Schuldkonto der Onanie zu setzen seien. Soweit die von Schreckbildern erfüllten Schriften der Ab- schreckung dienen sollten, haben sie i h r e n Z w e c k — die Ver- minderung der Onanie - nicht erfüllt. Ja, sollte es in der Tat zutreffen, daß die Onanie erst im 19. Jahrhundert eine so ungeheure Verbreitung gefunden hat wie manche glauben so mußte man eher das Gegenteil annehmen, da die über- große Anzahl dieser Bücher erst während dieser Zeit im An- 152 V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) schlnß an das Tissotsche Werk „de l'Onanisme" erschienen sind. T i s s o t s Schrift wurde so viel übersetzt nnd „ging so gut", daß die französischen Verleger fast während des ganzen vorigen Jahrhunderts den Weltmarkt mit der führenden Literatur auf diesem Gebiete versorgten. Auf Tissot folgt Doussins „Brief über die G e fahren der Onanie", dann Fecaubes Arbeit über die Chiromanie, denen sich dann die an wissenschaftlichem Wert höherstehenden Werke von Deslandes „über die Onanie und die übrigen Ge- schlechtsausschweif uugen" (Paris 1835) sowie Lallemands weit- verbreitetes Buch „des pertes seminales involontaires" (Paris und Montpellier 1836 und 1841) anschlössen. Der Einfluß der franzö- sischen Auffassungen war ein so starker, daß sogar ein biologisch so erleuchteter Geist wie Kant, ein Zeitgenosse Tissots, in seiner „Metaphysik der Sitten" (1797 20) sich dabin aussprach, daß „die unnatürliche Wollust der Selbstbefleckung", dieser „naturwidrige Gebrauch" (oder Mißbrauch) der Geschlechtseigenschaft, eine der Sittlichkeit im höchsten Maße widerstrebende Verletzung der Pflicht gegen sich selbst sei, sie erscheint Kant „noch unsittlicher und empörender als der Selbstmord" — was sich auch darin ausspreche, daß man von diesem doch unbedenklich sich zu reden getraue, während hier dagegen „selbst die Nennung eines solchen Lasters bei seinem eigenen Namen für unsittlich gehalten wird — , gleich als ob der Mensch überhaupt sich beschämt fühle, einer solchen ihn selbst unter das Vieh herab- würdigenden Behandlung seiner eigenen Person fähig zu sein". Mit Eecht zitiert Eulenburg diesen Ausführungen Kants gegenüber das Wort Mephistos: „Man darf vor keuschen Ohren das nicht nennen, Was keusche Herzen nicht entbehren können." Im übrigen könnte man Bände füllen, wenn man alle die ent- setzlichen Folgen nennen und widerlegen wollte, die von früherem Autoren der Onanie zugeschoben wurden. So schreibt von Hoven (Versuch über Nervenkrankheiten, Nürnberg 1813, S. 7): „Aber die fürchterlichsten Folgen dieser Schwäche und Erschöpfung der Ner- venkräfte, Epilepsie, Katalepsie, Blödsinn usw. zeigen sich vorzüglich nur bei den Onanisten. Die meisten Epileptischen, Kata- leptischen, Blödsinnigen, ja selbst die meisten Wahnsinnigen waren, wie die Geschichte der Irrenhäuser lehrt, in ihrer Jugend Onanisten, und wenn nichts beweist, wie sehr dieses Laster das Nervensystem angreift, so beweist es die schlimmste aller Nervenkrankheiten, die 20) Neu herausgegeben als 42. Band der philosophischen Bibliothek, Leipzig 1907. Vgl. Prof. Dr. A. Eulenburg: Moralität und Sexualität. Sexualethische Streifzüge im Gebiete der neueren Philosophie und Ethik. A. Marcus & E. Webers Verlag. Bonn. S. 18. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 153 Rückenmarksdarre (tabes dorsalis), eine Krankheit, wodurch die Natur dasselbe noch strenger bestraft, als die Unzucht durch die Lustseuche" — als ob nicht auch die meisten Nichtepileptiker, Nicht- kataleptiker und Nichttabiker in ihrer Jugend Onanisten waren. Erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ließ die Irrlehre allmählich nach. Ich erinnere mich noch recht deutlich, wie erlösend es förmlich wirkte, als einer der Bahnbrecher einer ver- nünftigen Anschauung, mein verehrter Lehrer Erb in Heidelberg, den Studenten klarlegte, daß es ein Fehlschluß schlimmster Art ge- wesen sei, Rüekenmarksschwintlsucht und Gehirnerweichung auf Onanie zurückzuführen. Die Auffassung von der Zerstörung des Körpers durch die Onanie wurde auch dadurch nicht erschüttert, daß man unter den Onanisten nicht selten junge Leute von geradezu strotzender Kraft und Gesundheit fand. So behandele ich gegenwärtig einen Onanisten von 16 Jahren, der ein wahrer Athlet ist. Er wiegt 180 Pfund, sieht blühend aus und ist geistig überaus rege. Sein Vater führte ihn mir zu, weil er wenige Wochen vorher einen ernstlichen Selbst- mordversuch unternommen hatte. Die Eltern hörten nachts einen Schuß im Nebenzimmer mit anschließendem Fall und als sie er- schreckt hineinstürzten, fanden sie ihren Sohn von einer Kugel ge- troffen bewußtlos am Boden liegen. Das Geschoß, welches im Fett- polster steckengeblieben war, heilte bald reaktionslos ein. Als Grund der Selbstmordabsicht ergab sich, daß der Sohn bereits seit 10 Jahren in hohem Maße der Onanie ergeben war. Vor einem Monat hatte er einem Wandervogelführer das Ehrenwort ge- geben, damit aufzuhören, nun hatte er sein Wort gebrochen und doch wieder onaniert; „da er die Hoffnung auf Besserung aufgegeben hätte, habe er Schluß machen wollen." Es liegt die Frage nahe, wie der durch die Selbstbefriedigung verursachte Schade zu erklären wäre. Beruht er auf dem Säfte - und Stoffverlust? Dieser ist nicht größer wie beim Koitus; das abgegebeue Quantum Eiweiß ist durch die Ernährung leicht wieder ersetzt, es ist auch festgestellt, daß die in einem Ejakulat entleerte Samenmenge von durchschnittlich 3 Gramm zwar bei wiederholten Entladungen innerhalb eines Tages abnimmt, nach 24stündiger Ruhe aber bereits wieder die gleiche Höhe erreicht. Auch die Reizung und Schwächung des Nervensystems ist bei m ä ß i g vorgenommener Ipsation von der des Koitus nicht wesent- lich verschieden, nur bei häufig wiederholten Akten — was ja allerdings ein relativer Begriff ist — beineuropathischen und vor allem jungen Menschen in der Vorpubertät ist sie von größerer Bedeutung. Bleibt derpsychischeFaktor, die Gebundenheit an etwas, was stärker ist als alle guten Vorsätze, das Schuldbewußtsein. Dieses Moment ist bei den dem 154 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) Leben entgegenwachsenden Menschen allerdings ein ^ Umstand der schwer ins Gewicht fällt und wohl geeignet ist, das seelische una nervöse Gleichgewicht erheblich zu stören. vprmeint- Nachwr erbracht, und es erscheint auch die Meinung nach dem derartigen Stande der Wissenschaft durch nichts begründet, daß 1 Onanie irgendeine substantielle Veränderung des mensch- ten oWnLus zur Folge hat. Theoretisch wäre es 3a fohl nicht ausgeschlossen, daß eine allgemeine Korperschwachung auch eine Schwächung einzelner Organe bedingt und sie da- durch für exogene Krankheitsursachen weniger widerstands- fähig macht. Aber einmal ist der Begriff der Organschwache und Organminderwertigkeit überhaupt ein sehr relativer, unbestimmter, um nicht zu sagen unwissenschaftlicher, und weiter- hin sieht man Onanisten von so gesundem, stammigen Äußeren und so robuster Körperbeschaffenheit, daß die Behauptung irgend- eine katarrhalische, entzündliche, infektiöse, karzinomose oder son- stige Veränderung der Körpergewebe könne durch die Onanie als solche verursacht sein, als völlig willkürlich abgewiesen werden muß. Eher könnte man daran denken, daß die exzessive, nicht kohabi- tatorische Verwendung der Geschlechtsorgane rein örtliche Wir- kungen und Umgestaltungen am Genitalapparat zuwege bringen könne. Tatsächlich ist solches auch behauptet worden. Man hat davon gesprochen, daß sich beim männlichen G eschlecht durch starke Onanie der Penis vergrößere, die Vorhaut sich ausdehne und das Skrotum schrumpfe oder erschlaffe, während bei Frauen die Klitoris hyper- trophere und die kleinen Labien welkten und schlaff herunterhmgeii. Beides ist unrichtig. So wenig ein Schwamm sein wirkliches Vo- lumen verändert, wenn er auch noch so oft seine Ausdehnung durch den verschiedenen Gehalt an Feuchtigkeit wechselt, so wenig andern die Schwellkörper des Gliedes, von deren Ausdehnung die Große des Organs im wesentlichen abhängt, durch Schwellung und Leerung ihren gegebenen Umfang. Die Schlaffheit oder Prallheit des Skrotums aber hängt von seinem Inhalt ab, der gleichfalls durch die Onanie keine dauernde Abänderung erleidet. Abbildungen, wie sie noch neuerdings wieder Dr. Georg Back in seinem verbreiteten Werk (1. c. Abbildung 17, S. 114) mit der Unterschrift: „Der Hodensack eines Gewohnheitsonanisten" bringt, sollten daher als irreführend besser unterbleiben. Die bei Frauen gefundenen Hypertrophien der äußeren Genitalorgane stellen ähnlich wie die Phimose oder V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) 155 Hypospadie beim Manne kongenitale adhärente Entwicklungsstörun- gen dar, sind vielfach schon Varianten der Gescklechtsdifferenzie- rung, so daß zwischen ihrem Ursprung und der meist erst nach ihrem Vorhandensein einsetzenden Onanie unmöglich ein Kausal- nexus bestehen kann. Auch örtliche Katarrhe, wie Balanitis und Vulvitis (fluor albus) sowie Menstruationsstörungen dürften kaum je auf unkomplizierte Onanie zurückzufüren sein. Dagegen habe ich mich des Eindrucks nicht erwehren können, trotzdem auch hier ein schlüssiger Beweis kaum erbracht werden kann, daß die so häufige Ejaculatio praecox, eine nicht nur für den Mann, sondern auch für das empfangende Weib recht peinliche Potenzstörung, nicht selten auf einer allzuhäufigen onanistischen Reizung beruht, allerdings auch nur bei entsprechend disponierten Personen, denn die Zahl der Masturbanten, die nicht dieser Sexual- neurose verfallen, ist ungleich größer, als die an ihr leiden. Auch für die Entwicklung der eigentlichen Impotenz spielt die Selbstbefriedigung nicht die Rolle, die ihr von Laien vielfach zuge- sehrieben wird. Daß dieImpotentiagenerandi,die Portpflan- zungsunfähigkeit, weder beim Manne noch beim Weibe von Onanie herrühren kann, dürfte für jemanden, der sich genauer mit den Gründen männlicher und weiblicher Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit be- schäftigt hat, kaum noch zweifelhaft sein. Die andere Form, die Impotent iacoeundi, die Beischlafsunfähigkeit, ist ätiologisch in mehrere Untergruppen, in die organische, spinale, nervöse und psychische Impotenz einzuteilen. Die organische, beruhend auf organischen Erkrankungen der peripheren Teile, ist von der Onanie unabhängig. Ebenso die spinale, welche durch Strukturverände- rungen, Läsionen, syphilitische Entartungen, Entzündungen der Rückenmarkszentren für die Erektion und Ejakulation bedingt ist. Die nervöse Impotenz ist eine gelegentliche Teilerscheinung der sexuellen Neurasthenie, die ihrerseits als Begleiterscheinung der Onanie auftreten kann. Diese nervöse Potenzstörung sitzt aber nach meiner Erfahrung meist nicht sehr tief und ist dementsprechend auch verhältnismäßig leicht zu beseitigen im Gegensatz zu der psychischen Impotenz, die durch fehlende Reaktions- fähigkeit des zerebralen Zentrums begründet ist. Zwischen der nervösen und psychischen Impotenz steht die autosuggestive, in der wir eine Folgeerscheinung der sexuellen Hypochondrie und Skrupelsucht zu erblicken haben. Ist ein Onanist fest davon durchdrungen und überzeugt, er habe durch Selbstbefrie- digung die Fähigkeit verloren, sich einem Weibe mit Erfolg zu nähern, so kann mit der Zeit aus dieser' Vorstellung eine Scheu vor dem Weibe, ja sogar ein vorübergehendes Unvermögen resultieren. Entsprechende Gegensuggestionen eines kundigen Arztes leisten hier vortreffliche Dienste. •j^g V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Ganz anders aber verhält es sich bei der psychischen Im- potenz im eigentlichen Sinne, bei der dem negativen Aus- fall etwas Positives, der seelischen Abneigung eine seelische Zu- neigung gegenübersteht. Die Triebabweichungen, um die es sich hier handelt, sind in der Anlage schon vor Ausübung der Onanie vorhanden, nicht selten auch schon vor ihrem Eintritt be- tätigt worden und es ist schon aus diesem Grunde irrtümlich, sie auf Onanie zurückzuführen. Gleichwohl begegnen wir nicht nur m Laienkreisen immer wieder solchen Trugschlüssen; so behauptet Schimmelbusch-Hochdahl in einem Vortrage, den er auf der Hamburger Naturforscherversammlung 1902 21) über das Thema: „Der Grundirrtum in von Krafft-Ebings Psychopathia sexu- alis historisch und philosophisch betrachtet", hielt, daß „perverses Sexualempfinden nicht als angeboren, sondern als durch Masturbation erworben zu betrachten sei". Namentlich hat man geglaubt, daß die in Internaten, Knaben- und Mädchen- pensionaten, Kadetten-, Waisen- und anderen Erziehungsanstalten so weit verbreitete mutuelle Masturbation eine häufige Ur- sache der Homosexualität abgäbe. In der Tat gibt es manche hoch- berühmte Schulen besonders in Deutschland und England, aus denen zuverlässige Gewährsmänner übereinstimmend berichten, daß in ihnen seit alters her mutuelle Onanie epidemisch sei. Ich selbst besitze eine größere Reihe hierhergeböriger Berichte. Aber gerade diese ausgedehnte Verbreitung beweist, daß der Onanie eine entschei- dende Bedeutung für die Entstehung gleichgeschlechtlicher Nei- gungen nicht innewohnen kann. Wenn beispielsweise vonl20 Wai- senknaben, die unter gleichen Verhältnissen erzogen, alle fast ausnahmslos masturbierten, nachweislich später nur ein er homo- sexuell geworden ist, wenn überhaupt unter 100 Menschen über 95 Onanisten sind, und unter diesen sich später nur einer als dauernd homosexuell herausstellt, zwei vielleicht noch als bisexuell, 92 aber als völlig heterosexuell, so werden wir unmöglich die Onanie als ausreichenden Grund homo- sexueller Triebrichtung ansehen können. Unter den vielen männ- lichen und weiblichen Personen, die mich wegen Befreiung von Onanie um Rat fragten, befand sich nicht eine, deren seelische Trieb- richtung infolge der Masturbation eine Änderung erfahren hatte. Die heterosexuelle Mehrzahl bleibt heterosexuell, die homosexuelle Minderheit homosexuell. Auch die Phantasie- Vorstellungen beim onanistischen Akt hatten, soweit vorhanden, dementsprechend gleichbleibend entweder homosexuellen oder heterosexuellen 2i) Referat in der Münchn. med. Woch. Nr. 47, 1902. Eine gründliche Widerlegung des Schimmelbuschschen Vortrags findet sich im Jahrb. f. sex. Zwischenstufen Jahrg. 4, S. 964 ff. V. Kapitel : Die Onanie (Tpsation) 157 Inhalt. Richtig ist allerdings, daß vielfach die Homosexu- ellen die Masturbation noch in einem Alter treiben, in dem sie bei Heterosexuellen bereits dem Geschlechtsverkehr mit dem andern Geschlecht Platz gemacht hat. Es handelt sich dann eben um surrogative oder prophylaktische Akte, die natur- gemäß bei den sexuell abnormal Veranlagten eine größere Rolle spielen, als bei der Normalen. St ekel erzählt einmal einen Fall, in dem ein Mann kurze Zeit, nachdem er die von ihm täglich be- triebene Onanie aufgegeben hatte, weil er von ihren schlimmen Folgen gelesen hatte, sich an einem kleinen Mädchen verging und infolgedessen ins Zuchthaus kam. Es hat schon etwas Richtiges, wenn er hinzufügt: „Die Onanie hat in diesem Sinne eine wichtige soziale Bedeutung. Sie ist gewissermaßen ein Schutz der Gesell- schaft vor unglücklichen Menschen mit übermächtigen Trieben und allzu schwachen ethischen Hemmungen. Würde man die Onanie voll- kommen unterdrücken, die Zahl der Sittlichkeitsdelikte würde ins Unglaubliche steigen." Es wird bei dieser Darlegung allerdings übersehen, daß stärkere Onanie selbst die Hemmungen schwächt und damit den Widerstand gegen den abnormalen Anreiz vermin- dert, dessen Eindrucksfähigkeit auf die Sinnes- und Sexualorgane an und für sich von der Onanie unbeeinflußt bleibt. Wie ist es nun mit dem schädigenden Einfluß der Onanie auf das Nervensystem'? Zweifellos ist der einzelne onanistische Akt mit einer nicht unerheblichen Erregung und Schwächung der geni- talen Neurone verbunden, die auf das Lumbaizentrum herüber- greift und in den Rückenmarksbahnen weiterläuft und schließ- lich in den zerebralen Ein- und Ausdruckszentren endet. Die elastischen Nerven des gesunden kräftigen Men- schen überwinden die einzelne Alteration leicht. Nicht so der zarte in der Entwicklung noch nicht abgeschlossene Ner- venapparat jugendlicher Individuen oder von Hause aus neuro- pathischer Personen. Vor allem aber schadet das Über- maß. Hier gilt so recht der alte Satz: gutta cavat lapidem, non vi sed saepe cadendo, zu deutsch: Steter Tropfen höhlt den Stein, wobei allerdings wieder einschränkend hinzugesetzt wer- den muß: das Maß, was bei dem einen noch als mäßig gelten kann, muß bei dem andern schon unmäßig oder übermäßig ge- nannt werden. Der Zustand aber, der sich aus der oft wiederholten Reizung und Schwächung der Nerven entwickelt, ist der der reiz- baren Nervenschwäche, den wir als Neurasthenie und wenn er von Störungen des Sexuallebens ausgeht, als sexuelle Neur- asthenie zu bezeichnen pflegen. Daß unter diese sexuellen Störungen auch die Onanie zu rechnen ist — ebenso wie nicht selten die forcierte sexuelle Enthaltung, der Coitus interruptus, geschleeht- 158 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) liehe Unmäßigkeit, sowie jede Form quantitativ oder qualitativ nicht adäquater Sexualbetätigung — , er- scheint bei unvoreingenommener Beobachtung und nüchtern- kritischer Prüfung außer Zweifel. Gekennzeichnet ist dieses Leiden in erster Linie durch eine erhöhte Reizbarkeit und Erschöpf barkeit der Nerven; bald überwiegen mehr die Erscheinungen der gewöhnlichen Nervenschwäche, bald die der Spinalirritation, bald der Symptomenkomplex der Zere- brasthenie und Psychasthenie. Dabei tritt uns eine bunte Fülle funktioneller Betriebsstörungen entgegen, die, wenn auch alle re- parabel, doch recht geeignet sind, einem Menschen das Leben zu vergällen. Von Einzelerscheinungen fehlen bei der sexuellen Neur- asthenie fast nie „der eingenommene Kopf", Rückenschmerzen, „Schwere in den Gliedern", das Gefühl von Zerschlagenheit und Kraftlosigkeit. Häufig wird über Schwindelanfälle, Ohnmachts- anwandlungen, Zittern sowie Überempfindlichkeit gegen Licht- und Schallreize geklagt. Der Schlaf ist oft gestört, Schlaflosigkeit wechselt mit schreckhaften Träumen, Alpdruck und Schlummer- sucht. Häufige Beschwerden sind Gedächtnisschwäche, Mißmutig- keit, Zerstreutheit, Interesselosigkeit, mangelnde Energie und Arbeits unlust. Die Reflexe, vor allem die Sehnenreflexe und unter diesen wieder der Kremasterreflex und das Kniephänomen, zeigen eine erhebliche Steigerung. Ebenso ist die vasomotorische Reizbar- keit erhöht. Es besteht Errötungsfurcht sowie oft ein flecken- oder strichweises Auftreten von Hautröte, bald mehr vom Charakter der Urtikaria, bald vom Aussehen eines Erythems. Ich sah einen Masturbanten, der wenige Stunden nach dem manuellen Akt von stärkstem Jucken befallen wurde, das besonders an der Glans, an den Waden und Armen nahezu unerträglich und meist von Quaddeln begleitet war. Der Zustand währte gewöhnlich ein bis zwei Tage. Die gleichen Erscheinungen traten bei dem Patienten später auch post coitum auf. Bei Onanisten, die zu vasomotorischen Störungen neigen, pflegen auch selten die Erscheinungen der Herzneurose zu fehlen. Man hat in diesem Sinne nicht gerade glücklich vom Masturbantenherzen gesprochen. Die Patienten leiden an beschleunigter Herztätigkeit, Herzklopfen und Herzschmerzen und vor allem an mehr oder weniger starker „Herzensangst", die sich von leichterer Präkordialangst bis zu schwersten Herzbeklemmungen mit Angstschweiß und Atemnot, sogenanntem „Asthma nervosum", steigern kann. Mit der Angst verbindet sich manchmal ein nur schwer unterdrückbarer innerer Zwang zum Aufschreien oder zu motorischen Exzessen, wie den Drang, sich hinzuwerfen oder Gegenstände zu zerstören ; auch kompliziertere Zwangsideen kommen vor, wie sie in den seltsamsten Formen Neu- rotiker so oft quälen. So kam wiederholt ein exzessiver Onanist zu V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 159 mir, der die sonderbare Zwangsneigung hatte, wenn ihm die Tür. geöffnet wurde, zu fragen, ob sein Diener bereits nach ihm tele- phonisch angeklingelt hätte oder ob sein Chauffeur sich bereits er- kundigt hätte, wann er ihn mit seinem Auto abholen solle. Es war ein unbemittelter Angestellter, der sich weder einen Diener noch ein Auto leisten konnte und selbst das Lächerliche seiner Zwangshand- lung vollkommen einsah. Einige Autoren sind der Meinung, daß die Ursache der Angst stets sexuelle Nichtbefriedigung sei. Freud sagt: „Angst ist eine von ihrer Verwendung abgelenkte Libido." Eine ähnliche Auf- fassung verlrat schon Gattel22), der das Ergebnis seiner Unter- suchungen in den Satz zusammenfaßte: „Die Angstneurose tritt überall da auf, wo eine Eetention der Libido stattfindet." Er teilte die Angstneurotiker des Krafft-Ebingschen Ambulatoriums in vier Gruppen ein, diejenigen, die den Coitus interruptus ausüben, ferner die, welche häufig frustrane Erregungen haben, sowie die Impotenten und Abstinenten. Die Onanisten erwähnte er namentlich nicht, doch finden sich auch bei ihnen vollkommen analoge Beschwerden. Es kommt offenbar ätiologisch im wesentlichen darauf an, daß in allen genannten Fällen die dem wirklichen Bedürfnis ent- sprechende Entspannung fehlt. Dieselben Anschauungen, wie die der genannten beiden Autoren, finden wir bei Herz23), Strohmeyer24) und vor allem bei Steckel25), doch hat sich die größere Reihe der Psychiater diese Auffassung bisher nicht zu eigen machen können. Zum großen Teil beruht dies wohl darauf, daß sie unter dem Angstbegriff nicht ganz dasselbe verstehen, wie die Sexologen. Sie haben mehr die „Seelen- angst" und Herzensangst im Sinn von Furcht im Auge, während die Sexologen mehr an die vasomotorische Präkordialangst mit begleitenden Beklemmungen denken, einem Erscheinungskomplex, den man im Volksmunde auch als „Herzkrampf" bezeichnet. Außer der Herzneurose habe ich bei Onanisten am häufigsten viszerale und Blasenneurosen beobachtet. Die viszerale Neurose trägt den Charakter einer nervösen Dyspepsie mit Magen- drücken, kolikartigen Leibschmerzen, oft mit starken Diar- rhöen, seltener mit Stuhlverstopfung einhergehend. Auch Übelkeit, Widerwillen vor bestimmten Speisen, Aufstoßen, Erbrechen sind manchmal vorhanden, Symptome, die mit Ausübung der Onanie zu-, mit ihrer Unterlassung abnehmen. Bei der Zystoneurose besteht ein quälender Harndrang oft schon bei ganz mäßiger Füllung der Harn- \ W)er die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und Angstneurose, Berlin 1S98. 23) Max Herz: Die sexuelle psychogene Herzneurose, 1909. 2*) Strohmeyer: Über die ursächlichen Beziehungen der Sexualität zu Ausst- und Zwangszuständen. Jahrb. f. Psych, u. Neur. 1908. 2S) Wilhelm Steckel: Die Angstneurose. 160 V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) blase Bei manchen Patienten schießt dann beim Wasserlassen unter starkem Druck ein kaum zu haltender Strahl hervor, bei anderen kann der Urin nur sehr schwer tropfenweise entleert werden Der Zufall fügt es, daß ich zur Zeit zwei völlig analoge Falle von Blasen- neurose zu behandeln habe, von denen der eine bei einem ex- zessiven Onanisten, der andere bei einem Total- abstinenten aufgetreten ist. Beide sind im funfunddreißig- sten Jahr. • . Es ist zu betonen, daß es eine spezifische, nur durch Onanie bewirkte Krankheitsstörung überhaupt nicht gibt. Alle körperlichen und seelischen Leiden, von denen wir annehmen — ob und inwie- weit mit Recht bleibt dahingestellt — , daß sie auf Onanie beruhen, *ind auch bei Nichtonanisten beobachtet worden, sei es infolge anderer exogener Momente, sei es lediglich auf endogen neuropathischer Grundlage. Wohl nirgends ist daher der alte Zweifelssatz der Mediziner, post hoe, non propter hoc, ange- brachter, wie bei den Klagen der Onanisten. K r ä p e 1 i n schreibt von der Dementia praecox: „So manche Gründe sprechen dafür, daß dem Geschlechtsleben bei dieser Krankheit eine gewisse Rolle zu- kommt, aber sie wird keinesfalls durch Onanie verursacht. Es gibt zahlreiche begeisterte Onanisten, die nicht hebephrenisch werden und umgekehrt fehlt die Onanie bei Hebephrenischen, namentlich bei weiblichen, nicht selten gänzlich, trotz starker ge- schlechtlicher Erregung." Das gilt für alle Geisteskrank- heiten, die früher der Onanie zugeschoben wurden. Daher ent- behren auch die von Loewenf eld26) angeführten Erhebungen, nach denen Ellinger unter 383 Geisteskranken in 83 Fällen, also in 21,5°/0, Hagenbach 69mal unter 800 Kranken, Peretti unter 300 männlichen Irren in 59 Fällen Masturbation „als mit- wirkende Ursache der Geistesstörung" gefunden haben wollten, während Burs bei 10°/0 aller im Eastern Michigan Asylum behandelten Geisteskranken Masturbation als causa morbi annahm, und nach Ribbing bei 3,7°/0 der in den Schwedischen Hospitälern aufgenommenen Geisteskranken das Leiden durch Masturbation entstanden sein soll, jeder auf Exaktheit und Sach- kenntnis Anspruch machenden Unterlage, überhaupt ist das Auf- treten einer wirklichen ausgesprochenen Geisteskrankheit nach Onanie nicht erwiesen und auch nach dem gegenwärtigen Stand der Lehre von den Geisteskrankheiten und der Onanie auch nicht anzunehmen. Wohl können vorübergehende Verschlimmerungen vorhandener Psychosen durch die nervöse Reizung einer onanistischen Handlung verursacht werden; namentlich bei Hysterikern und auch bei Epileptikern 2«) L. c. S. 197. V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 161 kommt es vor, daß Anfälle durch den masturbatorischen Ge- hirnschock ausgelöst werden. Gegenwärtig habe ich ein junges Mädchen in Beobachtung, die angibt, daß ihren heftigen epi- leptischen Krampfanfällen wollüstige Pollutionsträume voranzu- gehen pflegen. Es besteht aber bei der Vorgeschichte des stark libidi- nösen Mädchens der wohlbegründete Verdacht, daß diese Pollutionen nicht so unfreiwillig auftreten, wie die Patientin schildert. Die hauptsächlichste seelische Störung im Gefolge der lpsation ist eine Verschiebung der Stimmungslage nach der depressiven Seite. Diese kann sehr hochgradig sein, eine melancholische Fär- bung annehmen, zu Selbstmordgedanken und -versuchen, ja zum Selbstmord selbst führen. Von den Onanieverteidigern wird der Standpunkt vertreten, daß diese tiefe Niedergeschlagenheit keine natürliche Begleiterscheinung der Onanie ist, sondern künstlich her- vorgerufen ist durch die übertriebenen schauervollen Schilderungen der furchtbaren Folgen der Selbstbefriedigung. Ich halte dies nur zum Teil für zutreffend. Es gibt zweifellos Personen, die genau darüber unterrichtet sind, daß die Onaniegefahren bei weitem nicht so schlimm und vor allem so nachhaltig sind, als vielfach berichtet wurde und die doch weniger verstandesmäßig als rein gefühlsmäßig seelisch ungemein unter der lpsation leiden, die zu überwinden sie außerstande sind. Besteht auch der Satz: Omne animal post coitum triste unter gesunden Verhältnissen nicht zu Recht, so hat doch der Satz: Homo sapiens post ipsationem tristis in der großen Überzahl der Fälle seine volle Gültigkeit. Insofern trägt die Selbstbefriedigung ihren Namen zu Unrecht, als sie ein wirkliches Gefühl derBefriedigungseltenzurückläßt. Die Niedergedrückt- heit, das Schuldbewußtsein, die Gewissensbisse der Onanisten kön- nen sich bis zum Versündigungswahn und ausgesprochener Hypochondrie steigern, die dann oft die Zeit der Onanie sehr lange überdauert. Patienten, die noch nach zwanzig und mehr onaniefreien Jahren den größten Teil ihrer Beschwerden immer wieder mit ihren „Jugendsünden" in Zusammenhang bringen, sind keine Seltenheit. Mehrfach ist namentlich von der Freudschen Schule, aber auch von anderen mit Nachdruck der Standpunkt vertreten worden, daß lpsation mit Phantasievorstellungen viel folgenschwerer sei, als solche ohne Phantasietätigkeit. So schreibt Eeik27): „Wir wissen, daß die Onanie an sich dem Organismus keinen großen Schaden zufügt, wenn sie nicht von Phantasien begleitet ist." Es ist dies 27) Theodor Reik: Zur Psychoanalyse des Narzißmus im Liebesleben d»r Ge- sunden. Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 2, S. 45. Hirs chf eld, Sexualpathologie. I. ii 162 eine wenn unbewiesene Vermutung. Man könnte mit demselben, nicht mit mehr Recht die entgegengesetzte Auffassung vertreten, daß die „rein mechanische" Onanie schädlicher sei, weil sie der natürlichen Entspannung durch den Koitus unähnlicher ' und daher unnatürlicher sei, als diejenige, bei der die unmittelbare Wahrnehmung wenigstens durch Erinnerungsbilder ersetzt wird. In Wirklichkeit dürften zwischen der Onanie mit und ohne Vor- stellungen hinsichtlich der Schädlichkeit nennenswerte Unterschiede kaum vorhanden sein. Fassen wir alles über die Onanieschaden zu- sammen, so kann man sagen, eine spezifische Folge- erkrankung der Onanie gibt es nicht, die Entstehung irgend einer körperlichen organischen oder geistigen Erkrankung durch sie ist in keiner Weise erwiesen. Die einzige mit größter Wahrscheinlichkeit nachgewiesene Folge ist bei exzessiver Onanie und neuropathischer Anlage eine reizbare Nerven- schwäche (sexuelle Neurasthenie) meist allgemeinen, gelegentlich auch örtlich genitalen Charakters (Ejaculatio praecox). lerner treten nach ihr seelische Depressionen hypochon- drischer Färbung auf, die nicht allein durch unberechtigte exogen erzeugte Furchtvorstellungen bedingt zu sein scheinen, son- dern in vielen Fällen auch als endogene Reaktion auf die onanis tische Reizung anzusehen sind. Behandlung der Ipsation Sind demnach in summa die Onaniefolgen bei ganz unpartei- ischer Betrachtung keineswegs als schwerwiegend oder gar lebensverkürzend anzusehen, so sind sie immerhin be- trächtlich genug, um dem subjektiv meist in sehr hohem Grade bestehenden Verlangen nach ihrer Beseitigung nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. Deshalb müssen wir uns nun noch mit der Behandlung der Onanie beschäf- tigen. Was vom Arzt in dieser Beziehung gefordert wird, ist zweierlei: einmal ist es die Beseitigung der Onaniefolgen und dann die Behebung der Onanie selbst. In beiden Fällen muß unsere Therapie im wesentlichen eine kausale sein. Um die durch die Onanie verursachten Schäden zu heilen, müssen wir den Patienten vor allem von der Onanie befreien, und um ihn hiervon zu erlösen, muß man vor allem die Ursachen kennen und entfernen, die ihn zur Onanie führen. Im einzelnen kann man die zahlreichen Heil- mittel, die gegen die Onanie in Anwendung gebracht und empfohlen sind, in fünf Hauptgruppen teilen: in die psychischen, hygi- enischen, medikamentösen, instrumentalen und ope- rativen Mittel. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 163 Zur psychischen Therapie gehört die hypnotitsche Sug- gestionsbehandlung, die, von einem sachkundigen Arzt ausgeübt, häufig, und zwar auch schon ini Kindesalter recht vortreffliche Dienste leistet; ihr begeistertster Fürsprecher ist v. Schrenck- Notzing, der sich von dem „kategorischen Imperativ des sug- gestiven Zwanges" bei Onanierenden in der Vorpubertät und Puber- tät ungleich mehr verspricht, als von einer geistigen Beeinflussung im Wachzustande, die „über den geistigen Horizont und das Können vieler Kinder" hinausgeht. Ohne den Wert der Hypnose zu ver- kennen, möchte ich nach meiner Erfahrung doch einer geeigneten Aufklärungsmethode den Vorzug geben. Je nachdem der Fall es erfordert, wird diese darauf gerichtet sein, dem Patienten mehr die Schädlichkeit oder NichtSchädlichkeit der Onanie klarzumachen ; in beiden Fällen aber, und darin liegt der Schwerpunkt dieses psychischen Verfahrens, hat man sich von Über- treibungen fern und streng an die Wahrheit zu halten. Vielfach ist schon die Frage erörtert worden, von welcher Seite die heranwachsende Jugend am besten über das Geschlechtsleben und seine Gefahren einschließlich der Selbstbefriedigung aufge- klärt werden soll, ob von den Eltern, vom Arzt, Lehrer, Geistlichen, ob von einem älteren Freunde oder durch ge- eignete Schriften. Meines Erachtens kommt es weniger dar- auf an, von wem, als wann und in welcher Weise die sexuelle Aufklärung erfolgt. Es ist auch nicht nötig und richtig, daß alles, was man über die Entstehung des Menschen, die Onanie, die Geschlechtskrankheiten und andere Sexualfragen wissen muß, auf einmal beigebracht wird, sondern nach und nach hat die Erziehung die einzelnen Punkte zu be- rücksichtigen. Das ist wirksamer als eine einmalige sexu- elle Belehrung, womit die hohe Bedeutung nicht verkannt werden soll, die in dem Herrenhausantrage des General- gouverneurs Freiherrn von Bissing liegt, der unter anderm forderte, daß „planmäßige Belehrungen der Schüler und Schülerinnen sämtlicher Schulen vor der Entlassung über Ge- schlechtskrankheiten durch Schul- oder Amtsärzte" abgehalten werden sollen. Was im besonderen die Onanie betrifft, so muß die verhütende Belehrung sehr viel früher beginnen. Sobald man überhaupt an- nehmen kann, daß ein Kind versteht, was man ihm sagt, ja schon vorher, soll die Mutter ihm sagen, daß das Spielen an dem Ge- schlechtsteil seiner Gesundheit nachteilig ist. Diese Mahnung kann später bei passenden Gelegenheiten, wie beim Baden, An- und Aus- kleiden noch oft erneuert werden, jedoch stets mit eindringlicher Milde, nicht mit übermäßiger Strenge, Schlagen auf Hand, den Geschlechts- teil oder Übertreibung der Gefahren. Gänzlich zu verwerfen ist das 11* -^04 v- Kapitel: Die Onanie (Ipsation)^ kleinen Kindern gegenüber noch immer viel geübte Drohen, man werde ihnen, wenn sie sich unten anfaßten, das Glied oder die Hände abschneiden, oder sie müßten, wenn sie es wieder täten, sterben, oder es sei eine „Todsünde". Auch das Schwörenlassen sollte unter- bleiben. Durch alles dies wird das Kind nur übermäßig verängstigt und daran gehindert, sich später jemandem anzuvertrauen. Auch ist es wohl möglich, daß solche Einschüchterungen den Reiz erhohen nach dem alten Satz: Verbotene Früchte schmecken süß. Sagt doch S t e k e 1 geradezu: „Das Verbot der Onanie wirkt als Lusterholrang." Man muß sich stets bewußt bleiben, daß die sexuelle Erzie- hung in erster Linie ein Teil der hygienischen Erzie- hung ist. . Ein nochmaliger Hinweis, daß jede künstliche Erregung der Sexualorgane für das Nervensystem nachteilig ist, muß gegeben werden, sobald sich die ersten Zeichen der G eschlechtsreif e be- merkbar machen, beim Mädchen also die erste Menstruation eintritt, beim Knaben das Schamhaar sproßt. Wird ein Kind konfirmiert, so können ihm Vater und Mutter bei dieser Gelegenheit auseinander- setzen, daß die Einsegnung eigentlich ein Fest der beginnenden Geschlechtsreife ist, daß alle Völker, namentlich auch die Natur- völker, diesen Vorgang feierlich begehen, weil er wie die Geburt und Hochzeit einer der bedeutendsten Zeitabschnitte im menschlichen Leben ist. Indem man klarlegt, wie dieses Ereignis Kindheit und Jugend trennt, kann man auch schildern, daß nun die E n t w 1 c k - lungsjahre beginnen, in denen Körper und Geist allmählich zur Reife gelangen, man kann dann betonen, daß diese Entwicklungs- zeit nicht durch fehlerhaftes Verhalten gestört werden darf, wie Selbstbefriedigung, vorzeitigen Geschlechtsverkehr, Schwängerung oder gar Ansteckung. Dabei malt man in schöner Anschaulichkeit aus, welches Glück man später zu erwarten hat, wenn die Zeit, bis zu der man einen auf Liebe gegründeten Lebensbund einzugehen in der Lage ist, geschlechtlich ungetrübt verläuft. Fühlen sich Vater und Mutter ungeeignet, diese Aufgabe zu übernehmen, die leicht und geschickt zu lösen nicht jedermanns Sache ist, so mögen sie den Hausarzt, Geistlichen, Lehrer, kurz diejenigen Personen, zu denen sie in dieser Hinsicht das meiste Ver- trauen haben, bitten, statt ihrer das Erforderliche zu sagen. Mehr wie anderswo gilt hier der Satz, daß es der Takt ist, der dem Gegen- stand die Würde verleiht. Eine wertvolle Ergänzung findet diese sexuelle Erziehung durch den bereits vor der Konfirmation beginnenden und nach ihr fort- gesetzten Schulunterricht in Natur- und Menschenkunde. Die G e - schlechtskunde bildet einen der wichtigsten Bestandteile dieses Fachs. Hier können bei Pflanzen und Tieren die überall in der Natur wiederkehrenden Keimzellen, Eier und Samen beschrieben V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 165 werden und die verschiedenartigen Geschlechtsorgane, die sie be^ herbergen. Es werden die mannigfachen Formen geschildert, wie die Keimzellen sich vermischen und sich dadurch väterliche und mütter- liche Eigenschaften auf das Kind übertragen, ferner wie sich aus der Vereinigung, die teils außerhalb, teils innerhalb des Körpers vor sich geht, die Frucht entwickelt, wie sie geboren und durch die Mutter ernährt wird, vor der Geburt durch rotes Blut und nach der Geburt durch das weiße Blut, das man Milch nennt. So muß man dem Lernenden allmählich immer mehr Einblick in die Natur-, Geschlechts- und Menschenkunde gewähren, bis dem Kinde schließ- lich die entsprechenden Vorgänge beim Menschen als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen. Es ist ein verhängnisvoller Trugschluß, daß die Unwissen- heit, die man noch vielfach schlechthin als „Unschuld" bezeichnet, einen besseren sexuellen Schutz gewährleiste, als das Wissen der Wahrheit, das im Gegenteil eines der wertvollsten Vor- beugungsmittel auf sexuellem Gebiete ist. Es sollte endlich einmal mit dem Dogma gebrochen werden, das gedankenlos einer dem an- deren nachspricht, eine ernste sexuelle Aufklärung könne schaden oder gar erst die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand lenken, auf den der junge Mensch ohne Belehrung gar nicht erst verfallen wäre. Hat sich denn nicht gerade die ganze sexuelle Not unserer Zeit unter der Decke der Verborgenheit und Geheimnis- krämerei entwickelt? Ich habe in den Lehrkursen, die ich seit 15 Jahren über die sexuelle Frage halte, viele Tausende auch über Bedeutung und Folgen der Onanie aufgeklärt, von denen sehr viele mündlich und schriftlich der Überzeugung Ausdruck gaben, daß sie schwerlich der Onanie verfallen wären, wenn sie rechtzeitig das, was ich ihnen auseinandersetzte, gewußt hätten. Für abwegig aber muß ich es nach meinen Erfahrungen halten, wenn junge Leute, wie es in Keuschheitsvereinen und anderswo viel- fach geschieht, veranlaßt werden, Gelübde abzulegen oder das Ehrenwort zu geben, daß sie nie mehr Onanie treiben werden. Ich habe bereits einen Fall angeführt, in dem ein 16jähriger Jüng- ling einen ernstlichen Selbstmordversuch unternahm, weil er sein Ehrenwort brach, und könnte noch mehrere Fälle beschreiben, in denen es infolge ähnlicher Versprechungen zu schwerem seelischen Zwiespalt kam. Ganz anders als bei solchen, die man vor Onanie bewahren will, muß die psychische Therapie denen gegenüber sein, die sich schwer beunruhigen, weil sie onaniert haben. Den Weg der Wahr- heit muß man auch hier betreten, aber man soll weniger den Nach- teil betonen, welchen die Onanie für das Nervensystem hat, als zeigen, daß diese Nachteile nicht überschätzt werden dürfen. Vor allem muß man sich darin auf den Boden der Tat- Sachen stellen, daß man den Patienten zunächst einmal gründlich untersucht und ihm dann darlegt, daß er positiv keinen ernst- lieben Schaden durch die Onanie erlitten hat. Liegen Erscheinungen sexueller Neurasthenie vor, so muß auf Heilbarkeit dieser Be- schwerden hingewiesen und erörtert werden, daß Spatfolger. de Onanie nicht zu erwarten sind. Man wird dem Onanisten klarlegen, mit welchen Mitteln er seine Schwäche überwinden kann, daß e? aber, falls er doch einmal wieder dem Triebe unterliegen sollte, sich nicht verzweiflungsvoller Reue hingibt; der Onanist soll grundsätzlich nie d as V er g an g en e , sondern immer nur das Zukünftige im Auge haben. Unter den Mitteln, welche die psychische Behandlung m wert- voller Weise ergänzen, steht obenan die hygienische Therapie. Man kann diese einteilen in die geeigneten Vorschriften über Körperpflege, Körperübung, Bekleidung, Ernah- fung seelische und sexuelle Diätetik. Wollten wir auf diesen sechs Gebieten alles erörtern, was zur Verhütung der Onanie dient, wir müßten eine besondere Gesundheitslehre schreiben und den Kähmen dieses Grundrisses weit überschreiten. Nur das Wesentlichste sei daher hervorgehoben. Hinsichtlich der Körperpflege ist vor allem darauf zu achten, daß alles bekämpft wird, was als Hautreiz zum Juck e n und Kratzen und damit zur Erweckung ipsat onset 1er Lust- gefühle Anlaß gibt. Deshalb muß bei Kindern sehr auf Darmwur- mer geachtet und frühzeitig auf sorgsame Reinigung post defaecatio- nem Wert gelegt werden. Alle entzündlichen Reizungen an der Glans müssen vermieden, Phimosen, wenn sie solche befördern, operiert wer- den; der Pruritus vulvae et vaginae, sei er nervös oder katarrbalisch, muß ebenso wie jedes parasitäre, exzematöse oder nervöse Jucken an den Schamhaaren so rasch wie möglich beseitigt, überhaupt d e de Hautkrankheit einer schnellen und guten Behand- lung unterzogen werden. Von Jugend an soll das Kind seinen ganzen Korper an regel- mäßigen Wassergebrauch gewöhnen, so daß ihm dies zum tag- lichen Bedürfnis wird. Es dient dies zugleich der Sauberkeit, der Abhärtung und der Gesunderhaltung. Allerdings soll nicht un- erwähnt bleiben, daß manche junge Leute berichten, daß gerade das Alleinsein mit ihrem nackten Körper beim Baden sie immer wieder zur Selbstbefriedigung veranlaßt hat. Namenthch gilt das für Wannenbäder in Einzelzellen. Gern e inschaf tsbad er in größeren Badehallen haben den Vorzug, daß die gegenseibge Be- obachtung und Scham voreinander ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht bietet, wenn auch zuzugeben ist, daß in einigen der Anblick nackter Körper erotische Empfindungen auslösen mag, etwas, was gänzlich auszuschließen ein Ding der Unmöglichkeit V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 167 ist. Es wird aber uni so weniger der Fall sein, je früher; der Mensch sich daran gewöhnt hat, Nacktes unbefangen zu sehen; so ruft in den skandinavsichen Ländern, wo nacktes Baden noch immer eine allgemeine erfrischende Volks- sitte ist, der unbekleidete Leib weniger erotische Vorstellungen hervor, als in den mittel- und südeuropäischen Ländern der von dem Feigenblatt der Badehose bedeckte Unterleib, der vielfach erst die sexuelle Neugier reizt. Im übrigen gehört auch die Badehose zu den Kleidungsstücken, deren Keibung örtliche Reizungen be- günstigt. Vom Standpunkt der Onanie-Prophylaxe sind jedenfalls gemeinsame Schwimm- und Brause- bäder die geeignetste Bade form. Ebenso zweckmäßig sind auch die Licht-, Luft- und Sonnenbäder, die in den letzten Jabren erfreulicherweise sehr an Volkstümlichkeit gewonnen haben, namentlich in Verbindung mit körperlichen Übungen. Aus dem Ursprung des Wortes Gymnastik von yvßvog ■= nackt ist er- sichtlich, welchen Wert die in hygienischer Hinsicht vielfach vor- bildlichen Hellenen gerade auf Nacktübungen legten. Körperübungen, in erster Linie Wandern, dann Turnen, wie gute athletische und sportliche Betätigung gehören überhaupt zu den besten Vorbeugungs- und Heilmitteln gegen die Onanie. Wer es noch nicht vorher gewußt hat, hätte durch unsere Feldgrauen erfahren können, wie sehr körperliche Strapazen geeignet sind, den Geschlechtstrieb zu d ä m p f e n. Viele junge Leute berichten, daß mit dem Leben in der Kaserne ihre Onanie wie mit einem Sehlage er- losch. Die Erfahrung zeigt aber, daß als Abfuhr sexueller Spann- kräfte körperlichen Leistungen doch nur eine relative, keine absolute Heilkraft innewohnt. Auch Nietzsches Meinung, daß „der Ge- schlechtstrieb an die Maschine gestellt werden und nützlich arbeiten lernen, z. B. holzhacken, Briefe tragen oder den Pflug führen könne"28), trifft nur für eine gewisse Zeit und für geistig besonders dazu be- fähigte Leute, nicht für die große Mehrzahl zu. Neben der energischen Ableitung ist ein Hauptvorzug körper- licher Betätigung hinsichtlich der Onanievorbeugung, daß sie einen gesunden tiefen Schlaf hervorzubringen vermag. Der Satz, den mir ein Onanist schreibt: „Am meisten hilft noch, sich abarbeiten, bis man so müde wird, daß gleich der Schlaf eintritt," hat eine allgemeinere Bedeutung. Verführt doch gerade das lange Wachliegen im Bett, nackt und allein unter molligen Decken, junge Leute leicht zur Ipsation. Deshalb ist auch in dieser Beziehung alles, was den Schlaf stört, vom Übel, alles, was ihn bessert, von entschiedenem Nutzen. Auch der verlängerte Aufenthalt frühmorgens im Bett, 28) Vgl. Dr. v. Römer: Zeitschr. f. Sexualw. 1908, S. 39 ff. / 168 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) womit viele Eltern ihren Kindern eine Sonntagsfreude bereiten wollen, ebenso das zu frühe ins Bett schicken, wenn die Kinder keine Spur von Müdigkeit zeigen, ist von diesem Gesichtspunkt schädlich. Auch gewöhne man von Jugend an die Knaben und Mäd- chen an ein mehr hartes, kühles und leichtes Lager. Wie die natürliche Körperdiecke, die Haut, so kann auch die künstliche, das Kleid, onaniebegünstigende Reize auslösen. Verschiedentlich wurde bereits, wie erst eben bei der nächtlichen Körperhülle, auf diesen Umstand hingewiesen. Ältere Autoren haben namentlich denengenBeinkleidern eine wesentliche Schuld an der Onanie zugemessen. In meinem Werk: „Die Transvestiten" habe ich ausführlicher ein merkwürdiges Buch aus dem Jahre 1791 er- wähnt, merkwürdig durch seinen Inhalt — es führt den Titel: „Wie der Geschlechtstrieb des Menschen in Ordnung zu bringen und die Menschen besser und glücklicher zu machen sind" — , noch merk- würdiger durch den großen Eifer, mit dem sein Verfasser, der „gräflich Schaumburg-Lippische Hofrat und Leibarzt" Dr. Bern- hard Christian Faust, seine Ideen verficht. Er fordert, daß die hervorragendsten seiner Zeitgenossen, von denen er unter anderen die Herren von Goethe, von Dahlberg, Herder, Hufeland, Schiller, Wieland namentlich anführt, zu einer Untersuchungskom- mission zusammentreten sollen, um seine Gedanken und Vor- schläge zu prüfen. Diese gipfeln in dem Entwurf einer aus- führlichen „Landesordnung für eine künftige einförmige Kleidung der Kinder, die Deutschlands große, gute und weise Fürsten als Väter ihrer Völker mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts im Jahre 1800 als Gesetz für ihre lieben treuen Untertanen am Altare der Menschheit niederlegen sollen". Er stellt in diesem Buche, dem der berühmte Pädagoge Campe eine Vorrede beigegeben hat, die These auf, daß die hauptsäch- lichste Ursache der Onanie der Knaben29) die Hosen seien Auch das Einwickeln in Windeln reizt nach Faust frühzeitig die Geschlechtsteile. Später entstehe dann durch die Hosen „eine große und feuchte Wärme, die am vorzüglichsten und größten in der Gegend der Geschlechtsteile ist, wo das Hemd sich in Falten zu- sammenschlägt". (S. 46.) „Auch muß der Knabe," fährt der Ver- fasser fort, „wenn er seinen Harn ablassen will, sein kleines männ- liches Glied aus den Hosen zerren; im ersten Anfange und auch noch lange Zeit nachher, kann der kleine Knabe dies nicht selbst bewerkstelligen; Kinder, Mägde und Knechte helfen ihm und zerren und spielen mit seinem Geschlechtsteil: Durch dies Befühlen, Zerren und Spielen, das der Knabe selbst oder andere mit seinen Geburts- teilen treiben, gerät der Knabe (auch das Mädchen, das sehr oft 29) Vgl. Dr. Iwan Bloch: „Das Sexualleben unserer Zeit", S. 476. V. Kapitel. Die Onanie (Ipsation) 169 hilft und dem der unschuldige Knabe aus Dankbarkeit wieder helfen will) in eine vertraute Bekanntschaft mit Teilen, die sonst heilig, unrein und Schamteile waren. Das Kind gewöhnt sich an, mit den Geburtsteilen zu spielen, und die Gelegenheitsonanie ist durch die Hosen hervorgebracht" (S. 45). Als Ab- hilfe schlug Faust eine mehr der weiblichen Kleidung an- gepaßte Kleidung für die Knaben vom neunten bis zum vier- zehnten Lebensjahre vor, in der die Hosen wegfallen. Die Kin- der werden dann „der Natur gemäß, Kinder seyn und spät reifen" — und „der Geschlechtstrieb der Menschen wird in Ord- nung kommen und die Menschen werden besser und glücklicher werden". (S. 217.) So meinte der gute Dr. Bernhard Faust, der nach Art der Steckenpferdreiter zwar sehr übertreibt, in dessen Lehren aber doch der gesunde Kern nicht verkannt werden kann, nämlich, daß sowohl beim männlichen als weiblichen Geschlecht Ober- und Unterkleider, die eine Reibung des Genitalapparates bewirken, den Drang befördern, die Reizung durch Betastungen zu steigern. Jedenfalls ist die von Zeit zu Zeit immer wieder auftretende Herren- mode, die Beinkleider so eng zuzuschneiden, daß sich in ihnen die männlichen Organe prall abheben, auch vom hygienischen Stand- punkt zu verwerfen. So begreiflich es ist, daß sich Fausts Forderung nicht durch- setzen konnte, so wenig verständlich ist, daß ein anderer viel ein- facherer Vorschlag keine Beachtung gefunden hat, der dahingeht, die Hosentaschen so anzulegen, daß sie nicht geradenwegs zu den Geschlechtsteilen führen. Es könnte hier so leicht durch aus- schließliche Anbringung der Taschen über dem Gesäß Abhilfe ge- schaffen werden. Wie richtig das wäre, ersieht man aus der Fest- stellung, die man bei Überprüfung der Hosentaschen in den Schulen machen könnte, daß sehr zahlreiche Schüler sich unten in die Taschen Löcher gebohrt hatten, um sich selbst und gegenseitig leichter an den Geschlechtsteilen spielen zu können. Es geht zwar auch durch die uneröffneten Hosentaschen; aus mehrfachen Berichten ist be- kannt, daß es in manchen Schulklassen geradezu Sitte geworden war, sich während langweiliger Stunden wechselseitig in die Hosen- taschen zu greifen und unten anzufassen, nicht selten usque ad ejaculationem. Diese mutuelle Schulonanie leistet der solitären zu Hause großen Vorschub. Deshalb ist der Rat des Gesundheitslehrers Bock, die Taschen bei Knabenhosen hinten anzu- bringen, wohl begründet, ebenso wie es das Verbot der Korsetts für Schulmädchen ist, und die Empfehlung loser leichter Kleider im allgemeinen. Von alters her besteht die Auffassung, daß zu denjenigen Ein- flüssen, die direkt und indirekt die sexuelle Begehrlichkeit steigern, eine üppige Kost gehört. Sowohl auf die Menge als auf die Art -j^q V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) der Speisen kommt es an, und besonders verhängnisvoll ist ein reich- liches Nachtmahl. Es gibt Nahnmgs- und namentlich Genußmittel, von denen wir wissen, daß sie auf das Nervensystem und damit auf die sexuelle Libido erregend wirken, wie die meisten Gewürze, stark stickstoffhaltige Speisen, Fleischbrühe, Tee und vor allem Kaffee — hinter jeder Tasse Kaffee verbirgt sich die Onanie, be- hauptete einst Dr. H ahnemann — , andere Genußmittel, zu denen in erster Reihe der Alkohol zu rechnen ist, sind wiederum geeignet, die Widerstände gegen sexuelle Antriebe zu unter- drücken Schon in der Bibel wird vor dem Wein als Genossen der Unzucht gewarnt und auch bei den alten Griechen und Römern waren die Götter des Weins und der Liebe, BacchusundVenus, ein unzertrennliches Paar; das ihnen Gemeinsame ist der Rausch und dessen Folgen. Sicherlich ist nach allem, was wir wissen, für Onanisten und diejenigen, die es werden könnten, vor allem also für die Jugend, eine alkoholfreie, frugale, kochsalz- und stickstoffarme Kost mit Be- vorzugung von Obst, Gemüsen, Salaten, Brot, Breien, süßer und saurer Milch die angemessenere Ernährung, ohne daß man allerdings ihre schützende und heilende Kraft überschätzen darf. Ich habe viele Onanisten gesprochen, die sich lange Zeit jedes Fleisch- und Alkoholgenusses enthalten haben, in der Hoffnung, dadurch den Stachel loszuwerden, der sie zur Selbstbefriedigung trieb. Sie versicherten mir, daß dies nur einen sehr vorübergehenden, anscheinend mehr suggestiven Erfolg gehabt hätte. Zu denken gibt auch die Tatsache, daß unter den Tieren gerade die Pflanzenfresser, der Hengst, der Stier, die geschlechtlich regsamsten sind. Trotz dieser und anderer Einwände behält aber doch die richtige Kost in der Onanieprophy- laxe ihren nicht geringen Wert, nur hilft sie nicht allein. Eins muß das andere ergänzen. Bedeutsamer jedenfalls als die Diätetik des Leibes ist für die Ipsation die D i ä t e t i k d e r S e e 1 e. Denn schließlich und endlich ist es doch der Geist des Menschen, de r s e i n e n Körper leitet. Von der Denk- und Willenskraft werden die Schranken errichtet gegenüber Instinkten und Kontrainstinkten, positiven und negativen Empfindungen, Zuneigungen und Abneigungen, Liebe und Haß, denen wir ohne Herrschaft des Oberbewußtseins zügellos preis- gegeben wären. Allerdings erreicht diese Macht nur einen gewissen Grad. „Bis zu einem gewissen Grade steht die Empfindung unter der Gewalt des Willens", sagt Kant mit gutem Grunde. Die Empfin- dung ist in ihrer Richtung, meist auch in ihrer Stärke gegeben, aber der Grad ihrer Beherrschung ist durch ziel- bewußte Willensschulung der Steigerung zugäng- lich. Hier wird von den Eltern viel gefehlt, die oft zu bequem, V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 171 öfter noch zu sehr in Anspruch genommen sind, um ein Kind, namentlich ein schwieriges Kind, in nicht erlahmender Mühe und Milde daran zu gewöhnen, daß es das für gut Erkannte durchführt. Und auch die Schule vernachlässigt zumeist über dem Wissens- schatz den Willensschatz und berücksichtigt nicht aus- reichend, daß nicht für die Schule, sondern für das Leben erzogen werden soll. Die Überwindung der Willensschwäche, die namentlich zwischen dem 10. und 20. Lebensjahre oft den Charakter krankhafter A b u 1 i e annimmt, ist gewiß eine der schwersten, dafür aber auch die wichtigste und dankbarste Aufgabe der J ugenderzieh u n g. Sie darf nicht blinden Kadavergehorsam im Auge haben, im Gegenteil muß dem aufwachsenden Menschen von allem, was er tun soll, Sinn, Zweck und Ziel erklärt werden, er soll einsehen und würdigen, was und warum ihm etwas dient. Dann aber soll unermüdlich darauf ge- halten werden, daß er das als gut und nützlich Befundene ausführt und das als schlecht und schädlich Begriffene unterläßt. Die Ge- wöhnung, die nicht früh genug einsetzen kann — bisher wird meist der richtige Moment verpaßt — ist die beste Stärkung und Förderung der Willenskraft ; sie muß in der planmäßigen Ein- teilung jedes Tages, in Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Gewissen- haftigkeit, Zuverlässigkeit im kleinen wie im großen ihren Aus- druck finden. Mit Recht sagt Feuchtersieben in seiner noch immer lesenswerten „Diätetik der Seele": „Erziehung zur Selbst- beherrschung ist der Inbegriff der ganzen Moral." Die sexuelle Selbstbeherrschung soll sich aller- dings nicht nur auf die eigene Person beschränken, sondern muß auch anderen gegenüber beobachtet werden, indem nicht in ihr Selbstbestimmungsrecht eingegriffen wird. Dies muß ge- wahrt bleiben, wenn Menschen, deren freie Entschlußfähig- keit wir im übrigen voraussetzen, allein oder gemeinsam ohne Schädigung anderer Geschlechtshandlungen begehen. Aus diesem Grunde ist das Spür- und Denunziersystem zu ver- werfen, dem in der Onaniefrage vielfach das Wort geredet wird. Selbst die katholische Beichte hat ihre Bedenken. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung ist behauptet worden, daß „die unsittlichen Fragen der Beichtväter die Mädchen und jungen Burschen oft erst auf die Sünde der Masturbation"30) hinweisen. Für ebenso bedenklich halte ich die wohlmeinenden Thesen, welche der berühmte Breslauer Ophthalmologe Hermann Cohn in seiner Broschüre: „Was kann die Schule gegen die Masturbation der Kinder 30) „Auszüge aus der Moraltheologie des Liguori" von Robert Graßmann. Stettin 1901. S. 20 u. 21. 172 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) tun?" aufgestellt hat, dahingehend, daß „eine beständige Aufsicht durch die Lehrer während des Unterrichts und während der Pausen in hezug darauf, daß die Schüler nicht Auto- und mutuelle Onanie treiben" stattfinden soll und „Straflosigkeit demjenigen Schüler zuge- sichert werden soll, der die mutuelle Onanie zur Anzeige bringt". Zu welchen Ungerechtigkeiten solche Anschauungen führen kön- nen, habe ich kürzlich in einem Fall beobachten können, über den ich ein Gutachten abzugeben hatte. Ein Ujähriger Knabe hatte mit einem etwa gleichaltrigen Onanie getrieben. Diesem war, ein dritter — - 17jähriger — in überschwenglicher Jugendfreund- scbaft zugetan. Er suchte ihn von der Onanie abzubrin- gen. Alles Nähere geht aus der folgenden gutachtlichen Schilderung hervor, die so bezeichnende Einblicke in die Schülererotik gibt, daß ich sie meinen Lesern nicht vorenthalten möchte. Von dem Herrn Kaufmann Paul W. in X. bin ich ersucht worden, in meiner Eigen- schaft als Spezialarzt und Sachverständiger auf sexualwissenschaftlichem Gebiet ein Gut- achten abzugeben über den Zustand seines Sohnes, des 17jährigen Oberprimaners Max W. insonderheit darüber, ob anzunehmen ist, daß dem seinem Sohn zur Last ge- legten Verkehr mit dem um 3 Jahre jüngeren Schüler desselben Gymnasiums, Hans S., ein geschlechtliches Motiv oder sexuelle Absichtenzugrundegelegenhaben. Der sachliche Vorfall, der zu diesem Gutachten Anlaß gegeben hat, ist kurz fol- gender: Max W. war als Unterprimaner Ende Mai 19.. Zugführer der ... Jugend- kompagnie des ... Bezirks von X. geworden, die sich aus Schülern des ... gymnasiums zusammensetzt. In seinen Zug trat Ende August der damalige Obertertianer Hans S. Es interessierte W., der schon damals die Absicht hatte, Offizier zu werden, besonders, daß der Vater des Hans als Hauptmann im Felde stand und das Eiserne Kreuz I. Klasse bekommen hatte. Auch sonst hatte er ihn sehr gern wegen seines munteren, freundlichen Wesens, seiner sportlichen Interessen und seiner Auffassungen und Ansichten, die mit den seinh'en viele Berührungspunkte hatten. Es bildeten sich allmählich stärkere freund- schaftliche Empfindungen für Hans S. heraus, und als beide bei einer zweitägigen Übung der Jugendkompagnien zwischen G. und E. am 8. und 9. Oktober 19.. zufällig beim Übernachten in einer Scheune nebeneinander zu liegen kamen, küßte W. den Hans S., ohne daß es dabei zu sonstigen körperlichen Berüh- rungen oder geschlechtlichen Erregungen kam. W. will diesen Kuß lediglich als Besiegelung seiner innigen Freundschaft und Sympathie aufgefaßt haben. Bald nach dieser Übung forderte Hans S. den W. auf, mit in die Wohnung seiner Eltern zu kommen; er stellte ihn seiner Mutter vor und zeigte ihm viele Photo- graphien und Abbildungen, die sein Vater aus dem Felde geschickt hatte und von denen er annahm, daß sie Max als zukünftigen Offizier — Hans selbst wollte später auch Offizier werden — interessieren würden. Ende Oktober lud Max dann auch den jüngeren Hans zum Kaffee zu sich und zeigte ihm Photographien, ausgestopfte Tiere usw. Auch bei diesen Zusammenkünften küßten sich beide mehrfach, doch versichert Max W. wörtlich: „ich weiß genau, daß ich dabei keine geschlechtliche Erregung spürte, ich war nur glücklich in dem Gedanken, wenn du doch auch einmal einen solchen Sohn haben könntest". Inzwischen war S.s 16jähriger Freund, Ernst M., auf den Verkehr der beiden auf- merksam geworden und suchte Hans S. davon abzubringen. Der 13jährige Bruder von Einst, Ludwig M., welcher auch auf dem . . . gymnasium war, berichtete W. davon und erzählte ihm auch, daß „Ernst M. und Hans S. sich früher öfter in ein Zimmer ein- geschlossen, die Vorhänge zugemacht und sicherlich wohl zusammen onaniert hätten, auch beim Baden in A. hätten sie sich unanständig benommen". V. Kapitel: Die Onanie (Tpsation) 173 W. machte dem Hans S. darüber Vorhaltungen und beachtete ihn dann mehrere Wochen nicht, schrieb ihm auch nicht aus Y., wo er die Weihnachtsferien über mit eeinen Eltern und Geschwistern weilte. Doch schrieb er inzwischen an Ludwig M., er möchte ihm „möglichst alles Schlechte" mitteilen, was Ernst und Hans mit- einander trieben. Seine Absicht war, Hans dies dann vorzuhalten und ihn von dem Verkehr mit Ernst M. abzubringen, weil er glaubte, daß dieser Hans schädlich beeinflußte. Diesen in Geheimschrift geschriebenen Brief nahm Ernst seinem Bruder fort, entzifferte ihn und übergab ihn der Mutter von Hans, Frau S. Am 7. Januar bekam dann Max W. von Ernst M. und Hans S. einen Brief, in dem sie schrieben, Frau S. habe Hans den Verkehr mit ihm verboten. Darauf sprach W. mehrere Wochen nicht mehr mit Hans, bis ihm ein anderer Freund, Arthur F., sagte, dieses angebliche Verbot stimme nicht, was ihm dann auch Hans S. auf Befragen be- stätigte. Nach der Kaisergeburtstagsfeier, bei der W. in einem Theaterstück eine Hauptrolle spielte, sprach dann Hans S. den W. wieder an und es bahnte sich wieder ein näherer Verkehr an. Zu Küssen ist es aber seitdem nicht mehr ge- kommen. W. berichtet dann weiter: „Am 8. März fragte Hans mich morgens in der Schule, ob ich nachmittags für ihn Zeit habe. Ich bin dann nachmittags von 5 bis 3/47 Uhr mit ihm spazieren gegangen. Da bat er mich: .Kannst du mir nicht mal diese ganzen Geschichten da erklären, die zwischen Jungs vorkommen? Wenn die anderen darüber sprechen, dann weiß ich immer nicht Bescheid!' usw. Ich habe mir die Sache überlegt und es schließlich für besser gehalten, wenn er es auf einmal richtig, als nach und nach von seinen Freunden falsch erfährt. Ich habe ihm erzählt, wie mit 13, 14 'Jahren im Menschen sich der Geschlechtstrieb entwickelt, angedeutet, wie man ihn später auf natürlichem Wege befriedigt und ihm gesagt, welche schrecklichen Folgen häufige Selbstbefriedigung haben kann und daß man sich gerade in seinem Alter sehr in acht nehmen muß, und ihm gute Ratschläge in dieser Richtung gegeben. Dann habe ich mir ehrenwörtlich versprechen lassen, daß er sich die größte Mühe geben will, nie so etwas zu tun und daß er mir sofort den nennen soll, der ihn zum Onanieren verführen will. Er war sehr froh, daß er dies endlich erfahren hat, sagte er und hat sich bei mir dafür bedankt." Am 25. März, als die Schüler wegen des Ergebnisses der IV. Kriegsanleihe frei hatten, machte W. von i/2ll bis i/212 Uhr mit S. eine Radtour in den . . . wald. Da Hans von dieser Tour — er war inzwischen noch in G. bei M. gewesen — spät nach Hause kam, machte ihm seine Mutter Vorwürfe. Wie W. am anderen Tage von Ludwig M. erfuhr, verbot bei dieser Gelegenheit Frau S. ihrem Sohne in Anwesenheit von Ernst M. gänzlich den Verkehr mit W. Da sie bei dem Befragen ihres Sohnes auch von den Küssen erfuhr, die W. etwa 3 Monate vorher ihrem Sohne gegeben hatte und wohl den Eindruck gewann, daß W. den H. geschlechtlich verführt hätte, oder verführen könnte, begab sie sich einige Tage später zu dem Ordinarius von Hans, Herrn Oberlehrer Dr. R., und beschwerte sich über den Verkehr zwischen W. und ihrem Sohne. An diesem Tage (28. März) — W. war noch nicht vernommen — traf W. zufällig auch Ernst M., der auf Hans wartete. W. war sehr erregt, weil er glaubte, daß Frau S. auf das Betreiben von Ernst M. ihn in der Schule angezeigt hatte und machte diesem heftige Vorhaltungen, er verdiene eigentlich etwas anderes als Worte, er, W., würde beim Verhör alles sagen, er habe ein reines Gewissen, er würde sagen, was er von dem Verkehr zwischen Ernst M. und Hans S. gehört habe und ähnliches; auch meinte er, sie — nämlich Ernst und Hans — sollten sich nicht wundern, wenn sie eines Tages etwas gedruckt lesen würden, was ihnen bekannt vorkäme. Es schoß ihm dabei der Gedanke durch den Kopf, daß er einmal eine Übung in der Jugendkompagnie schildern wolle, in der er dann auch auf die Geschichte, die sich zwischen Hans, Ernst und ihm abspielte, Bezug nehmen wollte. An eine Drohung gegen Frau S. — wie Ernst M., der dies sofort Frau S. mitteilte, an- nahm — dachte W. dabei in keiner Weise. Auch bestreitet er entschieden, zu einem anderen Mitschüler, namens Otto B., mit dem er sich nicht gut stand, gesagt zu haben: „auf einer Ostertour würde er es mit Hans bis zum äußersten kommen lassen". Yi^_ V. Kapitel : Die Onanie (Ipsation) Am 29. und 30. März wurde Max W. und ebenso Hans S, F. und B. von Herrn Dr. P, vernommen, der dann am 31. März dem Vater von ^ ^ * \VkTu f ^ e n z selbst von der Schule zu nehmen, weil er sonst dur«\ K™1""* beschluß jedenfalls von der Schule verwiesen werden wurde. Der Vater meldete ihn am gleichen Tage von der Schule ah In da, | A^«eugm- wurde vermerkt: „Er verläßt die Anstalt wegen krankhaften Nerven zl a JT Ts " Bei „Betragen" wurde in der Zensur vermerkt: „gut, bis auf die letzte Zeit" In e n m zwei Wochen vorher ausgestellten Führungszeugnis zum Zwecke der An- n nme als Fahnenjunker stand dagegen: „Betragen sehr gntf«. W, der ohne ^^eses Vor- kommnis in zwei Monaten die Notreifeprüfung abgelegt haben wurde, um die 0 Hiziers- lauTbahn zu erwählen, nahm sich die ganze Angelegenheit sehr zu Herzen; er fühlte sich tiefste in seiner Ehre gekränkt, unrichtig heurteilt, in seinen Absichten verkannt rnd truo sich daher ernstlich mit dem Gedanken, seinem Leben dTrch Erschießen ein Ende zu bereiten. Er hatte sich zu diesem Zweck bereits einen Revolver k o m m e n 1 a s s e n. Nur die Rucksicht auf seL besorgte Mu t«, das Bewußtsein eines guten Gewissens und der Wunsch dem vXlande "im Kriege zu dienen, hielten ihn, wie er angibt, von diesem äußersten SClUiHerrb W sen. unterbreitete mir auf Rat seines Hausarztes, Dr. K den Sachverhalt und nahm ich darauf seinen Sohn in Beobachtung und Behandlung, da die Vermu- Tung bestand, es könnte sich bei seinem _S ohne um eine hom - sexuelle G e s c h 1 e c h t s n e i g u n g oder eine mit der Pubertät in Zu- sammenhang stehende E n t w i c k 1 u n g s s t ö r u n g handeln. Auf Grund eingehender methodischer Exploration und sorgfältigster Untersuchung des Schülers Max W. bin ich dann zu folgenden Ergebnissen gekommen: Eine erbliche Belastung ist bei W. nicht nachweisbar. Eltern und zwei jüngere Geschwister sind gesund. Er selbst ist mittelgroß, Gewicht 66 kg Muskeln sind ziem- lich kräftig entwickelt. Er neigt zu körperlicher Tätigkeit treibt ziemlich viel Sport, Leichtathletik, Jagen, Schießen, Schwimmen, Rudern, Fußball Seine Schritte > sind tat Die Hüften sind schmaler als die Schultern. Auch sonst bestehen weder in der Stimm- bildung, noch in der Brustbeschaffenheit, noch sonst feminine Einschlage. In inteüek- tueUer Hinsicht ist er seinem Alter entsprechend vorgeschritten. Er macht einen ernsten gesetzten, wenn auch in mancher Hinsicht noch unreifen Eindruck Seine Energie ist gut entwickelt, seine Bekannten behaupten, er sei ehrgeizig und herrschsuchtig sein Vater findet ihn etwas verschlossen, er selbst bezeichnet sich als stolz. Ich fand ihn an- fangs recht zurückhaltend, dann aber, nachdem er zum Arzte Vertrauen gefaßt hatte, aufrichtig, bescheiden und aufmerksam; er ist pünktlich, zuverlässig ordnungsliebend etwas eigenwillig. Gedächtnis ist gut, seine Lieblingsfächer in der Schule smc 1 Physik und Deutsch. In seiner Kleidung zeigt er sich in keiner Weise auffallend. Die häusliche Erziehung war ziemlich streng. Was nun sein sexuelles Leben betrifft, so ist zu bemerken, daß vor 2*/, Jahren die Geschlechtsreife bei ihm eintrat. In seinem 14. und 15. Lebensjahre hat er, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, etwas onaniert, anfangs alle 6 bis 4 Wochen, dann seltener. Er wurde dazu durch gleichaltrige Schüler und em etwas älteres Mädchen verführt. Nachdem er damit aufgehört hatte, traten in den letzten Jahren dann und wann Pollutionen auf. Er träumte dabei von bekannten Mädchen. Ein Geschlechts- verkehr mit dem Weibe hat bisher noch nicht stattgefunden; dagegen fühlt er sich in seiner seelischen Geschlechtsneigung ausschließlich zu weiblichen Personen hingezogen, jungen Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen". Im Jahre 19.. — er war damals 14 Jahre alt — wurde er zum ersten Male von Kameraden ge- küßt Kurz darauf lernte er einen 17jährigen Jungen, namens Albert 0., auf dem Sportplatz kennen, der ihm Geld und Schokolade schenkte und ihn dann und wann innig küßte. Geschlechtlich berührt haben sich beide aber niemals. Da W. die Freund- schaft dieses 0. nicht erwidern konnte, war dieser sehr traurig und als bald darauf der V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 175 Krieg ausbrach, trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer und fiel in d e n e r s t e n K ä m p f e n. Auf W. machte dies einen tiefen Eindruck. Fassen wir das bisherige Sexualleben W.s zusammen, so ist zu sagen, daß er lediglich im BegiDn der Pubertät zeitweise Selbstbefriedigung ^e- tneben hat, seitdem nur Pollutionen gehabt und sich jeder Geschlechts - betätigung enthalten hat. Sollte Hans S. in der Zeit, in der er mit W. ver- kehrte, wie behauptet wird, für sich onaniert haben, so kann W. dafür nicht verantwort- lich gemacht werden, zumal sich S. in dem Alter befand, in dem nach sexualwissen- schaftüchen Ermittlungen ein sehr hoher Prozentsatz (über 90%) dieser Jugendverirrun* erliegen. 6 Ich gebe demnach mein Sachverständigengutachten wie folgt ab: I. Der Vermerk auf W.s Abgangszeugnis, es liege bei ihm ein krankhafter Nervenzustand vor, entspricht nicht den ärztlicherseits festgestellten Tatsachen. II. Max W. ist ein gesunder, seinem Alter entsprechend körperlich und geistig gut entwickelter Jüngling. III. Insbesondere fehlen bei ihm alle Anzeichen einer homosexu- ellen Veranlagung. Das Sexualleben des 17jährigen W. zeigt keine Regelwidrigkeiten. Er hat zwar mit 14 und 15 Jahren zeitweise onaniert, seitdem aber nur normale Traum- pollutionen gehabt und niemals weder mit Personen des anderen noch des gleichen Ge- schlechts einen sexuellen Umgang gepflogen. IV. Sein Verkehr mit Hans S. trägt den Charakter einer überschwenglichen, aber reinen und idealen J u g e n d f r e u n d s c h a f t. Er ist bemüht gewesen, auf den Knaben gunstig einzuwirken, hat ihn niemals geschlechtlich berührt, im Gegenteil ihn vor der Onanie eindringlich gewarnt und ihn Einflüssen zu entziehen gesucht, die er, ob mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt, für schädlich hielt Dabei hat er einen etwas naiven jugendlichen Übereifer an den Tag gelegt, wie dies beispiels- weise der Brief an Ludwig M. zeigt, keinesfalls aber sich von unlauteren Be- weggründen leiten lassen. V. Die Verkennung der Beweggründe W.s, seine infolgedessen veranlaßte Entfernung von der Schule wenige Wochen vor seiner Kriegsreifeprüfung und dem beabsichtigten Eintritt ins Heer, der Vermerk auf seinem Zeugnis, er sei wegen eines „krankhaften Nervenzustandes entlassen, sind geeignet, W. nicht nur äußerlich, son- dern auch innerlich schwer zu schädigen. Der unverdiente Ruf homosexueller Empfindungen und Verfehlungen haftet erfahrungsgemäß einem Menschen lange an, verletzt ihn seelisch tief und setzt ihn in den Augen anderer herab. Es ist daher wohl verständlich, daß nur wenig fehlte und es wäre durch das von unrich- tigen Voraussetzungen ausgehende Vorgehen gegen W. die Zahl der Schülerselbstmorde vermehrt worden. Ein Vorwurf gegen den Verhandlungsleiter oder die Schule, die sicherlich das Beste wollten, soll damit nicht erhoben werden. Doch machen meine Sachkenntnis und meine Erfahrung als Spezialarzt es mir zur Pflicht, im Interesse des seelischen Zustandes des meiner Begutachtung und Behand ung unterstellten Max W. den dringenden Wunsch auszusprechen, daß die in der Beurteilung W.s vorgekommenen Irrtümer und Fehler nach Möglichkeit berichtigt werden. 6 rr • Z?- Irff^eine Gefahr> daß W. auf seine Mitschüler in sexueller oder moralischer Hinsicht nachteilig einwirken könnte, liegt nach seiner ganzen psychischen Individualität in keiner Weise vor. Die Wirkung, die dieses G utachten erzielte, war die beabsichtigte Das Abgangszeugnis wurde entsprechend geändert. Außer von körperlichen spricht man auch von geistigen Abführmitteln sexueller Spannkräfte, den sexuellen Äquivalenten im Sinne Blochs, den Sublimierungen Freuds Bewegen wir uns hier auch noch sehr im Theoretischen und Speku- 174. V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) Am 29. und 30. März wurde Max W. und ebenso Hans S., F. und B. von Herrn Dr. R. vernommen, der dann am 31. März dem Vater von W. riet, seinen Sohn selbst von der Schule zu nehmen, weil er sonst durch Konferenz- beschluß jedenfalls von der Schule verwiesen werden wurde. Der Vater meldete ihn am gleichen Tage von der Schule ab. In das Abgangszeugnis wurde vermerkt: „Er verläßt die Anstalt wegen krankhaften Nerven zustandes." Bei „Betragen" wurde in der Zensur vermerkt: „gut, bis au die letzte Zeit" In einem zwei Wochen vorher ausgestellten Führungszeugnis zum Zwecke der An- nahme als Fahnenjunker stand dagegen: „Betragen sehr gut". W., der ohne dieses Vor- kommnis in zwei Monaten die Notreifeprüfung abgelegt haben würde, um die Offiziers- laufbahn zu erwählen, nahm sich die ganze Angelegenheit sehr zu Herzen; er fühlte sich aufs tiefste in seiner Ehre gekränkt, unrichtig beurteilt, in seinen Absichten verkannt und trug sich daher ernstlich mit dem Gedanken, seinem Leben durch Erschießen ein Ende zu bereiten. Er hatte sich zu diesem Zweck bereits einen Revolver kommen lassen. Nur die Rucksicht auf seine besorgte Mutter, das Bewußtsein eines guten Gewissens und der Wunsch, dem Vaterlande im Kriege zu dienen, hielten ihn, wie er angibt, von diesem äußersten SChlltHerr W sen unterbreitete mir auf Rat seines Hausarztes, Dr. K., den Sachverhalt und nahm ich darauf seinen Sohn in Beobachtung und Behandlung, da die Vermu- tung bestand, es könnte sich bei seinem Sohne um eine homo- sexuelle Geschlechtsneigung oder eine mit der Pubertät in Zu- sammenhang stehende E n t w i c k 1 u n g s s t ö r u n g handeln. Auf Grund eingehender methodischer Exploration und sorgfältigster Untersuchung des Schülers Max W. bin ich dann zu folgenden Ergebnissen gekommen: Eine erbliche Belastung ist bei W. nicht nachweisbar. Eltern und zwei jüngere Geschwister sind gesund. Er selbst ist mittelgroß, Gewicht 66 kg. Muskeln sind ziem- lich kräftig entwickelt. Er neigt zu körperlicher Tätigkeit, treibt ziemlich viel Sport, Leichtathletik, Jagen, Schießen, Schwimmen, Rudern, Fußball. Seine Schritte sind fest. Die Hüften sind schmaler als die Schultern. Auch sonst bestehen weder in der Stimm- bildung, noch in der Brustbeschaffenheit, noch sonst feminine Einschläge. In intellek- tueller Hinsicht ist er seinem Alter entsprechend vorgeschritten. Er macht einen ernsten, gesetzten, wenn auch in mancher Hinsicht noch unreifen Eindruck. Seine Energie ist gut entwickelt, seine Bekannten behaupten, er sei ehrgeizig und herrschsüchtig, sein Vater findet ihn etwas verschlossen, er selbst bezeichnet sich als stolz. Ich fand ihn an- fangs recht zurückhaltend, dann aber, nachdem er zum Arzte Vertrauen gefaßt hatte, aufrichtig, bescheiden und aufmerksam; er ist pünktlich, zuverlässig, ordnungsliebend, etwas eigenwillig. Gedächtnis ist gut, seine Lieblingsfächer in der Schule sind Physik und Deutsch. In seiner Kleidung zeigt er sich in keiner Weise auffallend. Die häusliche Erziehung war ziemlich streng. Was nun sein sexuelles Leben betrifft, so ist zu bemerken, daß vor 2*/2 Jahren die Geschlechtsreife bei ihm eintrat. In seinem 14. und 15. Lebensjahre hat er, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, etwas onaniert, anfangs alle 3 bis 4 Wochen, dann seltener. Er wurde dazu durch gleichaltrige Schüler und ein etwas älteres Mädchen verführt. Nachdem er damit aufgehört hatte, traten in den letzten Jahren dann und wann Pollutionen auf. Er träumte dabei von bekannten Mädchen. Ein Geschlechts- verkehr mit dem Weibe hat bisher noch nicht stattgefunden; dagegen fühlt er sich in seiner seelischen Geschlechtsneigung ausschließlich zu weiblichen Personen hingezogen, „jungen Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen". Im Jahre 19.. — er war damals 14 Jahre alt — wurde er zum ersten Male von Kameraden ge- küßt. Kurz darauf lernte er einen 17jährigen Jungen, namens Albert 0., auf dem Sportplatz kennen, der ihm Geld und Schokolade schenkte und ihn dann und wann innig küßte. Geschlechtlich berührt haben sich beide aber niemals. Da W. die Freund- schaft dieses 0. nicht erwidern konnte, war dieser sehr traurig und als bald darauf der V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) 175 Krieg ausbrach, trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer und fiel in den ersten Kämpfen. Auf W. machte dies einen tiefen Eindruck. Fassen wir das bisherige Sexualleben W.s zusammen, so ist zu sagen, daß er lediglich im Beginn der Pubertät zeitweise Selbstbefriedigung ge- trieben hat, seitdem nur Pollutionen gehabt und sich jeder Geschlechts- betätigung enthalten hat. Sollte Hans S. in der Zeit, in der er mit W. ver- kehrte, wie behauptet wird, für sich onaniert haben, so kann W. dafür nicht verantwort- lich gemacht werden, zumal sich S. in dem Alter befand, in dem nach sexualwissen- schaftlichen Ermittlungen ein sehr hoher Prozentsatz (über 90%) dieser Jugendverirrung erliegen. Ich gebe demnach mein Sachverständigengutachten wie folgt ab: I. Der Vermerk auf W.s Abgangszeugnis, es liege bei ihm ein krankhafter Nervenzustand vor, entspricht nicht den ärztlicherseits festgestellten Tatsachen. II. Max W. ist ein gesunder, seinem Alter entsprechend körperlich und geistig gut entwickelter Jüngling. III. Insbesondere fehlen bei ihm alle Anzeichen einer homosexu- ellen Veranlagung. Das Sexualleben des 17jährigen W. zeigt keine Regelwidrigkeiten. Er hat zwar mit 14 und 15 Jahren zeitweise onaniert, seitdem aber nur normale Traum- pollutionen gehabt und niemals weder mit Personen des anderen noch des gleichen Ge- schlechts einen sexuellen Umgang gepflogen. IV. Sein Verkehr mit Hans S. trägt den Charakter einer überschwenglichen, aber reinen und idealen Jugendfreundschaft. Er ist bemüht gewesen, auf den Knaben günstig einzuwirken, hat ihn niemals geschlechtlich berührt, im Gegenteil ihnvorderOnanieeindringlichgewarntundihn Einflüssen zu entziehen gesucht, die er, ob mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt, für schädlich hielt. Dabei hat er einen etwas naiven jugendlichen Übereifer an den Tag gelegt, wie dies beispiels- weise der Brief an Ludwig M. zeigt, keinesfalls aber sich von unlauteren Be- weggründen leiten lassen. V. Die Verkennung der Beweggründe W.s, seine infolgedessen veranlaßte Entfernung von der Schule wenige Wochen vor seiner Kriegsreifeprüfung und dem beabsichtigten Eintritt ins Heer, der Vermerk auf seinem Zeugnis, er sei wegen eines „krankhaften Nervenzustandes" entlassen, sind geeignet, W. nicht nur äußerlich, son- dern auch innerlich schwer zu schädigen. Der unverdiente Ruf homosexueller Empfindungen und Verfehlungen haftet erfahrungsgemäß einem Menschen lange an, verletzt ihn seelisch tief und setzt ihn in den Augen anderer herab. Es ist daher wohl verständlich, daß nur wenig fehlte und es wäre durch das von unrich- tigen Voraussetzungen ausgehende Vorgehen gegen W. die Zahl der Schülerselbstmorde vermehrt worden. Ein Vorwurf gegen den Verhandlungsleiter oder die Schule, die sicherlich das Beste wollten, soll damit nicht erhoben werden. Doch machen meine Sachkenntnis und meine Erfahrung als Spezialarzt es mir zur Pflicht, im Interesse des seelischen Zustandes des meiner Begutachtung und Behandlung unterstellten Max W. den dringenden Wunsch auszusprechen, daß die in der Beurteilung W.s vorgekommenen Irrtümer und Fehler nach Möglichkeit berichtigt werden. VI. Irgendeine Gefahr, daß W. auf seine Mitschüler in sexueller oder moralischer Hinsicht nachteilig einwirken könnte, liegt nach seiner ganzen psychischen Individualität in keiner Weise vor. Die Wirkung, die dieses G utachten erzielte, war die beabsichtigte. Das Abgangszeugnis wurde entsprechend geändert. Außer von körperlich en spricht man auch von geistigen Abführmitteln sexueller Spannkräfte, den sexuellen Äquivalenten im Sinne Blochs, den Sublimierungen Freuds Bewegen wir uns hier auch noch sehr im Theoretischen und Speku- 176 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) lativen, so ist doch nicht zu leugnen, daß aus der seelischen Hingahe an die Schönheiten der Natur und Kunst, namentlich auch aus der tätigen Beschäftigung mit ihnen dem Nervensystem eine Menge Lustgefühle zuströmen können. Vermögen diese auch nicht die erotische Lust zu ersetzen, so sind sie doch geeignet, die Sinne zu erfreuen, den Geist mit Behagen zu erfüllen und die Wartezeit bis zum Liebeslustgewinn zu erleichtern. In ähnlicher Weise wirken gute Bücher, während schlechte namentlich unwissen- schaftliche und unkünstlerische der Seele einen erheblichen Schaden zufügen können. Zu den Hauptquellen der Onanie gehören Müßig- gang, Eins amkeitundLangew eile. Es ist eine Erfahrung, die man bei der Onanieverhütung nicht außer acht lassen soll, daß schon in den Schulstunden mit Vorliebe dann onaniert wird, wenn „langweilige Themen von langweiligen Lehrern" behandelt werden. Wenn aber auch jemand alle empfohlenen Regeln befolgt, wird während der Frist, die durchschnittlich von der Reife bis zur Ehe reicht, doch immer wieder die Frage nach der sexuellen Diä- tetik auftauchen. Vor einiger Zeit suchte mich einmal ein älterer Professor der Medizin mit seinem Neffen und Mündel auf, einem 19jährigen Soldaten von blühendem Aussehen. „Ich komme," sagte er, „um mich mit Ihnen zu beraten, wie das Geschlechtsleben meines Schutzbefohlenen am besten reguliert werden kann; ich habe mit ihm fünf Möglichkeiten erwogen: Die Ehe, die Enthal- tung, die Selbstbefriedigung, die Prostitution und den Präventivverkehr. Zur Ehe ist er zu jung. Bis zur Erledigung seiner Militär- und Studienzeit sind noch fünf Jahre erforderlich. Frühestens mit 25 Jahren wird er so- weit sein, sich vermählen zu können. Die Abstinenz behauptet er nicht durchführen zu können. Einige Wochen ginge es wohl, aber nicht Monate und Jahre. Er fühle, wie durch den gänzlichen Verzicht auf sexuelle Entspannung seine Lebensfreude verkümmere, seine Arbeitskraft erlahme. In die Onanie zurückzufallen, die er seit Jahresfrist glücklich überwunden habe, würde ihm höchst ent- würdigend erscheinen. Das käufliche Dirnentum sei ihm zu- wider, auch fürchte er die Ansteckung. Bleibe das Verhältnis mit einem gesunden Mädchen aus dem Volke. Es widerstrebe ihm, sich der Präventivmittel zu bedienen, nicht minder aber einem Mädchen und Kinde den Makel der Unehelichkeit aufzudrücken. Hier tut sich uns das ganze geschlechtliche Dilemma unserer Zeit auf : Abstinenz unerträglich, Prostitution und Onanie unbefriedigend und unhygienisch, die Ehe aus äußeren, das Verhältnis aus inneren Gründen unmöglich. Auch die gutgemeinte Forderung des edlen August Forel : durch den Gebrauch antikonzeptioneller Mittel die Zeugung von dur Befriedigung des Geschlechtstriebes zu trennen, hat ebenso viel gegen 177 wie für sieh. Und Steinbachers Ausspruch: „Es ist besser, die gesunde Frucht einer leidenschaftlichen Liebe in die Welt zu geben, als durch Sünden gegen sich, gegen die eigene Natur und Gesund- heit im Siechtum und Elend seine Jugend jähr e zu dem wider- lichsten Greisenalter zu stempeln", zeugt mehr von idealer Ge- sinnung, als praktisch-realem Sinn. Eine wirklich zufriedenstellende Sexuallösung dem erwähnten Professor und seinem Neffen vorzuschlagen, war auch ich nicht in der Lage. Wie stets in solchen Fällen ging ich die Vorteile und Nachteile aller Möglichkeiten durch. Die schließ- liehe Entscheidung aber und Verantwortung muß dem Menschen selbst überlassen bleiben, er allein ist es, der sich zwischen Scylla und Charybdis geschickt hindurchfinden und -winden muß. Wir können nichts anderes tun, als im allgemeinen einer Sexual- reform vorzuarbeiten, die endlich auf sexuellem Gebiet Biologie und Soziologie in Einklang bringt. Bis dahin muß Mann und Weib, jeder einzeln für sich die sexuelle Frage ohne Rechts- verletzungen dritter lösen. Nur wissend sollen sie sein. Noch eines sei kurz hervorgehoben. Man kann häufig von Ona- nisten boren, daß es schließlich eineideelleLiebe war, die sie von ihrer Schwäche geheilt hat. Über dien fünfzehnjährigen Goethe schreibt KarlHeinemann: „Daß Wolfgang dem prickelnden Beiz der Sunde widerstand, dafür sorgte ein unschuldiges Mädchen Eine neue Welt war dem Knaben erschlossen ... Das Sinnliche trat völlig zurück; er verlangte nur, sie zu sehen, ein Gruß, ein Neigen ihres Hauptes genügte ihm." Verglichen mit der psychischen und hygienischen Behandlung sind alle sonst gegen die Onanie empfohlenen Heilmethoden nur von untergeordnetem Wert. Es gibt kein spezifisches Medikament gegen die Onanie, auch keine Arznei, welche die von Onanisten an- gestrebte Eauschwirkung ersetzt, am ehesten noch solche, welche die nervöse Unruhe mildern, die Lust, die dem Akte vorausgeht herabzustimmen geeignet sind. Diese Mittel pflegen gewöhnlich auch das Lustgefühl, das im Orgasmus empfunden wird, sehr herabzu- setzen. Besonders von Morphinisten kann man hören, wie sehr bei ihnen die Libido zum und im Verkehr leidet. Von sedativen Mitteln eignen sich für Onanisten namentlich die zahlreichen Brom- und Baldrianpräparate. Mir bewährte sich in der Praxis am besten täglich zweimal ein Sedrobolwürfel von Roche in heißem Wasser dazu abends eine Tasse Speeles nervinae. Man hüte sieh vor Medi- kamenten, deren Nebenwirkungen für Körper und Geist schädlicher sein konnten als das Übel, dem man steuern will. Dazu gehören Morphium, Arsen, Kodein, Trional und die meisten anderen gegen Masturbation empfohlenen Arzneien. Dagegen können neben den beruhigenden Sedantien sehr wohl auch Eoborantien in An- Hirschfeld , Sexualpathologie. I. 1 _ 178 V. Kapitel: Die Onanie (lpsation) wendung gebracht werden, doch verdienen auch hier die diätetisch physikalischen Mittel hei weitem den Vorzug vor den medikamen- tösen. Von den Homöopathen werden nicht weniger als 61 ver- schiedene Arzneimittel gegen die Folgen der Onanie au gefuhrt Schon diese große Anzahl beweist, daß eine wirkliehenilte von keinem zu erwarten ist. , Noch weniger wie von der medikamentösen kann man sich etwas von der i n s t r u m e n t e 1 1 e n Therapie der Onanie versprechen. Alle diese Mittel, auf deren Erfindung man großen Scharfsinn verwandt hat, laufen darauf hinaus, die Berührung der Gesch echtsteile zu verhindern. Da hat man kleine Panzerplatten, Schutzschilde und Drahtnetze in den Handel gebracht, die vor die Geschlechtsteile geschnallt werden, „Pollutionsverhinderungsgürtel" und „Onanievor- beugungsbandagen" empfohlen, ja sogar Zwangsjacken für Ona- nisten wurden verfertigt und kleine verschließbare Käfige, deren Schlüssel die Väter an sich nehmen sollten, um sie nur zu ottnen, wenn die Kinder urinieren müssen. Alle diese Apparate er- füllen nur selten ihren Zweck und wirken auf das Nerven- und Seelenleben nichts weniger als vor- teilhaft Auch das Anbinden und Anschnallen der Anne und Beine an die Bettkanten, das Überziehen dicker Fausthandschuhe ist bei Onanisten oft in Anwendung gezogen, jedoch meist ohne Erfolg. Dagegen ist es eine zwar unscheinbare, aber gute Hilfe, wenn sich Mütter liebevoll abends an das Bett jugendlicher Onanisten setzen und still warten, bis sie einschlafen. Kann man sich auch von dieser Überwachung keinen durchschlagenden Erfolg versprechen, so ver- fehlen doch die Aufmerksamkeit und Ausdauer, welche die Mutter diesem Gegenstande der Erziehung widmen, selten ihren tiefen sug- gestiven Eindruck auf das empfängliche Gemüt der Jugendlichen. Sogar auf operativem Wege hat man der Ipsation beizu- kommen versucht. Eine sehr alte schon von Celsus beschriebene und noch von Fournier warm empfohlene Methode ist die In- fibulation. Nach Kohleder31) gibt Fournier folgende Be- schreibung dieser Operation: „Nach möglichst weiter Vorziehung des Präputiums wird dasselbe von innen nach außen beiderseits mit einer Nadel derartig durchstochen, daß die beiden Stichöffnungen ein- ander gegenüberstehen. Die Fäden werden solange liegen gelassen, bis die Ränder der Öffnungen vernarbt sind und einen gewissen Grad von Härte und Schwielenbildung erreicht haben. Dann wird der Faden herausgenommen und durch Silberdraht (oder einen anderen biegsamen Metallfaden) ersetzt." Es soll durch diese Sper- rung die Erektion verhindert werden, von der wir aber wissen, daß sie weder zur Lusterzeugung noch Samenentleerung unbedingt nötig st) H. Ro nieder: Die Masturbation S. 319. 179 ist. Verschiedene ältere Autoren berichten von guten Erfolgen dieser Operation. Noch weniger wie die Infibulation steht die für das weibliche Geschlecht angeratene Exstirpation der Klitoris die Klitoridektomie, im Verhältnis zu dem Leiden, dessen Be- seitigung bewirkt werden soll. Es geht viel zu weit, wenn sich der Gynäkologe Braun für sie einsetzt, indem er schreibt: „In dem Falle tief eingewurzelter Onanie bei jungen Mädchen und Frauen und besonders bei Witwen, wenn die Folgen allzu häufiger Wiederholung der Masturbation nicht allein in physischen Symptomen, sondern selbst in geistigen Störungen sich bemerkbar machen und die gewöhnlichen Hilfsmittel der Therapie ohne Erfolg gebheben sind, zögere ich nicht, die Ampu- tation der Klitoris und der kleinen Schamlippen vorzuschlagen." Eohleder empfiehlt statt der Ampu- tation Atzungen der Klitoris, und Für bringer berichtet von einer Onanistin, der er durch wiederholte Anätzungen der Vulva eine erhebliche Besserung verschaffte, während er „einen jungen Burschen, bei dem keine Belehrung und Strafe half, durch Abköpfen des vorderen Teiles seiner Vorhaut mit schartiger Schere dauernd geheilt haben will". L allem and führte Sonden in die Harnröhre der Onanisten ein, um schmerzhafte Entzündungen der Harnröhren- schleimhaut hervorzurufen. Im Sinne der Fließsehen Lehre vom Zusammenhang zwischen Geruchs- und Geschlechtsorgan hat man auch Atzungen der Genitalpunkte in der Nase vorgenom- men, um die Onanie und deren Folgen zu beseitigen. Endlich ist man sogar im Kampf gegen die Onanie bei beiden Geschlechtern bis zu der K a s t r a t i o n geschritten. Es wurde bereits oben ,n dem Kapitel „Geschlechtsdrüsenausfall" klargelegt, daß eine Unterdrückung des Geschlechtstriebes keineswegs durch die Ent- fernung der Keimstöcke und ebensowenig durch die Vasektomie m i t WM ^Ti216" W6rden kann- Richtiff ist' daß in einer größeren tf ..? ?allen eine starke Abschwächung der Libido eintritt, auch durfte die suggestive Bedeutung des Eingriffs nicht zu unter- schätzen sein. Mir sind nur drei Fälle begegnet, in denen sich Patien- ten wegen exzessiver Onanie kastrieren ließen. Der Ein- griff war nicht vom Arzte geraten, sondern von dem Onanisten erbeten oder kJZ° t 6r die Alteraative bellte, Selbstmord oder Kastration So suchte mich vor einigen Jahren ein Kollege mit einem 24jährigen Manne auf, einem Studenten der Jurisprudenz tiri-fZdTaTah ^ S[Ch in ti6fster Seelischer I^ion be-' tausend onanierte er täglich 5-6mal, „über achtzehn- tausendmal sei es nun schon vorgekommen," sagte er, „was möglich wäre habe er versucht; wenn ihn nicht der Arzt kas riere" wolle wurde er es selber tun." Die Operation wurde schließlich vorl.' nommen. Als ich zum letzten Male von dem Patienten hörte 1 12" 180 V. Kapitel: Die Onanie (Ipsation) drei Jahre nach der Kastration — , erfuhr ich, daß die mit der Hoden- entfernung erloschene Onanie nicht wiedergekehrt sei; er habe sich körperlich nnd geistig gut erholt ; nur in seiner Stimmungslage sei er meist sehr verdüstert. Trotz leidlicher Erfolge würde ich die Kastration aber nur in den allerseltensten Ausnahmefällen für indi- ziert erachten. Selbst die schwersten Folgen der Onanie sin d nicht schwer genug, um einen Eingriff zu recht- fertigen, der einen Menschen für Lebenszeit zur Geschlechtslosigkeit verurteilt. VI. KAPITEL Automonosexualismus Inhaltsangabe: Unterschied zwischen Ipsation und Automono- sex u a 1 i s m u s — Der biblische 0 n a n und der griechische Narzissus — Das Ge- biet des Autoerotismus — Blochs sexuelle Äquivalente — Beobachtung eines Automonosexuellen vor dem Spiegel — S p i e g e 1 a k t e von Frauen — Das Spiegelzimmer des HostiusQuadra — Die photographische Platte an Stelle des Spiegels — Liebe zum eigenen nackten Körper — Fall von sexueller Entspannung durch Muskelspiel — Erregung durch eigene körperliche Ausschmückung — Beziehungen zwischen Automonosexualismus, Eitelkeit und Koketterie — Unter- schied zwischen Fetischismus und Automonosexualismus — Partieller Autismus — Fälle von Geschlechtserregung durch Aufsetzen von Perücken, Schminken, Nasen- plastik — Monosexuelle Tanzevolutionen — Tanzende Derwische und Auto- flagellanten — Automasochismus — Beobachtung sexueller Erregung durch Anlegen von Gürteln und Korsetts (sexuelle Schnürsucht) — Beobachtung eines Falles von Geschlechtserregung durch Anziehen eines Spitzenunterrocks — Zis- vesti tische und transvestitische Gestaltsveränderung — Schilderung eines auto- monosexuellen Transvestiten — Soziales Verhalten automono- s ex u eil er Personen — Ist der Narzißmus eine normalsexuelle Durchgangs- stufe? — Mangelnde Reaktion auf Außenreize — Ursachen dieses Defekts — Die Identifizierung der gleichen Person als Reizquelle und Lustquelle, als Subjekt und Objekt, als aktiver und passiver Teil — Spaltung der Persönlichkeit — Be- ziehungen des Automonosexualismus zu anderen Sexualstörungen — Schaulust und Automonosexualismus — Die n e g a t i v e Bedeutung des Automonosexualismus. Die Ipsation stellt nicht die einzige sexuelle Entspannung dar, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Geschlechtsbefriedigung ohnelnanspruchnahmeeinerzweitenPerson gewonnen wird. Sie wird jedoch nur am, nicht durch den eigenen Körper hervorgerufen. Das unterscheidet sie von der Entwicklungsstörung, mit der wir uns im folgenden zu befassen haben. Während sich die Ipsation nämlich, wie wir sahen, teils gänzlich ohne Vorstellungen vollzieht, teils m i t Gedanken an das a d ä q u a t e , sei es normale oder abnormale Ziel, welches die unerreichte Sehnsucht des Onanisten bildet, ist bei dem Autoerotismus die eigene Person nicht nur das leibliche, sondern auch das seelische Objekt der Geschlechtshandlung. Der Autist wird mit anderen Worten durch seine eigene Erscheinung, den Anblick, das Abbild seinerGestalt sexuell erregt. Trachtet demnach der Ipsant beim Akt im allge- 182 VI. Kapitel: Automonosexualismus meinen keineswegs danach, seiner Schamteile oder seines übrigen Leibes ansichtig zu werden, so ist beim Autisten das Gegenteil der Fall. Für ihn ist es die eigene nackte oder bekleidete Persön- lichkeit, die ihn mehr als irgendeine andere anzieht und fesselt. Wie man Onan aus dem Alten Testament zum Taufpaten der Onanie in Anspruch genommen hat, so hat man aus der grie- chischen Mythologie den Narzissus herangezogen, um dieser . Anomalie den Namen zu geben. Weil einst Narzissus, am Gestade ruhend, sich in die Schönheit seiner Züge und Gestalt verliebte, die ihm aus der spiegelnden Wasseroberfläche entgegenstrahlte, hat Näcke die sexuellen Empfindungen, welche bei manchen Menschen durch das Sehen der eigenen Erscheinung ausgelöst werden, nicht unpassend Narzissismus oder zusammengezogen Narzißmus genannt (zuerst in den „Psychiatrischen en neuro- logischen Bladen" 1899). E o h 1 e d e r hat dann, um das D o p p e 1 1 e über die Onanie Hinausgehende der Erscheinung sachlich zum Ausdruck zu bringen, daß der Geschlechtstrieb nicht nur an sich selbst befriedigt wird, sondern auch auf sich selbst gerichtet ist, die Bezeichnung Automonosexualismus ge- wählt, ein wenn auch nicht sprachlich glücklicher, doch dem Inhalt nach treffender Name. Er nimmt bei der erstmaligen Schilderung dieser Fälle Bezug auf eine Stelle in meinem „Urnischen Menschen" (S. 94), an der ich als m o n o s e x u e 1 1 „drei zur Einsamkeit und Eigenbewunderung neigende Onanisten mit ausgesprochener Antipathie gegen beide Geschlechter" erwähnte. Rohleder3) schreibt hierzu: „Diese Bemerkung Hirschfelds deckt noch am meisten das, was ich als Automonosexualismus bezeichne. Dieser Ausdruck sagt, daß es sich um eine Erscheinungsform des mensch- lichen Sexuallebens handelt, bei welcher der Trieb von dem Indi- viduum allein ausgeht und wiederum auf dasselbe zurück- strahlt, sodaß also das betreffende Individuum selbst den Aus- gangspunkt und das Endziel des sexuellen Triebes darstellt." Weitergehend ist, was Havelock Ellis Autoerotismus und Latamendi in Madrid Autoerastie genannt hat. Der ausgezeichnete englische Sexualforscher Ellis versteht unter den autoerotischen Äußerungen des Geschlechtstriebes alle spontanen sexuellen Er- regungen, die ohne einen äußeren Reiz entstehen, der direkt oder indirekt von einer anderen Person ausgeht. Danach fallen in das autoerotische Gebiet sowohl die onanistische Selbstbefriedigung, als der Narzißmus, außerdem aber auch die vielfach mit Pollutionen verknüpften sexuellen Nachtträume sowie die erotischen Tagträume, x) Dr. H. Rohleder: Vorlesungen über Geschlechtstrieb und Geschlechtsleben der Menschen. Bd. 2. S. 511. VI. Kapitel: Automonosexualismus 183 die mehr oder weniger mit gewissen Formen der früher besprochenen psychischen Onanie identisch sind. Ellis führt aus, daß diese ero- tischen Träume besonders häufig bei gebildeten und phantasiereichen jungen Männern und Frauen, die keusch leben, vorkommen, schließ- lich oft in Masturbation enden und unter gewissen Umständen als eine ganz normale notwendige Folge des Geschlechtstriebes an- zusehen seien. Noch ausgedehnter wie Ellis faßt Iwan Bloch das Gebiet des Autoerotismus. Er schreibt2): „Im weitesten Maße gehören zum Autoerotismus auch die normalen Äußerungen von Kunst und Poesie, insofern sie Ausfluß erotischen Empfindens sind, und alle jene Er- scheinungen, die ich als „sexuelle Äquivalente" bezeichnet habe, alle Verwandlungen sexueller Energie, wie die religiös-sexu- ellen Erscheinungen, die Umwandlung individueller Liebe in allge- meine Menschenliebe, die Modereize und jedestarkeTätigkeit, durchdiedieGeschlechtsspannungeine Art von Aus- lösung findet, wenn dieselbe auch meist unbewußt bleibt, wie beim Tanz, bei Gesellschaftsspielen und anderen Vergnügungen." So sehr wir mit Bloch die Bedeutung sexueller Äquivalente anerkennen als „natürliche Auswege für Spannungsgefühle und überschüssige Kräfte sexuellen Ursprungs, die man unnötigerweise nicht verprassen sollte, um nicht noch weit bösere gefährlichere Ablenkungen derselben hervorzurufen", so möchte ich doch nicht dafür halten, diese Erscheinung in das sexualwissenschaftlich enger zu umgrenzende Gebiet des Autoerotismus zu tun. Bei diesem kommt es darauf an, daß der eigene Körper Ausgang und Ziel der Libido ist, bei den sexuellen Äquivalenten hingegen handelt es sich um eine Vergeistigung, Verdrängung, Ablenkung, oder um mit Nitz- sche zu reden, um eine nicht sexuelle „Ausarbeitung" sexueller Drangzustände ganz im allgemeinen. In diesem Kapitel ist vom Automonosexualismus nur im Sinne der vom eigenen Körper ausstrahlenden Geschlechtserregung die Eede. Als Ausgangspunkt unserer Betrachtungen will ich einen typischen Fall dieser Anomalie schildern, den ich gemeinsam mit Dr. Burchard beobachtet habe. Es suchte uns ein 37jähriger großer kräftiger Mann auf, Landwirt von Beruf. Wie er angibt, steht er dem weiblichen Geschlecht vollkommen gleichgültig gegen- über; er hat nie ein Weib berührt, ist unverheiratet, auch gleich- geschlechtliche Neigungen fehlen gänzlich. Hingegen verursacht es ihm von jeher das größte sexuelle Lustgefühl, sich im Spiegel nackt zu betrachten. Das Gefallen, das er an seinem Anblick empfindet, ist um so schwerer ver- ständlich, als er weder einem Adonis noch einem Narzissus, 2) Dr. I w a n Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit S. 457. 184 VI. Kapitel: Automonosexualismus sondern mit seinein ungepflegten struppigen Bart und haarigen Körper eher einem Thersites gleicht. Er erinnert sich, daß spontan die erste sexuelle Erregung eintrat, als er sich im Beginn der Reifezeit das erstemal in ganzer Figur in einem Spiegel sah. Während der Untersuchung spielte sich der folgende Vorfall ab: Nachdem er sich entkleidet hatte, sah er sein Bild in einem langen Wandspiegel. Sofort trat eine Erektion ein, dabei wurde er sehr aufgeregt. Indem er sich entschuldigte, drückte er seinen Mund auf den im Spiegel und bedeckte seine Lippen mit Küssen. Als wir ihn in seinem seltsamen Gebaren gewähren ließen, nahm er den Spiegel von der Wand und drückte seine Gestalt an sein Spiegelbild, wobei ihn offensichtlich eine gewisse Übung und Geschicklichkeit davor schützte, den Spiegel zu zerbrechen. Nach sehr kurzer Zeit trat, während er die Genitalgegend vor ihre Wiederspiegelung preßte, Ejakulation ein. In den Aufzeichnungen, die ich später von diesem Patienten erhielt, heißt es: „I c h 1 i e b e m i c h s e 1 b s t b i s z u m W a h n s i n n. Mein Geschlechtsdrang bezieht sich auf mich selbst. Meum proprium membrum lambere, wäre mein höchster Genuß. Oft bin ich mir selbst im Traum mit erregtem Membrum erschienen, wobei Pollutionen ein- traten. Wenn ich nackt unter dem Spiegel liege, dann bin ich im Spiegel ich selbst, und mein Körper ist dann ein anderer, der den Akt mit mir ausübt. Bei den Szenen mit dem Spiegel ist die Speichel- absonderung oft so stark, daß der ganze Spiegel davon bedeckt ist; auch ist damit oft heftiges Kopfschütteln und starkes Herzklopfen verbunden. Der Spiegel soll möglichst leicht, schmal und so lang sein, daß man sich vom Kopf bis zu den Knien darin sehen und umarmen kann. Ich vollziehe den Spiegelakt seit vielen Jahren ein- bis zweimal wöchentlich. Ich fühle danach eine wohltuende Müdig- keit mit nachfolgendem angenehmen, festen Schlaf. Ein onanistischer Akt, den ich gelegentlich auch gern übe, ist, den Finger in recto* hin- und herzubewegen. Mein Ideal wäre es, immer nackt zu sein,, weil mich dies beruhigt, und zwar ganz allein draußen in der Natur. Überhaupt fühle ich mich am meisten zu einsamem Land- aufenthalt hingezogen. Sehr schön denke ich es mir, nackt unter Wilden zu leben. Ich liebe eng anliegende Trikots zu tragen, die meine Figur recht hervortreten lassen. Bei den Spiegelszenen bin ich so erregt, daß ich schon fürchtete, geisteskrank zu werden." Dies war wohl der klassischste Fall von Autismus, den ich sah, doch stehen mir eine Reihe ähnlicher Beobachtungen und Schilde- rungen sowohl von männlichen als weiblichen Patienten zu Gebote. Auch besitze ich die Photographie eines monosexuellen Mannes, die ihn in intimer Berührung mit seinem Spiegelbilde darstellt. Bei autistischen Spiegelakten von Frauen ist es oft schwer zu unter- scheiden, w o d i e E i t e 1 k e i t a u f h ö r t u n d d i e S i n n 1 i c h k e i t VI. Kapitel: Automonosexualismus ^§5 anfangt. So zitiert Ell is den spanischen Schriftsteller Valera (m Dr. Moll s Handbuch der Sexualwissenschaften S. 616), welcher die Heldin einer seiner Novellen nach ihrem Bade sagen läßt: „Ich verfalle in eine Kinderei, die unschuldig oder lasterhaft" sein mag" ich kann es nicht unterscheiden. Ich weiß mir, daß es eine beschauliche Handlung ist, eine uninteressierte Bewunderung der Schönheit. Es ist nicht grobe Sinnlichkeit, sondern ästhetischer Piatonismus. Ich ahme Narzissus nach und lege meine Lippen an die kalte Oberfläche des Spiegels und küsse das Bild." Es scheint, als ob in manchen Fällen die Neigung besteht, die auf artistischem Wege durch die Bewunderung der eigenen Person im Spiegel gewonnene Erregung für den normalsexuellen Verkehr mit dem anderen Geschlecht auszunutzen, ähnlich wie manche die zur Kohabitation notwendige Libido aus dem vorangegangenen An- blick ihres Fetischs schöpfen, der dann keinesfalls ein Bestandteil der Person zu sein braucht, mit der sie verkehren. So wurde in einem Ehescheidungsfalle mein Gutachten erfordert, in dem ein Offizier, der im übrigen seiner Frau auch sonst allerlei merkwürdige Dinge zumutete, von Beginn der Ehe an sein Schlafzimmer mit vielen Spiegeln versehen hatte, die ihm ermöglichten, sich vor und im Aktus genau zu beobachten. Die feinsinnige Frau, der diese Prak- tiken ihres Mannes sehr fremd und peinlich waren, fühlte sich da- durch sehr abgestoßen, doch war sie machtlos dagegen. Im übrigen ist der Gebrauch des Spiegels auch ohne artistischen Beigeschmack ein ziemlich verbreitetes Mittel, die sexuelle Libido zu stei- gern. Paare, die dazu neigen, sich bei ihren Umarmungen, Küssen bis zu jeder Form sexueller Betätigung im Spiegel zu beobachten, wobei es vor allem reizt, wenn das Abbild sich bewegt, sind keine Seltenheiten, doch ist es gewöhnlich das Bildnis des Part- ners, dem sich die größere Beachtung zuwendet. Wie alt die Einrichtung von Spiegelzimmern zu erotischen Zwecken ist, bekunden uns überlieferte Vorgänge aus dem klassi- schen Altertume. So wird in den Fragmenten des Philosophen Seneca von einem zur Zeit des Kaisers Augustus lebenden reichen Geizhalse namens Hostius Quadra erzählt, der die Wände seines Schlafzimmers mit Spiegeln bedecken ließ, um sich an den Eeflexen seiner Geschlechtsakte zu erfreuen. Er ließ bei diesen meistens auch andere Personen, Männer und Frauen, mitwirken und pflegte dann zu sagen: „Wenn alle Teile meines Körpers in Lust schwelgen, warum sollen meine Augen denn nicht auch einen Genuß haben". Als be- sonders raffiniert wird hervorgehoben, daß der Wandbelag aus ver- größernden Hohlspiegeln bestand, welche die männlichen Glieder armdick erscheinen ließen. Hostius wurde schließlich von seinen Sklaven erschlagen, und „so groß war die Entrüstung über sein Treiben, daß der Mord ungesühnt blieb, nicht einmal eine Unter- 186 VI. Kapitel: Automonosexualismus suchung wurde angestellt". Professor Dr. Theodor Petermann- Dresden warft zu dieser Bemerkung Senecas die Frage auf: Worüber denn die Zeitgenossen des Hostius sich so sehr entrüsteten !" und antwortet: „Daß die öffentliche Meinung der Kaiserzeit im Punkte sexueller Exzesse Kamele hinunter- schluckte, ist bekannt. Die Sellaria des Tiberius, von der Sueton und Tacitus erzählen, war sicher nicht weniger an- stößig, als das Spiegelzimmer des Hostius. Von Mitleid mit den Sklaven wußte man erst recht nichts, denn der Sklave war eine Sache, der gegenüber dem Herrn das ius utendi et abutendi zustand.' Das Horrenduni muß wohl die Spiegelverwendung gewesen sein, die den Eindruck von etwas Übernatürlichem gemacht zu haben scheint." Manche Fälle von Automonosexualismus, die ich beobachtete, wurden nicht durch das Spiegelbild, sondern durch A k t b i 1 d e r aus- gelöst, welche die betreffenden Personen in allen möglichen Stel- lungen v o n s i c h hatten anfertigen lassen. So besitze ich viele Akt- photographien eines hochbedeutenden Mannes, der weder zu dem weiblichen, noch zu dem männlichen Geschlecht Zuneigung hatte und auch nie mit einem Menschen in Geschlechtsverkehr getreten ist. Nur der Anblick seines eigenen, nackten, allerdings sehr wohl- gebildeten Körpers in malerischen Stellungen und Umgebungen, viel- fach auf einem Tierfell gelagert, gewährte ihm sexuelle Befriedi- gung. Ein Automonosexueller, über den mir ein Kollege aus Glasgow Mitteilungen machte, befriedigte sich ausschließlich, indem er auf einem kostbaren Tigerfell ausgestreckt vor dem Spiegel masturbierte. Der Drang, sich völlig nackt photographieren zu lassen — eine nicht ganz seltene Liebhaberei — zeigt in diesem Falle eine gewisse Verwandtschaft zum Exhibitionismus, was daraus erhellt, daß dieser Patient die Akte, die er von sich hatte anfertigen lassen, gern einigen vertrauten .Personen zeigte und großes Wohlbehagen äußerte, wenn man seinen „Naturaufnahmen" Bewunderung zollte. Es gibt nun aber auch Fälle von Automonosexualismus, in denen es weder des vom Spiegel, noch des von der photographischen Platte aufgenommenen Abbildes zur Erweckung erotischer Lustvorstellun- gen bedarf, sondern wo die Betrachtung des nackten Kör- pers an und für sich den gleichen Zweck erfüllt. Auch hier möge ein Fall die bisher verhältnismäßig noch wenig beschriebene und gewürdigte Anomalie, die sicherlich früher vielfach als Asexualität angesehen wurde, illustrieren. Es suchte mich ein 40,jähriger Kunsthändler aus Ungarn auf. Er hatte infolge eifrig betriebener Leibesübungen einen athletischen Körperbau. Wenn jemand eine Bemerkung über seine kräftigen Muskeln, seine stattliche Figur machte, wurde er verlegen, errötete VI. Kapitel: Automonosexualismus 187 tief und schämte sich sehr. Der Mann gestand, daß seine starke Muskulatur die einzige erotische Lustquelle sei, die es für ihn gäbe. Er betätigte sich ausschließlich in der Weise, daß er sich in sein Badezimmer einschloß, seine Muskeln spielen ließ, sie be- tastete und liebkoste. Dabei stellten sich Erektionen ein. Er hantelte dann und machte an einer Reckstange Klimmzüge. Zwischen dem 2 0. und 3 0. Klimmzug trat dann ohne manuelle Be- rührung der Genitalien gewöhnlich ein heftiger Erguß ein. Ich gebe einige Sätze aus den Aufzeichnungen dieses merkwürdigen, nebenbei recht intelligenten Sonderlings wieder: W. stammt als einziges Kind aus einer erblich stark belasteten Familie, unter deren entfernteren Mitgliedern Geistesstörungen, Selbstmordversuche, kriminelle Hand- lungen ziemlich zahlreich vorgekommen sind. Die Großeltern waren Cousin und Cousine Bis zum 16. Jahre litt er an Enuresis nocturna, schrie oft im Schlaf auf, „nuckelte" an weißen Stoffen und fiel leicht in Ohnmacht. Er lernte abnorm früh sprechen und ent- wickelte sich zu einem Musterknaben, ja fast Wunderkind, das während der ganzen Schulzeit den ersten Platz behauptete. Er schreibt: „Mit 12 oder 13 Jahren hatte ich wahrend einer Eisenbahnfahrt die erste Pollution; das war mir unerklärlich und be- ängstigend. Bald darauf begann die Klimmzugonanie. Ich mache so lange Klimm- zuge, bis unter starkem Orgasmus die Ejakulation eintritt. Das wiederhole ich im Durch- schnitt alle 3 Tage. Der längste Abstand war einmal 14 Tage; zeitweise geschah es täg- lich. Aus dieser seltsamen Methode der Onanie leitet sich meine starke Brust- und Arm- muskulatur her. Mit einer Frau habe ich nie verkehrt, werde es auch nie zu tun wünschen. Ich bin von einem merkwürdigen Dualismus besessen. Vom rein geistigen Gesichtspunkt ist mir jeder Sport unsympathisch, ja abstoßend, in erotischer Hinsicht aber liebe ich sämtliche Methoden der Körperkultur inbrünstig; ich habe glühende Sehnsucht, Gymnastik aller Art zu treiben, nur nicht Tanz und Grazienhaftes; ich schäme mich aber, Körperkultur zu treiben vor Verwandten, Freunden und Leuten meiner Geistesrichtung. Daher kann ich es nur heimlich. Wenn ich hantele, so vollzieht sich das unter Vor- sichtsmaßregeln, wie wenn ich einen Einbruchsdiebstahl vorhätte. Ich schäme mich, meine Reize zu zeigen. Es wäre mir entsetzlich, wenn meine Umgebung wüßte, wie muskulös ich bin. Ich gebe mich dem Hochgenuß, stramm und elastisch zu gehen, nur dann hin, wenn ich genau weiß, daß kein Bekannter mich treffen kann. Das sexuelle Wertlegen auf stramme Haltung erkläre ich mir so: als ich nach Fiume in die Schule kam, stellte mich eines Tages der Lehrer, indem er mir sein Knie in den Rücken drückte und gleichzeitig meine Schulter mit seinen Händen zurückbog. Ich war 6 Jahre alt. Es tat mir sehr weh; ich dachte, er würde mich zerbrechen. Später erinnerte ich mich oft jenes kurzen Martyriums mit größter Wonne. Übrigens erlebte ich in derselben Stunde mein erstes Insuffizienzgefühl; ein adliger Mitschüler wurde wegen seiner geraden Haltung von jenem Lehrer gelobt. Seit diesem Tage enthalten die Begriffe stramme Haltung, elegante Figur oder Worte wie Brustkorb, Rücken für mich sexuelle Vorstellungen. Manchmal würde es mich reizen, Dienstlivree zu tragen. Alles zusammengenommen: mich erregt geschlechtlich weder Mann noch Weib, sondern nur meine Ferson, weniger mein empirischer Körper als die Wunschvorstellung' die ich von ihm habe." W. zeigt allerlei körperliche Degenerationszeichen: seit dem 20. Jahre ist er kahl- köpfig; er ist Gynäkomast und besitzt auffallend kleine Genitalien; er ist linkshändig sein Gesicht ist kindlich mit großen, schwärmerischen Augen. Er hat eine sehr schöne Handschrift, in die er, wie er sagt, verliebt ist. Ganz unentbehrlich ist ihm Sauberkeit- ohne sein tägliches Bad kann er nicht existieren. Ungeziefer, Mäuse, schlechte Gerüche schmutzige Kleidung, verstaubte Zimmermöbel, vor allem etwas Klebriges kann in ihm belbstmordgedanken hervorrufen. Auch sonst beherrschen ihn viel Zwangsvorstellungen 188 VI. Kapitel: Automonosexualisrous und Idiosynkrasien. Dabei besitzt er ein stupendes "Wissen, trotz allerlei abergläubischen Neigungen einen scharfen, sehr kritischen Verstand, einen brennenden Ehrgeiz und hat von sich selbst eine sehr hohe Meinung. In allen bisher genannten Fällen ist es der eigene unbeklei- dete Körper, der, sei es in seiner Totalität oder partiell, sei es in Buke oder Bewegung, sexuell anzieht und erregt. Dabei können nickt nur Gesicktseindrücke, sondern auck vomeigenenKörper ausgekende Gerüche und Geräusche — wie Schweiß, Smegma, Flatusgerücke und -geräusche, Leibgurren, die eigene Stimme — erotisch wirken. Nun gibt es aber noch eine beträchtliche Gruppe sexuell Abnor- maler, bei denen nicht der nackte, sondern der gesckmückte, verzierte Körper gescklecktlicke Empfindungen erzeugt. Wir berükren kier einen der verbreitetsten und tiefsten Instinkte im Menscken, den Hang und Drang, sick kübsck zu macken, sick durch allerlei Kunstgriffe reizvoller zu gestalten. Es ist nickt ricktig, wenn immer nock behauptet wird, namentlich in den Lehrbüchern der Hygiene, das Schutzbedürfnis und Schamgefühl seien die Wurzel der Be- kleidungssitte. Der Trieb, sich zu putzen, die Eitelkeit, ist eine zum mindesten ebenso starke Wurzel. In meinen „Transvestiten" sage ich darüber3): „Bei allen Völkern, selbst bei den Ureinwobnern der Urwälder, wo von Scham und Schutz keine Bede sein kann, sehen wir die Neigung, den Körper zu schmücken und zu zieren, den Trieb, die natürlichen Beize künstlich zu verstärken. Ob sich die Primi- tiven Muschelschalen oder die Zivilisierten ein kostbares Perlenhals- band umhängen, ob jene rohe Metallstücke oder wir goldene Binge und silberne Armspangen um Finger, Arme und Beine legen, ob sich das eine Volk Stifte, Binge und Knöpfe durch die Nase, ein anderes durch durchlöcherte Ohren zieht, ob sich die Wilden Vogelfedern direkt ins Haar stecken oder die Modernen noch ein Stück Stroh oder Filz, Hut genannt, dazwischen legen, ob jene sich einen größeren Teil der Körperoberfläche färben und bemalen, wir nur Gesicht und Haare schminken, ob die bunten Farbstoffe der Haut unmittel- bar aufgesetzt oder in bunten Tüchern oder zu Kleidern verarbeitet umgebunden werden, ob asiatische Völker sich nur die Füße ver- kleinern und zusammenzwängen oder europäische mit Hilfe fisch- beingesteifter Korsetts viel wichtigere und edlere Teile einschnüren und verengern, ja selbst die Narbenverzierungen von Südaustraliern, und die „Benommierschmisse" von Mitteleuropäern, kommen rein psych ologischgenommenaufdasselbeheraus. Es zeigt sich, daß wir heute noch wie in uralten Zeiten alle möglichen Gegen- stände aus den drei Naturreichen gebrauchen, um uns mehr Glanz und Ansehen zu verleihen." ») Dr. M. H i r s c h f e 1 d : Die Transvestiten S. 267. VI. Kapitel: Automonosexualismus 189 Zunächst geschieht alles dies aus Eitelkeit, man sieht sich so ausgestattet im Spiegel, fragt sich innerlich, ob es auch gut zu Gesicht steht, ob es verschönt und empfindet über die vorteilhafte Veränderung des Körpers dann ein gewisses Wohlbehagen, wenn auch ohne sexuellen Beigeschmack. Oft tritt allerdings, besonders beim weiblichen Geschlecht, bewußt oder unbewußt der Wunsch hinzu, durch die Ausschmückung auch in den Augen der anderen wohlgefälliger zu erscheinen, man putzt sich, um bewundert zu wer- den, um anzulocken, aus Koketterie. Nur selten besteht die Absicht, sich selbst durch eine bestimmte Bekleidung oder Ver- änderung der eigenen Gestalt sexuell zu erregen. Geschieht dies aber willkürlich oder unwillkürlich, so ist damit das Wesentliche des Automonosexualismus erfüllt. Wie der Normale der andern Person bald nackt, bald angezogen den Vorzug gibt, so liebt der in sich selbst Verliebte bald seine unverhüllte, bald seine bekleidete Gestalt. Es ist sein eigener, wenn auch etwas veränderter Leib, den er lustbetont empfindet, den er liebt, der schließlich sogar bei ihm Erektion, Orgasmus und Ejakulation bewirkt. Zunächst ist man geneigt, bei diesen A u t o e r o t i k e r n an Feti- schismus zu denken, es bestehen aber grundsätzliche Unterschiede. Der Fetischist liebt den Gegenstand seiner Neigung in erster Linie in Verbindung mit einer zweiten Person, in pathologischer liegenden Fällen auch wohl allein für sich (z. B. einen abge- schnittenen Zopf, ein entwendetes Taschentuch), keineswegs aber hauptsächlich als Teil von sich selbst. Auch der Fetischist nimmt den Frauenschuh oder Unterrock gelegentlich zwecks sexueller Er- regung zu sich ins Bett, legt wohl auch, um „das geliebte Wesen" in mögliehst enge Berührung mit sich zu bringen, unter seinem Anzug Frauenwäsche an — und zwar bevorzugt er bei weitem bereits von Frauen getragene — während der Autist charakteristischer- weise der neuen den Vorzug gibt, im allgemeinen bedient sich aber der Fetischist keineswegs im gewöhnlichen Leben der Kleidungs- stücke in der von ihm geliebten fetischistischen Form, im Gegenteil die Liebhaber von elegantem Schuhwerk, feinen Lackstiefeletten tragen oft unförmige Zug- oder Schaftstiefel, die Fetischisten für blon- des Frauenhaar pressen dieses wohl leidenschaftlich an sich, denken aber garnicht daran, sich eine Frauenperücke aufzusetzen, so wenig wie etwa Brustfetischisten sich die Brüste ausstopfen4). Der Autist um gekehrt betrachtet das, womit er sich gern schmücken möchte, bei anderen eher mit scheelen als mit verliebten Augen. Vor einiger Zeit hatte ich mich über zwei Personen zu äußern, die sich weibliche Perücken zu automon os exu el ] en ") Cf. Transvestiten S. 203. 190 VI. Kapitel: Automonosexualismus Zwecken verschafft hatten. Sie setzten sich den üppigen Haar- schmuck aufs Haupt, frisierten ihn und gerieten auf diese Weise in geschlechtliche Ekstase. Beide Leute waren in Kriegszeiten von Friseuren angezeigt, die vermuteten, sie verfolgten mit den Perücken unlautere Absichten als Spione. Der eine dieser beiden Autisten war Soldat. In anderen Fällen hatten Sexuopathen dieser Kategorie den un- widerstehlichen Drang, sich stark zu schminken. Trotzdem die An- gehörigen und andere sich mit aller Energie dagegen wandten, waren sie weder im guten, noch im bösen davon abzubringen. Ich hatte einen Fall, in dem ein 26jähriger Mann, Sohn eines Schlächter- meisters, erklärte, lieber auf sein Leben, als auf die Gesichts- bemalung verzichten zu wollen. Ein ganz seltsames Beispiel von Automonosexualismus beobachtete ich bei einem dreißigjährigen Schriftsteller, der sich nach Schauspielerart aus Wachs künstliche Nasen, besonders griechische, formte und ansetzte. Wöchentlich ein- mal schloß sich dieser Mann, dessen natürliche Nase nichts zu wün- schen übrig ließ, in sein Zimmer ein, vollzog diese Nasenplastik vor dem Spiegel und erregte sich an seinem umgemodelten Konterfei. Im Verlaufe dieser Sitzungen traten mit geringer manueller Nachhilfe Pollutionen ein. Anderweitigen Sexualverkehr hatten diese Personen nicht. Zahlreicher als die letztgenannten scheinen die Automonosexu- ellen zu sein, die sich mit Schleiern, Tüchern, faltigen Gewändern drapieren, wobei sie vor dem Spiegel allerlei Tanzevolutionen aufzuführen pflegen. Verschiedene Männer und Frauen gestanden, daß dies die einzige Art sei, die ihnen eine geschlechtliche Befriedigung gewähre. Ihre Mitteilungen kamen mir wieder in den Sinn, als ich zum ersten Male im Orient tanzende Derwische sah, wo ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, als ob auch hier bei manchen neben der religiösen und motorischen Ekstase die erotische eine gewisse, wenn auch den Tanzenden nicht ganz klare Rolle spiele. Wenigstens ließ die immer zunehmende Verzückung in den Mienen der Derwische diesen Schluß zu. Ähnliche Momente dürften auch bei den Autoflagellanten, die als Selbstgeißler im Mittelalter die Ortschaften durchzogen — man erinnere sich an das berühmte Ge- mälde des Wiener Malers M a r r • — , nicht ohne Einfluß gewesen sein. Allerdings sind unsere Kenntnisse über die Beziehungen zwischen Inbrunst und Brunst noch sehr beschränkt. Daß körperliche Selbstpeinigungen autoerotische Empfin- dungen auslösen können, wissen wir. So ist mir namentlich ein Fall in Erinnerung geblieben, in dem ein Mann aus bester Familie sich mit scharfen Säuren am ganzen Körper erhebliche Verätzungen bei- gebracht hatte und zwar aus sexuellen Motiven. Nebenbei war er ein ausgesprochener Masochist. Man könnte in solchen Fällen wohl VI. Kapitel : Automonosexualismus 191 von Automa sochismus sprechen. Da aber der Gepeinigte hier zugleich der Peiniger, der aktive Teil zugleich auch der passive ist, kann man mit demselben Kecht auch von Autosadismus reden. Im Zusammenhang dieses Kapitels ist das Bemerkenswerte für uns aber weder das Sadistische, noch Masochistische, sondern das Autistische der Erscheinung, das darin besteht, daß die Leidlust ohne Hinzu- ziehung einer zweiten Person an und aus sich selbst ge- wonnen wird. Nicht selten kommt der Automasochismus mit Autofeti- schismus vergesellschaftet vor. So sieht man Fälle, in denen Autisten sich sexuell erregen, indem sie sich selbst durch Gürtel oder Korsetts einschnüren. Ich will hier wiederum einem Patienten, einem russischen Theologen, selbst das Wort geben. Er schreibt: „Bereits in meiner frühesten Jugend (etwa im 5. Lebensjahre) machten Gürtel auf mich Eindruck, und zwar glaube ich mich zu entsinnen, daß es solche waren, wie sie die Schüler bei ihren russischen Uniformen tragen. Mein Streben ging nun darauf, auch einen solchen zu besitzen, ich glaube sogar, daß ich meine Mutter darum bat. Ich bekam auch wirklich eine Bluse und einen ledernen Gürtel, genierte mich aber meistens, ihn zu tragen. Auch machten lederne Frauengürtel auf mich Eindruck, und wo ich zu Hause einen solchen fand, versuchte ich, ihn mir umzulegen. Aus jener Zeit erinnere ich mich eines Falles, der einen nachhaltigen Eindruck auf mich machte : ein kleines Mädchen hatte sich beim Spiel mit einem Riemen um den Leib an einen Stuhl befestigt, um einen Stoffhund darzustellen. Ich fing an, mich auch zu schnüren, mit Gürteln, mit Riemen oder einfach mit Schnüren, je enger, um so angenehmer empfand ich es, später bemerkte ich auch, daß sich dabei Erektionen des Gliedes einstellten, wann, d. h., in welchem Lebensjahre, kann ich nicht angeben. Doch habe ich das Glied in der Kindheit weder mit der Hand gereizt, noch auch dabei eigent- liche Lustgefühle gehabt. Wann ich anfing, mich für Korsetts zu interessieren, weiß ich nicht; im 10. Lebensjahre etwa hatte ich eine Bonne, die ein enges Korsett trug; ich erinnere mich, daß ich mir darüber Gedanken machte, und daß ich versuchte, aus ihrem Schrank ein Korsett zu entwenden und es anzulegen. Die Ent- deckung fürchtete ich sehr, diese Neigung kam mir un- normal vor, doch konnte ich sie mir nicht erklären und grämte mich sehr darum. Als ich 14 Jahre alt war, hörte meine Mutter eines Nachts, wie ich aufstand, um mir einen Gürtel zu holen; sie fragte mich danach, und ich beichtete. Meine Eltern glaubten, ich sei Onanist und sprachen in diesem Sinne sehr ernst mit mir, brachten mir eine tief innere Scheu bei, meine Genitalien zu berühren oder zu reizen, was ich dann auch bis zum 20. Jahre nie getan habe. Die Folge dieser Unterredungen aber war, daß ich mich selbst für einen 192 VI. Kapitel: Automonosexualisnms Onani sten hielt und meine ganze Jugend unter diesem Gedanken schwer litt, ohne loszukommen. Als ich 15 Jahre alt war, hatte ich meine erste Pollution und zwar, als ich mit einem Gürtel geschnürt einmal eingeschlafen war; ich hatte aber gar keine Empfindung dabei und weiß nur, daß ich mir die Bettnässe nicht recht erklären konnte und mich darüber aufregte. Von dem Zeitpunkte an fanden Pollu- tionen ziemlich regelmäßig statt, zuweilen verbunden mit Träu- men, daß ich mireinKorsett anlegte, zuweilen aber auch unter ganz andersartigen Vorstellungen. Nicht lange nach der ersten Pollution wurde ich von meinem Vater über das sexuelle Leben auf- geklärt, und zugleich eindringlich vor der Onanie gewarnt, wobei ich zum ersten Male erfuhr, daß man es durch mechanische Reizung zum Samenerguß bringen könne. Als ich aus dem Hause kam, mußte ich meinem Vater versprechen, nicht zu onanieren; ich war bemüht, es in meinem Sinne zu halten, das heißt, mach nicht zu schnüren. Als ich Student geworden war, fielen die Skrupel, die mich durch mein Versprechen an der Ausübung meines Triebes gehindert hatten, und ich begann mich zu schnüren, indem ich mir Gürtel, Riemen, schließ- lich auch Korsetts kaufte." Patient schildert dann, wie er als Student geschlechtlichen Ver- kehr mit dem Weibe suchte, teils aus Neugierde, teils in der Hoff- nung, von seiner Schnür sucht loszukommen, wie er aber immer wieder, trotz starker religiöser Konflikte, in die Leidenschaft zurück- fiel, sich in Ledergürtel oder Korsetts einzupressen. Ein nicht weniger seltsamer Fall meines kasuistischen Materials betrifft einen Kaufmann, dessen sexuelle Sehnsucht ausschließlich darauf gerichtet ist, sich in gestärktem S p i t z e n u n t e r r o c k zu er- blicken. „Ich mache mir weder etwas aus der Frau, noch geschweige aus dem Mann, aber wenn ich den Unterrock vor dem Spiegel raffe und hebe, bin ich entzückt; ich fühle mich dann als Herrin und kenne keine Demut." Patient teilt mit, daß er nur Zimmer mietet mit Trumeauspiegel, die bis zur Erde reichen; in gewöhnlicher Tracht fühle er sich gedrückt und sähe nie in den Spiegel, um so mehr im steifen Spitzenunterrock, in dem „jeder Trübsinn schwände". Die Neigung, sich durch Anziehen bestimmter Kleidungsstücke erotische Lust zu verschaffen, trägt bald mehr einen zisvesti- tischen, bald mehr einen transvestitischen Charakter, je nachdem sich die Neigung auf Bekleidungen des eignen oder des anderen Geschlechts erstreckt. So gibt es Autisten, die im stillen Kämmerlein mit gespornten Kürassierstiefeln umherlaufen und andere, die Damenknöpfstiefel mit hohen Hacken anlegen. Es könnte den Anschein haben, als ob diejenigen, die sich dadurch erregen, daß sie Gegenstände ihres Geschlechts anlegen, verkappte Homo- sexuelle sind, während die Personen, welche Sachen des anderen Ge- schlechts anziehen, im Grunde heterosexuell sind, gleichsam das Weib VI. Kapitel: Automonosexualismus ^93 lieben, das sie aus sich heraus projizieren. Dieser Schluß ist aber nicht zulässig, da bei dem Autisten der Gedanke an eine zweite Person ganz fortfällt und nur die eigene Beschaffenheit sexuelles Interesse ablockt. Besonders gilt dies auch für diejenigen Automonosexuellen, welche eine ganze Tracht anlegen, sich also behufs geschlecht- licher Lustgewinnung verkleiden. Auch hier sehen wir solche, welche die Kleidung anlegen, die, wenn auch nicht ihrem Alter, ihrer Stel- lung, ihrem Berufe, so doch ihrem Geschlechte entspricht und andere, die sich von Kopf bis Fuß in ein Kostüm des anderen Geschlechts werfen. Da gibt es Autisten, die sieh in allen möglichen Volkstrachten gefallen, andere, die sich als Lakaien oder Pagen anziehen, als Matrosen, Soldaten oder Jockeis, die sich als Pierrots oder in „Vagabondenkluft" am wohlsten fühlen, oder die sich gar als Schüler verkleiden, Fälle, in denen sich dann der Automonosexualismus mit Infantilismus vermischt. Von monosexuellen Trans vestiten, die in der weib- lichen ümkleidung ihr Genüge finden, suchen einige die elegante Weltdame, andere die auffällige Halbweltdame und wieder andere die Hausfrau oder das bescheidene Dienstmädchen oder Landmädchen zu markieren. Oft geht hier mit dem autistischen ein gewisser e x - hibitionisti scher Zug Hand in Hand, indem es den gleich- geschlechtlich oder andersgeschlechtlich Verkleideten einen Reiz ge- währt, sich in der Gestalt, die sie vorspiegeln möchten, unter Menschenzu mischen, wobei sie dann große Freude empfinden, wenn niemand merkt, daß der Mann eigentlich ein Weib, der an- scheinende Diener ein Herr, der Fünfzehnjährige ein Dreißigjähriger ist. Ich will aus dem Gutachten über einen automonosexuellen Transvestiten einige Hauptstellen wiedergeben, die uns einen Einblick in das seltsame Doppelleben dieses eigen- artigen Menschen gewähren: T. stammt aus einer angesehenen rheinischen Familie. Die Mutter, deren franzö- sische Vorfahren infolge der Revolution nach Deutschland kamen, lebt und ist gesund- sie ist eine hochintelligente, energische, im öffentlichen Leben tätige Frau. Der Vater starb mit 52 Jahren an einer Rippenfellentzündung. Die aus einer Neigungsheirat her- vorgegangene Ehe der Eltern war ungemein glücklich. Wie seine drei Geschwister genoß er die sorgfaltigste Erziehung; er bestand das Abiturientenexamen an einem humanistischen Gymnasium und widmete sich dann wie sein Vater der Versicherungsbranche, in der er es durch Fleiß und Tüchtigkeit nach und nach zum Abteilungsvorsteher und Organisa- tionschef brachte. Als er aus der Versicherungsgesellschaft schied, um sich dem national- ökonomischen Studium zu widmen, erhielt er ein geradezu glänzendes, zwei Schreib- maschinenfolioseiten umfassendes Zeugnis über seine Leistungen und Fähigkeiten Übrigens war T., ehe er in das Versicherungsbureau seines Vaters trat, kurze Zeit Jahnenjunker, weil er Offizier werden sollte, bzw. wollte; doch ließ ihn sein Vater nach halbjahriger Dienstzeit als Fahnenjunker in die Kategorie der Einjährigen überschreiben. Es mag auch erwähnt sein, weil er selbst Wert darauf legt, daß sein Vater sich vor seiner Geburt ein Mädchen, die Mutter einen Jungen wünschte, ferner, daß er geistig Hirachfeld, Seiualpathologie. I. 194 mehr der Mutter ähnlich zu sein glaubt und daß es in der Familie des Vaters mehrere Hagestolze, darunter einige katholische Geistliche, gab. Von nervösen Kindheitsstörungen ist zu bemerken, daß er bis zum 17. Jahre an Enuresis nocturna (Bettnässen) litt; er war sehr zurückhaltend, nahm an Kinderspielen wenig Anteil, begnügte sich vielmehr nur mit Zusehen war aber weder ängstlich, noch schreckhaft oder verschüchtert. Mehrere Momente aus frühester Kindheit und vorpubischer Zeit verdienen hervorgehoben zu werden: schon ganz früh inter- essierten ihn, wenn er Kindern zusah, die Kleider der Mädchen außerordentlich. Wiederholt träumte er, die Behörde habe verfügt daß an einem bestimmten Tage alle Männer als Frauen und alle Frauen als Männer gehen sollten. Dieser Traum, der sich auch später sehr häufig ein- stellte, verursachte ihm ein großes Behagen. Mit 11 Jahren klärte ihn ein Mitschüler sexuell auf; dieser behauptete von einem anderen Mitschüler, der sich durch einen sehr zarten Teint auszeichnete, dieser sei gar kein Knabe, sondern ein Mädchen, eine Mit- teilung die ihn stark interessierte und erfreute. Als er 20 Jahre alt war, suchte er als Fahnenjunker auf Ansuchen von Offizieren ein Bordell auf, fand aber - wie er sich ausdrückt — „nichts Besonderes dabei". Wie sich nun der transvestitische Drang von leisen Anfängen immer starker und deutlicher in ihm entwickelte, schildert T. in so anschaulicher, überzeugender und charak- teristischer Weise, daß wir ihn am besten selbst zu Worte kommen lassen. Er erzahlt: ,Ich erinnere mich noch ganz gut, daß ich im Alter von etwa 9—15 Jahren schon gern Kleidungsstücke meiner Mutter in unbewachten Augenblicken angezogen habe. Zu solchen Zeiten zählten die Abende, an welchen meine Eltern zu Festlichkeiten oder_ im Sommer auch zu Abendspaziergängen unser Haus verließen. Schon in diesem Alter zeigte sich die List, die ich bei der Realisierung meiner Wünsche nach weiblicher Kleidung an- wandte Wenn die Eltern ausgegangen und wir Kinder zu Bett gebracht waren, schlief ich absichtlich nicht ein, sondern wartete einige Zeit, bis ich annahm, daß meine Ge- schwister schliefen. Die Überzeugung darüber, daß dies der Fall war, verschaffte ich mir dadurch, daß ich meine Geschwister aus irgendeinem Grunde anrief, etwa um noch nach etwas zu fragen. Erhielt ich Antwort, so fiel das nicht auf, weil ich als ältestes Kind «chon die Berechtigung zu meiner Anfrage geltend machte, ich mußte dann eben warten. War aber alles ruhig, dann schlich ich leise aus meinem Bett und begab mich in das nebenanliegende Schlafzimmer meiner Eltern, wo ich die gewünschten und nicht ver- schlossenen Kleidungsstücke meiner Mutter fand und anzog. Hier seien einige eigen- tümliche Vorkommnisse und -Kunstfertigkeiten bei meiner damaligen Bekleidung erwähnt. Das Korsett meiner ziemlich korpulenten Mutter war mir natürlich zu weit. Da nun diese Korsetts wohl immer etwas knapp gemessen waren, klafften sie hinten und ließen sich weiter zusammenziehen. Dies richtete ich jedoch so ein, daß die frühere (reguläre) Weite unschwer und genau hergestellt werden konnte. Damals begnügte ich mich noch mit dem Anziehen eines Unterrockes, eines Überrockes mit Taille oder Bluse; hin und wieder zog ich vielleicht auch eine Jacke oder einen Mantel an und setzte einen Hut auf, letzteren natürlich ohne die Unterlage einer Perücke. Mit dem Anlegen der Mutter- kleider beschäftigte ich mich im allgemeinen nicht lange. Ich legte mich meistens bald wieder zu Bett in derselben Weise, wie ich daraus mich entfernt hatte, und zwar mit einem heute nicht mehr beschreibungsmöglichen Gefühl der Zu- friedenheit. Einmal, als feststand, daß meine Eltern vor dem anderen Morgen nicht zurückkehrten und als deswegen unser zuverlässiges, aber harmloses, und lange bei uns angestelltes Dienstmädchen ausnahmsweise in der Wohnung schlafen mußte, jedoch nicht gleichzeitig mit uns sich schlafen legte, sondern las, überraschte ich es in meiner Kostümierung. Zunächst großes Erstaunen, das sich aber bald legte. Dann lud mich 'das Mädchen ein, mich zu ihr zu setzen, indem sie mich (zu meiner Freude) Fräulein Anna nannte. Obwohl ich diese Besuche später noch einige Male wiederholte, scheint das Mädchen meinen Eltern nichts berichtet zu haben; ich wurde wenigstens nie wegen dieses Vorganges zur Rechenschaft gezogen, was sonst bei der gerechten Strenge meiner Eltern sicher der Fall gewesen sein würde. VI- Kapitel: Automonosexualismus ^gg daß Ä? hätt%die fKostümieruAn& für mi<* verhängnisvoll werden können dadurch, daß der fui meine Faust zu enge Ärmel einer neuen seidenen Taille meiner Mutter auf- riß und nicht mehr ausgebessert werden konnte. Ich beobachtete indessen nicht daß von meiner Mutter nachgeforscht wurde, worauf diese doch ärgerliche Beschtdicung zurückzuführen war; meine Mutter muß wohl angenommen haben, daß ihr das UngS selbst passiert war. Wasche und dergleichen zog ich damals noch nicht an, obwohl bereits fchTueß wohl'rn SChmUtTn Wfh%mir Z"r Verffl*u* standen hätten Ich muß wohl im Gegensatz zu den Fe tischist en (die das lieben) davor zurückgeschreckt haben, nicht mehr reine und den v^nT/M1?/ be+rührende Wäsche anzuziehen und dazu noch von der Mutter getragene. Der Drang nach der Frauengewandung führte so^ar einmal dazu, daß ich im Alter von etwa 15 Jahren in der Wohnung meine" Freundest ™Zs^u7e 8 ^ S° ^Mlenden R°<* seiner Schwester über Die Weiterentwicklung des Transvestitismus vollzog sich nun langsam, aber stetis langsam infolge meiner nicht starken Mittel. Zunächst beschaffte ich mir, indem ich zu" Einrichtung einer eigenen Garderobe überging, durch Bestellung bei einer großen aus wartigen Firma ein Korsett mittlerer Preislage. Leider hatte ich das für michln Betracht kommende Maß nicht richtig ermitteln können, so daß das Korsett viel zu eng dntraf lluH^l 68 n r^r6^1 abeDdS aUf kurZe Zdt Über das Nachthemd an. Darauf heß ich mir eine hellblaue seidene Bluse kommen, deren Größe ebenfalls für meinen Korper nicht zutraf. Ich war jedoch schon in der Lage, mich, wenn auch prim" iv, am Oberkörper etwas weiblich anzuziehen, und war damit zuers einigermaßen 2- frie engestellt. Damit wuchs der Wunsch, möglichst vollkommene Frauenkl! dung eigen- tümlich zu besitzen Ich ersparte mir in mehreren Monaten etwa 200 Mark, nachdem mein Einkommen sich inzwischen gehoben hatte. Diese für den fraglichen ZwecHicM große Ersparnis benutzte ich um mir zunächst billige, aber mir passende und mtli S d?^" anzuschaffen, fürs erste Hut, Stiefel, Schirm, Handtasche u. dgf Tl ch als Daml«gauf ^ Tt R l*™™1 ^ noch im RhdnIande verlebte> ko<^ cü als Dame auf die Straße gehen, wozu ich vom Friseur eine gutfrisierte Perücke lieh mich schminken ließ und mir ein Kopftuch lieh. Diese Garderobe gel mir zwar erschien mir aber nicht vollständig genug, so daß ich doch nicht so recht zufrSden wa^ und mich sogar entschloß, eines Tages, einer plötzlichen Eingebung folgend alles 2U veT- Mit dem Herannahen des nächsten Winters flammte die Glut von neuem auf und mit meiner inzwischen wieder angesammelten Ersparnis kaufte ich mir neue GarS robe stucke besserer Qualität, jedoch nur in einfacher Auflage. Ich hatte nuT schon Hut Schleier, Damenstiefel, Schirm, Handtasche, Handschuh! usw. und auch eTne e£ne Perücke, allerdings nur von Wolle. g e Hierauf ging die Liebe zu Frauenkleidern noch einmal zurück: Ich verkaufte alles angeblich im Auftrage einer in Geldnöten befindlichen Dame. Wenig genüg te ich dafür. Es folgte nun eine Pause, nach der sich der Drang, weiblich gel eTdet zu se n in seiner ganzen im folgenden zu schildernden Stärke gestaltete, die ansehe nenj e zt' andauernd ist: Ich ging dazu über, mir qualifizierte, gut passende und, was wäSS betrifft, mehrfache Sachen von neuem zu kaufen, m ö gl i c h s t a 1 1 e s was eine Dame ha insbesondere eine frisierbare und gut sitzende Haarperücke Auf Grund dieser Anschaffung baut sich mein derzeitiger, stets von mir ergänzter Besitz an weib- hchen Kleidungsstücken usw auf. Das schmutzig Gewordene! einschüeßh h weißer Blusen, wasche ich selbst, auch nähe ich selbst, was nötig ist fa w ?Ü ge?uren, ^ 12 Paar StrümPfe> teils bessere, teils geringere, schwarz und Ä' * tdUrchbr°cbene> 2 Paar Halbschuhe mit hohen Absätze!, 1 Lr rosa IW hellblaue Strumpfbänder mit Schleifen, 2 leinene weiße Unt rhoseZ 1 he llblZ Direktoirehose, 2 Anstandsröcke, 1 weißer Batistunterrock mit Banddurchzug I we ßer leinener Unterrock, 1 hellblauer seidener Unterrock, 1 dunkelroter se dener Unter 13 196 VI. Kapitel: Automonosexualismus rock, 1 leinener schwarzweißer Unterrock, 1 gewöhnlicher Unterrock, 2 Korsetts, eins für Sonntag, eins für Werktags, 1 rosa Korsettschoner, 2 Strumpfhalter, 4 weiße Damen- taghemden mit Achselschluß, 6 weiße Untertaillen, zum Teil mit Banddurchzug, 1 blaues Kostümkleid, 1 Extrarock dazu, modern mit Rückenschnalle, 1 schwarzes Kostumklcid, 1 hellblauer Damenmantel, 2 weiße Stickereiblusen, 1 schwarze Seidenbluse, 1 .grüne Seidenbluse, 1 Ecru-Bluse, 1 schwarzweiße Spitzenbluse, 1 weiße Batistbluse, 1 moderne blaue Frottebluse ohne Kragen, 1 moderne elfenbeinfarbige Bluse ohne Kragen, 6 Zier- und Hausschürzen, Reiher oder Bänder am Kragen selbst eingenäht, 1 Matinee, 1 moderner Damenschirm, 5 Gürtel, 2 Handtaschen, eine aus Samt, eine aus Leder (Besuchstasche), 1 Damenportemonnaie, 1 rosa seidener Ballbeutel, 1 Fächer mit Straußfedern, 1 Pelz- garnitur Muff, 1 geringerer Pelzkragen, 2 Winterhüte, ein größeres Format, 1 rund mit blauen Federn, verschiedene Schleier, 1 hellblaues Kopftuch, verschiedene Ruschen und Jabots, Damenhandschuhe für Sommer und Winter, für Straße und Ball, 1 weißes Spitzentaschentuch, 1 frisierbare Perücke, ziemlich entsprechend meinem Haar mit Kämmen und Pfeilen, 2 Armbänder, 1 Uhrkette, 2 MedaÜlons, 1 Paar Ohrringe (zum Anschrauben), 1 Ring. Sehr bemerkenswert für den transvestitischen Zustand T.s sind nun die folgenden Ausführungen: „Meine größte Freude, zu deren Gunsten ich auf vieles verzichte, ist, mög- lichst oft, vollständig und lange ganz Dame zu sein. An Werktagen kann ich mich leider nicht immer anziehen, weil ich oft erst spät abends aus dem Ge- schäft fortkomme. Dagegen befinde ich mich fast jeden Sonntag in meinen Kleidern, mit welchen ich abwechsle, Sonntags ziehe ich meist dasselbe an (meinen Sonntagsstaat). Ich bin alsdann von Kopf bis zu Fuß wie die anderen Frauen gekleidet. Das Korsett- tiagen (oft 12 Stunden lang) ist mir, was manche meiner Leserinnen interessieren wird, nie lästig, im Gegenteil angenehm. -Übermäßig brauche ich mich auch nicht zu schnüren, weil meine Figur (Größe 46) gut ist. Sonn- und Feiertags ziehe ich mich am liebsten gleich weiblich an, nachdem ich am Abend vorher alle Männerkleider beiseite und die Frauengewandung so zurecht gelegt habe, wie wenn ich mich am Abend vorher aus ihr entfernt hätte. Oft muß ich jedoch vor dem Anziehen zum Barbier gehen, selbst kann ich mich leider wegen meines starken Bartwuchses nicht rasieren. Bartanflug stört meine Empfindung, ich fühle mich dann nicht Weib ge- nug, zumal da ich jetzt öfters als solches ausgehe. Früher habe ich das letztere nicht getan! um aber doch einen Ersatz dafür zu besitzen, machte ich mich damals öfter ganz fertig, wie wenn ich ausgehen wollte. Jedenfalls beschäftige ich mich als „Frau" zu Hause gut und viel. Meine Veranlagung fesselt mich ja auch stark ans Haus. Ich lese sehr viel auf allen möglichen Gebieten, namentlich auf demjenigen meiner Branche und habe auf diese Weise meine Kenntnisse vielseitig vertieft." Sehr eingehende Mitteilungen macht T. über die Toilettenkünste, die er anwandte, um sich ein recht weibliches Aussehen zu geben: Im Schminken brachte er es zu ziem- licher Fertigkeit; die Haare betupfte er allabendlich mit Wasserstoffsuperoxyd, damit der Bartwuchs nachlasse. Vorher wandte er einen Harzstift an, der erwärmt flüssig wird und aufgedrückt die Haare durch Ausreißen mit Wurzel beseitigt. Dies verursachte ihm große Schmerzen. Ferner ließ er sich aus Frankreich eine Büstenvergrößerungs- einrichtung kommen, durch die er seine Büste merklich vergrößert haben will, so daß er sich jetzt nicht mehr „auszustopfen" braucht. Zur Beseitigung männlicher Röte am Hals bediente er sich eines Bleichmittels, um die Augen feuriger zu gestalten, eines Augenwassers. Daß neben Schminke auch Puder verwandt wurde, erscheint nach allem sehr naheliegend, ebenso daß er die Weiblichkeit des Gesichtsausdrucks durch Ohrringe unterstützte und sich reichlich mit Parfüm versah. Viel Sorge bereitete ihm das Frisieren seiner weiblichen Perücke. Er nahm zwar keinen Unterricht im Damenfrisieren, wie andere mir bekannte Transvestiten, brachte es aber durch stundenlanges Üben unter Benutzung verschiedener Kunstgriffe schließlich so weit, daß er imstande war, sich eine gut passende Coiffüre herzustellen. Uber seine Kleidereinkäufe berichtet er: VI. Kapitel: Automonosexualismus 197 „Kleider habe ich mir wie viele Transvestiten von auswärts nach Katalogen kommen lassen, wobei ich um Beifügung einer auf den Namen irgendeiner Dame ausgestellten Kecnnung bat (die Sachen kommen immer unter Nachnahme). Zum Teil habe ich die Einkäufe auch selbst besorgt, und zwar kurz vor Weihnachten, weil jedermann als natür- lich annahm, es handle sich um Geschenke. Um den Glauben des Verkaufspersonals an das Geschenkeeinkaufen zu stärken, brachte ich immer Zettel mit, die Maßangaben trugen, obwohl ich zuletzt auswendig ganz genau wußte, was mir paßt. Ich sprach auch stets von „der Dame" und fragte schließlich, ob die betreffende Sache umgetauscht werden könne, wenn sie nicht gefalle oder nicht passe." „So kann ich mich nun" — schreibt er an anderer Stelle — „nett, aber unauffällig als Dame anziehen und viele Stunden zu Hause, zeitweilig auch auf der Straße be- wegen. Da mein Auftreten, namentlich in Gang und Haltung (auch a conto der 'jetzt modernen engeren Röcke) durchaus weiblich ist, vermuten Vorübergehende in mir nicht eine zum männlichen Geschlecht zu rechnende Person." Er fährt dann fort: „Auf der Straße angelangt, entferne ich mich rasch ohne umzusehen. Überhaupt habe ich mir das Umsehen erst abgewöhnen müssen, denn viele Herren suchen bekannt- lich am Abend Anschluß und vermuten in umherblickenden Damen Gleichgesinnte. Trotzdem bin ich schon mehrere Male mit recht freundlichen Worten zum Mitgehen ein- geladen worden. Ich habe mich dann wie wirkliche Damen verhalten, mich einfach herum- gedreht und bin zunächst einige Schritte zurück und dann langsam meinen Weg weiter- gegangen, bis der Attentäter so oder auf andere Weise unschädlich für mich war Um solche Begegnungen zu vermeiden, pflege ich den Schritt zu verlangsamen, wenn ich in einer der von mir meistens aufgesuchten menschenarmen Straßen gehe und einen Herrn vor mir habe, zumal einen dahinschlendernden. Antworten könnte ich bei meiner ziem- lich tiefen Stimme nicht und mit ungekünstelter Fistelstimme, wie es die Damenimita- toren tun, sprechen habe ich noch nicht erlernt. Wegen der Tiefe meiner Stimme kann ich auch die Straßenbahn nicht benutzen, ich muß daher meine Wege ganz per pedes zurücklegen, wenn ich spazieren gehe oder raeine Bekannten besuche, Wege, die ich als „Herr" allerdings nur mit der Straßen- bahn machen würde. Vor der Polizei, insbesondere vor den nicht uniformierten Be- amten (ich verkehre sogar mit einigen, ohne daß sie von meiner Veranlagung etwas ahnen), habe ich naturgemäß viel Furcht. Denn als grundehrlicher Mensch habe ich noch nie mit der Polizei oder dem Gericht irgend etwas zu tun gehabt, und auch der Gedanke, in Verdacht, wenn auch nur dahin zu kommen, ich sei ein Verbrecher, der in Frauenkleidung seinem lichtscheuen Handwerk nachgehen will, ist für mich fürchterlich. Das Volk, das bei einer etwaigen Ergreifung herbeizuströmen pflegt, erblickt mit be- greiflicher Abscheu in einem als Frau gehenden Manne gleich einen Verbrecher oder womöglich gar einen auf Raub ausgehenden 175er. Zudem fürchte ich auch, daß auf diese Weise in meinem Geschäfte meine Veranlagung bekannt werden könnte, so daß ich mich dort nicht mehr würde halten können. Jedenfalls führe ich bei meinen Ausgängen m der Handtasche regelmäßig meinen Militärpaß, eine Paßkarte, eine Photographie und mehrere Visitenkarten, auch einen Brief von zu Hause mit Umschlag mit, um mich nötigenfalls gut legitimieren zu können." Wie vielen Transvestiten ist es T. besonders peinlich, daß von Unkundigen Trans- vestiten so häufig mit Homosexuellen „in einen Topf geworfen werden". Er versichert wiederholt, daß er vor Homosexuellen „großen Abscheu" hat. Sein normaler Geschlechtstrieb ist verhältnismäßig sehr schwach; „ich betrachte mich als homosexuelles Weib", meint er in ganz logischer Übereinstimmung mit seinem weiblichen Empfinden, das die Frau als ein gewissermaßen zum gleichen Geschlecht gehöriges Wesen erachtet. Am ehesten ziehen ihn noch trauen zwischen 25 und 40 Jahren an, sanftmütige Naturen mit „schönlinigen" echt weiblichen Figuren und femininen Gesichtszügen. Pollutionsträume beziehen0 sich auf Frauen, denen er ähnlich sein möchte. 198 VI. Kapitel: Automonosexualismus T. ist unverheiratet. Seine geschlechtliche Entspannung findet er, indem er „beim Anblick seiner Weiblichkeit" masturbiert. Dies geschieht durchschnittlich etwa jeden 8. bis 10. Tag. Wenn er den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe vollzieht, was äußerst selten vorkommt, ist conditio sine qua non, beim Koitus unten zu liegen. Im übrigen liegt ihm aber masochistische Unterwürfigkeit dem Weibe gegenüber voll- kommen fern. Die Hauptsache, um eine sexuelle Befriedigung herbeizuführen, ist bei ihm das An- legen von vollständiger Frauenkleidung. Schon die ' Vorstellung hiervon macht ihn glücklich. Früher ha.t er stark gegen seine Neigungen angekämpft; wie schon oben berichtet, hat er sogar einmal alle seine Frauensachen verbrannt, ein anderes Mal ver- kauft; er ließ sich auch einmal einen Kinnbart stehen, um sich ein möglichst männ- liches Aussehen zu geben. Aber je stärker er gegen den Drang anging, als Weib auf- zutreten, um so heftiger und unwiderstehlicher brach nach einiger Zeit die Leidenschaft wieder durch. Am liebsten möchte er überhaupt nicht mehr Männerkleider tragen. Er betrachtet die Männerkleidung für eine Art „Dienstkleidung", als eine „Uniform", wie er sagt; wenn er Frauenkleider anzieht, geht er, wie er sich ausdrückt „in Zivil". Deshalb kann er es auch nicht leiden, wenn man bei ihm von „verkleiden, das sei doch maskieren, vermummen" spricht. In seinem Testament hat er bestimmt, daß er in seinem „derzeitig schönsten weiblichen Staat, angetan mit weiblicher Perücke begraben werde". Unser Explorat lebt in peinlich geordneten Verhältnissen, ist sehr solide und auch religiös. Zu letzterem Punkt bemerkt er: „Ich bin froh darum, denn dieser Umstand allein hat mich bisher davon abgehalten, dem Willen meines Schöpfers vorzugreifen, d. h. meinem im Verhältnis zur Außenwelt nicht glücklichen Zustand durch Selbstmord ein Ende zu machen. Ich hoffe innig, daß mir dieser Geist Zeit meines Lebens erhalten bleibe"; in seinem Fragebogen bezeichnet er sich selbst als „überzeugte Katholikin, aber keine Betschwester". Sein Bildungsgrad ist ein hoher, namentlich interessiert ihn Volks- wirtschaft und Verkehrswesen. Politisch ist er gemäßigt, er nennt sich „eine große Verehrerin von Kaiser Wilhelm II". Sein liebster Beruf wäre „Generalsekretärin einer Frauenorganisation". Er ist schlechter Rechner, aber guter Korrespondent, er näht, wäscht und kocht gern, Sonntags stellt er sich sein Essen selbst her. Ein großes Inter- esse hat er für Modeberichte. Auch ist er ein großer Tierfreund, nur „vor Spinnen, Käfern und Mäusen" hat er „Angst". Als Mann raucht er Zigarren, als Frau nur Ziga- retten. Sehr angenehm berührt es ihn, wenn man ihn in Frauenkleidung bei dem Mädchennamen „Martha" nennt, den er sich selbst zugelegt hat. Seine Briefe an Per- sonen, die von seinem Transvestitismus wissen, unterzeichnet er mit „Martha Glücks", um durch den Nachnamen auszudrücken, wie glücklich er sich als Weib fühlt. Deshalb schließt er seine Darlegungen auch mit den Worten: „Ich möchte am Ende meiner Aus- führungen noch hervorheben, daß ich mich, so eigenartig es auch klingen mag, in der weiblichen Kleidung durchaus glücklich fühle, wenn ich auch weiß, daß dieses Glück ein Unglück ist und wenn ich im vollen Besitze des Bewußtseins auch nicht eine Sekunde die Wirklichkeit vergesse. Ich habe deshalb auch kein Interesse an einer Befreiung von meiner Veranlagung." „Ich kann es offen bekennen, daß ich es mit Befriedigung ver- nommen habe, daß es eine Heilung dieses Zustandes kaum gibt, höchstens mit zuneh- mendem Alter. Sollte ich wider Erwarten meine Veranlagung doch einmal verlieren, so würde ich die Zeit meines Transvestitismus als die glücklichste meines Lebens be- trachten, vielleicht auch unglücklich über den Verlust sein und doch — ." Die körperliche Untersuchung T.s ergibt keine nennenswerten Abweichungen vom männlichen Körperbau. Er ist von mittlerer Größe und mittelkräftiger Muskulatur. Sein Gang ist als Herr fest und schnell, als Dame macht er kleine trippelnde Schritte, was aber wohl im wesentlichen auf das Tragen des Korsetts und der engen Röcke zurück- zuführen ist. Der Teint ist mehr dunkel, die Haare sind dicht und hart, der Bartwuchs ziemlich stark. Er errötet leicht, seine Schmerzempfindlichkeit ist groß. Hände und Füße sind verhältnismäßig klein (Damenschuhe Größe 41, Handschuhnummer 8). Die Handschrift zeigt virilen Typus. Schulter- und Hüftbreite sind nahezu gleich; Korsett- weite 72 cm. Der Kehlkopf ist männlich gebaut, wenn auch wenig hervortretend, Stimme VI. Kapitel: Automonosexualismus 199 infolgedessen tief. Der äußere Genitalapparat zeigt gänzlich männliche Beschaffenheit. Körperliche Bildungsfehler sind auch sonst nicht nachweisbar, die inneren Organe sind gesund. T. macht den Eindruck eines kräftigen Menschen, der weiß, was er will; seine Willenskraft ist, soweit sie nicht die Feminierung betrifft, gut. Es seien im Anschluß an diesen Fall noch wenige Worte über das soziabile Verhalten automonosexue 1.1 er Personen vermerkt. Da sie fast ausschließlich mit sich selbst be- schäftigt sind, erotische Empfindungen für das männliche und weibliche Geschlecht vollkommen fehlen, auch Familieninstinkte kaum vorhanden sind, so ist es begreiflich, daß diese Men- schen im allgemeinen ganz ihre eigenen Wege gehen, oft ausgesprochen menschenscheu, Sonderlinge und Eigenbröd- ler sind. Manche leben ganz zurückgezogen, die meisten reiten irgendein Steckenpferd oder finden ihre Freude im Sammeln irgendwelcher mehr oder weniger seltenen Gegenstände. Dabei ist ihre Intelligenz durchschnittlich gut. Daß die ungünstigen Eigenschaften, die K o h 1 e d e r in dem ersten von ihm beobachteten Falle fand: „ganz krasser Egoismus und Selbstdünkel, Selbstüber- schätzung, verbunden mit einer bedauernswerten Herzlosigkeit gegen alles, was nicht die eigene Person betrifft" typische Begleit- erscheinungen jedes Falles von Automonosexualismus sind* kann ich nicht bestätigen. Die Freudsche Schule hat den Standpunkt vertreten, daß der Narzißmus eine normale Durchgangsstufe in der Sexual- geschichte aller Männer und Frauen sei. Dr. Heinrich Körber hat in einem sehr instruktiven Artikel: „Die Freudsche Lehre und ihre Abzweigungen" 5) erwähnt, daß Freud für die Libido bei n o r m a 1 e r Entwicklung folgende angeblich stets zu findende Reihe von Be- setzungen annimmt. Die sexuelle Libido beginne beim Kinde mit einem reinauto erotischen Zustand, in dem am eigenen Körper durch Beiben, Jucken, Lutschen Lust erzeugt wird, dann käme es etwa im z w e i t e n Lebensjahre zur erstmaligen Wahl eines Partners, und zwar müsse diese erste Liebesobjektwahl infolge der ge- gebenen Personalverhältnisse inzestuös ausfallen. Hierauf folge ein Stadium des Latentwerdens der Libido, in welchem die psy- chischen Energien des Kindes durch Erlernen des Sprechens, Schrei- bens und Lesens sowie durch Pflichtanforderungen der Realität voll beansprucht würden. Danach soll, und zwar noch vor Beginn der Ge- schlechtsreife, ein Stadium des Narzißmus folgen, als eine „Wiederaufnahme des primären Autoerotismu s". Dieser Narzißmus werde dann abgelöst durch die Pubertät, in welcher es zum zweiten Male zu einer Objektwahl kommt, und zwar scheine diese in der ersten Hälfte des Entwicklungsstadiums durch- 5) Zeitschr. f. Sexualw. Bd. 3, H. 1, April 1916. 200 VI. Kapitel: Automonosexualismus gehend das eigene Geschlecht zu betreffen, um dann erst zu dauernder Fixation auf das andere Geschlecht überzugehen. So sei es „im normalen Verlaufe". Bei Psychoneurotikern aber könne diese Entwicklung auf jeder Stufe zu einem vorläufigen Ab- schluß gelangen. Darauf beruhten dann die sexuellen Anomalien. Dieses Schema wäre' ganz plausibel, wenn es einer objektiven Nachprüfung standhielte, was jedoch keineswegs zutrifft. Auf alle seine Irrtümer hier einzugehen, würde zu weit führen, nur hinsicht- lich des Narzißmus und Autoerotismus sei bemerkt, daß es durchaus nicht, wie behauptet, eine reguläre Begleiterscheinung der Vor- pubertät ist. Wohl kommt die Onanie in diesem Lebensalter in nahezu physiologischer Verbreitung vor, nicht aber ist damit ständig ein Verliebtsein in sich selbst, ein davon sehr zu unterscheidender Vor- gang verbunden. Kichtig ist, daß der Automonosexualismus — wie beiläufig bemerkt, fast alle sexuellen Anomalien — in der Puber- tätszeit zuerst in die Erscheinung tritt, anfangs unbe- wußt, um allmählich mehr und mehr in das Bewußtsein zu treten, richtig ist wohl auch, daß gelegentlich in der Keifezeit eine vorüber- geh ende autistische Periode auftritt, die nach einiger Zeit wieder verschwindet; unrichtig ist es aber, anzunehmen, daß der Auto- monosexuelle ähnlich etwa wie der Infantile, auf einer sexuellen Ent- wicklungsstufe stehen bleibt, die für ein bestimmtes Lebensalter die Norm ist. Die Norm ist, daß im Pubertätsalter das seelische Ver- langen erwacht, das man sprachlich so treffend als Neigung be- zeichnet hat, weil der Mensch sich eben einer zweiten Person in Liebe zuneigt, sich ihr zuwendet (im Sinne von Tropismus, was Wendung bedeutet); ihr folgen zielstrebig die Sinnes- und zu- meist dann auch die Bewegungsorgane (von sequi = folgen leitet sich das Wort sexus = Geschlecht her). Davon, daß zuvor die eigene Gestalt eine solche Keaktion hervorruft, ehe dies eine zweite tut, kann ganz und gar nicht die Rede sein. Der im Automonosexualismus zutage tretende Defekt, nicht auf Außenreize zu reagieren, der mangelnde Trieb, sich einem zweiten Wesen zu nähern und sich mit ihm zu verbinden, stellt einen schweren Ausfall dar, dessen Ursachen wir nicht kennen, die aber sicherlich von erheblichem Gewicht sein dürften. Entweder kann es sich um einen angeborenen Bildungsfehler im zerebralen Sexualzentrum handeln, oder um eine Störung in der inneren Sekretion, die das Zentrum nicht so speist, daß es katalytisch von außen beeinflußt wird oder es könnten auch wohl abnormale Verhältnisse in den Eindrucks-, Assoziations- und Hemmungsbahnen vorliegen. Vielleicht wirkt auch mehreres zu- sammen, jedenfalls stellt der Automonosexualismus, bei dem die eigene Person Subjekt und Objekt, aktiver und passiver Teil, Reizquelle und Lustquelle zugleich ist, unter den sexuellen Perversionen eine gut abgegrenzte VI. Kapitel: Automonosexualismus 201 Gruppe für sich dar. Wir stimmen hierin E o h 1 e d e r vollkommen bei, wenngleich wir diese Anomalie nicht für so ungemein selten an- sehen können, wie er es tut. Man könnte vermuten, daß bei dem Automonosexuellen eine Art Spaltung der Persönlichkeit eintritt, er also in sich selbst nach der philosophischen Maxime: „ich setze mich und habe ich mich gesetzt so habe ich ein nicht- ich gesetzt" (setzen hat hier die Bedeutung von vorstellen), im Grunde nicht sich, sondern einen an- dern liebt So glaubt Petermann in seiner Arbeit über Phan- tomenliebe ), daß es sich bei dem erotischen Gebrauch des Spiegels um die Schaffung eines „ideellenPartners" handle; er sagt: Tiere kleine Kinder nehmen das Spiegelbild für Wirklichkeit. Stubenvögel hacken nach ihrem vermeintlichen Eivalen, Kinder unterhalten sich mit ihrem Spiegelbilde, das sie je nach Laune schlagen oder küssen. Allen, Naturmenschen, die schon das Wesen des Glases erkannt haben suchen hinter demselben einen wirkliehen anderen. Daß die Erkenntnis von der Identität des Spiegelbildes mit der eignen Person verhältnismäßig so schwer Eingang findet, liegt wohl darin, daß der Mensch sein Gesicht niemals direkt sieht, also ohne Unter- stützung durch den Spiegel meist nicht nur vergißt (Jacob I ?3 *4) sondern überhaupt nie erfährt, wie er gestaltet ist." Ob Narziß sich der Identität der vom Wasser reflektierten Person mit seinem eigenen Ich überhaupt bewußt war, hält Petermann nicht für geklart. Es ist deshalb keineswegs so schwer, die so mühsam ge- wonnene Einsicht aus dem Bewußtsein wieder auszulöschen, und die eigene Person gleichsam in zwei Hälften zu spalten, von denen die eine handelt und die andere, wenn schon die nämlichen Be- wegungen vollführende, gleichsam als Objekt des Handelns gedacht ist. Daß es sich im Automonosexualismus bei dem Ich als Subjekt und bei dem Ich als Objekt bis zu einem gewissen Grade um zwei verschiedene Wesen handelt, ist zuzugeben, es ist aber nicht einzu- sehen, weshalb Personen, denen reale Partner außerhalb Ihrer selbst genügend zur Verfügung stehen, sich in ihrem Spiegelbild einen „ideellen" Partner suchen. Gerade in dieser Identifizie- rung des Reizabsenders und Reizempfängers liegt das Absonderliche und Pathologische der Erscheinung. Dieser Umstand hindert allerdings nicht, daß der Narzißmus zu allen anderen sexuellen Störungen Beziehungen aufweisen kann Das haben die oben angeführten Beispiele deutlich gezeigt. Wir sahen den Automonosexualismus auf transvestitischer, zis- vestitischer und hier wiederum auf inf antilistis'cher Grundlage, wir sahen ihn in Verbindung mit dem Sadismus und Masochismus. Wir erwähnten seine Verwandtschaft zum Feti- schismus und die exhibitionistische Komponente, die ihm ß) Zeitschr. f. Sexualw. 1908, S. 295. 202 VI. Kapitel : Automonosexualismus innewohnt. Selbst eine Neigung zum Inzest könnte man im Auto- monosexualismus erblicken. Ist es doch sozusagen der nächste Bluts- verwandte, welcher geschlechtliche Empfindungen auslöst. Die engste Verbindung zeigt der Automonosexualismus natur- gemäß mit der S c h a u 1 u s t. Auch hier im gleichzeitigen Drange sich zu zeigen und sich zu sehen, sehen wir, wie er das sonst Ge- trennte vereint, das Gegensätzliche zusammenfaßt. Dieser monistische egozentrische Charakter ist es, der die automono- sexuelle Selbstliebe in so scharfen Gegensatz bringt zur Liebe über- haupt, deren Wurzel und Wesen gerade der Dualismus und Alt- ruismus ist. Hierin liegt aber, auch zugleich die verhältnismäßige Harm- losigkeit dieser Anomalie begründet. Es wird durch ihre Betäti- gung niemandem ein Schaden zugefügt, wenigstens kein positiver, höchstens ein negativer, indem anderen etwas entzogen wird, was ihnen eigentlich zukäme. Doch auch hier ist es noch fraglich, ob diese ausbleibende Benutzung von Keimzellen nicht im Interesse der Degenerationsprophylaxe erfolgt. Wenigstens ist bei ausge- sprochenen Automonosexuellen eine neuropathische Färbung unver- kennbar und eine konstitutionell psychopathische Grundlage sehr wahrscheinlich. In der Behandlung des Automonosexualismus muß neben dem Angehen gegen die nervösen Ursachen, Beigaben und Folgen, neben der Kräftigung der Willensenergie Ablenkung der Geistestätigkeit und Regulierung der Lebensweise vor allem die Frage entschieden werden, ob und inwieweit dem autistischen Drange nachgegeben werden soll. Hier wird zweierlei zu berücksichtigen sein. Zunächst ob noch Aussicht vorhanden ist, die Triebrichtung von der eigenen Person auf andere abzulenken. Bis in die Mitte der zwanziger Jahre wird man solche Hoffnung wohl hegen dürfen. Dabei wird man auch prüfen, ob anzunehmen ist, daß der abgeleitete Trieb die normal- sexuelle Richtung einschlagen wird. Andernfalls wäre nichts ge- wonnen. Wenn diese Vorbedingungen gegeben sind, kann mit Zuhilfe- nahme der Psychotherapie alles versucht werden, die Patienten von dem autistischen Verliebtsein in sich selbst zu befreien. Hat man sich aber von der Unmöglichkeit der Unterdrückung und den schädlichen Folgen der gewaltsamen Verdrängung überzeugt, dann wird man sich den Satz vor Augen halten, den Eduard von Hart- mann in seiner „Philosophie des Unbewußten" vertritt, „daß die Nichtbefriedigung eines Triebes für das betreffende Individuum ein größeres Übel sei, als die maßvolle Befriedigung". Die Frage, was maßvoll ist, was das Maß überschreitet, wird im Einzelfalle ver- schieden zu beantworten sein. Wir haben aber weder das Recht, noch einen ausreichenden Grund, einem Menschen etwas zu versagen, was ihn selbst erleichtert und beruhigt, ohne daß er das Rechts- gut eines anderen verletzt. Namen» Register Abölard 17. Adler, Otto 137. A n c e 1 39. Anton 42. Aristoteles 24. Arumugam 85. Asch, Robert 74. Askanasy 73. Augustus, Kaiser 185. Back, Georg 145, 154. B a e c h i e , B. 144. B a r a d u c 145. Barati er, Job. Philipp 81, 82, 85. Benninghoven 75. Berger, Oskar 131. B i e d 1 6, 69. B i s s i n g , von 163. Bloch, Iwan 121, 127, 168, 175, 183. Bottermund 26. B o u i n 39. Brandes 10. Braun 179. B r o c c h i , Carlo 17. Brown Sequard V, 111. Brück 147. Burchard, Ernst 31, 45, 74, 98, 115, 183. Burs 160. Campe, J. H. 82, 168. Car u s 77. C a s p e r 147. C e 1 s u s 178. Cohn, Herrn. 171. Colburn 85. Conty 67. Cortenajera 67. Crescentini 14. Dalberg, v. 168. Darwin, Charles 3. D a s e , Job. Mart. Zacharias 84—85. Deslandes 152. D e v o y 145. Diogenes 137. Donner 132, 136, 146. D o u s s i n 151. Diamant 67. D ü c k , Johannes 131. Dukes 131. Dürer, Albrecht 81, 85. E 1 i n g e r 160. Ellis, Havelock 120, 129, 182, 183, 185. Eulenburg, Albert 129, 152. Faust, Bernh. Christian 168—169. Fecaube 151. Feuchtersieben, E. v. 171. F i n o 1 1 i 39. Fließ, Wilhelm 88, 179. Fournier 145, 178. Fr an kl, Moritz 84, 85. Freud, Sigm. 80, 124, 145, 159, 161, 175. F r i e d r e i c h , 146. Fürbringer 179. G a s i o , Demetrius 144. Gattel 159. Gebhardt 67, 68. G e r v a i , Laura 97. Glaevecke 27. G 1 y n n 69. G o e r k e 75. Goethe IX, 168, 177. Grassmann, Robert 171. Groß, Siegfried 7, 9, 26, 39. Grünbaum 27. Hagenbach 160. Hahnemann 170. 204 Namen-Register H a 1 b a n 75, 76. Haller, A. v. 67, 77. Hammond 129. Hartmann, Eduard von 202. Heck er 105. Hegar, Alfred 3, 26. Heineken, Christian Heinrich 81, 82, 85. Heinemann, Karl 177. Heller 112. Herder 168. H e r f f 27. Herz, Max 159. Hess, A. 81. Hippokrates 161. Hirschfeld, Magnus 5, 8, 14, 16, 21, 30, 31 ff., 41, 43, 44, 45 ff., 52 ff., 54 ff., 58 ff., 61 ff., 64, 71 ff., 74 ff., 79 ff., 91, 95, 98 ff., 108, 115 ff., 122 ff., 130, 131—132, 134 ff., 138 ff., 141, 148 ff., 153, 159, 172 ff., 179, 182, 183 ff., 186 ff., 188, 189 ff., 191 ff., 193 ff., 201. Hitzig 113. Hochenegg 7. Hof meier 68. Holländer 110. Hoven, von 152. Hufeland 129, 168. Hyrtl, Jos. 140. I n a u d i , Jacques 84, 85. Juliusburger, Otto 48. Kaan, Heinrich V. Kant, Immanuel 152. Kellner 40. K e p p 1 e r 26. Kisch, E. H. 67, 77, 108. K o e r b e r , Heinrich 199. Kötscher, L. M. 105. Kowalewski 108. Kraepelin,E. 105, 106, 160. Krafft-Ebing,v. V ff., 51, 61, 64, 65, 78, 111, 112, 113, 140. Kurkiewicz 120. Kußmaul, A. 67, 68, 77. Lall em and 152, 179. Landau, Theodor 27. L a n t i e r 77. L a s e" g u e 30. La tarnend) 121, 182. Lepinasse 21. Leppmann, Fritz 61, 04. L e y d i g , Franz 5. Lichten stern 10, 18—21. L i e s a u 27. L i n s e r 73. L ö w e n f e 1 d , L. 25, 160. Mantegazza, Paul 136. M a r c u s e , Julian 101. M ar c u s e , Max 80, 110, 111, 127. M a r i q u e , L. 144. Marr 190. Martin, Aug. 26, 77. Meirowsky 131. Meisel-Heß, Grete 97. Mendel, Kurt 110. Michaelis, Karin 107. Molitor 77. Moll, Albert 80, 185. Monillac, Valletau de 110, 111. M o n t g o m e r y 77. Moreechi 14. Mozart, W. A. 81, 85. N ä c k e , Paul 15, 121, 182. Napoleon I. 14. Narcissus 182, 185. Nietzsche, Friedrich 167. N i k i s c h , Arthur 81. O b m a n n 67, 69—73. Oestreich-Stawyck 73. Onan 120, 182. i O r i g i n e s 17. d ' O u t r e p o n t 77. Pellici 69. Peretti 160. Petermann, Theodor 186, 201. P e y e r , Alexander 142. Placzek 97. Ploß, H. 67, 77. Plyette 68. P öhler 82—83, 85. Poll, H. 4. Q u a d r a , Hostius 185. Rank 145. Reik, Theodor 161. Ribbing 160. Robinson, Julian 49. R o e m e r , v. 167. Rohleder, Hermann 119, 129, 131, 136, 143, 148, 178- 179, 182, 199. Namen-Register 205 Rossini 14. Rousseau, J. J. 49. Sacchi 73—74. Sa dg er, J. 124. Scheuer, Oskar 74. Schiller, Friedr. v. 168. Schimmelbusch 156. S c h 1 e i d t , Josef 6. Schmutz, Gregor 82. Schrenck - Notzing, v. 163. Seerley 131. Seneca 185—186. Stabel 10. Steinach, E. VI, 6, 10, 20. Steinbacher 176. S t e k e 1 , Wilhelm 124, 131, 156, 159, 164. Strohmayer 39. Stumpf, C. 82—83. Sueton 186. T a c i t u s 186. Tandler, Julius 7, 9, 26, 39. Tausk, Viktor 124. Teßmann, Günther 138. Tissot, Simon Andre 120, 151, 152. Tolstoi 150. Tschisch 105. Valera 185. V e 1 u 1 1 i 14. Weiß mann, August 3. W es ton 80. Ziehen, Theodor 126. Sach=Register Aborte, kriminelle 115 — 117. Absenzen, epileptische 92 — 93. Abstinenz, und Onanie 127 — 128, und Angst 159, und Blasenneurose 159—160. Äquivalente, sexuelle 175 ff., 183. Atzungen, bei Onanie 179. Aknepusteln, bei Frühreife 70. Akromegalie 7, 30, 69. A k t b i 1 d e r 186 ff. Alkoholismus, bei Infantilen 59 ff. Altern, bei Infantilismus 41. A n a 1 z o n e , Reizung 124 — 125. Anandride 9, infantiler 11 — 12, Typen des 12. A n d r i a 5. Angstneurose 87, 158 — 159. Aplasie, genitale 12, 13, 25, 29 bis 65. Ascaris 125. Askese, als Motiv der Kastration 14. Asthma 158. Atrophie, der Genitalien 6 — 7, der Hoden 7—8. Aufklärung, geschlechtliche 163 bis 165. Ausdrucksbahn, sexuelle 5. Ausfallserscheinungen 6 ff. A u t i s m u s 120. Autoerastie 121, 181—202. Autoerotismus 120, 181—202. Autofetischismus 191. Autoflagellanten 190. Automonosexualimus 181 bis 202. Autosadismus 191. Autosuggestion, und Impotenz 155. Azoospermie, bei Kryptorchis- mus 31. Baby -Bälle 44. Bartwuchs, Fehlen bei Infantilis- mus 41, bei weiblicher Frühreife 74, 75. Beckenmaße, nach Kastration der Frauen 26, bei Infantilismus 41. Bettnässen 146. Bildersammlungen, erotische 49, 63, 186. Blasenneurose, bei Onanie 159, bei Abstinenz 159—160. Blutänderung, toxische 112. Briefe, Infantiler 49, von Onani- sten 150. Brüste, Veränderung bei kastrier- ten Frauen 27, bei Infantilismus 41, bei Frühreife 75, 77, Reizzustände 125, Onanie an 141. Bucklige, Genitalien der 40. Charakter, und Onanie 145. Cheiromanie 119. Chemismus, sexueller 87. Chorea minor 90 — 91. Clitoris, peniformis 76, Sensitivi- tät 122, Reizzustände 125, Exstir- pation bei Onanie 179. C o i t u s , interruptus s. reservatus 120. Colliculus seminalis, bei Ona- nie 146. Cunnilinctio 79, 128. Dämmerzustände, in der Pu- bertät 93. Dementia praecox 105 — 106. Diät, bei Onanie 167 — 169, seelische 170—171. Sack-Register 207 Differenzierung, sexuelle 2 — 3. Digitatio 128. Dipsomanie 93. Doppelgeschlechtliche An- lage 3. Dromomanie 93. Druck, als Form der Onanie 130 bis 131, 139. Effemination 110. Eierstock s. Ovarium. Eierstocksgeschwulst, als Ursache vorzeitiger Menstruation 68. Eifersucht, im Klimakterium 109, 110. Eindrucksbahn, sexuelle 4 — 5. Ejakulation, Fehlen der 8, prae- cox 128, 155. Ekzem 125. Endokrine Drüsen 25. Epilepsie 61, und Pubertät 92 bis 93. Epiphyse 6, 69, bei Frühreife 73. Erektion, bei Kastraten 24, als veranlassendes Moment der Onanie 122. Erotisierende Substanz, Zu- sammensetzung der 25. Erpresser, hysterosexuelle 97. Erregungszustände, sexuelle, bei Epilepsie 92. Errötungsfurcht 91. Erschöpfbarkeit, bei Genital- atrophie 9. Eunuchen 13 — 14, Arten der 24. Eunuchoidismus 9. Exhibitionismus, bei Infantilen 61 ff., in der Pubertät 93 und Auto- monosexualismus 186. Facies anorchistica seu ca- stratica 18. Felddienstunfähigkeit, der Kastraten 18. Femorale Onanie 138 — 139. Fetischismus, bei Infantilen 61 ff. und Narzißmus 189. Fettverteilung, bei Genitalatro- phie 9, bei Kastraten 16, 19, 23, 27, bei Infantilismus 41. Fingernägel, Abknabbern der 91, 146. Frühreife 66—85, Formen 67, ge- nitale 67 — 76, Erkrankungen der Zirbeldrüse 69, 73, der Nebennieren 69, 73, der Hypophyse 72, körper- liche 76 — 77, psychosexuelle 77 bis 80, Geschlechtstrieb 77 ff., bei Tie- ren 80, psychische (Wunderkinder) 81—85. Geburt, bei sexueller Frühreife 77. Gedankenonanie 129. Gedankenunzucht 129, 161—162. Gefährliches Alter 107. Gehirnerweichung, angeb- liche, durch Onanie 151. Geistige Fähigkeiten, bei Eu- nuchoidismus 11. Geschlechtscharaktere, Vierteilung der 4. — primäre 3. — sekundäre 3 — latente 3. — essentielle 4. — akzidentelle 4. — subsidiäre 4. — extragenitale 4. — ' innere 4. — äußere 4. — Vermischung der männl. u. weibl. 74. — der Kastraten 19—20. G eschlechtsdrüsenausfall 1—28, Arten 27—28. Geschlechtsentwicklung, Perioden der 1 — 3, bei Frühreife 66 ff., 77 ff. Geschlechtstrieb, Einteilung seiner Phasen 4 — 5, bei Eunuchoidis- mus 10, bei Kastraten 17, 24, bei In- fantilismus 30, bei Frühreife 77 ff. Geschlechtsunterschiede, Entwicklung der 1 — 2. Geschwister, Geschlechtsverkehr 79. Gerontophilie, bei Infantilen 48 ff. Gerüche, als Lustquelle 188. Gigantismus infantilis 30. G y n ä z i n 5. Haar, Ausfall bei Kastraten 19 bis 20, 22; Haarbildung bei weib- lichen Kastraten 27, bei Infantilis- mus 41, 44, Abrasieren des 44, bei Frühreife 70, Ausfall bei Onanie 145. Hämmlinge 24. Harnbrennen, bei Onanie 146. 208 Sach-Register Harndrang, bei Onanie 146. Haut, kastrierter Frauen 26, -af- j fektionen als Ursache von Onanie 124—125. Heminungsbahnen, sexuelle 5. Herzneurose, bei Onanie 158. Hoden, Hypoplasie der 8 ff., Schüsse 17—20, Kryptorchismus 7, 31 ff.; ; Bauchhoden 38 ff., Leistenhoden 38 ff., bei Frühreife 69 ff., Alveolar- karzinom 73. Hoden, retention, Schwachsinn bei 40. Hoden sack, Herabhängen 146. Homosexualität, angebliche, nach Onanie 156. Hosen, und Onanie 168—169. Hypertrophien, genitale 154. Hypnose, bei Onanie 162—163. Hypochondrie, bei Onanie 145, 150—153. Hypophyse, Beziehung zur Sexu- alität 6—7, 25, bei Infantilismus 30, bei Frühreife 69. Hypoplasie, genitale 8 ff., 12 — 13, 29 — 65, kardiovaskuläre bei Infanti- J lismus 41, bei Frühreife 72. Hypospadie, bei Infantilismus 40. 52. Hysterie, in der Pubertät 96 ff. Ideelle Kohabitation 129. Impotenz, nach Hodenschüssen 19 bis 21, ohne frühere Onanie 132, nach Onanie 155—156, Formen 155. Indifferenz, sexuelle 2 3. Infantilismus 29—65, beim Manne 11—12, beim Weibe 12—13, Formen des 30 ff., genitaler 30—40, somatischer 40 — 41, psychischer 41 bis 47, psychosexueller 47 — 51, und Kryptorchismus 31 ff., körperlich- geistiger Merkmale 40 — 41, juveniler 42 ff., Gerontophilie 48, Masochis- mus 48—49, Briefe 49, senilis 58 ff., Alkoholismus 59, Attentate auf Kin- der 58 — 65, Exhibitionimus 61. Infibulation 178. Innere Sekretion, der Keim- drüsen 5 — 6, anderer endokriner Drüsen 6 — 7, bei Infantilismus 39, 59, bei Frühreife 76, und Dementia praecox 105 — 106, und Menstruation 111 ff., und Onanie 121. Instrumentelle Behandlung, bei Onanie 178. Intellekt, bei Infantilismus 30. Intertrigo 125. Involution s. Rückbildungsvor- gänge. Inzest 79—80. I p s a t i o n 120, im übrigen s. Onanie. Jucken, nach Onanie 158. Jugendliches Aussehen, bei Infantilismus 40. Juveniler Infantilismus 42 ff. Kastration, bei Tieren 13, beim Manne 13—25, beim Weibe 25—28, therapeutische und prophylaktische 14—15, Felddienstfähigkeit bei 18, Spätkastraten 21—24, Geschlechts- trieb nach 24, Erektionsfähigkeit bei 24, Arten der 24, vorzeitiges Kli- makterium bei 26, bei Dementia praecox 105, bei Onanie 179—180. Kehlkopf s. Stimme. Keimdrüsen, extrasekretorischer und innersekretorischer Anteil der 5—6. Keimschlaf 2. Keimstöcke, erstesAuftreten der 2. Keuschheitspickel 145. Kinder, Attentate Infantiler auf 58 bis 65, Geschlechtstrieb und Ge- schlechtsbetätigung 77 ff., Psycho- pathie 78, Onanie 132—134. Kindesmord 115. Kirchenstaat, Kastraten im 14. Kleidung, der Infantilen 44 ff., und Onanie 168—169, und Narzißmus 192. Kleptomanie 93. Klimakterium 2, vorzeitiges bei Kastration der Frauen 26, Störungen im 107—109, virile 110— 111. Klitoridektomie 179. I Knaben, Frühreife 69 ff. I Knochengerüst, bei Infantilis- mus 41, bei Frühreife 71, 73, 75. Kör. perÜbungen 167. Kohabitoide Onanie 139—140. Kolik, bei Onanie 159. Kopftraumen 61. Korsett 191—192. Kotschmieren 102. Krieg, Genitalverletzungen im 17 i bis 18. Sacli-ßegisfer 209 K riegsverwendungsfähig- keit, bei Eunuchoidismus 11. Kryptorchismius 7, infantilisti- sfher Charakter 31 ff., Spermatoge- nese und Zwischenzellen bei 39, Schwachsinn bei 39 ff. K otseher, weibliche 49. Labien, Sensitivität der kleinen 122^ Eeizzustände 125. Latenz, Stadium der sexuellen 3. Leistenbruch 8. Libido 25, bei Frühreife 77 ; Ent- wicklungsgeschichte nach Freud 199 bis 200. Liehen ruber 125. Liebeshaß 96—97. Lipo w an er s. Skopzen. Macrogenetosomia praecox 69. M a d c h e n , Frühreife 67 ff. Malerei, Begabung von Wunder- kindern für 81. Mammillare Onanie 141. Mann, Klimkaterium des 110—111. Manuelle Onanie 137—138. Maskulierang 6. Masochismus, und Infantilismus 48, in der Pubertät 99, und Onanie 141, und Autoerotismus 190—191. Mastodynie 107. „Masturbantenherz" 158. Masturbation s. Onanie. Medikamente, bei Onanie 177 bis 178. Menstruation Verhalten nach Ka- stration 26, vorzeitige 67—68, Sexu- alstörungen und Krisen 111—114, als Ursache der Onanie 123 — 124. Migräne 91—92. Monosexuell 182. u s i k , Begabung von Wunderkin- dern für 81. Muskulatur, erotische Bedeutung 187. Muttergefühle, bei Kastraten 17. Narzißmus 121, 181—202. Nase, Ätzung der Genitalpunkte 179. Nebennieren 6, 69, bei Frühreife 73. Neuralgien, im Klimakterium 107. ' Hirsehfeld, Sexualpathologie. I. Neurasthenie, sexuelle 157 bis 158. N y m ii h o in an i e 109. Objekt wähl, erotische 199—200. Onanie 118 — 180, Kastration bei 15, bei Ovarienmangel 25, angebliche Ursache der Dementia praecox 106, mutuelle 120. Name und Begriff 119 bis 121. Ursachen 121—130, Verbrei- tung und Häufigkeit 131 — 137, Ipsa- tionsformen 137 — 143, Diagnose 143 bis 147, Ipsationsfolgen 148—162. Behandlung 162—180. O n a n i a incompleta 143, i n t e r- rupta 142 — 143. prolongata 142. Onaniekalender 134—135. Operative Therapie, der Ona- nie 178—179. O r a 1 e Onanie 140 — 141. Orgasmus 25. Ovarine 111. Ovariura, Verkümmerung 12 — 13, Veränderungen bei Menstruatio praecox 68. < > xyuris 125. Pädophilie 31 ff., 48, 51 ff. Paradoxia s e x u a 1 i s 78. 1' a r a n o i a c 1 i m a c t e r i c a 107 bis 109. Pedikulosis 125. Periodizität, sexuelle, bei Ka- straten 17. Perücken 189—190 . Perversion, sexuelle, Ursache von Onanie 128. Phallusimitationen 128. Phantomenliebe 201. P i g m e ii t a t i nri , Verschwinden bei kastrierten Frauen 26. Pollution 130. Populäre Literatur, über Ona- nie 151—152. Prolongierte Onanie 142. Prostata, Sekret der, im Ejakulat 21, erotisierende Bedeutung 24, im Klimakterium 110. Prostitution in der Pubertät 104. Pruritus genitalis 107, 125. Pseudohomosexualität 127. Pseudologia phantastica 93 bis 96. 14 210 Sach- Register Psychopathische Konstitu- tion 93, als Ursache der Onanie 126—127, 157, hei Narzißmus 202. Psychosen, klimakterische 107 ff., angebliche, nach Onanie 160 — 161. Psychotherapie 202. Pubertätsdrüse 6, 21. Pubertätskrisen 88—106, 135. Pupille, bei Onanie 145—146. Quartalstrinkerinnen 113. Rechenkünstler, Kinder als 81 bis 85. Eeflexe 158. Reizerscheinungen, bei Ona- nie 146, 158. Reizstellen, erogene 126. Riesen, Genitalien der 30. Riesenwuchs s. Akromegalie. Rückbildungsvorgänge, se- xuelle 2, 58 ff. N lickenmarkssch windsucht, angebliche durch Onanie 151. Säuglingspflege, angebliche Ursache der Onanie 124. Samen flecke, Diagnose 143 — 144. Samenkanälchen.in kryptorchi- schen Hoden 39. Schaulust 202. Schilddrüse 6, 25. Schlaf, und Onanie 167—168. Schlaflosigkeit, und Onanie 127. Schluckhemmungen 91. Schmerzempfindlichkeit. bei Genitalatrophie 9. S c Ii m i n k e n 190. Schmuck, als Lustquelle 188. Schrift, bei Infantilismus 41. Schuldbewußtsein, bei Onanie 153. Schwachsinn, bei Kryptorchis- mus 39 — 40, bei Frühreife 80, bei Wundeikindern 85, und Menstruation 113. Schwangerschaft, bei sexuel- ler Frühreife 77. Schwindler, pathologische 93 bis 96. Selbstbefriedigung 119. Selbstmord, in der Pubertät 97 bis 98, und Onanie 148 ff. Sella turcica, Vergrößerung der 7, bei Frühreife 71, 75. Seniler Infantilismus 58 ff. Sexualkrisen 86—117. Pubertät i 88—106, Klimakterium 106—111. Menstruation 111 — 114, Schwanger- schaft und Geburt 114—117. Skabies 125. S k o p z e n 14. Soziabilität, bei Automonosexu- alismus 199. S p a d o n e s 24. Spätreife 66, Spermatogenese, Fehlen bei Kryptorchisinus 39. Spiegel, Rolle beim Automono- sexualismus 183 ff. Spiegelzimmer 185 — 186. Statistik, der Onanie 131 — 132. S t e r i 1 i s i e r u n g 8, der Geistes- kranken und Verbrecher 15—16. Sterilität 10, 12—13. S t i m m e , und Kehlkopf bei Genital- atrophie 9, bei männlichen Kastra- ten 14, bei kastrierten Frauen 26, bei Infantilismus 43. bei Frühreife 70. 72, 74, 75. Stottern, in der Pubertät 91. „Strohwitwen", Onanie 128. Sturm- und Drangperiode, sexuelle 89. Sublimierung 175. Tagtraum, sexueller 129. Taktische Reize 122—123. Tanz 190. Thibii s. Hämmlinge. T h y m u s d r ü s e 6, 25. Tiere, infantile Sexualität bei 80. Onanie 124, 136. Tiks 91. Transplantation, der Hoden 10. 20—21. Transvestiti smus 192—199. T yph.us 61. Unbewußte Onanie 129—130. Unfruchtbarkeit s. Sterilität. Unterbrochene Onanie (O. in- terrapta) 142—143. ..Unwohlsein" 112. Urethrale Onanie 141. Urtikaria 125, 158. Sach- Register 211 Vasektomie 15. Vasomotorische Störungen 107, 112, 158. Veitstanz 90—91. Verbrecher, Sterilisierung der 15 bis 16, jugendliche 98—103. Vererbung, des Verbrechens 15. Verführung, zur Onanie 121—122. Vogel schädel 52, 63. Wallungen, bei kastrierten Frauen 27, im Klimakterium 107. Wasserbehandlung 166 — 167. Weib, Onanie beim 135—136. Weißer Fluß 125. Willenserzieh u ng bei Onanie 171 ff. Wunderkinder, Infantilismus 41, Sexualleben der 80, Seelenleben und künstlerische Begabung 81 ff., Lü- becker 81—82, fränkisches 82, Braun- schweiger 82. Zentraler Sexualdrang 5. Zeuginnen, menstruierende 113 bis 114. Zirbeldrüse s. Epiphyse. Zuhälter, in der Pubertät 103 bis 104. Zurechnungsfähigkeit, bei Infantilismus 55, 58, 59, der Kinder- schänder 64, in der Menstruation 112 ,bis 114, in Schwangerschaft und Ge- burt 114—117. Zwangszustände, krankhafte 93. Zwerge, Genitalien bei 40, Zwerg- wuchs bei Infantilismus 41. Zwischenzellen, Leydi g'sche 5—6, 9—10, 20—21, 25, bei Kryptor- chismus 39, im Klimakterium 111. ' Zwittertum, und Frühreife 74—76. A.JMarcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende von Dr. MagllUS HirSCllfeld, Sanitätsrat in Berlin Zweiter Teil: Sexuelle Zwischenstufen Das männliche Weib und der weibliche Mann Mit 20 Photographien auf 7 Tafeln Preis einschl. Teuerungszuschlag geh. M. 24.65, geb. M. 28.15 Inhalt: Hermaphroditismus, Androgynie, Transvestismus. — Homosexualität und Metatropismus Dritter Teil Störungen im Sexualstoffwechsel mit besonderer Berücksichtigung der Impotenz Mit 5 Tafeln (Photographien, Kurven und einem Innervationschema) Inhalt : Fetischismus. y — Hypererotismus. — Impotenz. — Sexualneurosen. — Exhibitionismus.. Preis einschl. Teuerungszuschlag geh. M. 48.40, geb." M. 50. 10 Auszüge aus Besprechungen: Wer sieh also auf dem in Rede stehenden Gebiete Rat erholen will, kann sicher sein, in dem Buche befriedigende Auskunft zu erhalten. Man lese z. B. das Kapitel Uber „bexualkrisen", deren Darstellung nach der Meinung des Referenten kaum ii'her- troffen werden kann. Derniatologiselies Centraiblatt. c-- a *,fie einzelnen Kapitelüberschriften andeuten, sind mancherlei Beziehungen zur Kinderheilkunde vorbanden. Es mag betont sein, daß der Verfasser — wo das Kindes- alter in trage kommt - im allgemeinen kritisch und vorsichtig verfährt und sich von Übertreibungen fernhält, die manchen anderen der Sexualpathologen den Kredit bei den Kinderkliniken! verdorben haben. Monatsschrift für Kinderheilkunde. Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende Von Dr. med. Magnus Hirschfeld Spezialarzt für nervöse und psychische Leiden in Berlin Zweiter Teil BONN 1918 A. Marcus & E.Webers Verlag Dr. iur. Albert Ahn Sexuelle Zwischenstufen Das männliche Weib und der weibliche Mann Dr. Magnus Hirschfeld Sanitätsrat in Berlin lit zwanzig Photographien auf sieben Tafeln BONN 1918 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. iur. Albert Ahn Nachdruck verboten. Alle Kechte, besonders das der Übersetzung m fremde Sprachen, vorbehalten." Copyright by A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn 1918. Druck : Otto Wigand'sche Buchdruckerei G. m. b. H. . Laipzig. Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel. Herinaphroditisnius Die Trennung der Geschlechter — Unterschied männlicher und weib- licher Keimzellen in B a u und Bewegung — Samen und Ei als S y m b o 1 von Mann und Weib — I s o g a m e t e n in Empfängnis- und Angriffs Stellung — • Urgeschlechtszellen — Das interstitielle Laboratorium - Vndrin und Gynäz.in — Die Wanderung der Geschlechtsdrüsen — Ektopie und Kryptorchismus — Die tubulären Ausfuhrorgane (Müller -che, Wölfische und Thiersche Gänge) — ■ Verdoppelung von Gebär- mutter und Scheide — Die Urogenital v e rb r ü c k u n g — Die E r Schließung des Weibes — Außere Geschlechtsdifferenzierung — Weibliche Quer- und männliche L ä n g s entwicklung — Glanduläre tubuläre und konjugale Geschlechts w e r k z e u g e — Hermaphroditische ßildungs e x z e s s e und -defekte ■ — Vergleichende Tabelle der ungeschlechtlichen, männlichen, weiblichen und zwitterhafte)! Genitalformation — Ist Zwitterbildung zentral oder peripher bedingt? — Mechanische, trophische und psychische Erklärungen des Hermaphroditis- mus — Hermaphroditische Geschwister — Das degenerätive Moment — <Y 1 1 e Geschlechtsvermischungen beruhen auf Funktionsstörungen im polyglandulären System — Befunde an den Nebennieren ■ — Ein Khemann und angeblicher Vater dreier Kinder stellt sich nach seinem Tode als Frau heraus — Vorstufen des Hermaphroditismus — Beim Manne Kryptorchismus und Hypospadie — . Beim Weibe Klitoris hyperplasie und Uterus h y p o plasie — Männliches Mädchen mit Ober entwicklung der äußeren und Unter entwicklung der inneren Geni- talien (Bild) — IrrtümlicheGeschlechtsbestimmung — Eier stocke hinter männlicher und Hoden hinter weiblicher Fassade — Men struation aus dem Penis — Menschen unbestimmbaren Geschlechts - Eine als Frau lebende Person mit nachgewiesenen Samenzellen — Krankenschwester heiratet eine von ihr gepflegte Patientin, deren mann liches Geschlecht sie entdeckt — Hermaphroditismus und Militär- untauglichkeit — Spermasekretion bei äußerlich weiblicher Genital und Körperbeschaffenheit — Aus eines Mannes Mädcheniahren und aus eines Mädchens Mannesjahren — Zwei Schwestern werden Brüder - Drei hermaphroditische Geschwister — Geschlechtsberichtigung im drit t en Lebenssiebentel — Bertha wünscht als Berthold getauft und eingesegnet zu werden — Ein Dienstmädchen, die sich dreimal als Kriegsfrei- willige meldete, wird vom Garnisonarzt dem Verfasser überwiesen und als männlich festgestellt ■ — ■ Ein fälschlicherweise als Spion festgenommenes Mädchen wird Soldat — Scheu der Eltern vor der Geschlechtsberichtigung ihrer Kinder — Ein Vater schlägt seine Tochter, die in Wirklichkeit ein Sohn ist, wegen ihres jungenhaften Benehmens — Ein Arzt be- handelt die hermaphroditischen Geschlechtsorgane eines Neugeborenen mit Seite 1 VI Inhaltsverzeichnis Seite Bleiwasserumschlägen — Anmeldung eines Neugeborenen beim Standesamt als Kind zweifelhaften Geschlechts — Anfänglich richtig und später falsch bestimmtes Geschlecht — Schicksale des Zwitters Elisabeth Wilhelm Moll — Ein als Mann berichtigtes Mädchen wird in ein Weib zurückverwandelt, weil sie sich in einen Mann verliebt hat, den sie heiratet— Schwangere Soldaten und Matrosen — Sind Hermaphroditen gebär fähig? — Zeugungsfähige Hermaphroditen — Ein Gatte und Vater, der bis zu seinem 23. Jahre als Frau lebte — Personen, die ihr Leben ohne Kenntnis ihres wahren Geschlechts verbringen — V e r breitung des Zwittertums — Hermaphroditen, die eine Geschlechtsberich tigung ablehnen — Unzulänglichkeit der bisherigen Eintei- lungen des Hermaphroditismus- — Der neutrale und duale Herm- aphroditismus — Künstliche Hermaphrodisierung — Die zwittrige Pubertätsdrüse (Steinach) — Die Zwitterdrüse als Grundursache aller Arten von körperlichem und seelischem Zwittertum — Menstruierende Männer — Der Hodeneierstock (ovotestis) — Verkehr von Zwit- tern mit Personen beiderlei Geschlechts — Angebliche wechselseitige Befruchtung von Ehegatten — Selbst befruchtung — Unbefleckte Empfäng- nis — Nachweis von Sperma und Menstruation bei der gleichen Person — Beweisen menstruelle Blutungen weibliches Geschlecht? ~ Morphologisches und funktionelles Zwittertum — Eferstocks hoden in Leistenbrüchen — Nachweis männlicher und weiblicher Keimzellen bei Augusta Persdotter — Hodengeschwulst im Eierstock (Adenoma tubuläre testiculare ovarii) — Rückgang der männlichen Sexualcharaktere durch operative Entfernung einer testikulären Eierstocks- geschwulst — Vermischung oder Verwischung der Geschlechts- unterschiede — Verschiedene Formen der Zwitterdrüse — Die v i e r Hauptgruppen der Geschlechtsübergänge — Unhaltbare Unter- scheidung von echtem und falschem Hermaphroditismus — Ein- seitiges und doppelseitiges Zwittertum — Supra Position und J u x t a Position männlicher und weiblicher Geschlechtsorgane — V e r doppelung der äußeren Schamteile. Zw eites Kapitel. Androgynie 93 Die Hermaphroditendarstellungen antiker Künstler — Diskongruenz ist nicht immer Disharmonie — Enge und weite Fassung des Z w i 1 1 e r b e g r i f f e s — H y p o p 1 a s t i s c h e , m e t a p 1 a s t i s c h e und aktivierte Androgynie — Endokrine Zusammenhänge — Propter andrinum vir id est, quod est — Propter gynaecinum mulier id est, quod est — Die von Steinach experimentell bewirkte Ver- männlichung, Verweiblichung und Zwittrigkeit — • Die geschlechtsspezifische Beschaffenheit der Gonaden — Männ- liche und weibliche Erotisierung — Antagonismus der Sexual- hormone — Tabellarische Gegenüberstellung der Geschlechts- typen: Mann, Weib, weiblicher Mann, männliches Weib (M., W., \vM., mW.) — Unterschiede in Körpergröße, Knochenbau, Schädel, Becken, Ge- lenken, Muskulatur, Händen, Handschrift, Mimik, Gestik, Gang, Gruß, Fett- gewebe, Haut, Kreuzbeingrübchen, Ausdünstung, Haarkleid, Milchdrüsen. Kehlkopf, Stimme, Atmung — Weiblicher a r c u s und männlicher a n g u - 1 u s — Geschlechtliche Verschiedenheiten der inneren Organe — Uber- gewicht der Brust organe beim Manne und Bauch organe beim Weibe — Differenzen in der Zusammensetzung des Blutes — Die Vasomotoren femininer Männer — Geschlechts Charakter der inner sekreto- VII i- 1 s c h e n Drüsen (Schilddrüse, Hypophyse, Zirbel, Nebennieren, Thymus, Pankreas und Epithelkörperchen) — Die größere Häufigkeit der B a s e d o w - sehen Krankheit beim Weibe und Addison sehen Krankheit beim Manne — Hypophysenveränderung durch die S c h w a n g e r s c h a ft — Geschlechts- eigentümlichkeiten der Gehirnstruktur — Stärkere Entwicklung des Muskelzentrums beim Manne und Sprachzentrums beim .Weibe — Die größere Nervenmasse des weiblichen Rückenmarks — Ver- schiedenheit der Gefühlsbetonung und Geschmacksrichtung — Farbenblindheit zehnmal häufiger bei Männern als bei Frauen — Die weibliche Labilität — Gemütsbewegungen und Mienenspiel der Yndrogynen — Uberempfindlichkeit femininer Männer und Unterempfindlichkeit viriler Frauen — Männliche Hysteroneurasthenie als Folge der femininen Konstitution (gut achtliehes Beispiel) — Parallelismus zwischen „femininen Einschlägen" beim Manne und „eingesprengten" Eierstocksgeweben, sowie „virilen Einschlägen" beim Weibe und eingesprengten Hodenzellen im im Eierstock — Unbegrenzte Mannigfaltigkeit androgyner Varianten — Besonders häufige Kombinationen androgyner Einzelerscheinungen — Uber das Verhältnis genitaler körperlicher, seelischer und psychosexueller Ge NChlechtsatypien — Diagnostische Bedeutung des Geschlechts gefühls und Geschlechtswillens — Irrtümlicher Homosexualitätsverdacht - Der androgyne Drang — Außenprojektionen des endokrin be dingten Feminismus und Masculismus - Übergewicht der sexuel - lenPsycheüberdas S o m a g e s c h 1 e c h t — Androgyne Wunsch- und Phantasie Vorstellungen — Barthaß femininer Männer und Brust- haß viriler Frauen — Der androgyne Wahn — Beispiel eines an seine Weibbrüstigkeit fixierten Mannes mit charakteristischen i Briefstellen. tt es Kapitel. Trans Yestitisiuus . . . .139 Definition des Transvestitismus — Der psychologische Kern dieser Erscheinung - Ver- oder U m kleidungslrieb — Geschlechtliche Ver- hüllung oder Enthüllung — Einfluß der Gewandung auf Stimmung und Leistungsfähigkeit der Transvestiten — Abgrenzung des Transvestitismus von der Homosexualität — Metatropische Trans- vestiten — Zu b e i d e n Geschlechtern neigende Transvestiten — Auto- monosexuelle Transvestiten — Gestellungspflichtige in Frauenkleidern — Ein Oberingenieur mit 15 Korsetts — Oberlehrer Klara — Beklemmungs- und Depressionszustände bei gewaltsamer Unterdrückung des transvestitischen Dranges — Femininer Mann, welcher seine Gattin um ihre Schwangerschaft und Entbindung be- neidet — Der Transvestitismus und die Bestimmungen über groben Unfug und Erregung öffentlichen Ärgernisses — Drang vieler Transvestiten in andersgeschlechtlicher Tracht spazieren zu gehen — Ein Damen- schneider, der seine „männliche Existenz" als Verkleidung betrachtet — Ein anderer Damenschneider mit Menstruationsäquivalenten — Verhältnis des männlichen zum weiblichen ' „Ich" — Der Mann als Freundin seiner Frau — Häufige Kombination von Androgynie, Transvestitismus, Homosexualität und Hysteroneurasthenie — Transvesti- tismus und Militärtauglichkeit — Ein transvestitischer Haupt- mann — Ausführlicher Bericht einer Frau über den Transvestitismus ihres Mannes — Urlauber in Frauenkleidung — Frauen als Soldaten- Notwendigkeit der Befragung jedes Patienten nach seinem Geschlechts- VII I Inhaltsverzeichnis Seite leben - Neigung zu weiblichen Handarbeiten - Transvestitismus und Beruf — Der Trommler und der Pfeifer einer Kompagnie verheiraten sich — Ein Mädchen, die a n S t e 1 1 e i h r e s B r u d e r s ins Feld will — Uniformliebe transvestitischer Frauen — Sehnsucht der Transvestiten. sich in der Tracht des andern Geschlechts photographieren zu lassen — Die Neigung, Zwischenstufentrachten zu z e ich n en — Trans- vestiten, die Gravidität vortäuschen — Transvestiten träume — Übergang vom androgynen zum transveslitischen Drang — Nam ens - transvestitismus — Frauen mit männlichen und Männer mit weib- lichen Pseudonymen — Selbstmeldungen von Transvestiten bei der Polizei unter Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses — Transvestitis- mus und Spionageverdacht — Partieller und kompletter Transvestitismus — Weibliche Unterkleidung unter männlicher Oberkleidung und umgekehrt — Einzelne Kleidungsstücke, die beim Manne einen femininen oder beim Weibe einen maskulinen Einschlag ver- raten — Männer, die sich in Frauentracht und Frauen, die sich in Männer- tracht töten — Behandlung des Transvestitismus — Organ- therapie — Soll der Arzt den Transvestiten die Umkleidung raten oder wider raten? — Die Ehefrage — Vererbung des Trans vestilismus. Viertes Kapitel. Homosexualität Ableitung der konträren Sexualität vom männlichen Feminismus und weiblichen Virilismus — Ursprung und Bedeutung des Wortes „homo- sexual" — P 1 a t o n als Quelle des Begriffes Uranismus — Das kon- stitutionell Wurzelhafte und charakterologiseh Triebhafte als Kennzeichen echter Homosexualität — P s e u d o homosexuelle Akte (aus Not, Gefälligkeit und Eigennutz) — Das Wesen der Bi sexual i- t ä t — Die p u b i s c h e Bisexualitätsperiode — Differential- d i a g n o s e zwischen Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualitäl bei Jugendlichen — Liebe zu Geschwisterpaaren — Er- scheinungsformen männlicher und weiblicher Bisexualität — Tar- d i v e und periodische Homosexualität — Die negative Seite der Homosexualität — Das Ausbleiben der heterosexuellen Affini- tät — Die s e e 1 i s c Ii e Fesselung an das gleiche Geschlecht — Die intersexuelle Konstitution — Das Bewußtwerden der Triebinversion — Nervenstörungen durch erzwungene helero ■ sexuelle Betätigung — Homosexuelle Ehefrauen — Heirats- gründe homosexueller Männer und Frauen — Brautstandsleiden urnischer Personen — Mysogynie und Androphobie — Das urnische Kind -- Die Anhänglichkeit urnischer Söhne an die M u 1 1 e r und urnischer Töchter an den Vater — Die gleichgeschlechtliche Gebundenheit — Homosexuelle Schüler als Sexualziel heterosexueller Kameraden — Die Ein- stellung des Sexualzentrums auf das adäquate Geschlechts- ziel — Die Eifersucht der Homosexuellen — Wesens änderung Homosexueller in Gesellschaft ihrer Typen — Ästhetische Objek- tivierung homoerotischer Strömungen — Das Traumleben der Homosexuellen — Diagnostische Verwertung des Schamgefühls — Der sexuelle Treppenreflex — Fehlerhafte Einteilung der Homosexuel- len in Aktive und Passive — Die vier Hauptformen homosexueller Betätigung — Die manuelle, orale und femorale Verkehrsform — Die Analogie zwischen weiblichem Instrumental - und männlichem Anal verkehr — Die Ajülinctio — Stereotypie der Verkehrsweise — Inhaltsverzeichnis IX Uni erdrück barkeil des konlrärsexuellen Triebes - Die Er ^ Ziehung urnischer Kinder - Bedeutung der Kinderspiele - Die R eifezeit homosexueller Knaben und Mädchen - Die Einteilung homo sexueller Männer und Frauen in die zwei Hauptgruppen der Feminineren und Virileren - Die relative Konstanz des anziehenden Typu - Einteilung der Homosexuellen in Ephebophile und Androp h i 1 e - Nebengruppen der Pädophilen und G e r o n t o p h i 1 e n - Homo- sexueller Fetischismus - Homosexuelle mit t abilerem und u, iYr Ne-«e-- • Verhältnis der P s y c h o pa t h i s c h e n zur intersexuellen Konstitution - Die Homosexualität als V o i b u g;u n g s m , 1 1. e 1 der Degeneration - Die e r b 1 i c h e Belastung zum Uranismus - Die urnische Familie - Um i sc he Ge nlt w 1 s 1 ^ r ^5 t !i o 1 o g i s c h e Anatomie der Geschlechtsdrüsen Homosexueller - Die Unmöglichkeit, die Homosexualität auf psychi- schem Wege zu beseitigen - Dürfen Homosexuelle heiraten - Aus bed,üerrr,°Prra1tiVr *ehandh^ Objektive Heilungs- bedurftigkeit und subjektives Ueilungs b e d ü r f n i s. Fünftes Kapitel. Metatropismus nZ<!lT*lS ^ W,erbende' keimst reuende, die Frau als der 004 , 1 , » u c ji u e . nie rrau als rier ptv wartende und empfangende Teil - Männliche Aggression und werbliche Anlockung - Wirkung des Andrins auf das Muskel gewebe und der Einfluß des Gynäzins auf die F e ( t bildung — Der 1 n v P rV;'Ir°P,SrS rd,der M 6 1 a ,r0pismus oder die A g g r e s s i 0 n Inversion - Der Trieb zu leiten und zu leiden 1 Leid u Leidsucht und Leidenschaft - Der feminine Masochismus des Mannes und der virile Sadismus des Weibes - Beziehungen d s Met Iropismus zur konträren Sexualempfindung - Das masochisüsche Wen, und der sadistische Mann als Trieb Steigerungen, der m och s< sc Mann und das sadistische Weib als Trieb umkehrung™ - S persönlicher Termini (Sadismus und Masochismus) durch sachliche - -Wendungen gegen die Bezeichnung A lgolagnie (Schmerz ü^tern- e,t) - Einste lung aller Sinnesorgane des metalropischen Mannes auf m s s , v e r e Jrritamenle - P a s s i 0 p h i 1 i e der Neurotiker - Kontra zwischen sozialer Stellung und sexuellen Neigungen - Mit i als Lustquelle - Freude der II y p e r a k t i vis t e n und H y p e r > a s s h-oni ln an ^^^.Vorgängen aller Art - Eigenschaften, die den Mela- üopisten am Weibe objektiv anziehen - Vorliebe für starke Frauen - R feTer T tCren - ™d Prostitution - Die Pol e der Masseurin Kleidungssymbole des Metatropislen - zu sein? - Erniedrigung im Stand (Servilismus) - Erniedrigung im v sV; U sVl e M f ttatl0I,iSTS) - E™ed"^ - Geschlecht J ran s mU, 1 J rf « Metatropismus) - Erniedrigung zum Tier (zoomi- m s c Ii e r Metatropismus) - Erniedrigung zur Sache (impers 11 r Metatropismus) - Metatropische Verkehrs formen — - Anbahnu - Schriftwechsel Wortwechsel - Verlangen nach strenger Erziehung nach erniedrigenden Arbeiten, nach Freiheitsberaubung (LTga sme atrop.smus), nach Tritten und Schlägen (F 1 a g e 1 1 a n t i s - mus) - Pikazismus - Kopro- und ürolagnie - Sukkubis- m u s - V e r k a p p t e r Metatropismus - Der tiefe Sinn der Worte Passion und Leidenschaft - Visueller Metatropismus - Die meta Pi sehe Frau - Vorliebe der Metalropislin für den femininen Männer- X tvo — George Sand — Was wünscht die melalropische Frau selber zu sein? - Der weibliche Inkubismus und andere Verkehrsformen meta- tropischer Frauen - Metatropismus h e t e r o sexualis und horoo- sexualis - Erotisch betonte Selbstquälereien - Bespiele sexueller Selbstverstümmelung — Beziehungen zwischen religiöser und sexueller Passiophilie- Abteilung des Fleisches als Fleischeslust- Die a 1 1 g e m e i n e Bedeutung der Passiophilie — Metatropisten b -riefe. Verzeichnis der Tafeln /.wischen Seite Tafel I. Vorstufe zum Hermaphrodiusmus ^ ^ II. Geschlechlsberichügung im U. Lebensjahr o*— &ö "„ Hl. Geschlechtsberichtigung im 1. Lebensjahr in/Zinr l IV. Metaplaslische Androgynie iS_i«r V. Feminismus beim Manne im—TM „ VI. Virilismus beim Weibe • • ^ »Jj „ Vli. Metatropismus • • ^ dil I. KAPITEL Hermaphroditismus Die T r e n n u n g der Geschlechter — Unterschied männlicher und weiblicher Keim- zellen in Bau und Bewegung - Samen und Ei als Symbol von Mann und Weib — Isogameten in Empfängnis- und Angriffsstellung - Urgeschlechtszellen — Das interstitielle Laboratorium — Andrin und Gynäzin — Die Wan- derung der Geschlechtsdrüsen — Ektopie und Kryptorchismus - Die t u h u 1 ä r e n Ausfuhrorgane (Müllersche, Wolffsche und Thiersche Gänge) - Verdoppelung von Gebärmutter und Scheide — Die Urogenital v e r b r ü c k u n g — Die Er Schließung des Weibes — Äußere Geschlechtsdifferenzierung - Weibliche JÜm'm mä,nnliche Längsentwicklung - Glanduläre, tubuläre und konjugale Geschlechts Werkzeuge- Hermaphroditische Bildungs e x z e s s e und - d e f e k t e - Vergleichende Tabelle der ungeschlechtlichen, männlichen, weiblichen k a- ztwoltt^rh^en Genitalformation - Ist Zwitterbildung zentral oder peripher bedingt? - Mechanische, trophische und psychische Erklärungen des Hermaphroditis- mus - Herraaphroditische G e s c h w i s t e r - Das degenerative Moment - Alle Geschlech tsverrmschungen beruhen auf Funktionsstörungen im polyglandu- Vater dreier Kinder stellt sich nach seinem Tode als Frau heraus - Vor- w .J^He^aphroditismus - Beim Manne Kryptorchismus und Hypospadie - Beim Weibe Klitoris h y p e r plasie und Uterus h y p o plasie - Männliches Mädchen mit über entwicklung der äußeren und U n t e r entwicklung der inneren Genitalien - sT Irrtumllche Geschlechtsbestimmung — Eierstöcke hinter mannheher und Hoden hinter weiblicher Fassade - Menstruation aus dem Penis - Menschen unbestimmbaren Geschlechts - Eine als Frau lebende Person mit nflätP TT"?11 S/m enzeilen - Krankenschwester heiratet eine von ihr T- Ui! täruft'au^r11 rinnlf GS ^SChleCht Sie entdMkt - Hermaphroditismus und ™i v ■- u u i llLchkeit - Spermasekretion bei äußerlich weiblicher Genital- rhet JP SCiaffenheU ~ AUS dnes Mannes Mädchenjahren und aus eines ml chens Mannesjahren - Zwei Schwestern werden Brüder - DrSThemL ÄÄ^S^hm G(escfhleChtSberichÜgunB ™ dritten Lebenssfeb nte ™ dÄTetlr^i??" getauft und eingesegnet zu werden _ Ein Dienstmädchen, vL!l l 3 Kriegsf rei willige meldete, wird vom Garnisonarzt dem Verfasser uberwiesen und als männlich festgestellt - Ein fälschlicher* eisTals Spfon SSTSTKe? MChZ Vr,d SOlKat 7 SCh6U EUem VOf d6r «eXhtsbericr Snhf^t ~ Em Vater schlägt seine Tochter. die i n W i r k 1 i c h k e i t e i n PhrodrtiscLnWT^hfLJUngenhaften Ben6hmenS ~ Ein Arzt Gehandelt die hei Anme Wut Ges£hlechutsorgane eines Neugeborenen mit Bleiwasserumschlägen - sch echtreS NrfbTfn b?m Standesamt als Kind zweifelhafte^.- H l , / - Anfänglich richtig und später falsch bestimmtes Geschlecht - w in ein W h T~ WÜhelm MoL1 ~ Ein als Mann beri htfg es MädcheT l^Jet S ^uruckverwandelt, weil sie sich in einen Mann verhebt hat den sie h! rS cht ffWang<fe Soldaten ™* Matrosen - Sind Hermaphroditen g bär- Hirschfeld, Sexualpathologie. II. s I. Kapitel: Hermaphroditismus fähig ? - Zeugungsfähige Hermaphroditen - Ein Gatte und Vater, der bis zu seinem 23, Jahre als Frau lebte - Personen, die ihr Üben ohne Kenn n.s i h r e s w a hren Geschlechts verbringen -Verbreitung des Zwit ertums - Hermaphroditen, die eine Geschlechtsberichtigung ablehnen - Unzuläng- lichkeit der bisherigen E i n t e i 1 u n g e n des Hermaphroditismus - Der neu- trale und duale Hermaphroditismus - Künstliche Hermaphrodisierung - De zwUtrige P u b e r t ä t s dr ü s e (Steinach) - Die Zwitterdrüse als Grund- u sache aller Arten von körperlichem und seelischem ZwUtertum - Menstruierende Männer - Der II o d e n e i e r s t o c k (o v o t e s t i s) - Verkehr von Zwittern mit Personen beiderlei Geschlechts - Angebliche wechselseitige Befruchtung von Ehegatten - Selbstbefruchtung - Unbefleckte Empfängnis - Nachweis von Sperma und Menstruation bei der gleichen Person - Beweisen menstruelle Blutungen weibliches Geschlecht ? — Morphologisches und f u n k 1 1 o n e 1 1 e s Zwittertum - Eierstockshoden in Leistenbrüchen - Nachweis männlicher und weiblicher Keimzellen bei Augusta Persdotter — Hodengeschwulst im Eier- stock (Adenoma tubuläre testiculare ovarii) - Rückgang der männlichen Sexualcharaktere durch operative Entfernung einer testikulären Eierstocksgeschwulst — Vermischung*oder Verwischung der Geschlechtsunterschiede — Ver- schiedene Formen der Zwitterdrüse — i Die vier Hauptgruppen der Ge- schlechtsübergknge — Unhaltbare Unterscheidung von echtem und fal- schem Hermaphroditismus — Einseitiges und doppelseitiges Zwitter- tum — S u p r a Position und J u x t a Position männlicher und weiblicher Geschlechts, organe — Verdoppelung der äußeren Schamteile. Die menschliche Entwicklung erzielt im Gegensatz zu vielen zwitterhaft gebildeten und eingeschlechtlich sich fortpflan- zenden Lebewesen zwei getrennte Geschlechter: die in körper- licher und seelischer Beschaffenheit mannigfach voneinander unter- schiedenen Geschlechtsgruppen der Männer und Frauen. Beide sind aus der Verschmelzung zweier Keimzellen entstanden, einer männlichen und weiblichen Gamete, der Samen - und der Eizelle. Männlich pflegen wir Menschen zu nennen, in deren Körper auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung Samenzellen reifen; weiblich solche, die Eizellen hervorbringen. Die Zahl der Eier, welche in einem Weibe zwischen Pubertät und Klimakterium keimen und den Eierstock verlassen, beträgt mehrere Hunderte, die Menge der Samenzellen, welche in einem Manne entstehen und abgestoßen werden, beläuft sich auf viele Hunderte von Millionen. Im Ver- gleich zu dieser ungeheuren Anzahl ist es ein verhältnismäßig- seltenes Vorkommnis, fast könnte man sagen ein Ausnahmefall, wenn zwei der unendlich vielen Keimzellen sich begegnen und ver- binden, um ein neues Leben zu begründen, als die gemeinsame Frucht von Vater und Mutter mit den ererbten Eigenschaften beider, aus der dann wieder in nahezu der einen Hälfte der Fälle ein männliches Wesen, ein Sohn, in der anderen ein Mädchen, eine Tochter, wird. Die männliche und weibliche Keimzelle, jede für sich eine einzige vom Elternorganismus abgespaltete Körperzelle, zeigen sehr bedeutsame Verschiedenheiten. Schon ihr Umfang ist ungemein 3 verschieden. Die Eizellen sind bei weitem die größten, die Samenzellen die kleinsten unter allen Zellenarten des Organis- mus. Auch in ihrer Form unterscheiden sie sich sehr. Die Eizelle ist kugelrund. Sie enthält einen bläschenförmigen, von Chromatin- strängen durchsetzten Eikern. In ihm sieht man eine matte Scheibe, den Keimfleck. Um den Eikern ist das aus Dotterkörnchen be- stehende E ipl asm a' gelagert. Am Plasmarande findet sich als Eihülle ein hellerer Hof, die Zona pellucida. Wie ganz anders sind die Samenzellen gestaltet. Ursprünglich zeigen sie als Hoden- zellen oder Spermiden genau so wie die Eizelle noch ganz das Aus- sehen gewöhnlicher tierischer Zellen mit konzentrischem Kern, Plasma und Hof. Verlassen sie aber ihre Ursprungsstelle, wandeln sie sich dergestalt um; daß aus dem Zellkern der fast ganz aus kom- paktem Chromatin bestehende Kopfabschnitt des Samenfädchens wird, an den sich der plasmatische Teil, dünn in die Länge gezogen, als schlängelnder Schwanzabschnitt anschließt. Treffend unter- scheidet auf Grund dieser Beschaffenheit Schau dinn den Kopf- abschnitt der Samenzelle als lokomotorischen Kern von dem trophischen Kern der weiblichen Zelle. Mit dieser Benennung wird schon dem dritten und vierten wichtigen Unterschied Rechnung getragen, der neben Größe und Form zwischen Ei- und Samen- zelle besteht, ihrer Loslösung und Fortbewegung. Die Ablösung eines Eies erfolgt ,beim Menschen der W i 1 1 - kür entzogen, periodisch, durchschnittlich dreizehnmal in einem Jahre, im ganzen Frauenleben drei- bis vierhundertmal. Die Abstoßung des Samens aber ist nicht an die Zeit gebunden, sie unter- liegt der Willkür in hohem Grade und findet im a k t i v e n Vorgehen statt. Freilich treten, wenn willkürliche Ejakulationen unter- bleiben, auch unwillkürliche Samenabgänge — Pollutionen auf, aber sie bilden für den geschlechtsreifen Mann nicht eine Norm, wie für die Frau die mit der monatlichen Regel verbundene Ovu- lation. Die Eiabstoßung steht demnach auch nicht wie die Samen- absonderung mit der Begattung in unmittelbarem Zusammenhang. Die Abtrennung des Eies vom weiblichen Körper vollzieht sich ganz unabhängig von dem Geschlechtsverkehr und sehr zum Unter- schied von der Samenabstoßung unmerklich und ohne orgastische Lust. In hohem Maße weicht endlich auch die Weiterbewegung der Keimzellen, nachdem sie die Eibläschen und Samenbläschen ver- lassen haben, voneinander ab. Hat in einem Eibläschen des Eier- stocks der Innendruck des Liquor folliculi einen so hohen Grad er- reicht, daß die gedehnte Hülle platzt, was bei dem jeweils reifenden Ei 28 Tage zu dauern pflegt, so wird es herausgeschleudert und ge- langt durch Aspiration auf das einschichtige Flimmerepithel der Tube. Durch die Flimmerströmung gebärmutterwärts getrieben, 1* 4 I. Kapitel: Hermaphroditismus macht es zunächst in einer Tubenausbuchtung, die wir Ampulle nennen, halt. In diesem Warteraum harrt es einige Tage passiv der Dinge, die da kommen sollen. Tritt Befruchtung durch Ein- dringen einer männlichen Keimzelle ein, so tragen die schwingenden Flimmerhärchen das befruchtete Ei weiter, bis es sich in den blut- strotzenden weichen Schleimhautteppich am Gebärmuttergrund ein- bettet und einnistet. Bleibt es aber unbefruchtet, so geht das Ei, ebenso wie der sich immer wieder erneuernde Brutapparat, in der Gebärmutter zugrunde. Beide verlassen dann unverrichteterweise durch den Muttermund den Körper des Weibes. Ganz anders verhalten sich die aktiv vom Manne aus den Samenbläschen geschleuderten Samenzellen. Hat, wie wir sahen, bei der Periode jeweils nur eine einzige Eizelle den Eierstock ver- lassen, so sind in einem Kubikzentimeter Samen von Lode nicht weniger als 60 Millionen Samenzellen, und demientsprechend in einem ergiebigeren Ejakulat von 5 ccm 300 Millionen männlicher Keime ermittelt worden. Fast alle führen mit ihrem schlängelnden Geißelfaden rudernde Bewegungen aus; die Samenelemente mancher Tierformen bewegen sich sogar kriechend fort. In selb- ständigerLokomotron durchdringen sie den Muttermund und bahnen sich, vom Ei vermutlich chemotaktisch angezogen, im Dunkel durch den Uterus und die enge Tubenostie ihren Weg, bis sie die harrend ruhende weibliche Keimzelle gefunden haben. Diese wird umschwärmt, aber nur einer einzigen Spermie, nämlich der, welche vermöge irgendeiner Tüchtigkeit vor den übrigen einen Vor- sprung gewinnt, sendet die Rindenschicht des Eis einen plasma- tischen Fortsatz entgegen, den Empfängnishügel, in den sich der Kopf der Samenzelle einbohrt. Gleichzeitig hebt sich von der Ober- fläche des Eiplasmas eine festere Membran ab, wodurch es den anderen Samenfädchen unmöglich gemacht wird, sich mit dem Ei zu verbinden. Millionen von ihüen gehen dann un verrichteter Sache zugrunde. Wenn wir in den vereinigten Keimzellen den primären mann- weiblichen Grundstock erblicken, um den sich durch Zellteilung das übrige Weib und der übrige Mann gruppieren, so tritt uns in dem Verhalten der männlichen zu der weiblichen Urzelle bereits sehr vieles entgegen, was später körperlich und seelisch den ganzen Mann und das ganze Weib kennzeichnen: im Ei die erwartende, lockende, empfangende, aufnehmende, passive Wesenheit, im Samen die suchende, angreifende», motorische und aktive Wesenheit. Wie sehr der aktive und passive Drang als primärer Faktor die Form beeinflußt, lehren jene tierischen Protisten, bei denen sich zwei herumschwärmende Keimzellen von völlig gleicher Gestalt, sogenannte Isogameten, durch Kopulation verschmelzen, um aus sich ein neues drittes zu erzeugen. Ohne irgendwelche Formunter- I. Kapitel: Hermaphroditismus 5 schiede bewegen sie sieh anfangs durcheinander. Selbst mit den schärfsten Vergrößerungsgläsern ist nichts zu entdecken, was als männlich oder weiblich gedeutet werden könnte. Eines Tages aber heften sieh einige von ihnen auf einer festen Unterlage an, ziehen die Geißelfäden, mit denen sie sich bewegen, in ihren plasmatischen Körper ein. Lediglich durch diese Empfangsstellung kennzeichnen sie sich als weibliche Gameten, die nun auf die übrigen sich frei bewegenden eine starke Anziehungskraft ausüben. Hunderte dieser unruhig vibrierenden Gameten, die wir nun als die männlichen zu betrachten haben, umdrängen und umwerben die ruhende Ei- zelle. Nur eine dringt in sie hinein und vollzieht die Befruchtung. Auch die menschliche Ei- und Samenzelle sind ursprünglich Isogameten. Sie entwickeln sich aus den Zellen des Keimepithels, dessen Anlage bei beiden Geschlechtern völlig gleichgeartet ist. Niemand vermag im Anfang diesen Zellen anzusehen, ob sie später einmal Ureier oder Ursamenzellen liefern werden. Von dieser wie überhaupt von der ganzen ursprünglichen ein- heitlichen üranlage der Geschlechtsorgane und ihrer allmäh- lichen Auseinanderentwicklung nach der männlichen oder weib- lichen Seite, müssen wir uns ein recht klares Bild machen. Denn nur so können wir die Entstehung und das Wesen der Geschlechts- unterschiede verstehen und die hier zahlreich vorkommenden schwächeren und stärkeren Abweichungen von der Norm begreifen. Das Keimepithel, von dem wir ausgehen, ist zunächst nichts weiter, als eine ziemlich erhebliche Verdickung des Epithels der hinteren Wand der Leibeshöhle. Die Stellen, an denen wir diese Vorwölbungen in der fünften Fötalwoche erblicken, befinden sich rechts und links vor der Wirbelsäule, in der Höhe der Urnieren; an diese im Embryonalleben stark entwickelten Ausscheidungs- organe, welche später durch die bleibenden Nieren abgelöst werden, lagern sich die embryonalen Geschlechtsdrüsen an. Die Urnieren, welche von hinten viel tiefer in die Bauchhöhle hinein- ragen wie die Keimdrüsen, erstrecken sich bis an die seitliche Bauch- wand, wio sie Ausführungsgänge nach unten entsenden, die als „Urnierengänge" oder „ Wolf f sehe Gänge", auch wohl als „primäre Harnleiter" bezeichnet werden. Ehe wir uns dem Schicksal dieser Ausführungsgänge, die beim Manne später zum Samenstrang wer- den, während sie beim Weibe als Gartnersche Gänge ein rudimen- täres Dasein fristen, im einzelnen zuwenden, ist esi nötig, über das Keimepithel selbst noch einiges zu sagen. Durch starke Zellenwucherung entwickelt es sich zu einer sich wulstartig in die Bauchhöhle hineinwölbenden Drüse, dem Wal- terschen Keimepithelwulst. Die Urgeschlechtszellen fallen in dieser^Erhebung schon frühzeitig durch ihre Größe, ihren be- 6 L Kapitel: Hermaphroditismus deutenden Protoplasmagell alt und die stärkeren ehromatinreichen Kerne auf. In ihrem Wachstum stetig voranschreitend, läßt die Keimdrüse in der sechsten Embryonalwoche ihren Geschlechts- charakter erkennen, indem sich die Urgeschlechtszellen im Hoden zu unregelmäßig gewundenen Strängen ordnen, während sie im Eierstock im getrennten Haufen zwischen den kleineren Zellen des Keimepithels liegen. Den zwischen den Samenkanälchen und Eizellen liegenden Zellen schenkte man lange- Zeit keine Beachtung. Man hielt sie für Bindegewebszellen, einige Autoren glaubten auch, daß sie Nähr- stoffe, namentlich Fett, für die Keimzellen lieferten. Nach Franz Leydig, der sie 1850 zuerst genauer beschrieb1), nannte man sie Leydigsche Zellen. Je mehr man sich aber mit dem mikroskopischen Bau und dem wechselnden Verhalten dieser interstitiellen, durchschnittlich 20 P großen Zellen beschäftigte, um so deutlicher erkannte man, daß es sich hier doch um bedeutend mehr als um einfaches Stützgewebe oder Nährgewebe handelte. So warf schon Reinke2), der 1896 kristalloide Bildungen in den Zwischen- zellen des menschlichen Hodens beschrieb, die Frage auf, ob diese nicht möglicherweise mit dem Geschlechtstrieb in Zusammen- bang ständen. Der verstärkte Geschlechtstrieb der Tuberkulösen, meinte er, sei vielleicht darauf zurückzuführen, daß die inter- stitielle Kristallbildung, wie er nachgewiesen hat, in den Ge- schlechtsdrüsen dieser Kranken besonders reichlich ist. Seit etwa 10 Jahren wissen wir nun, dank der experimentellen Untersuchungsreihen von Stein ach und anderen, daß diese Zwischenzeiten in den Geschlechtsdrüsen eine Art chemisches Labo- ratorium bilden, in denen die sexuellen Hormone bereitet werden: beim Manne das Andrin und beim Weibe das Gynäzin, Stoffe, welche für die Entwicklung der sekundären männlichen und weib- lichen Geschlechtscharaktere und auch des Geschlechtstriebs von größter Bedeutung sind. Weil die Zeichen der Reife von ihnen ab- hängig sind, hat Steinach vorgeschlagen, diese Zellen Puber- tätszellen zu nennen und ihre Gesamtheit als Pubertäts- drüse von der Keimdrüse zu unterscheiden, die beide eng mit- einander verbunden die Gonaden bilden. Ich nehme den physio- logischen Ausdruck Pubertätsdrüse an, ohne zu verkennen, daß die Bezeichnungen der beiden Komponenten der Geschlechtsdrüse als generativer und innersekretorischer Anteil in mancher Beziehung zweckmäßiger wären. *) Zur Anatomie der männlichen Geschlechtsorgane und Analdrüsen der Säuge- tiere in der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Leipzig 1850. -) Reinke, Beitrag zur Histologie des Menschen. Aich. f. mikrosk. Anat. 47. 1896. I. Kapilel: Hermaphroditismus 7 Da die Pubertätsdrüse für die p r i m ä r e n Geschlechtscharak- tere, dem Hauptgegenstand dieses Kapitels, nur von untergeordneter Bedeutung", für die sekundären Geschlechtsmerkmale aber von um so größerer Wichtigkeit ist, gedenke ich auf sie und die von ihr ausgehenden Wirkungen erst im nächsten Kapitel näher einzugehen, in dem von der Androgynie — den Normabweichungen der sekundären, in der Pubertätszeit sich bildenden Geschlechtsunter- schiede — die Kede ist. Für das Verständnis der hermaphroditischen Anomalien ist dagegen noch ein anderer, die Geschlechtsdrüsen betreffender Unterschied von hohem Belang, ihre bei Mann und Weib erheblich voneinander abweichende Lage Veränderung, der sogenannte Des zensus der Ovarien und Testikel. Wir erwähnten, daß ur- sprünglich bei beiden Geschlechtern die Geschlechtsdrüsen neben der Wirbelsäule in der Lendenregion belegen sind. Durch das Bauchfell sind sie mit den benachbarten Urnieren verbunden, die ihrerseits durch ein derbes Band an die Leistengegend geknüpft sind. Es ist das Leistenband, das benn Manne unter dem Namen Gubernaculum Hunteri, beim Weibe als Ligamentum rotundum oder teres uteri bekannt ist. Indem dieses Band im embryonalen Leben viel langsamer wächst als die sich an ihm vorüberschiebenden Nach- bargebilde, bleiben auch die Geschlechtsdrüsen verhältnismäßig tiefer unten in der Leibeshöhle liegen. Soj befinden sich die Eier- stöcke im dritten Monat bereits im großen Becken neben dem Mus- culus psoas; im sechsten Monat stehen sie in der Höhe der Ftmdus uteri, senken sich dann noch mehr in das kleine Becken, nähern sich aber nicht dem Leistenkanal, sondern bleiben inj breiten Mutter- band rechts und links von der Gebärmutter liegen. Ganz anders verhalten sich die Hoden. Bei ihrem Deszensus kann man zwei Perioden unterscheiden. In der ersten verhalten sie sich wie die Ovarien. Im dritten Monat liegen Hoden und Eier- stöcke an derselben Stelle im großen Becken; im sechsten Monat dagegen finden wir die Hoden an der Innenseite der Bauchwand bereits dicht über dem Leistenring. Im achten Monat tritt der Hoden in diesen ein und imi neunten dürch ihn hindurch in die an- fangs eng aneinander gelagerten, später ganz zusammenwachsenden Geschlechtswülste, in welche sich vorher schon mit dem Bauchfell die Muskel- und Faszienschichten der Bauchwand ausgestülpt hatten. So entstehen die beiden Skrotalbörsen, die, durch die Hodensack- naht (raphe) vereinigt, das Skrotum bilden. Sind die Hoden in di ese Sacktaschen herabgewandert, so wächst der Leistenkanal zu, so daß normalerweise die Testikel in einem abgeschnürten Peri- tonealfortsatz liegen. Sehr häufig jedoch bleibt dieser Verschluß des Leistenkanals aus. Dann besteht die Kommunikation mit der Bauchhöhle weiter. Eine Folge hiervon ist der Leistenbruch, 8 I. Kapitel: Hermaphroditismus das Hindurchschlüpfen von Darmschlingen aus dem Abdominal- in den Skrotalsack. Tritt die normale Herabwanderung der männlichen Geschlechts- drüsen nicht ein, so sprechen wir von Kryptorchismus, wan- dern dagegen die weiblichen Geschlechtsdrüsen zu weit nach unten, bezeichnen wir dies als Eierstockshernie oder labiale E k t o p i e der Ovarien. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die in das Skrotum herabgleitenden Hoden die in unmittelbarer Verbindung mit ihnen stehenden Nebenhoden, ebenso wie den an diesen sich anschließenden Samenstrang mit sich nach unten ziehen. Wir kommen damit zu der zweiten Gruppe der primären Geschlechtsorgane, dem Kanalsystem, welches bei beiden Ge- schlechtern die Keime und beim Weibe auch die Früchte fortleitet und aufbewahrt. Sie gehen aus den W o 1 f f sehen und Müller- sehen Gängen hervor. Den Wolffschen Gang lernten wir bereits früher als den Ausführungsgang der sich in der dritten Fötalwoche bildenden Urnieren kennen. Einen ähnlichen Ausführungsgang be- sitzt auch die Keimdrüse selbst. Er verläuft dicht neben dem Wolffschen Gang, ganz diesem parallel nach abwärts und wird nach seinem Entdecker, dem berühmten Berliner Physiologen Johannes Müller, der Müllersche Gang genannt. Die linken und rechten Wolffschen und Müllersehen Gänge nähern sich, schräg nach unten ziehend, und vereinigen sich schließlich in der Mittellinie des Beckens zu einem gemeinsamen unpaaren Hohlstrang, den man auch als Thier sehen Genitalstrang bezeichnet findet. Sein unteres, sich im Sinus urogenitalis ein wenig vorwölbendes Ende heißt Müllerscher Hügel. Vom Urnierengang unterscheidet sich der Müllersche Gang durch eine dickere Wandung und feinere Lichtung. Auch steht das obere Ende des Müllersehen Ganges nicht mit der Keimdrüse so unmittelbar in Verbindung, wie der Wolf f sehe Gang mit der Ur- niere, sondern mündet in unmittelbarer Nachbarschaft der Keim- drüse frei in einem mit Flimmerepithel ausgekleideten Trichter in die Bauchhöhle. Der Wolffsche und der Müllersche Gang sind die gemeinsame einheitliche Ausgangsform, aus der sich durch Stärkewachstum einiger und Kückbildung anderer Partien die tubulären Organe des männlichen und weiblichen Geschlechtsappa- rates entwickeln. Wenn die sexuelle Differenzierung der Geschlechtsdrüsen abgeschlossen ist, gestalten sich in der zweiten Hälfte des dritten Embryonalmonats die Müllerschen Gänge weiter, doch nur beim weiblichen Geschlecht, während sie beim männlichen ver- kümmern. Aus dem Flimmertrichter am abdominalen Ende wird der Tubentrichter; der sich anschließende Teil des Müller- I. Kapitel: Hermaphroditismus 0 scheu Ganges wird zur Tube. Der uupaare Geschlechtsstrang, in dem die Müllerschen Gänge verschmelzen, wird in seinem oberen Abschnitt zum Uterus, in seinem unteren zur Vagina. ' Gelegentlich kommt es auch vor, daß diese Verschmelzung ganz oder teilweise ausbleibt. Dann entstehen die doppelte oder zweihörnige Gebärmutter, die doppelte Scheide und ähnliche Hemmungsbildungen (Uterus duplex, didelphys, bicornis, incudiformis usw.), ganz selten ' unterbleibt auch die Entwicklung des Thier sehen Geschlechts- strangs gänzlich, woraus sich dann ein völliger Mangel des Uterus (Anhysterie) ergibt. Beim männlichen Geschlecht verkümmert der Müllersche Gang; nur kleine Reste läßt er zurück. Es sind dies an seinem ursprünglich abdominalen die ungestielte Hydatide dies Hodens (Appendix testis Morgagni), ein kleines lappenförmiges Gebilde am oberen Ende des Hodens, das bisweilen eine trichterförmige Einziehung zeigt. Das Endstück des Müllerschen Ganges finden wir in jenem kleinen Hohlraum der Prostata wieder, den man Utriculus mas- c u 1 i n u s genannt hat. Einige Zeit, nachdem sich dergestalt beim Weibe die Müller- schen Gänge vorwärts und beim Manne rückwärts gebildet haben, vollzieht sich an den W o 1 f f sehen Gängen das Umgekehrte, sie bilden sich beim Weibe zurück und beim Manne weiter. Vorher entsteht jedoch die Urogenitalverbrückung. Die der Keim- drüse benachbarten Teile der Urniere verbinden sich durch ein Kanalnetz mit den aus Samenzellen bestehenden Röhrchen der Hoden und den entsprechenden Eifollikelzellen der Ovarien. Beim Manne entwickelt sich aus diesem Teile der Urniere die Epididymis, der Nebenhode; beim Weibe bleiben von diesen Teilen der Urniere nur Reste übrig, das Epoophoron oder Rosenmüllersches Organ, auch Parovarium genannt; auch die in den Hilus ovarii hineinwuchernden Markstränge stammen aus der Urniere. Aus den unteren oder Ur- nierenteilen der Urniere werden bei beiden Geschlechtern schließlich nur verkümmerte, funktionsunfähige Organe; es sind dies beim Manne die Vasa aberrantia des Nebenhodens, sowie die Paradidymis, auch Giraldes Organ oder corps innomine benannt, ein kleines aus blinden Kanälchen bestehendes Körperchen am unteren Ende des Samenstrangs, und beim Weibe das Paroophoron, ein aus Kanälchen und Glomeruli zusammengesetztes Knötchen etwa in der Mitte des breiten Mutterbandes. Was wird nun aus dem der Urniere sich anschließenden Wolff- schen oder Urnierengangl Beim Manne entwickelt sich aus ihm der vom Nebenhoden ausgehende canalis epididymidis, sowie das Vas deferenö, beim Weibe dagegen verschwinden die Wolffschen Kanäle bis auf die gelegentlich einmal in der Uteruswand nachweisbaren Gartnerschen oder Malpighischen Gänge. I. Kapitel: Hermaphroditismus Noch auf zwei beachtenswerte Geschlechtsunterschiede ist hier hinzuweisen. Beim weiblichen Geschlecht sind die Müllerschen Gänge unten durch ein Häutchen verschlossen, das Hymen. Es bewacht den Eintritt in die Pforte, durch welche später die männ- lichen Keimzellen einströmen, um sich den Weg zur Eizelle zu bahnen. Erst durch den ersten Geschlechtsverkehr wird das Hymen gesprengt und der weibliche Geschlechtsapparat erschlossen. Die Geschlechtsorgane des Mannes erleiden durch den ersten Ver- kehr keine entsprechende Veränderung. Sitte und Sprache tragen diesem Um stände Rechnung. Die Defloration ist ein Eingriff, der das Leben des Weibes in zwei Abschnitte teilt; aus der Jungfrau wird die junge Frau. Auch die in fast allen Sprachen vorhandene Doppelbenennung des Weibes als Fräulein und Frau, für die es beim Mann kein Seitenstück gibt, hängt letzten Ende« nicht sowohl mit der Eheschließung, als mit der Entjungferung zusammen. Der andere wichtige Geschlechtsunterschied liegt im Sinus uro- genitalis und in dem Verhalten der Harnröhre zum männlichen und weiblichen Geschlechtskanal. Beim Manne nämlich münden erstens der Urnierengang und das später aus ihm hervorgehende Vas defe- reus, zweitens aber auch das rudimentäre Ende des Müllerschen Ganges, und drittens die Harnröhre in einem gemeinsamen Kanal aus, der sich als einheitlicher Weg für Harn und Samen durch den ganzen Penis bis zur Fossa navicularis fortsetzt. Beim Weibe dagegen mündet die kurze Harnröhre ganz selbständig über dem Scheidenkanal in den vom Sinus urogenitalis abstammenden Vorhof der Scheide (vestibulum vaginae). Damit sind wir nun bereits zu der dritten Gruppe der primären Geschlechtscharaktere gelangt, den äußeren Scham- h'ilen. Auch sie sind zunächst bei beiden Geschlechtern ganz gleich beschaffen. Anfangs bis zum Ende des ersten Embryonalmonats sehen wir zwischen den unteren Gliedmaßen am Ende des Rumpfes nichts als eine gemeinschaftliche Ausgangsöffnung für das Darm- und Harnrohr, die sogenannte Kloake. Im Beginn des zweiten Fötal- raonats wölbt sich dann etwas oberhalb der Kloake ein kleiner Haut- hügel vor, der Geschlechtshöcker oder Phallus, das erste äußerlich sichtliche Geschlechtszeichen. Von ihm zieht abwärts, nach der Kloake zu, eine schmale Vertiefung, die als Geschlechts- rinne bezeichnet wird. Die Seitenwände dieser Rinne nennen wir Geschlechtsränder oder auch Geschlechtsfalten. Diese wiederum sind von einem Hautwall umgeben, den Geschlechts wülsten, die von unten ausgehend die Rinne bogenförmig auf beiden Seiten umgreifen und nach oben bis zu dem Geschlechtshöcker reichen, neben dem sie nabelwärts verstreichen. Währenddem sich diese indifferente Grundform bildet, ist in der Kloake selbst eine wesentliche Veränderung eingetreten, indem L Kapitel: Hermaphroditismus sich ihre ursprünglich einheitliche Öffnung in zwei Ausgänge verwandelt hat, von denen das eine die nach rückwärts gelegene Afteröffnung, das andere die sich mehr nach vorwärts verschiebende Blasenöffnung ist. Diese Scheidung ist dadurch hewirkt worden, daß die innere Trennungswand zwischen Darm- und Harnrohr nach außen vorwächst. Die so entstehende schmale äußere Hautbrücke wird breiter und bildet den Damm, welcher den analen Ausgang des Darmkanals immer weiter nach hinten drängt, während das Orificium urogenitale nach vorne an die Geschlechtsrinne zu liegen kommt. Von der achten Embryonalwoche ab beginnt sich nun diese ein- heitliche Uranlage zu differenzieren; erst von diesem Zeitpunkt ab können wir angeben, welchem Gescblechtc die Frucht voraussicht- lich angehören wird. , Beim weiblichen Geschlecht ist die Veränderung eine ver- hältnismäßig geringe. Sie besteht in der Hauptsache in einer Dehnung der embryonalen Anlage in der Richtung von hinten nach vorne, wodurch eine sagittal gestellte Tasche — das bereits erwähnte Vestibulum vaginae — entsteht. Aus den sie umgrenzenden Ge- schlechtsrändern oder -falten werden die kleinen Schamlippen, die nach dem Geschlechtshöcker zu in einem Bändchen (Frenulum) zu- sammenlaufen. Der Höcker selbst wächst wenig. Wir finden ihn in der Klitoris oder dem weiblichen Gliede wieder, in dessen Innern sich, wie im Penis, Schwellkörper bilden. Auch eine Eichel mit Vorhautduplikatur — die Glans clitoridis — setzt sich ab. Die Ge- schlechtswülste, in die sich viel Fett ablagert, werden in ihrem vorderen Teile zum Möns veneris, in ihren Seitenteilen zu den großen Schamlippen, während der hintere Teil in den Damm über- geht, der beim Weibe eine verhältnismäßig nur kleine Hautbrücke zwischen After und Schamspalte ist. Wird somit bei der weiblichen Differenzierung, um mit Eichard W e i ß e n b e r g zu reden, die gemeinsame Anlage „dorsoventral aus- einandergezogen", so geschieht beim Manne die Fortentwicklung wesentlich in der Längslinie des Körpers; dementsprechend wird aus dem kleinen Geschlechtshöcker der schon bei der Geburt ziem- lich ansehnliche und nach der Reife noch viel stärker in die Länge wachsende Penis. In ihn hinein verlängert sich weit über den Sinus urogenitalis hinaus der Urethralkanal bis an die Kuppe der Glans. Nach Fleischmanns Auffassung schiebt sich dabei das primäre Ori- ficium urogenitale von der Phallusbasis an die Penisspitze vor, wo wir es als Orificium urethrae (oder Fossa navicularis) wiederfinden. Auch die Geschlechts wülste ziehen sich beim Manne in die Länge. Während sie sich beim Weibe, wie wir sahen, nur mit Fett wattieren, sind sie beim Manne bestimmt, die aus der Bauchhöhle hernieder- 12 kommenden Geschlechtsdrüsen aufzunehmen. Dadurch werden sie zu den Skrotaltaschen, die in der großen Mehrzahl der Fälle nicht voneinander getrennt Weihen, sondern in der Mittellinie zusammen- wachsen. So bildet sich aus ihnen der im Septum scroti verbundene einheitliche Behälter der Testikel, der Hodensack. Veranschaulichen wir uns die geschilderten drei Gruppen der primären Geschlechtscharaktere — die glandulären, tubu- lär e n und externen — in ihrem Werdegang, so verliert das früher so dunkle, vielen förmlich unheimliche Gebiet des Herma- phroditismus bald alles Mysteriöse und Merkwürdige und erscheint verhältnismäßig einfach. Seine Erklärung lautet wie folgt: Jedem Wesen, ob männlich oder weiblich, liegt dieselbe Urform zugrunde. Vieles, was bei dem einen Geschlecht weiterwächst, bleibt bei dem anderen zurück und umgekehrt, Darauf beruht der Unterschied zwischen Mann und Weib. Nun kommt es aber vor, daß das, was bei dem einen Geschlecht zuzunehmen pflegt, ausnahmsweise bei ihm zurückbleibt und was ansonsten zurückbleibt, zunimmt. Dies trifft bald diese, bald jene Kegion der einheitlichen Grundform. Da die Anzahl der in Betracht kommenden analogen Geschlechtsteile" recht ansehnlich ist, entstehen infolgedessen sehr viele Kombi- nationen. Sie werden noch dadurch vermehrt, daß irregulärerweise die entsprechenden Anlagen beiderseits nebeneinander zur Entwick- lung oder Verkümmerung gelangen. Auf diesem genitalen Plus oder Minus in der Ausbildung beruht der Hermaphroditismus. Der besseren Übersichtlichkeit halber seien in der folgenden Tabelle nochmals kurz die" homologen Bil- dungen gegenübergestellt (siehe S. 14 und 15). Früher glaubte man, daß die mangelhafte Differenzierung der Geschlechtsorgane eine mechanische rein örtlich periphere Ent- wicklungsstörung sei, eine recht naive Vorstellung, wenn man be- rücksichtigt, wie komplizierte innere Strukturverhältnisse hier in der Mehrzahl der Fälle vorliegen. Schon Kudolph V i r c h o w wies daher diese Anschauung zurück, indem er ausführte, daß zum Unter- schied von vielen Mißbildungen, die man auf mechanische Hem- mungen in der normalen Fötalentwicklung zurückführen könne, die Zwitterbildung ihrer ganzen Natur nach nur von zentralen Einflüssen abhängig sein könne, welche für die Geschlechts- bestimmung maßgebend seien. Allerdings dürfte er dabei schwer- lich an innersekretorische Einwirkungen gedacht haben, ein zu seinen Lebzeiten noch unerforschtes Gebiet, eher wohl an trophische Ursachen im allgemeinen. Auch von Neugebauer meint noch in seinem großen Werke: „Aller Wahrscheinlichkeit nach spielen unter den Ursachen des Scheinzwittertums nutritive Verhältnisse die Hauptsache, im Zusammenhang mit der Anordnung der arteriellen Blutgefäße." Wir können unserem leider zu früh verstorbenen I. Kapitel: Hermaphroditismus 13 Freunde hierin nicht folgen, ebensowenig, wenn er auch der psychischen Beeinflussung in der Entwicklung eine Bedeutung zumißt. Von ihr bis zum „Versehen", von dem früher so viele, und zwar nicht bloß „weise Frauen", fabelten, wenn vom Zwittertvmi die Rede war, ist nur ein kleiner Schritt. Auch die mit erstaunlicher Häufigkeit von sämtlichen Arten körperlicher und seelischer Zwit- ter, von Hermaphroditen und Androgynen ebensowohl wie von Homosexuellen, Transvestiten und Metatropisten vorgebrachte Er- klärung, ihre Mutter habe sich, als sie mit ihnen schwanger ging, ein Kind entgegengesetzten Geschlechts gewünscht, ist nicht mehr wie ein unerwiesener Glaube. Immerhin, ist hier zu erinnern, daß sich übertriebene Skepsis in der Wissenschaft schon ebenso häufig als fehlerhaft erwiesen hat, wie Leichtgläubigkeit und scheinbarer Aberglauben. Als feststehend kann jedenfalls angesehen werden, daß die Heredität bei der Entstehung hermaphroditischer Bildungen ein sehr wesentlicher Faktor ist. Das lehrt zunächst die Tatsache, daß diese Anomalien unverhältnismäßig oft bei Geschwistern und unter nahen Verwandten vorkommen. Neugebauer hat hierüber eine eigene Arbeit veröffentlicht: „Über Vererbung von Hypospadie und Scheinzwittertum" 3), und auch in seinem Hauptwerke4) hat er zahl- reiche Fälle von Pseudohermaphi'oditisinus unter Geschwistern an- geführt. In meiner selbst beobachteten Hermaphroditen-Kasuistik befinden sieh ebenfalls unter 24 Zwittern 6mal Geschwister. Meine letzte, weiter unten beschriebene Beobachtung betrifft drei als Schwestern aufgewachsene Brüder mit hermaphroditischer Bildung. Taruf f i5) erwähnt sogar eine Beobachtung von 5 Schwestern, von denen „vier im Pubertätsalter Männer wurden". Auch der Umstand, daß sehr häufig der Hermaphroditismus mit anderweitigen körperlichen und seelischen Störungen endogener Natur vergesellschaftet ist, beweist, daß es sich hier um nichts weniger als einen örtlichen Genitaldefekt handelt, sondern vielmehr um die Teilerscheinung eines degenerativen Zustandsbildes. Zwar sind, wie meine Kasuistik zeigt, diese Begleiterscheinungen nicht durchgängig vorhanden, doch gehen wir wohl nicht fehl, wienn wir annehmen, daß an und für sich schon einer so hochgradigen Sexual- störung ein degenerativer Charakter innewohnt. Den eigentlichen Ursprung dieser Genitalabweichungen aber haben wir in Funk- tionsstörungen des polyglandulären Systems zu suchen. 3) Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 15. H. & 1902. 4) Neugebauer, loc. cit. S. 689, Abschnitt LXVIII : Männliches oder weib- liches Scheinzwittertum bei mehreren Geschwistern mit teilweise . irrtümlicher Ge- schlechtsbestimmung. 5) T a r u f f i , Journ. de la Soc. med. d'Emul. Voc. V. p. 150. I. Kapitel: Hermaphroditismus CD CD CSJ ü TD -S 8 £ -a CD a- a a 03 T3 CD — -S « g II a S cd — 03 03 X !t0 1 s- 03 "O p - 03 -C Q. .. a .2 lg > O 'S JD 'S _o ^ •2 " a e <D Ol Ol CD C5 s ■* s s :§ La "** 8 *> -Sä £ 8 ••e © et, -'S TS -8 8 8 0} Je fei 'S £ 'S rQ OD B a -3 a a cd J3 03 cd iscli ~S ■ß. <$ © — a a — a CS z es zelle — . subst _0> (A Ü .c ü 0) <u O c <x> i_ :Cd E co | O Co <D •^3 —~ ■ O C £ SD c2 I cd ? ^a ■5 C £ I ■g 8 o 5 -S a-« S «o o B,a "S* ^ ° o v2 ■» -R ^ CCS fei a a c -g CD o o O CO Jp 'S.-0 <U _ ü K c« S C CS CS ' CO CD 2 ^ ö CD CD T3 6JC a ■g :n! :o$ •^3 CD C -Ö a s CS a> >> 'S« "2 u i CD < es s *Sd es .22 tS .'S a . a so s - CS — c« S o r -SS e e 'S ^ S 03 ■od a cq -a o :cS a O * r ' CV <i) FtS S © m ■ SS ciS a CD — Ü c5 <ü "2 CD IS — Cfi -O CS CO CD a 'S co o :ö CO tS3 0) -a CL Q. 3 o :(0 3 3 cU »~ © ~ _a ^ a 03 03 ^o rzi St 14J -C> ß •2 S ^ 2 .1^ CD SS <4> 8 ß CC a CD ^3 O CO i2 a CD a CO CO cv 03 n© CS 8Cb ß 8 S C3 Ä S CO Co s ^ 5^ ■2 "5 ß s -2 -SS — ^ CS es •iß* in © <5 - L Kapitel: Hermaphrodilismus 15 — bo &■ ^ c ^2 <n a b ä a 5 £ = | S .2 — J=> — oT « .5 c P =» § s ■Ii - 3 E a 5 CS -3 .5 — ' ZJ 1> — a v a ja CS bC P — e ~ a a> ~ ^5^6 c o 03 — c .s S s — 3 - so 9 5 CS o a u 5 a .25 ps "3 '-5 ."2 o "o g o co 3 « S ^ 0 .2 2 ^ es p o co .a cq a bo .2 •- >« 2 p§ -2 Q. CS a ü a a '5b P es £ 3 M H <U .= P O t> K 8 £ a SO a CD » o ^3 S PH ü O PL, a a <x> es a a 0) ja CD 3 «3 -a PQ '-3 a o JO := 'S bb £ 5 co -g a bo "g 3 P ra i I ja es rS C-> P P CS Ol o CS « 2 ■J- CS H CS es S X CO o © a o CO r/3 r/3 y) CS CS CS CS P PL, p_| Ph PL, r s CO CS CS CS IG Doch sind hier keineswegs die Geschlechtsdrüsen ausschließlich be- teiligt; das erkennen wir daran, daß dort, wo die Gonaden fehlen, sei es von Geburt an, sei es infolge eines Eingriffs in früherem oder späterem Lebensalter, also bei K a s t r a t e n , Mikrorchisten (Eu- nuchoiden) und Kryptorchisten der tubuläre und externe Ge- schlechtsapparat oft im starken Gegensatz zu den sekundären Ge- schlechtscharakteren nur verhältnismäßig wenig verändert ist. Auch fand St ein ach, daß, wenn er Tiere, denen er vorher die eigenen Geschlechtsdrüsen exstirpiert hatte, durch Einsetzen der entgegen- gesetzten Gonaden feminierte oder maskulierte, die somatischen und psychischen Geschlechtscharaktere eine sehr hochgradige, die primären aber nur eine ganz geringfügige Veränderung erfuhren. Neben der Hypophyse, von der wir schon im ersten Teil aus- führten, wie oft Veränderungen ihrer Struktur mit solchen der Genitalien verbunden sind, dürften hier vor allem die Neben- nieren von Bedeutung sein. So fand Joh. Fibiger6) bei drei von ihm sezierten Pseudohermaphroditen eine ganz beträchtliche Hyperplasie der Nebenniere. In einem Falle waren die Nebennieren 8 cm breit, 5 cm hoch und 3 cm dick, ihr Gewicht war 20 bis 30 g; an der Kapsel der linken Nebenniere befand sich noch eine akzesso- rische Nebenniere. Es handelte sich hier um einen 47jährigen Gartenaufseher, der drei Kinder hatte. Ob sie allerdings wirklich von ihm stammten, ist mehr wie fraglich. Zu seinen Lebzeiten hatte niemand an seiner Zugehörigkeit zum männ- lichen Geschlecht gezweifelt. Nach seinem Tode — er starb an einer Lungenentzündung — ergab sich folgender Befund: Blonder, graumelierter Vollbart, Mammae von männlichem Typus, zierlicher Körperbau; bei der militärischen Musterung wurde er für untauglich befunden, die äußeren Genitalien erschienen atrophisch; der ziemlich kleine Penis zeigte eine Hypospadie zweiten Grades; das Skrotum hatte oben ebenfalls einen Spalt. Es war leer. Das Glied hatte drei Corpora cavernosa. Die Prostata war gut ent- wickelt. Im Prostatateil der Urethra mündet eine Scheide, die 71/2 cm la n g ist. An diese Vagina schloß sich ein Uterus an, 51/« cm lang, mit Vaginalportion und Mutter- mund. In den Uterus mündeten 10 cm lange Tuben mit Morgagni- scher Hydatide. Unter dem abdominalen Ende der Tuben befanden sich jederseits deutliche Parovarien und Ovarien; in den Ovarien sind weder Corpora lutea, noch aberrentia, noch Zysten nachweis- bar. Dagegen fand sich in der Rindenschieht eines Eierstocks ein unzweifelhafter Follikel; niemals Menstruation. Becken männlich, Kehlkopf weiblich, jedoch männlicher Typus in der Ver- 6) Beiträge zur Kenntnis des weiblichen Scheinzwittertums in Virchows Arch. f. pathol. Anat. Bd. 181. 1905. I. Kapitel: Hermaphroditismua yj knocherung der Cartilago thyreoidea; der Geschlechtstrieb mannhcliundsehrstark. Selbst während der letzten Krank- heit verlangte er noch oft den Koitus von seiner Frau, mit der er 19 Jahre verheiratet war. Die Frau beschuldigte ihn sogar, mit anderen Frauen intime Beziehungen gepflogen zu haben. Jedoch gab sie zu, daß ihre drei Kinder von anderen Männern, mit denen sie im Verkehr stand, herrühren könnten. Was sich beim Manne aus dem Membrum ergoß, konnte nicht mehr festgestellt werden Ich vermute Prostatasaft. Der Gatte selbst war von seiner Männ- lichkeit überzeugt, erst nach seinem Ableben soll seine eigene Mutter der Schwiegertochter mitgeteilt haben, ihr Sohn sei nach ihrer •Meinung überhaupt kein Mann gewesen. Die postmortale Unter- suchung des Arztes bestätigte zum größten Erstaunen, ja zum Ent- setzen der Witwe, die Vermutung der Mutter. Wie in diesem Fall, der so recht ein Beispiel gibt für die oft so überaus seltsamen Lebensschicksale der Hermaphroditen, fand Fibiger auch bei seinen beiden anderen Sektionen von Zwittern eine ungewöhnliche Ausbildung der Nebdnnieren. Auch Mar- chand beobachtete in seinem Falle eine kolossale Hyperplasie beider Nebennieren und eine sehr große akzessorische Nebenniere im Ligamentum latuni. Ähnliche Angaben finden sich noch wiederholt in der Literatur; dieses Zusammentreffen zwischen Veränderungen an den Nebennieren und dem Genitalapparat kann nicht als Zufalls- befund angesehen werden, wenn man die relative Seltenheit von Scheinzwittersektionen in Betracht zieht und berücksichtigt, daß man dabei sicherlich in früheren Zeiten den Nebennieren oft nicht genugende Beachtung gewidmet hat. In einem gewissen Widerspruch mit der Lehre von dem Einfluß der inneren Sekretion steht die Anschauung Haibans, daß alle Geschlechtscharaktere im Ei, zum mindesten im befruchteten, bereits angelegt seien. Er unterscheidet demnach männliche, weibliche und hermaphroditische Eier. „Das hermaphroditische Ei besitzt von vornherein den doppelten Geschlechtsimpuls und von einem späteren f o r m a 1 1 v e n Einfluß der Keimdrüse auf das übrige Genitale könne keine Rede sein ')." Dieser Widerspruch scheint mir jedoch kein absoluter zu sein, denn es wäre sehr wohl denkbar, daß der doppelte Gesehlechtsimpuls im hermaphroditischen Ei sich zunächst in einem doppelgeschlechtlichen Chemismus endokriner Organe äußerte welcher dann erst seinerseits das latente Zwittertum zutage fördert' Im übrigen werden wir zu einer völligen Lösung der letzten Gründe dieser Erscheinung schwerlich eher gelangen, als bis wir mit Sicher- heit wissen, wovon es abhängig ist, daß bei der Befruchtung das eine Mal, und zwar in nahezu der einen Hälfte der Fälle Knaben, das ?) Neugebauer, loc. cit. 55. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. n 18 I. Kapitel: Hermaphroditismus andere Mal Mädchen geboren werden. Dieses Geheimnis zu lüften sind wir vorderhand, so viele sich auch schon daran versuchten, noch weit entfernt. Bis wir so weit sind, werden wir uns an eine möglichst genaue Erforschung, Schilderung und Sichtung der Einzelfälle zu halten haben." Auch hier — vor allem bei einer scharfenEinteilung des Hermaphroditismus — begegnen uns noch genug Schwierig- keiten. Bevor wir uns diesen zuwenden, seien aber noch kurz einige Störungen erwähnt, die wir gewissermaßen als Vorstufen des Hermaphroditismus anzusehen haben, es sind dies beim Manne vor allem der Kryptorchismus und die Hypospadie, beim Weibe die Klitorishypertrophie und Uterusatrophie. Vorstufen des Hermaphroditismus. Über die Bedeutung und die pathologische Anatomie des Krypt- orchismus simplex und duplex haben wir uns bereits in dem Kapitel „Infantilismus" (vgl. Bd. I, S. 38) geäußert. Die Hauptsache ist, daß der kryptorche Hoden nicht nur, wie sein Name besagt, im Bauch oder Seitenkanal verborgen ist, sondern auch im Bau und in der Beschaffenheit der Gewebe wesentlich vom normalen Hoden ab- weicht. Ich halte es für wahrscheinlich, daß diese abweichende Struktur, welche auch infolge geringeren Volumens seine Schwer- kraft vermindert, der primäre Grund ist, daß er nicht so tief nach unten sinkt, wie der normale Testikel. Als Vorstufe des Herma- phroditismus können wir ihn aus verschiedenen Gründen bezeichnen: Einmal ist er in Verbindung mit der Hypospadia penisscrotalis eine der allerhäuf igsten Teilerscheinungen des ausgebildeten männ- lichen Scheinzwittertums; des weiteren ist die Her ab Wanderung der Geschlechtsdrüsen aus der Leibeshöhle in die Geschlechtswülste ein spezifisch männlicher Geschlechtscharakter. Demzufolge stellt der ausbleibende Deszensus einen erheblichen Mangel von männ- lichem Geschlechtsimpuls dar. Dies tritt auch darin zutage, daß in Verbindung mit ihm oft feminine, noch häufiger allerdings infantile Züge auftreten, was auf innersekretorisch wirksame Hormondefekte schließen läßt. Ob diese von der Geschlechtsdrüse allein ihren Aus- gang nehmen, oder ob eine gemeinsame Störung im inneren Chemis- mus der genitalen, somatischen und psychischen Atypie zugrunde liegt, ist noch nicht sicher. Ganz ähnlich wie bei dem Kryptorchismus liegt es bei der Hypospadie. Schon vor vielen Jahren wies ich auf Grund eigener Beobachtungen darauf hin, wie oft selbst bei leichten Graden der Hypospadie andere Anzeichen vorkommen, die auf ein inner- sekretorisches Manko hindeuten, schwacher Bart, hohe Stimme, ' _JJ^Pite^Hermaphroditismus kleines Glied scheues, namentlich auch weiberscheues Wesen Er- scheinungen die sich auch nach operativer Beseitigung des örtlichen Übels nicht bessern. Dies spricht dafür, daß aucn hfer nicht etwa wie man früher meinte, peripher mechanische, sondern lediglich zentrale Einflüsse in Frage kommen. Auch der Umstand daß die taffi h°hem familiä- Erkrankung i'sMeutt unterem rt!" ™? t^f^^^™^** Bdspiel Lingards Fal1 anführen (der Slf^ Tltel,rTheTheredltary transmission of hypospadias and its transmission by 2« i , alauSm' im LanCGt Vom 19" APril 188* ^schien). Da heißt es 7 M des 19. Jahrhunderts heiratete ein Hypospade, dessen Vater' und Groflva er" auch Hypo Tet Lse7vLem r8eS Mf Ch6n' mÜ d6m 6r in kdner Weise verwand war Me drei dieser Ehe entspringenden Söhne waren Hypospaden. Der älteste dieser drei Sohne erzeugte in seiner Ehe vier Söhne, sämtlich Hypospaden; zwei d eSer vie Sohne heirateten: der erste von ihnen hatte zwei Söhne, darunter einen Hy osLden der zweite einen Sohn, der ebenfalls Hypospade war. Die b den and r In Brtäer ZI^Zmüs^ der drei Brüder aus der vierten Generaüon^LdSs Ta sacl e iin" Sofine' Hypospaden. Noch merkwürdiger aber ist folgende Sohnes 1 S Tl n n ^ u Hypospaden sta* ^ der Geburt des dritten Mann ur/ ^ Semem T°de heiralele die Witwe einen normal gebauten ei sen Vter £1^7 ^T' Z™ --der von v e Söhne • dir ä " tt hypo:lPadfS m ,helr lurnS'' Einer Vün ih"en ***** Mei bohne. der älteste war Hypospade, die jüngeren drei waren normal gebaut. Entwicklungsgeschichtlich beruhen die leichteren Grade der Hypospadie, ebenso wie der viel selteneren Epispadie, auf einer mangelnden Durchbruchsenergie infolge derer der vorwachsende Urethralkanal, bevor er das an der Spitze der Glans penis befind- r tl f Sr U ^ °ben °der uuteü abbie»t- D^ stärkeren Grade der Hypospadie stellen sich nicht als Loch, sondern als eine Rinne an der Unterseite des Gliedes dar, die sich häufig von der Wurzel bis zur Spitze erstreckt und dadurch verursacht wird, daß die embryonalen Geschlechtsränder nicht zum normalen Verschluß gelangen. Den gleichen Vorgang an den Geschlechtswülsten nennt man bkrotal-, weniger präzise, namentlich dann, wenn die Rinne nich den Damm erreicht, Perinealspalt. Betrifft die Spaltbildung Gesch echtshocker und Geschlechtswülste zugleich, so bezeichnen wir diese beim männlichen Hermaphroditismus sehr häufig vorkommende Entwicklungshemmung als Hypospadia peniscr otalis. Handelt es sich bei dem Kryptorchismus und der Hypospadie wie bei dem männlichen Zwittertum überhaupt im wesentlichen um' em Bildungsminus, so haben wir es bei . den Vorstufen des weiblichen Hermaphroditismus und in diesem selbst bald me^Tifmem,E^WicklungSpluS und Hyperplasien, bald mehr mit Defekten und Hypoplasien zu tun. - An erster Stelle steht hier die Klitorishypertrophie, die man in geringerer oder stärkerer Ausdehnung (bis Fingerdicke und -länge ist sie beobachtet) 20 bei sonst relativ normaler Genitalbeschaffenheit finden kann. In dieser Deformität dokumentiert sich ein männlicher Entwick- lung« drang. Tatsächlich pflegen auch Frauen mit großer Klitoris oft eine tiefe Stimme und schwache Brüste zu haben, am Körper reichlich behaart zu sein und ansonsten viel männliche Züge auf- zuweisen, die bis zu einem auf Frauen oder sehr feminine Männer gerichteten Geschlechtsempfinden gehen kann. Seltener verbinden sich mit der Klitorishypertrophie anderweitige angeborene Genital - anomalien, wie ein vollständiger oder teilweiser Scheidendefekt, totale oder partielle Verwachsung der großen Schamlippen oder Ovarialektopie, ein Herabwandern der weiblichen Geschlechtsdrüsen in die Labia majora, Hier haben wir es mit einem Vorgang zu tun, der beim Weibe dem entspricht, was beim Manne der Kryptorchis- mus ausmacht, einen nicht dem eigenen, sondern in der Regel nur dem anderen Geschlecht zukömmlichen Impuls; doch ist die Ektopie der Eierstöcke viel seltener, als ihr männliches Seitenstück. Um so häufiger finden wir aber beim Weibe als Eutwicklungs- def ekt den Uterus rudimentarius in seinen verschiedenen Ab- stufungen. Neben den Doppelbildungen, auf die wir bereits oben bei Besprechung der Müllerschen Gänge hinwiesen, verdient hier vor allem die Uterushypoplasie unsere Aufmerksamkeit. Man unter- scheidet den Uterus foetalis von 2 bis 4 cm Sondenlänge vom Uterus infantilis, dessen Sondenlänge 4 bis 7 cm beträgt. Beim fötalen Uterus fehlen die Menses stets, beim infantilen häufig, oder treten erst sehr spät, oft nach dem 20. Jahre, ein. Die Geschlechtsdrüsen zeigen dementsprechend eine mehr oder weniger mangelhafte Ent- wicklung; aber auch der ganze übrige Körper läßt bei kongenitaler Hypoplasie dieser Organe infantile Einschläge erkennen, neben denen sich nicht selten, aber auch im Bereich der sekundären Ge- schlechtscharaktere, männliche Anklänge vorfinden. Auch bei einer anderen Anomalie der weiblichen Genitalien habe ich diese Mischung von Infantilismus und Vir ilis- mus nicht selten beobachtet, nämlich bei der einseitigen oder doppel- seitigen Überentwicklung der kleinen Schamlippen. Ich halte es für völlig irrtümlich, diese Abweichung von der Norm mit Onanie in Zusammenhang zu bringen; diese sich auch noch in neueren Sexualschriften vorfindende Angabe trifft ebensowenig zu, wie die Behauptung, daß die Klitoris, der Penis, das Skrotum oder andere Teile des Genitalapparates — das Hymen natürlich aus- genommen — durch Selbstbefriedigung Veränderungen erleiden; be- sonders von unförmigen Vergrößerungen ist die Rede. Ob ver- längerte kleine Labien auch ohne sonstige körperliche oder seelische Abweichungen von der Norm vorkommen, ist noch nicht klargestellt, wennschon nicht unwahrscheinlich. Wird doch berichtet, daß sie Der Fall ist eingehend im Text Seite 21 u. ff. beschrieben. Die oberen Aufnahmen stellen die Patientin in ihrer früheren weiblichen und jetzigen männ- lichen Tracht dar. Man beachte den Gesichtsausdruck, welcher gut die Verschieden- heit der Stimmung wiedergibt. Das untere Bild zeigt ihre äußeren Geschlechtsorgane, deren Hauptmerkmal äußere Ü b e r e n t w i c k e 1 u n g (Hyperplasie) und innere Unterentwickelung (Hypoplasie) ist. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn. I. Kapitel: Hermaphroditismus 21 bei einigen Völkerstämmen die Regel ist, wie dies die Bezeichnung „Hottentottensehürze" lehrt. — In einer gewissen entwicklungs- geschichtlichen Verwandtschaft zu den eben genannten Hyperplasien der embryonalen Geschlechtsfalten steht auch ein anderer Bildungs- exzeß, dem wir beim männlichen Geschlecht sehr häufig begegnen, die Phimose. Wir werden diese, keinen hermaphroditischen Charakter tragende Anomalie, wie noch einige andere im Bereich der männlichen und weiblichen Genitalien liegende jedoch besser dort behandeln, wo von den Störungen der Geschlechtsfunktionen die Rede ist. An dieser Stelle sei, ehe wir auf die Schilderung des eigent- lichen Hermaphroditismus übergehen, wenigstens ein Beispiel der Vorstufen des Hermaphroditismus angeführt, das zugleich kenn- zeichnet, welchen äußeren Dissonanzen diskongruente Personen dieser Art ausgesetzt sind. „Im Frühjahr 1917 suchte mich die jetzt 27jährige Amanda B. auf, die ich be- reits seit mehreren Jahren beobachten konnte. Die Person leidet unter dem zwangs- mäßigen Drang, Männerkleidung tragen zu müssen, da sie trotz ihrer Erziehung als Mädchen sich in ihrem ganzen Wesen als Mann fühlt. Diesen ihren Bedürfnissen ent- sprechend, befürwortete ich vor mehreren Jahren, daß dem Patienten die Erlaubnis gewährt werden sollte, dauernd Männerkleidung tragen zu dürfen. Der Antrag wurde genehmigt, Amanda B. lebte seitdem als Mann im Berufe eines Postbeamten. Der Grund seines erneuten Kommens ist der, daß er, vorzugsweise durch die strenge Personalkontrolle, wie sie der Krieg in verschiedenster Hinsicht, infolge der Lebensmittelkartenlisten, polizeilichen Meldungen und Eintragungen, häufiger Prüfung der Ausweispapiere, mit sich bringt, sich weitgehend gehemmt fühlt, und diese Be- schränkung seiner persönlichen Freiheit ihn seelisch überaus bedrückt sowie seine Arbeitslust und Arbeitsfähigkeit in hohem Maße herabsetzt. Alle diese Hemmnisse im Leben der Amanda B. würden sofort vermeidbar werden, wenn neben der Erlaubnis, die Kleidung des anderen Geschlechts tragen zu dürfen, auch einer Namensände- rung im Standesregister oder wenigstens in seinen Ausweispapieren stattgegeben werden könnte. Ich habe nun, dem Wunsche des Patienten gemäß, ihn wiederum seit mehreren Monaten, in Gemeinschaft mit meinem Kollegen Hodann, auf das ge- naueste untersucht und beobachtet; wir kamen zu folgendem Ergebnis: Amanda B. ist am 7. April 1890 zu St. als uneheliches, jedoch später legitimiertes Kind des Bahn- arbeiters Alexander B. und seiner Ehefrau Emma geboren. Betreffs der geschlecht- lichen Zugehörigkeit bestanden bei der Geburt keine Zweifel,' das Kind wurde unter weiblichem Namen eingetragen. Jedoch sollen sich schon in früher Kindheit die Leute über den Patienten auf- gehalten haben, daß er „so was Jungenhaftes an sich habe" — er selbst glaubt dies an sich seit dem 7. Lebensjahre bewußt empfunden zu haben, im Gegensatz zu den Mädchen, mit denen er, da angeblich keine Jungen in der Nachbarschaft waren, spielte. Für Puppen oder Kochen hat er sich nie interessiert, dagegen gern „Familie" gespielt, wobei ihm stets die Bolle des Vaters zufiel. Er war dabei „sehr wild". Die Bemerkungen anderer über sein abweichendes Wesen lösten bei ihm keinerlei unangenehme Gefühle aus, im Gegenteil, er empfand sie als willkommene Be- stätigung des von ihm Empfundenen. Nach seiner Einsegnung, wohl auch schon vorher, fühlte Patient sich sehr einsam. Er lebte unbefriedigt im Hause der Mutter. Mit 17 Jahren sollte er Buchführung lernen, da ihm aber das Bechnen nicht zusagte, gab er diese Beschäftigung nach einem halben Jahre wieder auf, lernte dann mit 19 Jahren die Blumenbinderei, da hierbei, wie er glaubte, mehr „männliche Arbeit" zu leisten sei. In diesem Berufe blieb er bis zum Kriegsausbruch; seit der I. Kapitel: Hermaphroditismus Umwandlung seiner Tracht ist er im Postbetrieb tätig, in dem er sich beruflich sehr befriedigt fühlt. Der Trieb, die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, trat bereits in der Kindheit bewußt zutage ; bei der Konfirmation gab es Auseinander- setzungen in der Familie, weil sich Patient weigerte, lange Kleider anzuziehen. Er fühlte sich als Junge und wollte sich demgemäß tragen. Nach der Einsegnung machte sich in der weiblichen Kleidung starkes Unbe- hagen bemerkbar, das erst wich, als dem Patienten mit 2i Jahren die Erlaubnis zum Tragen männlicher Kleidung erteilt wurde. Das Bewußtsein der Männlichkeit ist stark ausgeprägt und wird mit Sicherheit vertreten. Auch macht Patient in Männerkleidung, wie sich aus dem beigefügten Bilde ergibt, durchaus keinen auffälligen Eindruck. Bezüglich des körperlichen und seelischen Befundes konnten wir folgendes fest- stellen : Die äußeren Geschlechtsteile machen einen mehr weiblichen Ein- druck. Urethralmündung und Vaginalmündung sehr klein und eng. Von der Klitoris geht eine im erigierten Zustand 3V3 cm lange Hautfalte aus, die sich nach rechts nur durch einen flachen Sulkus getrennt, in die rechte kleine Schamlippe fort- setzt. Dieses Gebilde wird alle 5 Tage gleich einem erigierten Penis steif, gleichzeitig tritt starke Libido auf, eine Absch wellung erfolgt unter ruckartigen Bewegungen und Lustempfindungen. Die inneren Geschlechtsteile sind weiblich, jedoch besteht in allen Teilen eine hoch- gradige Hypoplasie, die es begreiflich erscheinen läßt, daß im ganzen Ge- baren des Patienten so gar keine femininen Charaktere zum Ausdruck kommen. Man fühlt rektal einen kleinen hypoplastischen retroflektierten Uterus, der gegen den Douglas frei beweglich ist. Adnexe sind nach keiner Richtung hin mit Sicherheit ab- zugrenzen. Das Becken weist folgende Maße auf : Distantia iliaca 25,9, Distantia spi- nata 23,0, Distantia trochanter. 30,0. Dagegen die Akromialbreite 28,9. Die geringere Breite der Dist. spin. gegenüber der Dist. iliaca ist als weibliches Merkmal zu deuten, während an die männlichen Maße der geringe Unterschied der Schulter- zur Hüft- breite erinnert (28,9—60,0). Die Haut ist von guter Turgeszenz, ihre Farbe nach der v. Luschanschen Farben- tafel 3. Das Fettpolster ist mäßig entwickelt. Der Knochenbau ist kräftig, die grobe Kraft der Extremitäten gut. Die Behaarung ist kräftig, in der Schamgegend dem sonstigen körperlichen Befund entsprechend nach weiblichem Typus mit der Querfalte des Möns veneris ab- schneidend. Der sonstige Körper wenig behaart, Achselhaare und Kopfhaare schwarz, schlicht. Die Brüste erscheinen, was das Fettpolster und die Mammillä anbetrifft, zwar weiblich, jedoch ist keine Spur von Drüsenpolster zu fühlen. Die Pekto- rales sind gut entwickelt. Der Kehlkopf springt nicht vor, ist aber kräftig ent- wickelt. Das Organ klingt beim Sprechen mehr m ä n n 1 i c h als w e i b 1 i c h. Die Stimme eine Singstimme tiefer Frauenlage. Der Thorax ist gut gewölbt, die inneren Organe zeigen keine Besonderheiten. Patient imponiert als durchaus gesunder Mensch, ist auch früher nicht krank ge- wesen, abgesehen von einer diphtherischen Infektion im 18. Lebensjahre. Psy- chischer Befund: Der Patient ist psychisch, im Gegensatz zu seiner in vielen Stücken überwiegend weiblich anmutenden Erscheinung, ausgesprochen viril. Die Männlichkeit des Patienten zeigt sich unter anderem darin, daß er, soweit er Dinge intellektuell erfaßt hat, sie mit . Konsequenz und Beständigkeit durchführt. Die Affektlage ist, obwohl Patient, wie er zugibt, wohl hin und wieder depressiven Anwandlungen nachzugeben in Versuchung kommt, eine gleichmäßige, es besteht keinerlei Launenhaftigkeit. Er besitzt einen starken Willen, im Beruf etwas zu erreichen, verbunden mit dier Überzeugung, dazu die Fähigkeiten zu haben. Ebenso ist bei völligem Fehlen einer Anlehnungsbedürftigkeit die Selbständigkeit seines 22 I. Kapitel: Hermaphroditismus 23 Wesens und der Wille, diese Selbständigkeit geltend zu machen, stark ausgeprägt. Patient lehnt für sich jeden Schmuck ab, liebt ihn aber, wie eine gewisse Weichheit und Schmiegsamkeit, bei seinen Liebesobjekten; raucht täglich 6 — 7 Zigarren, trinkt mäßig. Der Tascheninhalt besteht aus Streichhölzern, Zigarrenetui, Messer, Notizbuch. Geschlechtstrieb: B. hat sich als Kind nicht viel Gedanken über geschlechtliche Dinge gemacht, trotzdem die Anregung dazu nahelag, da die Mutier Hebamme war. Horte wohl mit 10 — 11 Jahren von ,, schweren Geburten", ließ sich dadurch aber zu keinerlei Fragen hinleiten. Pubertät setzte mit ungefähr 13 Jahren ein, eine Blutung hat nie stattgefunden, dagegen trat mit 15 — IG Jahren ein crektionsartiges Anschwellen der genitalen Mißbildung auf. Gleichzeitig verspürte er einen Trieb, der ausschließlich auf das weibliche Geschlecht gerichtet w a r ', und es heute noch ist. Mit IS Jahren setzte ein gewisser Stimmwechsel ein; die Stimme wurde merk- lich tiefer. Schon mit Ii — 15 Jahren zeigte sich ein leichter Flaum der Oberlippe, je- doch ist ein stärkerer Bartwuchs bis heute nicht aufgetreten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß im Falle von A. B. eine gewisse Dis- kongruenz der körperlichen und seelischen Geschlechtsmerkmale vorliegt. Seinem ganzen Verhalten und Auftreten entsprechend ist er mehr dem männlichen Ge- schlechte zuzurechnen. Aus diesem Grunde scheint uns der Wunsch des Patienten Berechtigung zu haben, bei seiner bereits gestatteten Lebens - w eise als Mann auch seinen Namen aus Amanda in Amandus ändern zu dürfen, wenn man die anfangs erwähnten Schwierigkeiten berücksichtigt, die sich in das Leben des Patienten dauernd einschieben. Irrtümliche Gesehleehtsbestiimn img. Findet sich bei einem Neugeborenen eine Hypospadie mit Krypt- orehismus vor, so kann es recht schwierig sein, die unmittelbar nach der Geburt auftauchende Schicksalsfrage: Knabe oder Mädchen, mit einer die Eltern vollkommen beruhigenden Be- stimmtheit zu beantworten. Da die erste Diagnose sich lediglich auf die äußerlich sichtbaren Werkzeuge der späteren Konjugation stützt, wird man bei dem Anblick eines Spaltes zunächst an eine Vagina denken und in dem anfangs nur kleinen, oft noch dazu von den Ge- scblechtswülsten bedeckten Phallus eher eine Klitoris als einen Penis zu sehen geneigt sein. Die Hebamme und auch der Arzt sind bestrebt, schnell das entscheidende Urteil abzugeben aus begreif- licher Rücksicht auf den Seelenzus.tand der Antwort heischenden Wöchnerin. Auf diese Weise sind eine Anzahl irrtümlicher Geschlechtsbestimmungen zustande gekommen, die sich später als reebt verhängnisvoll herausgestellt haben. Denn es ist keineswegs selten vorgekommen, daß im Grunde des für eine Scheide gehaltenen Spalts ein Samenleiter mündete, der von einem krypt- orchen oder nachträglich deszendierten Hoden seinen Ausgang nahm, so daß an dem männlichen Geschlecht der als Weib lebenden Person nicht der geringste Zweifel bestand. Haben doch solche Indi- viduen verschiedentlich selbst Kinder gezeugt. (Vgl. Seite 76 meiner Kasuistik.) 24 I. Kapitel: Hermaphroditismus Nicht ganz so oft, aber immerhin noch häufig genug, hat sich aber auch das Gegenteil ereignet. Der ziemlich ansehnliche Phallus wurde, als man ihn zuerst wahrnahm, nicht für eine Klitoris, son- dern für ein männliches Geschlechtsglied gehalten; in dem von der Phallusbasis ausgehenden Schlitz sah man keine Vagina, sondern eine Hypospadia scrotalis. In Wirklichkeit aber führte diese Öffnung in einen Scheidenkanal, in dessen oberem Gewölbe sich ein Mutter- mund befand, welcher zum Uterus, zu Tuben und Ovarien führte. Ich erwähnte bereits ein solches Weib, das als Gatte und angeblicher Vater verstarb, ohne daß ihm jemals Bedenken über seine an- scheinend männliche Geschlechtszugehörigkeit aufgestiegen waren. Auch Arnold Heymanns8) Fall eines 17jährigen Gymnasiasten, der aus einem regelrecht von der Harnröhre durchzogenen Penis menstruierte, gebort hierher. Der Katheter führte geradeaus in die Blase, an der hinteren Harnröhrenwand entlang gleitend, aber auch in eine Scheide, über welcher man vom Bektum aus einen Uterus mit Adnexen fühlen konnte, hingegen keine Prostata. Der junge Mann wollte die Blutungen aus1 dem Penis beseitigt haben und Professor Zuckerkandl exstirpierte ihm aus diesem Grunde die weib- lichen Organe; ob er hierzu befugt war, bleibe dahingestellt, uns interessiert hier besonders, daß er beim Bauchschnitt Uterus und die rechten Adnexe normal befand, links eine langgestreckte Tube, aber kein Ovar, statt dessen ein haselnußgroßes Gebilde an der inneren Mündung des Leistenkanals, das keine Spur von weiblichen Keim- zellen aufwies, dagegen fibrinöses Gewebe mit zahlreichen Spindel- zellen, wie man sie im Ovarialstroma findet. Das rechte Ovar war normal mit Graf f sehen Follikeln und einem frischen Corpus luteum. Der Geschlechtstrieb dieses Patienten war aber trotz Eier- stöcke auf weibliche Personen gerichtet, er glich darin also einer homosexuellen Frau, wodurch sein Wunsch, den Penis zu be- halten, die Blutungen aber zu verlieren, verständ- lich wird. Neben den eben angeführten Befunden, aus denen hervorgeht, daß sich hinter nahezu gleicher äußerer Genitalbeschaffenheit Hoden oder Ovarien verbergen können, liegt noch eine dritte Möglichkeit vor und auch sie gehört nicht zu den Ausnahmen. Sie besteht darin, daß die Geschlechtsdrüse, die sich hinter der zweifel- haften Fassade aufhält, gleichfalls zweifelhaft ist. Entweder ist sie dann rudimentär und in ihrem Gewebe so geartet, daß weder in vivo, noch post mortem festgestellt werden konnte, ob die Person männlich oder weiblich war, oder sie ist dies beides zu- gleich, indem sie deutlich nebeneinander männliches und weibliches ' ' ; I \ -' M 1 i 8) Wien. klin. Rundschau 1906. Nr. 26: Heterotypischer Hermaphroditismus femininus externus. I. Kapitel: Hermaphroditismus 25 Geschlechtsdrüsengewebe zeigt. In beiden Fällen sind wir ' berechtigt, zu sagen, daß es sieh hier um einen Men- schen neutrius generis handelt. Aus diesen kurzen Bemerkungen erhellt schon, daß wir mit der alten Einteilung von Klebs in Hermaphroditismus masculinus und femininus nicht ausreichen, da der ebenso wichtige und häufige Hermaphroditismus neutralis (oder incertus) keine Berücksichtigung findet. Schon Virchow hatte einst gesagt, man würde nicht um- hin können, zuzugestehen, daß bei einer gewissen Anzahl von Herma- phroditen überhaupt keine ausgeprägte Geschlechtsdrüse vor- handen ist, und der größte Hermaphroditenforscher, v. Neugebauer, bemerkt: „Wiederholt habe ich den Statistikern und Juristen vor- gehalten, daß wirklich ein Individuum neutraler Art existiert, ein Individuum neutrius generis. Man kann sich dabei anstellen wie man will, so wird man eben doch nicht mit Sicherheit sagen können, es ist eine Frau, oder es ist ein Mann. Steht nun die Tatsache fest, daß es homines neutrius generis gibt und daß wir in vielen Fällen trotz Mikroskops außerstande sind, das Geschlecht zu ent- scheiden, so würde sich als logische Konsequenz ergeben, im Standes- amte in der Metrik eine Rubrik einzuführen: „Geschlecht zweifelhaf t". Neugebauer hält diese Forderung allerdings nicht für praktisch durchführbar, weil die Eltern wissen wollen, ob das Kind eine Knabe oder ein Mädchen ist und ob sie das Kind als Knabe oder als Mädchen erziehen sollen. Aber nicht nur die Einteilung des Hermaphroditisnius in männ- lich und weiblich, sondern auch die andere allgemein verbreitete, in Hermaphroditismus verus und falsus, wahres und Schein- zwittertum hat der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnis und Forschung nicht standhalten können. Bevor ich aber zu dieser und weiteren theoretisch und praktisch bedeutsamen Fragen dieses Gebietes kritisch Stellung nehme, empfiehlt es sich, zunächst einmal einen Überblick über die von mir selbst beobachteten Fälle von Hermaphroditismus zu geben. Aus dieser lebendigen Quelle schöp- ; fend, gewinnt der Leser am ehesten Klarheit und kommt dadurch in die Lage, einer Mensehengruppe in ihren eigenartigen Schicksalen gerecht zu werden, die — man möge mir dies Wortspiel verzeihen — mehr noch wie unter eigenen Bildungsfehlern, unter Fehlern in der Bildung anderer gelitten hat. Der erste der von mir beobachteten und veröffentlichten Fälle betrifft die jetzt 5(3 Jahre alte Friederikes.9) Als ich sie kennen lernte, war sie 43 Jahre all. Sie wurde im Frühjahr 1861 auf einem Dorf in Bayern geboren. Die Eltern, welche sich mit Landwirtschaft beschäftigen, leben noch, sind über 70 Jahre alt und gesund. Sie sind nicht blutsverwandt, die Mutter ist 2 Jahre älter, als der Vater, beide sind.sitten- 9) Dieser Fall wurde zuerst von mir in der „Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene", 2. Jahrgang 1905, Heft 1 beschrieben. 2Q I. Kapitel: Hermaphroditismus strenge sehr fromme und biedere Leute und führen eine glückliche Ehe. Friederike hat zwei Geschwister, die verheiratet sind, Kinder haben und stets kräftig und gesund gewesen sein sollen. In ihrer engeren und weiteren Familie sind ihr keine Falle von geistigen Störungen, mangelhafter Körperentwicklung, Bruch, Kropf, Lues, Alkoholismus, Tuberkulose bekannt, auch kamen in der Verwandtschaft keine Selbstmorde vor. Eine Belastung im d e g e n e r a t i v e n Sinne ist nicht nachweisbar. Friederike lernte rechtzeitig gehen und sprechen. Die erste und zweite Zahnung verlief normal; sie litt weder an Kopfschmerzen, noch an Krämpfen, Bettnässen oder anderen Störungen. Von den Eltern, die niemals mit ihr über geschlechtliche Verhält- nisse sprachen, wurde sie streng, man kann sogar sagen prüde, erzogen Besonders wundert sie sich, daß die Mutter sie niemals „nach dem Unwohlsein ge- fragt hat". Sie zog im allgemeinen Knabenspiele vor, kletterte gern auf Bäume lernte aber auch alle Handarbeiten. In der Schule machte sie gute Fort- schritte- große Vorliebe hatte sie für Naturwissenschaften und Geographie. Im 13. Lebensjahr zeigten sich die Pubes, die Brüste blieben völlig unver- ändert, Menses traten nicht ein, im 17. Jahr veränderte sich die Stimme. Im be- ginne der zwanziger kamen Barthaare an Oberlippe und Kinn, welche sie anfangs mit der Scheie, später mit dem Rasiermesser entfernte. Ziemlich früh, ihrer Erinnerung nach schon vor der Reife, begann sie durch Friktionen an der „Klitoris" zu mastur- bieren; sie hat diese Manipulationen, allerdings vielfach mit monatelangen Unter- brechungen, bis in die jetzige Zeit fortgesetzt. Status praesens, a) Geistige Eigenschaften: Die Patientin macht einen ernsten, ruhigen Eindruck, sie lacht wenig, ist sehr schamhaft miß- trauisch und ängstlich. Anderseits liegt aber auch viel Liebenswürdigkeit und Gut- mütigkeit in ihrem Wesen, Sie gibt an, daß sie ziemlich leicht heftig wird und — wenn sie verletzt ist — sehr rachsüchtig sein kann. Abergläubisch ist sie gar nicht, sie kann sich „ordentlich aufregen", wenn ihre Mitarbeiterinnen vom Traum- deuten und Kartenlegen sprechen. Familiensinn ist nur in geringem Grade vorhanden, c i n K i n d m ö c h t e s i e n i c h t b e s i t z e n. Sie ist sehr opferwillig und konnte für eine Freundin „ihren ganzen Verdienst hingeben". Sie trinkt und raucht gern und kann 4 halbe Liter „Echtes" oder eine Flasche Wein gut vertragen. Ihre Intelligenz ist bedeutend, sie besitzt eine für ihren Stand umfangreiche Bildung. Das Gedächtnis ist gut, sie beobachtet und prüft scharf. Sie interessiert sich für Altertümer, auch für Kriege und Politik, in der Zeitung fesseln sie am meisten die Selbst- mord e. Für die Mode hat sie gar kein Interesse, sie liest gern wissenschaftliche Werke, niemals Romane. Sie kann kochen, versteht Haus- und Handarbeiten, doch gi-bt sie männlichen Beschäftigungen den Vorzug. Sie besitzt einen Revolver und scharfe Patronen, schießtgern, kann auch reiten und rudern. Sie wäre am liebsten Kunstreiterin geworden, sie zeichnet häufig Damenkopfe, auch hätte sie gern als Soldat gedient, sie liebt aber das Militär nur im Ausmarsch - a n zur, nicht im ..Sonntagsstaat", In ihrer Kleidung zieht sie einfache, anliegende Gewänder vor, am angenehmsten ist ihr die englische Fagon (Reitkleid), sie hat Ab- neigung gegen Schmuck, Vorliebe für hohe Kragen und Herrenhute, dech trägt sie, um weiblicher auszusehen, einen großen Federhut, ein Samtband um den Hals, das den Adamsapfel verdeckt, Bluse mit Brosche, Korsett mit Brusteinlage und Tournüre. Auf Maskenbällen ist sie zu ihrer großen Freude einige Male als Mann gegangen. Ohrringe, die sie ebenfalls früher ge- tragen hat, sind ihr verhaßt, ebenso Armbänder, Fächer, Parfüms, Puder und Schminke. Wegen ihres bescheidenen, liebenswürdigen Charakters ist sie überall wohl gelitten, doch sind ihr größere Gesellschaften unangenehm, am liebsten ist sie zu zweren. Ihre Schriftzüge sind groß, fest und sicher. b) Der Geschlechtstrieb. Die eisten geschlechtlichen Regungen traten im 13. Lebensjahr auf. Die Richtung des Geschlechtstriebes war immer dieselbe, und zwar wandte sie sich von Anfang an dem weiblichen Geschlecht zu. Die Liebes- l räume bezogen sich stets auf das Weib, sie träumte, daß sie ein Mädchen küßte und I. Kapitel: Hermaphroditismus 27 an sich drückte, wobei Erektionen der „Klitoris" eintraten. Dieselben bemerkte sie auch schon früh beim Berühren oder Umarmen ihrer Schulfreundinnen. Dem Manne gegenüber besteht in sexueller Hinsicht Gleichgültigkeit, vor dem Koitus mit ihm Widerwillen. Vier Heiratsanträge, welche ihr im Laufe der Jahre ge- macht wurden, lehnte sie ab, zweimal gab sie dem Verlangen von Männern, welche mit ihr kohabitieren wollten, nach, fühlte sich aber nach dem „inter feinora" vorge- nommenen Akt sehr unbefriedigt. Auf die Frage, was sie am Manne abstößt, ant- wortete sie : „es ist kein Reiz d a". Ihre Neigung erstreckt sich besonders auf 18— 24jährige Mädchen mit vollen Brüsten und runden Armen, und zwar mehr sanftmütige und gebildete Personen. Eine große Vorliebe hat sie für schöne Hände. Zweimal hatte sie ein Freundschaftsbündnis von -längerer Dauer, jedesmal etwa 3 Jahre, sie war sehr eifersüchtig, bezeichnet aber diese Jahre als die glücklichste Zeit ihres Lebens. Die Art ihres Begehrens ist männ- lich aktivisch, die Stärke ihres Geschlechtstriebes groß, nach dem Verkehr mit einer Frau fühlt sie sich erfrischt und gesundheitlich gefördert. Sie warder Meinung, daß sie homosexuell veranlagt sei. Wenn die Gelegenheit zum sexuellen Verkehr mit einem Weibe lange fehlte, griff sie zur Selbstbefriedigung. Sic fühlte sich oft sehr unglücklich, litt an Lebensüberdruß, kaufte sich daher einen Revolver, hat aber keinen Selbstmordversuch gemacht. Am liebsten wäre sie „als Mann geboren", angekämpft gegen ihre Natur hat sie nicht, weil sie es für aussichtslos hielt. Trotz sehr religiöser Erziehung hat sie ihren Glauben verloren, weil „in der Bibel steht, Ihr sollt Euch vermehren und sie nicht an einen Gott glauben kann, der so unvollkommene Geschöpfe geschaffen habe, wie sie eines sei". c) Körperlich erBefund: Patientin ist 1,72 m g r o ß , wiegt 156 Pfd., ihre Knochen sind stark, die Körperkonturen nicht abgerundet, sondern eckig, Oberarm und Oberschenkel abgeflacht, Fettpolster sehr gering, Muskeln abgesetzt und kräftig, sie hebt mit einer Hand Ufa Zentner, trägt 2 Zentner auf dem Rücken, mich selbst (85 Kilo) hob sie ziemlich leicht empor, Hände und Füße sind groß, besonders die Hände ungewöhnlich kräftig, das Fleisch fühlt sich fest an, sie turnt gern, tanzt auch gern „als Herr", ihre Schrille sind ziemlich kurz, ihr Gang ist gerade, doch dreht sie sich etwas in den Hüften, schon als Kind konnte sie „wie ein Bube" pfeifen. Der Kehlkopf ragt sehr stark hervor, was durch ein Samtband sehr ge- schickt verborgen wird. Die Stimme 'ist tief und rauh, Halsumfang 37 cm, die Länge Halses beträgt, von der Incisura thyreoidea bis zum Manubrium slerni 10 cm. Die Schlüsselbeine ragen vor. Thoraxumfang über den Mamillä gemessen, bei der In- spiration 98, in Exspirationsstellung 91 cm. Der Atmungstypus abdominal. Der Warzenhof hat einen Durchmesser von l»/2 cm, ist ein wenig umhaart. Mamma - sewebe nicht nachweisbar. Auf der linken Seite befindet sich, genau in der Mitte der 28 cm langen Verbindungslinie, welche von der Brustwarze bis zum Nabel gezogen werden würde, eine kleine überzählige Brustwarze. Die Hüflbreile ist bedeutend schmäler wie die Schulterbreite; der Schulterumfang beträgt — unter dem „Akromion" genommen — 106 cm, der Hüftumfang dagegen, am oberen Endpunkt der Rima pudendi gemessen, 98 cm, zieht man nur die Vorderseite in Betracht, so ist die Schulter vom Akromion zum Akromion 50 cm, die Hüfte in der Mitte zwischen Nabel und Symphyse von einem Oberschenkel zum anderen 44 cm breit. Das Becken selbst hat einen völli'g männlichen Charakter. Der Schädel ist kräftig, die hohe Stirn wird durch die nach unten gekämmte Haarfrisur um ein wesentliches verkürzt; das Kopfhaar reicht jetzt aufgelöst bis zur Mitte der Schulterblätter und ist nicht sehr dicht, bis zum 20. Jahr wurde es in zwei Zöpfen getragen, welche damals bis zur Taille reichten. Jetzt wird es in moderner Damenfrisur getragen. Der Bartwuchs ist sehr stark; der Bart wird an der Oberlippe und am Kinn täglich rasiert, die Superzilien sind ziemlich stark. Der Gesichtsausdruck ist im ganzen männlich, besonders die Nasen- und Mundrartie, die Züge grob, nur der Blick ist innig, mehr weiblich, ihre Bekannten 28 sagten, sie hätte einen „verliebten Blick", in der Wange befinden sich tiefe Grübchen, die Ohren sind zierlich, die Ohrläppchen von kleinen Löchern durchbohrt. Die Haut ist ziemlich zart und fast unbehaart, nur am Unterarm und Unter- schenkel befindet sich ein leichter Flaum Die Schambehaarung trägt mehr weiblichen Typus; nur bei genauem Hinsehen bemerkt man Spuren des für Männer charakte- ristischen Haarstrichs zwischen Nabel und Symphyse. Die Schmerzempfindlichst der Haut ist groß. Patientin will immer gesund gewesen sein, so daß sie noch nie- mals einen Arzt konsultiert hat. ...» d) Die Geschlechtsteile: Die äußeren Geschlechtsteile zeigen a u f oberflächlichen Anblick eine weibliche Form. Man sieht zwei stark entwickelte große Labien, welche sich nach dem Damm zu verbreitern, ziemlich reichlich behaart sind und an der Innenseite prominente Talgdrüsen aufweisen.- Die hintere Kommissur der großen Labien grenzt sich nach oben zu scharf ab, wah- rend die Labien nach dem Damme zu ineinander übergehen. Der letztere ist ziemlich lang und ist an seinem analen Ende mit Hämorrhoidalknoten besetzt. In der oberen Schamlippe ist ein h ü h n e r e i g r o ß e s , hodenartiges Ge- bilde deutlich palpabel. Von demselben geht ein Strang aus, der sich wie ein „Vas deferens" anfühlt. Kremasterreflex nachweisbar. Die linke Scham- lippe ist leer, doch gelingt es, von der Unterleibshöhle aus durch den linken Leisten- kanal ein hodenartiges Gebilde von der Größe eines Taubeneies herabzudrucken Es wird angegeben, daß bei dem Geschlechtsverkehr mit Weibern, welcher teils nach Art des normalen Koitus, teils als Kunniüngus vorgenommen wird, im Orgasmus ein schleimiges Sekret „etwa ein Fingerhut voll" entleert wird, welches aus einer anderen Öffnung als der Harn hervorquillt. Dasselbe geschehe bei der Masturbation. Das Ejakulat wurde von dem Privatdozenten der Berliner Universität, Herrn Dr. H. F r i e d e n t h a 1 mikroskopisch untersucht. Es fanden sich dann sehr zahlreiche völlig normale Spermatozoon. In dem zwischen den großen Labien befindlichen Spalt treten die stark ent- wickelten Schleimhäute der kleinen Labien zutage. Oben bilden sie ein weithervor- ragendes Präputium, nach dessen Zurückstreifen erst die undurchbohrte Klitoris sicht- bar ist. Diese ist von Smegma bedeckt, zeigt deutlich eine Glans, einen Sulcus coro- nanus, ist in der Ruhe 4, in statu crectionis 7 cm lang. An der Spitze findet sich ein seichtes Grübchen, welches sich nach unten in einer Furche fortsetzt, die in den schmalen Schcidenspalt übergeht. 6 cm unterhalb der Penisspitze mündet in diese Rinne der Uretnralkanaij Hymen ist nicht vorhanden, in die Scheide kann weder mit dem Finger, noch mit einer Sonde eingedrungen werden, da diese Manipulationen mit zu großen Schmerzen verknüpft sind, und in Chloroformnarkose nicht untersucht werden konnte. ZieM man die kleinen Labien weit auseinander, so scheint es, als ob die blutigrote Scheide in einer Tiefe von 3 cm blind endigt. Bei der rektoabdominalen Untersuchung fand ich nichts, was als Uterus, Tube oder Ovarien gedeutet werden konnte, dagegen einen walnußgroßen Körper, der nach Form und Lage den Eindruck einer I rostala hervorrief. . C Epikrise: Bei der 40jährigen Friederike Schmidt, die seit ihrer Geburt als Weib lebt, zeigt sich ein absolut männlicher, stark auf das Weib gerichteter Ge- sell 1 e c h t s t r i e b , der sich in seiner Richtung niemals verändert hat. Ihre geistigen Eigenschaften und Neigungen sind von Jugend an überwiegend männlich, trotzdem sie im Laufe der Jahre mancherlei weibliche Gewohnheiten angenommen hat. Die sekundären Geschlechtscharaklere sind fast ausnahmslos rein männlich, nur die Scham- und Kopfbehaarung zeigt weiblichen Typus, doch besteht daneben reichlicher Bartwuchs. Kehlkopf, Brüste, Becken sind ab- solut viril. Menses waren nie vorhanden. Was die primären Geschlechtscharaktere anlangt, so läßt sich, entsprechend dem Geschlechtstrieb und den Geschlechtszeichen zweiter Ordnung, ein hodenartiger Keimstock nachweisen, von dem ein s a me n s t r a n g ar 1 1 g e s Gebilde 29 ausgeht; im linken Leistenkanal steckt ein atrophischer Keimstock unbestimmten Cha- rakters. Der Geschlechtshöcker nimmt eine Mittelstufe zwischen Penis und Klitoris ein. Große und kleine Schamlippen sind vorhanden, welche eine kurze, blind endigende Scheide begrenzen. Im übrigen sind weibliche Organe, vor allem ein Uterus, nicht nachweisbar, dagegen scheint eine Prostata vorhanden zu sein. Da die Untersuchung des Sexualsekrets zweifellos Spermatozoen er- geben hat, so läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß es sich hier um eine irrtümliche Geschlechlsbrslimmung (erreur de sexe) handelt, indem die als Weib lebende Friede- rike Schmidt in Wirklichkeit männlichen Geschlechtes ist, die Kinder zu zeugen sehr wohl imstande ist. Der Irrtum wird dadurch verständlich,' daß wahrscheinlich bis zur Pubertät doppelseitiger Kryptorchismus bestand, so daß die leeren großen und kleinen Schamlippen oder richtiger Geschlechtsfalten und Wülste in Verbindung mit dem hypospadäischen, sehr kleinen Membrum in der Tat den ab- soluten Eindruck weiblicher Geschlechtsteile hervorriefen, zumal ja die bei der Geburt noch völlig indifferenten sekundären und tertiären Geschlechts- charaktere für die Diagnose nicht in Betracht kommen konnten. Meinen Vorschlag, ihre Metrik zu ändern und als Mann weiter zu leben, lehnte die Patientin ab, da sie das mit dieser Umänderung verknüpfte Aufsehen scheute und fürchtete, die ihr angenehm gewordene geschäftliche Stellung zu verlieren. In den 12 Jahren seit dieser Schilderung hatte ich Gelegenheit jährlich einige Male die Patientin zu sehen. In den ersten Jahren war sie sehr zufrieden. Sie hatte sich in ein Weib verliebt oder vielmehr ein Weib hatte sich in sie verliebt, und da sie diese Neigung in hohem Grade erwiderte, verbanden sie sich und zogen zusammen. Dieses Weib war eine Masseurin, die von der Befriedigung maso- chistischer Männer lebte. Selbst wohl etwas sadistisch veranlagt, jedenfalls mit vielen männlichen Eigenschaften wie Kraft, Ge- schäftssinn, Herrschsucht versehen — in Zeitungsanzeigen bezeich- nete sie sich als „sehr energische Masseurin" — spielte sie völlig die Eolle des Hausherrn, während Friederike die Wirtschaft führte und überhaupt die Stellung der Frau im Hause einnahm. Eines Tages aber heiratete ihre Freundin einen ihrer Kunden, wie sie sagte einen wirklichen Mann, nicht aus Liebe, sondern um äußerer Vorteile willen. Unsere Patientin war darüber seelisch tief be- troffen. Ich sah sie in dieser Zeit sehr häufig. Hochgradigste Er- regungszustände wechselten mit starken Depressionen und Selbst- mordgedanken, so daß man zeitweise den Eindruck einer klimak- terischen Psychose in voller Ausbildung hatte. Nach einigen Jahren klang dieser Zustand ab; jetzt ist sie wieder ziemlich ruhig, nur an die Episode mit ihrer Freundin darf man nicht rühren. Sie ernährt sich schlecht und recht als Wäschenäherin. Den Gedanken, sich jemals auf ihr wirkliches Geschlecht überschreiben zu lassen, hat sie völlig aufgegeben. Nur im Beginn des Krieges erwog sie noch einmal ernstlich ihre Umwandlung, da sie sich gern als „Kriegs- freiwilliger" gemeldet hätte, ließ aber den aus vaterländischer Be- geisterung geborenen Gedanken nach kurzer Zeit doch wieder fallen. Besteht in diesem Fall an der Diagnose: irrtümliche Ge- schlechtsbestimmung auf Grund von Pseudoherma- 30 I. Kapitel: Hermaphroditismus phroditismus maseulinus nicht der geringste Zweifel, so liegen die Verhältnisse in dem folgenden Fall 10), den man nur als Sexus incertus bezeichnen kann, ungleich verwickelter. A. Vorgeschichte: Franz K. wurde 1873 als jüngstes Kind eines Fürsters in Weslpreußen geboren und als Knabe getauft. Der Vater starb in hohem Alter an unbekannter Krankheit, die Mutter in ihrem 40. Lebensjahre, angeblich an Gehirn- erweichung. Der Vater hatte mit 31 Jahren die damals 22jährige Mutter geheiratet, und entstammten der 18jährigen Ehe außer Franz noch 2 Söhne und eine Tochter. Die beiden älteren Brüder starben zwischen ihrem 20. und 30. Jahre, der eine an Magenblulen, der andere an unbekannter Krankheit. Die Eltern und Großeltern waren nicht blutsverwandt. Abgesehen von der angebüchen progressiven Paralyse der Mutter sind weder bei den Vorfahren noch bei den Seitenverwandten Fälle von Geisteskrankheilen, körperlichen Abnormitäten, Alkoholismus, Lues, Tuberkulose oder anderen Leiden beobachtet worden, von denen man annimmt, daß sie zur Degeneration einer Familie führen. Soviel unser Patient weiß, befinden sich in seiner Verwandtschaft keinerlei ge- schlechtlich absonderliche Persönlichkeiten, auch nicht auffallend weibliches Aussehen männlicher oder männliches Aussehen weiblicher Familienmitglieder. Er selbst ähnelt in hohem Grade seiner Muller. Die Kindheit des P. bot wenig Besonderes; außer leichten Kinderkrankheiten war er stets vollkommen gesund, so daß nie ärztliche Hille in Anspruch genommen zu werden brauchte.' Er war auch nicht ängstlich oder schreckhaft, fühlte sich aber mehr zu Mädchen hingezogen, mied die wilden Knäbenspiele und erkannte früh, daß er „anders war, als andere Kinde r". Anfangs im Ellernhause erzogen, kam er mit 12 Jahren in die Stadtschule und verbrachte von dieser Zeit ab nur, mehr die Ferien bei den Eltern. Diese sowohl wie die älteren Geschwister wußten von seiner zwitterhaften Beschaffenheit, vermieden es aber, mit ihm darüber zu sprechen. Im 15. Jahre machte sich die Geschlechtsreife bemerkbar, es traten die Pubes auf, gleichzeitig wuchsen die Brüste stark, während ein deutlicher Stimmwechsel nicht beobachtet wurde. Ein schwacher Bartflaum über der Oberlippe machte sich zuerst im 20. Jahre bemerkbar. Nach beendeter Schulzeit lernte P. Kaufmann. Mit '19 Jahren stellte er sich frei- willig zum Militär, um nicht bei der Aushebung in Anwesenheit der anderen Rekruten untersucht zu werden. Der Militärarzt erklärte ihn für dauernd untauglich. Er nahm dann Stellungen als Buchhalter an, die er stets lange und zu großer Zu- friedenheit seiner Vorgesetzten inne hatte. Augenblicklich hat er einen Vertrauens- posten inne, auf dem jährlich mehrere hunderttausend Mark durch seine Hände gehen. B. Status praesens, a) Körperlicher Zustand. Patient suchte mich auf behufs Ausstellung eines Gesundheitsattestes, welches seitens einer Behörde von ihm erfordert wurde. Es hatte ihn große Überwindung; gekostet, sich zu einem Arzte zu begeben, und war schließlich seine \v"ahl auf mich gefallen, da er erfahren hatte, daß ich Personen seiner Art, die er als „Lebewesen letzter Klasse" bezeichnete, besonderes Interesse entgegenbrächte. Das Auffallendste beim ersten Eindruck war, daß es fast unmöglich schien, über das Aller der sich vorstellenden Person ein Urteil zu fällen. Man konnte ihn ebensogut für 17, wie für 40 Jahre hallen. Er erzählte mir, daß er sehr häufig, wenn er Besucher seiner Firma herumzuführen und ihnen Auskünfte zu erleilen hätte, von diesen während der Unterhaltung gefragt würde: „wie alt sind Sie denn eigentlich?" worauf er dann humorvoll zu antworten pflege: 10) Dieser Fall wurde von mir zuerst in der „Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene" (herausgegeben von Dr. med. Karl Rieß, Stuttgart, Verlag von W. Malende, Leipzig), II. Jahrgang, Heft 5, veröffentlicht. I. Kapitel: Hermaphroditismus 31 „17 durch" oder „17 gewesen". Sein Alter verberge er, damit die Leute ihm nicht zum Heiraten zureden. Patient trägt einen Anzug, der in keiner Weise von der bei Herren üblichen Tracht abweicht. Sein hellblondes Haupthaar ist kurz, struppig, ungescheitelt. In seinem zarten hübschen Gesicht findet sich ein spärlicher, flach sfar bener Schnurrbart. Nachdem der jetzt 32 Jahre alte, 1,69 m große und 148 Pfd. schwere F. K. sich entkleidet hat, zeigt sich ein prachtvoller weiblicher Körper. Der Brust- umfang ist 90, der Hüftenumfang 98 cm. Die Mammae treten als zwei pralle volle Halbkugeln hervor. Die Brustwarzen sind ziemlich groß und von einem rosa gefärbten Warzenhof umgeben, dessen Durchmesser 5 cm beträgt; in demselben sind einige Montgomerysche Knötchen deutlich sichtbar. Bei der Pal- pation fühlt man unter der Haut der Brüste ein Gewebe, das vom weiblichen Mamrha- gewebe nicht zu untei scheiden ist. Die Haut ist sehr, zart, reiri und vollkommen glatt. Die Körperlinien sind abgerundet, namentlich die Schulter-, Oberarm-, Hüft- und Oberscherjkelkonturen absolut feminin. Die Hände sind weich und zierlich (Handschuhnummer 7), die Füße ldein. Das Fleisch fühlt sich teigig und schwellend an, die Muskulatur ist schwach entwickelt. Die Schritte sind klein und kurz, doch findet beim Gehen kein Drehen in den Schultern und Hüften statt. Patient kann nicht pfeifen. Es besteht keine Neigung zu kräftiger Muskeltätigkeit, Turnen, gymnastischen Spielen, aber auch nicht zum Tanz, dagegen zum Wandern und Badfahren. Der Atmungstypus ist koslal. Der Kehlkopf tritt am äußeren Halse nicht hervor; die Stimmlage ist mittel; wie Patient angibt, ist sie durch Übung tiefer geworden. Die Sprache ist einfach, nicht geziert; Neigung in Fistelstimme zu sprechen ist nicht vorhanden, eher das Gegenteil. Der Gesichlsausdruck ist weder ausgesprochen männlich noch weiblich, jeden- falls aber mehr weiblich als männlich. Die schönen, blauen Augen haben einen ruhigen, sanften, leicht melancholischen Ausdruck. Patient fühlt sich außer seiner Anormalität vollkommen gesund. Es bestehen keinerlei Störungen des Nervensystems, auch keine Migräne und Neurasthenie. Patient hat bisher niemals ärztlichen Beistand nötig gehabt. Die Untersuchung der Lungen, der Zirkulationsorgane, des Verdauungsapparates sowie die Analyse des Harns ergeben völlig gesunde Verhältnisse. b) Genitalapparat: Bei dem ersten Anblick der Genitalien kann man sich des Erstaunens nicht erwehren, was die Eltern und die Hebamme wohl veranlaßt haben mag, in diesem Falle einen Knaben zu diagnostizieren. Man muß jedoch be- rücksichtigen, daß die genitale Formation neugeborener Individuen viel leichler zu einem Zweifel und Irrtum in der Geschlechtsbestimmung Anlaß geben kann, wie die definierte postpubische Gestaltung. Bei den Neugeborenen kommen die sekundären Geschlechtszeichen außer Betracht, die charakteristischen Pubes sind nicht vorhanden; die unmittelbar post partum fest aneinandergepreßten, die Nymphen überdeckenden großen Labien sehen einem kryptorchistischen Skrotum, bei dem die Baphe ein- gesunken ist, zum Verwechseln ähnlich. Findet sich nun oberhalb dieser Bildung ein deutlich hervorstehender Bürzel, so wird der Laie leicht zu der Diagnose „Mann" kommen, da er in einem wenn auch noch so kleinen Membrum virile das entscheidende Zeichen der Männlichkeit sieht und über das weibliche Analogon des Geschlechts- höckers gewöhnlich nicht genügend unterrichtet ist. Die makroskopische und mikroskopische Untersuchung ergab bei K. folgenden Befund: Die Schambehaarung ist typisch weiblich. Es sind zwei gut entwickelte Labia majora vorhanden. In die rechte Schamlippe läßt sich ein kleines, taubeneigroßes, in die linke ein haselnußgroßes Ge- bilde vom Leistenkanal aus nach unten drücken. Die Berührung derselben ist mit Schmerzen verbunden. Es ist unmöglich, bei der Palpation zu beurteilen, ob 32 es sich bei diesen Organen um Hoden, Eierstöcke (oder um Ovotestes) handelt. Beim Herunterziehen scheint es, als ob diese Gebilde mit einem bindegewebigen, runden Strang von geringem Durchmesser in Verbindung stünden, der sich weder wie ein Vas deferens, noch wie eine Fallopische Tube anfühlt. Zentralwärts von den großen sind die kleinen Schamlippen sichtbar, die ca. 4 cm lang sind und durch eine reichliche Anzahl von Schleimhautfalten auf- fallen. Streift man sie nach oben auseinander, so erblickt man einen Bürzel, der 2 cm breit und 1 cm lang ist. In der geschlechtlichen Erregung soll derselbe etwa 1J cm breiter und ein wenig länger werden. Dieser stumpfe Höcker zeigt keine Mündung eines inneren Kanals, dagegen an seiner Oberfläche eine nach unten ver- laufende flache Binne, an deren vaginalem Ende die Urethra mündet. Die unterhalb derselben gelegene hymenlose Öffnung der Scheide ist für eine bleistiftdicke Sonde durchgängig. In einer Tiefe von Ii cm stößt diese Sonde auf den Grund des häutigen Kanals, der keinerlei Vorwölbungen und Öffnungen zeigt, welche man als Portio und Muttermund ansprechen könnte. Die digitale Untersuchung per vaginam ist nicht möglich. Per anum fühlt man keine Prostata. Rektoabdominal ist k e i n e Resistenz p a 1 p a b e 1 , die als Uterus gedeutet werden könnte. Die Monatsregel war nie vorhanden, auch keine vikariierenden Menses oder menstruelle Äquivalente. Patient gibt an, daß sich bei dem meist durch Masturbation herbeigeführten Orgasmus etwa 2 Gramm weiß- lichen Schleims entleeren, welche er für Samenflüssigkeit hält. Die zu zwei verschiedenen Malen vorgenommene mikroskopische Untersuchung des Ejakulats ergab in bezug auf Samenfädchen ein negatives Resultat. Kollege Dr. M. Z o n d e k , welcher die Untersuchung ausführte, berichtete mir: „Ich habe die schleimige, grau aussehende Flüssigkeit sofort nach Empfang frisch untersucht, einige Trockenpräpa- rate gemacht und dieselben nach einiger Zeit gefärbt. Es zeigten sich beide Male Plattenepithelien, sehr groß mit verhältnismäßig kleinem, zentral gelegenem runden Kern, ferner Bakterien, amorphe Massen, geronnener Schleim. Spermatozoen waren nicht Vorhände n." c) Der Geschlechtstrieb. Im Gegensatz zu der bisexuellen Mischung der somatischen Geschlechtsmerkmale zeigt der Geschlechtstrieb keine Spur von Bi- sexualität, ist vielmehr — wie bei einem normalen Weibe — ausschließlich auf den Mann gerichtet. Nach der Geschlechtsreife, die im 15. Lebensjahre eintrat, trat immer deutlicher ein lebhaftes sexuelles Interesse für männliche Personen hervor; für Mädchen und Frauen bestand niemals auch nur die geringste sexuelle Neigung. Der Gedanke, mit einem Weibe geschlechtlich zu verkehren, ist ihm „widerwärtig". Pollutionsträume hatten stets Berührungen mit Personen männlichen (Patient sagt „desselben") Ge- schlechts zum Inhalt. Auf dem Theater fesselten ihn Herren mehr wie Damen. Patient fühlt sich von kräftigen, recht männlichen Typen angezogen; zarte, weibliche, namentlich auch die meisten Homosexuellen lassen ihn kalt; uniformierte Stände, besonders Soldaten, bevorzugt er. Es ist ihm außerordentlich peinlich, wenn jemand seines absonderlichen Baues gewahr wird. Vor allem meidet er deshalb auch die virileren Homosexuellen, die sich am ehesten zum Verkehr mit ihm bereit finden, weil die meisten von ihnen, wenn sie den Mangel des Membrum virile wahrnehmen, enttäuscht sind, einige sogar „direkt grob" geworden seien. Die Art seines Begehrens ist weiblich passivisch. Er möchte sukkubus, der Ge- liebte soll inkubus sein. Der Geschlechtstrieb ist stark, ein Akt konnte bisher aber nur selten (immer mit Männern) ausgeführt werden. Er fühlt sich daher unbefriedigt und unglücklich: wünscht, daß, wenn dies möglich wäre, seine Natur geändert würde. Wenn andere Männer und Frauen das geschlechtliche Thema berühren, kann er sich eines Neidgefühles nicht erwehren. Er hat Kinder gern; er verkehrt täglich in der Familie seines Chefs und es macht ihm besondere Freude, mit dessen Kindern, die ihn sehr lieb haben, zu spielen I. Kapitel: Hermaphroditismus 33 und zu musizieren, der Wunsch, ein eigenes Kind zu besitzen, ist aber gar nicht vor- handen. d) Geistige Eigenschaften. Es überwiegen die männlichen Charakterzüge. Von seinem Gemüt sagt Patient, daß es weder hart noch weich sei, „ein undefinierbares Gemisch". Starke Affekterregbarkeit ist nicht vorhanden; Tränen fließen fast nie; er kann dagegen leicht zornig werden. Ehrgeiz, auffallende Selbstsucht sind wenig ausgesprochen, jedoch starkes Mißtrauen. Patient ist weder launenhaft, noch besitzt er Hang zum Aberglauben und sagt von seiner Religiosität, sie sei gleich null. Er hat ziemlich starken Willen, keine Furchtsamkeit und ist von sittlichem Ernst und großer Ordnungsliebe. Er liebt geistige und körperliche Arbeit, ist in bezug auf seine Lebensbedürfnisse anspruchslos; raucht nurviel, und zwar starke Zigarren, kann auch viel Alkohol vertragen. Er besitzt ein gutes Gedächtnis, hat viel gelesen und gelernt und ist von umfassender Bildung. In erster Linie interessiert ihn Politik; er ist ein großer Verehrer von Bismarck. Musik liebt er sehr. Er spielt sehr gut Klavier. Aus Plastik macht er sich nichts. Dagegen beschäftigt er sich gern mit Blumenpflege. Es besteht nicht der geringste Drang, in Kleidern des weiblichen Geschlechtes zu gehen. Er hat weder Neigung für Schmuck, noch für Parfüms, Puder u. dgl. Er liebt einfache Gewandungen, hohe Kragen, doch spielen die Kleidungssorgen keine Rolle in seinen Gedanken. Hang für weibliche Handarbeiten, Kochen, Putzen ist nicht vorhanden. Seine Schriftzüge sind groß und sicher und erwecken zweifellos den Eindruck, daß sie von einem Manne herrühren. Sein Grundtemperament ist heiter, doch hat sein Humor oft etwas Sarkastisches, namentlich wenn er über seine Person scherzt. So schrieb er mir einmal in einer von kaustischem Witz erfüllten Schilderung ausführlich, „was er bereits im Geiste über sich nach seinem Ableben in der Morgenpost las". C, Epikrise. Die Geschlechtsdiagnose Läßt sich bei dem 32 jährigen, seit seiner Geburt als Mann lebenden Franz K. intra vitam nicht stellen, ja es erscheint sogar fraglich, ob es post mortem möglich sein wird, zu entscheiden, ob diese Person ein Mann oder ein Weib gewesen ist. Als Mann, wie die Behörden und seine Umgebung annehmen, kann er wissen- schaftlicherseits bei der überwiegenden Anzahl weiblicher Geschlechtscharaktere, dem Mangel männlicher Keimzellen und dem ausgesprochen weiblichen Geschlechtstrieb nicht angesehen werden. Auch nicht als homosexueller Mann, unter welche Kategorie er sich zu rubrizieren geneigt ist. Aber auch dem weiblichen Geschlechte können wir ihn nicht zuzählen, da er nicht nur niemals menstruiert hat, sondern auch zahlreiche Geschlechtscharaktere zweiter und dritter Ordnung besitzt, welche eine weit über das weibliche Stadium hinausgehende, männliche Entwicklung aufweisen. Auch für ungeschlechtlich kann man ihn nicht erklären, da Geschlechtsstigmata in großer Fülle vorhanden sind, und der Geschlechtstrieb in vollkommener Ausbildung. besteht. Ebensowenig ist er aber doppelgeschlechtlich, da aus der Amenorrhoe und Azoospermie hervorgeht, daß weder männliche noch weibliche Fortpflanzungszellen produziert werden. Die nachweisbaren Keimstöcke machen bei der Palpation den Eindruck rudi- mentärer Gebilde, jedenfalls nicht normaler Ovarien oder Testes. Aus der fehlenden äußeren Sekretion kann man folgern, daß weder fortpflanzungsfähiger Same noch Eier in ihnen vorhanden sind. Aus der inneren Sekretion, deren Folgeerschei- nungen in den weiblichen und weibischen Geschlechtscharakteren zutage tritt, kann man aber schließen, daß die Geschlechtsdrüsen . sowohl männliches wie weibliches Pubertätsgewebe enthalten dürften. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 3 34 I- Kapitel: Hermaphroditismus Der Patient, der sich erst nach großem Widerstreben zu den wiederholten Unter- suchungen entschlossen hatte, war nicht wenig enttäuscht, als ich ihm die Antwort schuldig bleiben mußte, ob er dem» nun eigentlich ein Mann oder einölt, se^ ihn also wie er in der ihm eigentümlichen Art meinte, „auf die Sektion ver- trÖSFurdie sexuelle Psychologie und Physiologie ist der Fall in verschiedener Hin- sicht beachtenswert; einmal zeigt er, daß ein vollkommen determinierter Geschlechts- trieb bei gänzlichem Mangel von Fortpflanzungszellen bestehen kann. Ferner sehen wir, im Gegensatz zu der Erfahrung, wie man sie bei femininen Homosexuellen so oft macht, trotz ganz weiblichem Geschlechtsempfinden ausge- sZZlT Antipathie gegen weibliche Gewohnheiten (Abneigung gegen weibliche Tracht und Beschäftigung, Vorliebe für Tabak, Alkohol usw.) «gentümhch ist auc h, daß die sekundären und tertiären Geschlechtscharaktere in nahezu umgekehrtem Vei- S tr^ zueinander stehen, indem auf somaüschem Gebiet etwa zu 75 Proz^ weibhche und zu 25 Proz, männliche, auf psychischem etwa zu 75 Proz männliche und zu 25 Proz weibliche Geschlechtszeichen miteinander verbunden sind Auffallend ist endlich auch so hochgradige Gynäkomastie und weibliche Beckenbildung bei g 1 e i c h z e i 1 1 g e m V o r h a n d e n s e i n von Bart und männlicher Stimme. Für die forensische Medizin bietet der Fall sowohl ein strafrechtliches wie ein zivilrechtliches Interesse. Strafrechtlich insoweit, als er die Frage nahelegt ob diese Person, welche als Mann lebt und als solcher getauft ist, sich im Sinne des § 175 RStGB. vergeht, wenn sie, wie wiederholt geschehen, mit einem Manne in geschlecht- liche Beziehung tritt, weiter auch, ob der normale oder homosexuelle Mann sich strafbar macht, wenn er mit einer derartigen Person eine Imitatio coitus vollzieht Zivilrechtlich zeigt der Fall recht deutlich, daß in bezug auf den Hermaphrodi- tismus unser neues Bürgerliches Gesetzbuch keinen Fortschritt, sondern einen Ruck- schritt vollzog, als es die vernünftigen Bestimmungen des alten preußischen Land- rechts über die Zwitter gänzlich eliminierte, mit der apodiktischen Begründung, es gäbe keine Personen unbestimmten oder unbestimmbaren Geschlechtes. Unseres Erachtens hat man unter die Personen zwitterhaften und zweifelhaften Geschlechtes nicht nur solche zu rechnen, die gleichzeitig Ovarien und Testes besitzen sondern auch solche, die keines von beiden besitzen, mit anderen Worten: nicht nur solche, die sowohl Mann als Weib sind, sondern auch solche, die weder Mann noch Weib sind. Im Laufe der letzten 12 Jahre habe ich Franz K. zwar nicht so oft wie Friederike S aber immerhin einige Male zu sehen Gelegenheit gehabt. Sein körperlicher und psychischer Status hat während dieser Zeit auch nicht die geringste Veränderung dar- geboten Er machte heute mit 40 Jahren einen ebenso juvenilen und indifferenzierten Eindruck, wie damals als ich ihn zuerst sah. Beruflich hat er weiter gute Fortschritte gemacht. Er; nimmt jetzt in einer großen Süddeutschen Verwaltung einen leitenden Posten ein und füllt ihn, wie mir berichtet wurde, vortrefflich aus. Es folgen nun drei weitere Fälle von Hermaphroditismus, in denen auf mein Gutachten hin eine Berichtigung der Ge- schlechtszugehörigkeit im Standesregister erfolgte. Die äußere Veranlassung war in den drei Fällen die gleiche. Es handelte sich scheinbar um junge Mädchen, die sich um das zwanzigste Jahr herum sehr stark mit allen An- zeichen der Eifersucht in andere Mädchen verliebt hatten. Man mußte daher zunächst an homosexuelle Neigungen denken. Da die Paare sich sehr gern geheiratet haben würden, glaubten sie zunächst vor schier unauflöslichen Konflikten zu stehen I. Kapitel: Hermaphroditismus 35 und waren von Doppelselbstmord nicht weit entfernt. Bemerkens- wert ist es, daß die wirkliehen Frauen die Hermaphroditen bereits ehe sie deren Körperbeschaffenheit genauer kannten, als völlig männlich empfanden. Für die Differentialdiagnose Hermaphroditis- mus oder Homosexualität sind die Fälle von grundlegender Be- deutung. In dem ersten der Fälle trug sich der Vorgang folgendermaßen zu. T. war an einer Lungenentzündung erkrankt. Eine schwedische Krankenschwester pflegte sie. Die Pflegerin sagte, wie sie mir später selbst mitteilte, zu ihrer Kollegin: „Ich pflege jetzt eine reizende junge Dame; ich habe aber ganz die Empfindung, einen jungen Mann zu pflegen; ihre Stimme und ihr Wesen haben es mir angetan: ich bin darüber sehr verwundert, da ich doch sonst alles gleichgeschlechtliche direkt verabscheue." Während der Rekon- valeszenz verliebte sich die Krankenschwester immer mehr in ihre Patientin. Trotzdem diese ihr gestand, daß sie bereits mit Männern geschlechtlichen Verkehr gepflogen hatte und tatsächlich eine kohabitationsfähige Vagina besaß, wuchs die Über- zeugung in ihr immer mehr und mehr, daß die Freundin ein Mann sei. Sie sandte sie nun zu mir und erstattete ich mit Dr. Burchard das folgende Gutachten: Die Prokuristin Elisabeth T., geboren den 17. August 1883, hat sich an uns mit der Bitte gewandt, auf Grund unserer langjährigen Beschäftigung mit sexualwissen- schaftlichen Fragen ein sachverständiges Gutachten über ihre wahre Geschlechts- zugehörigkeit abzugeben, da infolge einer Beihe körperlicher und seelischer Besonder- heiten, die sie an sich wahrgenommen hat, erhebliche Zweifel bei ihr darüber entstanden sind, ob sie tatsächlich dem weibüchen Geschlechte zugehört. Nach ein- gehender Beobachtung und wiederholten Untersuchungen der E. T. haben wir uns ein klares, eindeutiges Urteil über diese Frage gebildet und geben unser Gutachten darüber im folgenden ab. . . Die Entwicklung der T. in den Kinderjahren nahm in gesundheitlicher Beziehung einen normalen und günstigen Verlauf; doch merkte sie selbst schon mit 6 Jahren, daß sie von andern Mädchen in körperlicher und seelischer Hinsicht verschieden war. Die Spiele und Beschäftigungen der Mädchen boten ihr keinerlei Interesse, dagegen raufte und tollte sie gern mit Knaben. Es wurde häufig gesagt, daß ein Junge an ihr verdorben sei. Jn der Schule lernte sie gut und zeigte besonderes Interesse für Schreiben, Rechnen und Naturkunde. Mit 13 Jahren hatte sie Stimm- wechsel; gleichzeitig trat Bartwuchs und K ö r p e r b e h a a r u n g auf. Die Menstruation stellte sich nicht ein und hat sich auch bis heute nicht gezeigt; ebensowenig machte sich ein Anschwellen der Brüste bemerkbar. In dem von ihr gewählten kaufmännischen Berufe erwies sich E. T. sehr tüchtig und brachte es zur Prokuristin. Ihre Neigungen und Gewohnheiten blieben die des männlichen Geschlechts. Sie interessiert sich für Politik und wissen- schaftliche Fragen, namentlich Mathematik und Naturwissenschaften, und treibt mit Vorliebe Sport, besonders Reiten und Radfahren, doch läßt ihr Beruf, in dem sie völlig aufgeht, ihr wenig Zeit zu Nebenbeschäftigungen. Häusliche weibliche Arbeiten sind ihr zuwider. Befund: Elisabeth T. ist von kleiner Figur und kräftigem Körperbau. Die Körperlänge beträgt 148 cm, das Gewicht kaum 1 Ztr. Die Körperhaltung 3* I. Kapitel: Hermaphroditismus ist stramm und gerade, die Muskulatur kräftig entwickelt und fest. Brust und Becken- gürtel sind von annähernd gleicher Breite. Die Brust ist flach, die' Brust- warzen sind von völlig männlicher Bildung mit kleinem, mäßig pigmentiertem Warzenhofe ohne irgendeinen Ansatz von weiblichem Drüsengewebe. Die Atmung zeigt deutlich abdominalen, männlichen Typus. Der Adamsapfel tritt etwas hervor. Hände und Füße sind klein, aber kräftig und sehnig gebaut. Das Haupthaar istt weich, nicht sehr lang und vorn etwas spärlich. In Frauentracht ist E. T. genötigt, eine Perücke zu tragen. Es besteht starker Bartwuchs, der regelmäßiges Rasieren erforderlich macht. Am Körper sind Arme und Beine, namentlich auf den Innenseiten, stark behaart. Die S c h a m b e h a a r u n g ist von vorwiegend weiblichem Typus, doch verläuft sie wie beim Manne in der Mediallinie des Bauches zum Nabel hin. Die nähere Untersuchung der Geschlechtsorgane ergibt folgenden Befund: Der Geschlechtshöcker (Penis) ist von etwa 3 cm Länge, undurchbrochen, erektil. Glans und Praeputium sind von männlichem Typus. Die Geschlechtsrinne verläuft medial. Die Genitalschleimhaut ist stark gerötet. Eine Untersuchung pervaginam ist leicht möglich. Es sind Reste des Hymens fühlbar. Die Scheide ist kurz. Man tastet den Muttermund und einen rudimentären, walnußgroßen Uteruskörper. Keimdrüsen sind per vaginam nicht fühlbar. Die kleinen Labien sind äußerst klein, die großen sehr hart. Beim Orgasmus soll aus der Geschlechtsrinne nach Angabe der Untersuchten ein reichlicher Erguß einer schleimig - milchigen Flüssigkeit erfolgen. Krankhafte Erscheinungen bietet der körperliche Befund nicht. Insbesondere liegen keine nachweislichen Zeichen von Degeneration und keine Störungen der ner- vösen Funktionen vor. Der Gesichtsausdruck der E. T. ist ernst und wenig veränderlich. Ihre Bewegungen sind kurz, rasch und bestimmt. Die Stimme ist tief und einfach. Beim Gehen macht sie, feste und rasche, aber kurze Schritte und bewegt den Körper dabei in etwas femininer Art, die aber! den Eindruck des An- gewöhnten, Gezwungenen macht. Der Handschlag ist kräftig und fest. Das Wesen der T. zeigt eine gleichmäßige Ruhe und einen gemessenen Ernst. Obwohl sie ihrer Angabe nach mehr zu trüber Stimmung neigt und das Leben nicht leicht nimmt, läßt sie sich in keiner Weise von seelischen Schwankungen beherrschen und unterdrückt jede Äußerung exaltierter oder sentimentaler Art.' Sie ist reserviert, bleibt auch in lebhafter Unterhaltung streng sachlich und beschränkt sich in ihren Aus- führungen auf das Notwendigste. Wir erwähnten bereits, daß ihre Neigungen und Gewohnheiten durchaus die des männlichen Geschlechts sind. In zahlreichen Explorationen konnten wir uns davon überzeugen, daß der Kreis ihrer Interessen ein für ihre Erziehung ungewöhnlich weiter ist, daß ihre Urteile und Schlüsse zwar vor- sichtig und zurückhaltend, im Ausdruck aber doch durchdacht und bestimmt ist. In ihren Handlungen bekundet sie große Entschiedenheit, Konsequenz und Energie. Die. geschlechtlichen Neigungen der T. sind völlig männ- liche. Sie fühlt sich in sexueller Hinsicht ausschließlich zu Personen weiblichen Geschlechts hingezogen, mit denen sie den Beischlaf in vollkommen normaler Weise vollzieht, was ihrer Körperbeschaffenheit nach durchaus mögüch ist. Der Penis be- fähigt sie, in erigiertem Zustande durch Einführung in die' Vagina und Vollziehung des Koitus ihre weibliche Partnerin sexuell zu befriedigen. Auch ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß die beim Orgasmus entleerte Flüssigkeit, wenn sie auch nicht in normaler Weise aus dem Penis, beziehungsweise der ihn durchbrechenden Harnröhre, sondern aus der Geschlechtsrinne unterhalb des Gliedes entleert wird, an den Ort ihrer Bestimmung gelangt, daß E. T. mithin als Mann zeugungsfähig ist. Rein physisch ist auch der sexuelle Verkehr per vaginam mit einem Manne möglich, und E. T. hat sich einige Male zu einem solchen Verkehr verstanden aus Motiven der Dankbarkeit und freundschaftlichen Sympathie, sowie in Unklarheit über ihr wahres Geschlecht, den allgemein verbreiteten Anschauungen und Gewohnheiten 37 folgend. Im Gegensatz zu dem für E. T. völlig normalen Ge- schlechtsverkehr mit dem Weibe gewährten ihr diese ihrer Natur widersprechenden Akte nicht die geringste sexuelle Befriedigung und hinterließen naturgemäß nur Abspannung und Unbehagen. Gutachten: Es liegt bei der E. T. zweifellos ein Fall von irrtümlicher Ge- schlechtsbestimmung (erreur de sexe) vor. Die Persistenz der Geschlechtsrinne, eine totale Hypospadia peniscrotalis täuscht eine Vagina vor, die in Verbindung mit den nach weiblichem Typus gebildeten Geschlechtswulsten und dem rudimentären Uterus- körper den Anschein weiblicher äußerer Genitalorgane erweckt. Das Bild der Geschlechtsteile zeigte wahrscheinlich bei der Geburt ein noch weit ausgesprocheneres weibliches Gepräge, da der infantile Penis damals noch weit leichter in seiner mangelhaften Entwicklung eine Klitoris vortäuschen konnte. Neben dem Genitalbefund entspricht auch die Entwicklung der sekundären Ge- schlechtscharaktere, die in1 Abhängigkeit von der spezifischen inneren Sekretion der Keimdrüsen steht und demnach sexognomisch für die Geschlechtszugehörigkeit der Geschlechtsdrüsen und damit für die des Individuums ist, dem männlichen Habitus. Die wesentlichsten sekundären Geschlechtscharaktere des weiblichen Geschlechts: Menstruation, Brustentwicklung, femininer Fettansatz und weibliche Behaarung (langes Haupthaar und fehlende Körperbehaarung) finden sich bei E. T. auch nicht einmal angedeutet, während sich ihre männlichen Gegenstücke: Stimmwechsel, Körperbehaa- rung und Bartwuchs mit der Pubertät einstellten. In Übereinstimmung mit der Entwicklung der sekundären körperlichen Sexualität in männlicher Bichtung tragen die psychischen Anlagen der E. T. ausgesprochen männliches Gepräge. Das Überwiegen des Intellekts über das1 Gefühl, die Entschieden- heit im Urteil und Handeln, die starke Ausprägung der Willenstätigkeit in Konsequenz und Energie zeigen dieses ebenso wie das männliche Auftreten und Gebaren, die männlichen Gewohnheiten und Neigungen, von denen wir uns bei E. T. in jeder Be- ziehung überzeugen konnten. Endlich steht auch der völlig männliche Geschlechtstrieb, der nur im normalen Koitus mit einer Frau seine volle Befriedigung findet, im Einklang mit der aus- gesprochen männlichen Gesamtpersönlichkeit. Unser Gutachten geht demnach dahin: 1. Es liegt bei der E. T. ein Fall irrtümlicher Geschlechtsbestimmung, bedingt durch eine partielle Umbildung der äußeren Genitalien im weiblichen Sinne, vor. 2. Das wahre Geschlecht der E. T. ist, wie eine genauere Untersuchung der Genitalien und der Befund der sekundären Geschlechtscharaktere einwand- frei ergibt, in Übereinstimmung mit ihrer Gesamtpersönlichkeit und ihrem Geschlechtstrieb das männliche. 3. Die entsprechende Berichtigung in den Standesregistern ist daher ge- boten. Der Vorname Elisabeth soll nach dem Wunsche der E. T. in Erhard umgewandelt werden. Auf dieses Gutachten traf nach einigen Monaten vom Amts- gericht die Mitteilung ein, daß dem Antrag auf G eschlechts- umsch reihung stattgegeben sei. Noch an demselben Tage fand die Verlobung T.s mit seiner ehemaligen Krankenpflegerin und bald darauf die Hochzeit beider in Schweden statt. Trotzdem die Gattin fast doppelt soviel wiegt, wie ihr jetziger Mann, sind beide ein sehr glückliches Paar geworden. Das ehemalige Fräulein Elisabeth füllt sowohl ihren Platz als Ehemann, wie als sehr tüchtiger selbstän- 38 diger Geschäftsmann zu höchster Zufriedenheit seiner Frau aus. Zu- letzt hesuchten mich beide wegen seiner Musterung. Trotz der Be- stimmung in der D. A.Mdf. Anlage IU, Nr. 58, war T. für feld- dienstfähig erklärt worden. Auf sein Ersuchen erstatte ich das folgende Gutachten: Unter Bezugnahme auf mein früheres Gutachten vom 27. November 1915 be- scheinige ich, daß der jetzt 38 Jahre alte Kaufmann Erhard T. infolge irrtümlicher Geschlechtsbestimmung bis zu seinem 29. Jahre als Mädchen gelebt hat. Er führte bis dahin den Namen Elisabeth T. Vor 3 Jahren erfolgte auf mein eingehendes Gutachten die Umschreibung zum männlichen Geschlecht. Trotz des Überwiegens der männlichen Geschlechtscharaktere, namentlich des Vorhandenseins männlichen Samens, und eines männlichen Geschlechtstriebs — T. ist seit seiner Umwandlung verheiratet — bestehen auch jetzt noch weibliche Geschlechtszeichen, die offenbar hauptsächlich bei seiner Geburt zu der irrtümlichen Geschlechtsbestimmung führten, und von denen jetzt noch namentlich eines von entscheidendem Einfluß auf die Lebensführung T.s ist. Diese Geschlechtszeichen sind: a) Die Hoden liegen in keinem Skrotum, sondern innerhalb der Leibeshöhle an der Eierstocksstelle. , b) Es ist eine ziemlich tiefe Scheide vorhanden, die es ermöglichte, daß T. in seiner Mädchenzeit während mehrerer Jahre regelrechten Verkehr mit einem Manne hatte. c) Vor allem ist das Glied nicht von einer Harnröhre durch- bohrt, vielmehr mündet der Harnröhrenkanal, wie bei einer Frau, oberhalb der Scheidenöffnung. Infolgedessen kann T. nicht wie ein Mann austreten, sondern muß wie eine Frau urinieren. Die Erfahrung zeigt, daß diese abweichende Art der Bedürfnisverrich- tung in männlicher Umgebung sehr auffällt und den Betreffenden bald zur Zielscheibe von Bemerkungen macht, die geeignet sind, ihn seelisch tief zu deprimieren. Im Zusammenhang mit seiner zwitterhaften Beschaffenheit und seiner Erziehung als Mädchen und Frau während eines Zeitraums von 29 Jahren, hat die männliche Entwicklung T.s sowohl in körperlicher als seelischer Hinsicht im allgemeinen stark gelitten. T. ist mit 32 Jahren nur 1,47 m groß, wiegt nur 45 kg, hat sehr schwach entwickelte Muskulatur, kleine Extremitäten, ist im allgemeinen zart und wenig widerstandsfähig und auch in bezug auf sein Nervensystem sehr sensitiv. Die zusammenfassende Diagnose lautet: Erhard T. leidet I. an einer erheblichen Mißbildung der Geschlechtsorgane, welche andauernd Beschwerden verursacht, und zwar an einer Zwitterbildung im Sinne der Nummer 58, Anlage 1 U der D. A. Mdf. ; II. speziell an der Unfähigkeit, wie ein Mann zu urinieren; III. an allgemeinef Körperschwäche; er ist bei 33 Jahren 1,47 m groß und 90 Pfund schwer. Wir berühren hier einen Punkt, der für die männlichen Herma- phroditen auch nach ihrer Umschreibung von nicht zu unterschätzen- der Bedeutung ist: die Unmöglichkeit nach Männerart die Harnblase zu entleeren. In fast allen Fällen kommt der Urin bei ihnen aus der mehr oder weniger rudimentären Scheide, in deren vorderen Wan- dung der Harnleiter zu münden pflegt. Daher kann der männliche Zwitter seine kleinen Bedürfnisse nur nach Frauenart verrichten, er I. Kapitel: Heimaphioditismus 39 ist, wenn beispielsweise die Soldaten zu diesem Zwecke auf Märschen Halt machen, nicht in der Lage, sein Membrum einfach aus dem Hosenschlitz herauszuziehen, sondern muß erst den Tornister ab- schnallen, die Beinkleider abknöpfen, und sich dann wie ein Weib niederhocken. Daß er dadurch alsbald für die spottlustigen Kame- raden eine Zielscheibe von Scherzen wird, die, wenn sie auch harm- los gemeint, doch für ihn verletzend und erbitternd sind, liegt auf der Hand. Die Spottlust steigert sich bei der regelmäßigen Genital- untersuchung, die beim Militär zwecks Feststellung von Geschlechts- krankheiten vorgenommen wird und vor allem bei dem gemeinsamen nackten Baden. Auch die mit anderen vorgenommene Musterung ist für diese Leute, wie übrigens auch für die Eunuchoiden, peinlich und bei ihrer seelischen Empfindsamkeit geeignet, weitgehende Ver- stimmungen hervorzurufen. Nach allem kommt die Ausbildung der Hermaphroditen, sei es für den Garnison- oder Felddienst, kaum in Frage, wohl aber können die meisten von ihnen als arbeitsverwen- dungsfähig im Bureau oder im Beruf erachtet werden, doch müssen sie dann von jedem Dienst, der mit Entblößungen vor anderen ver- bunden ist, befreit werden. Man sollte dies eigentlich für selbst- verständlich halten, doch teilte mir erst vor kurzem ein Herma- phrodit, dessen Umschreibung zum männlichen Geschlecht ich ver- anlaßt hatte, und der kurz darauf als garnisondienstfähig eingezogen wurde, mit, wie sehr er seelisch darunter litte, daß seinem inständigen Bitten, vom Baden und der Genitaluntersuchung in Gemeinschaft mit den anderen befreit zu werden, nicht Folge gegeben würde. Erst als ich mich auf dringendes Ersuchen seiner Angehörigen mit der zuständigen militärärztlichen Stelle in Verbindung setzte, erfolgte Remedur. Die nächste Beobachtung ist von ganz besonderer Wichtig- keit, weil bei ihr der Abgang von Samenflüssigkeit mit vollkommen männlichen Sperrnatozoen aus einer weiblichen Harnröhre bei nor- malen weiblichen Genitalien nachgewiesen werden konnte. Auch diese Person kam zu mir, weil sie sich in ein Mädchen verliebt hatte. Als ihre Eltern sie mit einem Offizier, der um sie angehalten hatte, verloben wollten, war sie mit diesem Mädchen auf und davon- gegangen. Alles Nähere ergibt das folgende Gutachten Frl. Erna M., geboren am 11, Mai 1891 zu H>, suchte uns vor etwa fünf Wochen auf da das Gefühl einer ausgesprochen männlichen Persönlichkeit hinsichtlich ahrer Neigungen, Empfindungen und Anschauungen in ihr Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht erweckt hatte; besonderen Ausdruck fand dieser von ihr als Widerspruch zwischen Sein und Schein empfundene Zustand l n d e m f a s t u n - widerstehlichen Drange, ganz als Mann leben zu können FrL M. ersuchte uns auf Rat ihres Anwalts im Einverständnis mit ihrer Mutter, ein sachverstan- diges Gutachten über sie abzugeben, durch das ihre eigenartige Lage geklart werden könnte Wir haben seitdem Frl. M. fortlaufend beobachtet, sie wiederholt eingehend unter- sucht und exploriert, bei ihren Angehörigen Erkundigungen über ihr Vorleben, ihr Wesen 40 I. Kapitel: Hermaphroditismus und ihre Lebensgewohnheiten eingezogen und geben, nachdem wir auf Grund der Er- mittlungen und unserer eigenen Wahrnehmungen zu einem einwandfreien Resultat und abschließenden Urteil gelangt sind, unser Gutachten im folgenden ab. Vorgeschichte: Vater und Mutter des Frl. M. waren rechter Cousin und Cousine. Bei ihrer Geburt war der Vater, ein hoher Staatsbeamter, 55 Jahre alt, 20 Jahre älter als die Mutter. Sie ist das jüngste von fünf Geschwistern, 8 Jahre nach dem nächstjüngsten Bruder geboren; die vier älteren Geschwister folgten sich in Zwischenräumen von je zwei Jahren. Ein Vetter der Eltern erschoß sich während der Pubertätsjahre aus gekränktem Ehrgeiz; die Schwester der Mutter und verschiedene Verwandte 2. und 3. Grades, die das 30. Lebensjahr überschritten haben, sind un- verheiratet. Im übrigen liegt eine erbliche Belastung, insbesondere in psychischer oder nervöser Hinsicht, nicht vor. Die körperliche und geistige Entwicklung des Frl. M, verlief ohne Störungen, doch machten sich bei ihr von frühester Jugend an charakteristische Eigenarten des männlichen Geschlechts bemerkbar, die uns von der Mutter in den folgenden anschaulichen Mitteilungen ge- schildert werden: „Meine Tochter Erna zeigte schon im Alter von drei Jahren knaben- hafte Neigungen, die sich von Jahr zu Jahr steigerten. Sie spielte niemals mit Puppen, nur mit Zinnsoldaten, Kanonen und Festungi Sie erkletterte Bäume,' übersprang große Gräben, war mit allen Kutschern, die Lieferungen für unser Haus hatten, befreundet, wurde von ihnen auf ihre Pferde gesetzt und weite Strecken mitgenommen. Alljährlich, zur Zeit des Blankenburger Schützenfestes, kam ein Hippodrom nach dort; darauf freute Erna sich schon das ganze Jahr. Schon als Kind von vier Jahren jagte sie mit solcher Unerschrockenheit auf ihrem Pferde einher, daß alle Zuschauer bravo riefen, und mir der Besitzer erklärte, sie wäre eine geborene Reiterin. Ihr größter Wunsch war von jeher, ein Junge zu sein. Oft trug sie tagelang die Anzüge ihres älteren Bruders, was ihr den Zorn ihrer Großmutter eintrug. Radfahren, Rodeln, Turnen (obwohl ihr letzteres ihrer Augen wegen verboten war), Schwimmen, Rudern usw. waren ihre Passion, und sie leistete darin Hervorragendes. Als sie älter wurde, haßte sie schön garnierte Hüte und Kleider; ich habe da manchen Ärger mit ihr gehabt, denn sie zog die schönen Sachen nicht an. Je älter sie wurde, um so mehr trat das Männliche, Bestimmte in ihrem Wesen hervor. Sie erregte viel Auf- sehen dadurch und Anstoß. Man fand meine Tochter unweiblich, ihr oft schroffes Wesen unangenehm. Trotz aller Mühe und Ermahnungen vermochte ich sie nicht liebenswürdiger und verbindlicher zu machen. Ich litt darunter; es tat mir leid, daß man sie scharf beurteilte. Sie war auch so wenig graziös, so r e k e 1 h a f t , jede Eitel- keit war ihr fremd, sie gab sich immer gerade wie sie war. Handarbeiten haßte sie, d. h. weibliche; in männlichen Handfertigkeiten zeigte sie sich dagegen sehr geschickt. Sie reparierte elektrische Klingeln, Uhren, fertigte Metallarbeiten u. dgl. an. Als die Zeit kam, daß sie Bälle besuchen sollte, erklärte sie sich mit großer Bestimmtheit dagegen, was mir von Seiten meiner älteren Kinder und Anverwandten viel Ärger eintrug. Herren waren ihr voll- kommen gleichgültig, doch für einige Damen hatte sie im Laufe der Zeit kleine Schwärmereien. In den zwei letzten Jahren nahm ihr männliches Wesen derart über- hand, daß ich fast verzweifelte und mit großer Sorge an die Zukunft meiner Tochter dachte. Die beständigen Vorwürfe, die man mir meiner Tochter wegen machte, wurden mir immer unerträglicher und waren auch mit ein Grund, daß ich von Blankenburg fortzog. Auch erregte sie hier in unserer Pension Aufsehen und Anstoß." Mit diesen Ausführungen der Mutter decken sich im wesentlichen die Angaben, welche Frl. M. selbst uns über ihren Entwicklungsgang macht. Sie wurde bis zum 12. Jahre zu Hause erzogen, kam1 dann in die „Kaiserin-Augusta-Stiftung" zu Potsdam und von dort in eine andere Pension zur Vorbereitung auf das Abiturium. Sie lernte spielend und bekundete besonderes Interesse für Geschichte, Anatomie, Physik, Lite- ratur und Mathematik. In beiden Pensionen fanden vielfach körperliche Liebkosungen I. Kapitel: Hermaphroditismus 41 der Mädchen untereinander statt, von denen sich Frl. M. kotz vielfacher Verführung fernhielt. Dagegen verliebte sie sich seit ihrem 12. Lebensjahre wiederholt in weibliche Personen, ohne daß es zu geschlechtlicher Be- tätigung kam. Diese Neigungen waren oberflächlicher Art, bis Frl. M. im ver- gangenen Jahre eine heftige Liebe zu einer Freundin faßte, von der sie auch heute noch völlig beherrscht wird. Es kam jetzt auch zu geschlechtlicher Betätigung, bei der Frl. M. sich vollkommen als Mann fühlt und, so- weit es ihre körperliche Beschaffenheit zuläßt, einen dem normalen Beischlaf mög- lichst ähnlichen Akt vollzieht. Es kommt dabei ihrer Angabe nach zu einer Erektion der Klitoris und beim Orgasmus zum Erguß einer schleimig-milchigen Flüssigkeit aus der Harnröhre. Die erotischen Träume bezogen sich von jeher ausschließlich auf weibliche Personen. Das männliche Geschlecht spielte im Sexualleben des Frl. M. niemals — weder im Wachen, noch im Träumen — irgendeine Rolle. Sehr wichtige Erscheinungen begleiteten die körperliche Geschlechtsreife. Zu- nächst blieb das wesentlichste Symptom der weiblichen Sexualität aus; es stellte sich keine Menstruation ein, von der Frl. M. auch bis heute völlig frei geblieben ist. Auch irgendwelche periodische Beschwerden oder auffällige Erschei- nungen, die ein gewisses Äquivalent der Menstruation darstellen könnten, traten nicht auf. Dagegen überraschte Frl. M. mit 14 Jahren ihre Angehörigen dadurch, daß sich Stimmwechsel bei ihr einstellte. Bald darauf sproßte an Lippen und Kinn auch Bartflaum, der Frl. M. nötigte, sich regelmäßig zu rasieren, bis sie die Haare in einem kosmetischen Institut entfernen ließ. Mit fortschreitendem Alter ge- wann das Bedürfnis, in jeder Beziehung als Mann zu leben, sich männlich zu kleiden, männlichen Beschäftigungen in Beruf und Sport nachzugehen und männliches Be- nahmen zeigen zu dürfen, immer mehr an Intensität. Die Unmöglichkeit, diesem Drange folgen zu können, verstimmte Frl. M. tief, ließ sie ernst und verschlossen werden. , , ' KörperlicherBefund: Frl. M. ist eine 1,71 m große, grazil gebaute Person, von brünetter Hautfarbe, kräftigem Knochenbau, mäßig entwickelter, aber recht straffer Muskulatur und sehr geringem Fettpolster. Die Körperlinien sind weich und weiblich, wenn schon die eckig hervortretenden Schul- tern, der Ansatz der Anne und die säulenförmig schlanken, geraden Beine sich mehr dem männlichen Typus nähern. Auch fallen die Beckenschaufeln, obwohl die Hüften ziemlich stark hervortreten, steiler ab, als man es beim weiblichen Geschlecht normaler- weise zu finden pflegt. Das Haupthaar ist straff und schlicht, der Adamsapfel tritt etwas hervor, die Stimme ist tief. Demgegenüber sind die Brüste stark entwickelt, die Hände und Füße, Knöchel und Handgelenk zierlich und feminin, die Körper- und speziell die Schambehaarung ausgesprochen weiblich. Die sekundären körperlichen Geschlechtscharaktere entsprechen demnach vorwiegend dem weiblichen Habitus. Die äußeren Geschlechtsteile zeigen normal weibliche Entwicklung. Die Scheide, mit unverletztem Hymen, die — ziemlich großen — Schamlippen, Klitoris, Praeputium clitoridis, Harnröhrenöffnung zeigen weder nach ihrer Beschaffenheit, noch nach ihrer Lage irgendwelche Ab- ■ weichungen von den normal weiblichen Verhältnissen. Bei einer vaginalen Unter- suchung, die außer von uns auch von dem Gynäkologen Dr. Robert M ü 1 1 e r h e i m ausgefühit wurde, konnte man einen anteflektierten, hypoplastischen Uterus- körper von Pflaumengröße mit einer kleinen Portio uteri im oberen Scheidengewölbe, deren quergespaltener Muttermund etwas nach vorn steht, fühlen; Eierstöcke bzw. entsprechende drüsige Gebilde ließen sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Rechts vom Uterus konstatiert man ein kleines, festes Gebilde, dessen Verbin- dung mit dem Uterus sich wegen der Schwierigkeit der Untersuchung nicht genau fest- stellen läßt. Bei der rektalen Untersuchung fanden sich gewisse Resistenzen, die 42 aber nicht mit Sicherheit als Prostata oder Samenbläschen angesprochen werden """soweit es sich bei den körperlichen Geschlechtscharakteren um den Ausdruck der psvchischen Persönlichkeit handelt, zeigen sie absolut männlichen Typus. Der Blick ist fest und ruhig, der Gesichtsausdruck ernst, bestimmt) und entschlossen. Die Be- wegungen sind entschieden und energisch, die Schritte groß und fest. Der Hände- druck ist kräftig. Die kräftigen Schriftzüge zeigen einen durch- aus männlichen Charakter. Die Sprache ist ruhig, laut und tief. Auf beiden Augen besteht mäßige Kurzsichtigkeit. Im übrigen sind irgendwelche krank- hafte Erscheinungen bei den körperlichen Untersuchungen nicht festzustellen. Ins- besondere liegen keine Entartungszeichen und keine Störungen der nervösen Funk- tionen vor. Auch der Befund der inneren Organe entspricht der Norm. Psychischer Befund: Das seelische Verhalten des Frl. M. ist, wie wir in langer gründlicher Beobachtung feststellen konnten, ein gleichmäßig ruhiges. Der Druck' der erklärlicherweise infolge ihrer eigenartigen Lage auf ihr lastet, äußert sich in durchaus angemessener, normaler Weise. Sie ist frei von Exaltationen und Stim- mungsschwankungen nicht unterworfen, zeigt eine ungezwungene Selbstbeherrschung und männlich gefaßtes Wesen. Ihr Handeln ist zielbewußt und be- kundet Energie und Willensstärke. Sie ist ernst, wohl etwas ver- schlossen, sachlich und frei von jeder Phantasterei. Ihre intellektuelle Begabung ist reich und vielseitig; sie ist logisch in ihren Schlüssen, faßt neue Eindrücke rasch und leicht auf, verarbeitet sie gründlich und überrascht oft durch originelle Einfälle und treffende Bemerkungen. Sie hat weitgehendes Interesse für alle Fragen des geistigen Lebens, wissenschaftliche, künstlerische und poli- tische Probleme, ist stetig und ausdauernd in geistiger Arbeit. Alles in allem ist sie eine nüchterne, aber doch vielseitige und produktive Natur. Von ihren Lebensgewohnheiten wäre noch zu erwähnen, daß sie ein großes Interesse für Sport hat und sich auf den verschiedensten Gebieten desselben mit Eifer und Erfolg betätigt. Sie reitet, schwimmt, radelt, rodelt, läuft Schlittschuh und boxt. Alle weiblichen Beschäftigungen sind ihr verhaßt; eine ganz besondere Abneigung hat sie gegen weiblichen Putz und Schmuck. Sie verträgt Alkohol gut und raucht gern, am liebsten Zigarren. Alles in allem zeigt ihre Persönlichkeit das Bild einer stark ausgesprochenen männ- lichen Individualität. Beobachtungsverlauf: Wir glaubten zunächst, es bei Frl. M. mit einer weiblichen homosexuell empfindenden Transvestitin zu tun zu haben, die außerdem gewisse gynandrische Erscheinungen bot. Drei Momente aber machten den Fall zu einem besonders eigenartigen: das vollige Fehlen aller Menstruationserscheinungen, der Stimmwechsel und endlich ganz besonders der angebliche Erguß eines schleimig-milchigen Sekrets beim Orgasmus aus der Harnröhre. Dieser letzte Umstand konnte von so fundamentaler Bedeutung für die Beurtei- lung der ganzen Sachlage sein, daß er eine gründliche Prüfung mit Notwendigkeit er- forderte und eine Untersuchung des in Frage kommenden Sekrets auf seine physiologische Beschaffenheit hin unerläßlich erscheinen ließ. War forderten deshalb zunächst Frl. M. auf, uns die betreffende Flüssigkeit zwecks Untersuchung zur Verfügung zu stellen. Das geschah, und die mikroskopische I ntersuchung ergab das Vorhandensein von Spermatozoen. Wir konnten uns natür- lich! bei diesem Resultat nicht beruhigen und veranlaßten Frl. M. gelegentlich eines Besuchs in der Sprechstunde, den Erguß des Sekrets nochmals durch Masturbation . hervorzurufen. Aus Gründen selbstverständlicher Dezenz, sowie auch in Anbetracht der sehr glaublichen und begreiflichen Erklärung des Frl. M., es könne in Gegenwart einer anderen, unbeteiligten Person nicht zum Orgasmus kommen, mußten wir sie allein im Zimmer lassen. Das Ejakulat, das sie uns nach etwa 10 Minuten übergab, zeigte 43 Körpertemperatur und enthielt nach der etwa 2 Stunden später vorgenommenen Unter- suchung noch lebende Spermatozoen. Nunmehr hatte eine Annahme, der wir bisher sehr skeptisch gegenüberstanden, so sehr an Wahrscheinlichkeit gewonnen, daß eine letzte, entscheidende Feststellung des Befundes unter Wahrung aller irgend möglichen Kautelen zum Ausschluß jeder Täuschung gemacht werden mußte. Nach reiflicher Überlegung gingen wir zu diesem Zwecke in folgender Weise vor. Wir baten eine Reihe ihrer Vorbildung nach besonders geeigneter Kollegen, die Gynä- kologen Dr. Stabel und Dr. Robert Müllerheim, den Biologen Dr. R'. Weißen- berg, Assistenzarzt am anatomisch-biologischen Institut von Geheimrat Prof. Dr. Hertwig, sowie Dr. Iwan Bloch, zur Kontrolle des Vorgangs und Sicher- stellung des Befundes dem Versuche beizuwohnen. Nachdem sich nun Frl. M. völlig entkleidet hatte, und von Dr. Stabel und den beiden Unterzeichneten durch eingehende Inspektion festgestellt war, daß sie an ihrem Körper nichts verborgen hatte, wurde sie, nachdem wir ihr ein gereinigtes Reagenz- glas zur Verfügung gestellt hatten, in einem Zimmer, das sie bis dahin nicht betreten hatte, ohne ein Stück ihrer Kleidung eingeschlossen. Nach nahezu 15 Minuten rief sie uns wieder herein. Das Reagenzglas enthielt etwa ccm einer milchig- schleimigen Flüssigkeit, auf dem Fußboden befanden sich vor dem Sessel, auf dem sie gesessen hatte, einige charakteristisch verlaufende Spritzflecke. Frl. M. machte einen etwas erregten Eindruck; ihr Puls zeigte eine Beschleu- nigung von 116 Schlägen in der Minute. In ihrem Wesen war eine gewisse Gereizt- heit und Verstimmung, wie sie nach masturbatorischen Akten gewöhnlich einzutreten pflegt, trotz ihrer Selbstbeherrschung unverkennbar. Die Klitoris war gerötet, an der Harnröhre ließen sich Spuren der Flüssigkeit feststellen. Die Untersuchung des Sekrets — denn um ein solches konnte es sich nunmehr doch zweifellos nur han- deln — ergab charakteristischen Spermageruch und im mikro- skopischen Bilde das Vorhandensein lebender menschlicher Spermatozoen von zum Teil lebhafter Beweglichkeit. Sonstige charakteristische Formelemente fehlten, womit auch jeder freilich an und für sich schon gänzlich unwahrscheinliche Verdacht, die Flüssigkeit hätte irgendwie in einer Körperöffnung, Mund, Nase, After oder Scheide bereit gehalten sein können, schwand. Es sei auch noch besonders erwähnt, daß nach der von Dr. Weißenberg vorgenommenen Untersuchung es sich zweifellos um einwandfreies Sperma und nicht etwa nur um eine Spermatozoen enthaltende Flüssigkeit handelte. Somit war nach der übereinstimmenden Uberzeugung aller anwesenden Sach- verständigen der einwandfreie und lückenlose Beweis erbracht, daß Frl. M. aus ihrer Harnröhre Sperma, zeugungsfähige männliche Keimstoffe ejakuliert hatte, mithin im Besitze von Spermatozoen produzierenden Drüsen ist. War der Beweis schon durch die angewandte Versuchskontrolle gesichert, so schlössen zum Überfluß noch alle Begleitumstände jede Möglichkeit einer Täuschung aus. Wir erinnern nur an die charakteristischen Spritzflecke auf dem Fußboden, die Pulsbeschleunigung und das Verhalten unmittelbar post actum. Gutachten: Nachdem somit in einwandfreier Weise nachgewiesen ist, daß Frl. M. aus ihren Genitalien Sperma,, zeugungsfähigen männlichen Keimstoff, entleert, können wir uns in unserm Gutachten kurz fassen. Daß sich Keimdrüsen und Prostata durch die Untersuchung nicht mit Sicherheit feststellen üeßen, bleibt dieser Tatsache gegenüber ohne Bedeutung. Wo Sperma ge- bildet wird, muß auch Hodengewebe vorhanden sein, und es ist eine Frage von nur wissenschaftlicher, nicht aber praktischer Bedeutung, auf welchem Wege ihr Sekret beim Orgasmus in die Harnröhre gelangt. Frl. M. ist demnach nicht, wie wir an- fangs annahmen, eine weibliche homosexuelle Transvestitin; sie ist entsprechend ihrer gesamten Persönlichkeit ein Mann mit männlichen Keimdrüsen und Zeugungsstoffen, mit normal männlichem Geschlechtsemp- 44 I. Kapitel: Heimaphroditismus finden, aber mit völlig weiblichen äußeren Genitalien und vorwiegend weiblichem körperlichen Habitus. Unser Gutachten geht demnach dahin: ■ _ 1. Es liegt bei der p. M. ein Fall von irrtümlicher Geschlechts- bestimmung vor. Sie ist, da sie männliche Keimstoffe pro- duziert, eine Person männlichen Geschlechts. 2 Die Umwandlung der geschlechtlichen Zugehörigkeit der p. M. in ihr wahres, männliches Geschlecht • und die entsprechende Umschreibung im Standes- register ist unbedingt geboten, da ihre Gesamtpersönhchkeit eine aus- gesprochen männliche ist, und im besonderen noch deshalb, weil sie zeugungsfähig ist. Nachdem Fräulein Erna M. sich mit Zustimmung der Behörde auf Grund dieses Gutachtens in einen Herrn Ernst M. verwandelt hatte, heiratete sie alshald ihre Freundin. Diese war üher die Be- schaffenheit seines Körpers, vor allem üher den gänzlichen Mangel eines Membrum, unterrichtet. Wäre dies verabsäumt worden, hätte die Gültigkeit der Ehe später aus 1333 und 1334 B. G. B. an- gefochten werden können. Die kinderlos gebliebene Ehe, welche ich seit 8 Jahren verfolgt habe, hat sich im Gegensatz zu dem vorher- gehenden Fall nicht besonders glücklich gestaltet. Der infolge völliger Bartlosigkeit immer noch sehr weiblich aussehende Gatte steht völlig unter der Herrschaft seiner strengen Gemahlin. Zum Kriegsdienst wurde er infolge seines hermaphroditischen Baus und eines schweren Netzhautleidens nicht herangezogen. Der letzte Grund, der ihn zu mir führte, war recht eigenartig/ In seiner Familie gab es eine sehr alte Stiftung, aus der die männlichen Nachkommen in einem bestimmten Alter eine größere Summe ausgezahlt erhalten sollten. Man verweigerte ihm nun diesen Betrag, weil er nicht als Knabe, sondern als Mädchen zur Welt gekommen sei. Es bedurfte wieder eines fachmännischen Urteils, nach dessen Kenntnisnahme sich die Behörde zugunsten unseres Patienten entschied. Der nächste Fall betrifft einen als Mädchen verkannten Mann, dor unter dem Namen N. 0. Body (nobody = niemand) und dem Titel: „Aus eines Mannes Mädchenjahren"11) vor einigen Jahren seine aufsehenerregende und in der Tat recht lehrreiche Lebens- beschreibung veröffentlicht hat, Sie stand, bevor sie sich zu mir flüchtete, unmittelbar vor dem Selbstmord, den sie in Gemeinsam- keit mit ihrer damaligen Freundin und späteren Gattin, einer ver- heirateten Frau, beabsichtigte. Mein über sie erstattetes Gutachten, das ihre Verehelichung ermöglichte, lautete: Anamnese: Die am 20. Mai 1885 geborene Anna Laabs ersucht mich um Bi :.'utachtung ihrer Geschlechtszugehörigkeit, da ihr begründete Zweifel gekommen sind, ob sie, wie bei der Geburt angenommen, tatsächlich dem weiblichen Geschlecht zugerechnet werden muß. In bezug auf ihre Abstammung ist zu er- ") Erschienen im Verlag von Gustav Riccke (Nachfolger), Berlin; mit Vorwort von Rudolf Prcsber und Nachwort von Magnus Hirschfeld. wähnen, daß soweit ihr bekannt, Abnormitäten bei den Vorfahren nicht zu verzeichnen sind, abgesehen von einem doppelten Leistenbruch beim Vater, welcher, bei ihrer Geburt 46 Jahre alt, bis zum 53. Jahre gesund war und im 62. Lebensjahre an Knochen- tuberkulose starb. Die Mutter, eine gesunde, kräftige Frau, lebt noch. Verwandtenehen kamen in der Familie der Mutter wiederholt vor; sowohl die Eltern als auch die Großeltern mütterlicherseits waren Cousinund Cousine. Es sollen auch bereits vor diesen ähnliche Ehebündnisse in der mütterlichen Familie vorgekommen sein. Der Altersunterschied zwischen Vater und Mutter betmg 6 Jahre. Anna, die keinem ihrer Eltern ähnlich sieht, ist das jüngste Kind. Von fünf Ge- schwistern sind zwei in jugendlichem Alter verstorben, «ine Schwester und ein Bruder sind gesund und vollkommen normal; die Schwester, welche vor ihr geboren wurde, ist in ihrem Wesen ebenfalls sehr männlich. Aus ihrer Kindheit ist zu bemerken, daß sie rechtzeitig gehen und sprechen lernte und weder an Krämpfen noch an irgendwelchen nervösen oder sonstigen Krankheiten litt. Sie war als Kind sehr wild, zog es vor, trotzdem es ihr verboten wurde, mit Knaben zu spielen und beteiligte sich mit Vorliebe an Waldstreifereien, Raufereien, Schneeballwerfen usw., während sie es energisch zurückwies, mit Puppen zu spielen! Bei den „Theaterspielen", die unter den Kindern Sitte waren, übernahm sie stets die Männerrolle. Sie fühlte schon damals innerlich, wenn auch unbestimmt, daß sie anders war als die Mädchen, mit denen sie die höhere Töchterschule besuchte.' Auch äußerüch sah sie mehr knabenhaft aus und litt schon damals unter diesbezüg- lichen Bemerkungen und Neckereien ihrer Mitschülerinnen. Sie galt in der Schule als die befähigtste Schülerin, hatte besondere Vorliebe für Geschichte, Geographie und Rechnen, während ihr der Handarbeitsunterricht in hohem Maße zu- wider war, so daß sie zu Hause und_ in der Schule deshalb vielfach gescholten wurde. Im 13. Lebensjahre traten die ersten Zeichen der Geschlechtsreife ein. Mit 14 hatte sie Stimmwechsel. Bald darauf zeigte sich ein leichter Bartflaum, der sie sehr unglücklich machte, da er zu vielen Spöttereien Anlaß gab. Die Brüste ver- änderten sich nicht, auch trat keine Menstruation ein, dagegen konnte sie wahrnehmen, daß bald nach der Reife dann und wann nachts verbunden mit wollüstigen Träumen eine klebrige Flüssigkeit aus den Geschlechtsteilen unwillkür- lich sich entleerte. GegenwärtigerZustand: Die zu begutachtende Persönlichkeit ist 1,61 m groß, die Figur ist schlank, die Breite der H ü f t e n mit 81 cm wesentlich geringer als die Schulterbreite. Die Körperlinien sind eckig konturlert. Fettansatz gering, Muskulatur fest, die Hand ist kräftig und relativ groß, die Füße lang und schmal. Es besteht Neigung zu kräftiger Muskeltätigkeit und körperlich anstrengender Arbeit. Schon als Kind liebte sie Garten- und Feldarbeit, lernte später gut reiten, fahren,) rudern und schwimmen. Im Turnunterricht, den sie wie ihre gesamte Aus- bildung in einer Mädchenschule empfing, liebte sie besonders die Spring-, Lauf- und Reckübungen, während sie den mehr zur Ausbildung der Anmut und Grazie dienenden Spielen weniger Geschmack abgewann, deren Aus- führung bei ihren Kameradinnen zu beobachten, sie aber mit großer Freude erfüllte. Ihre Schritte sind groß, fest und schnell mit ruhiger Rumpfhaltung. Ein Drehen und Wiegen in Hüften und Schultern findet nicht statt, so daß die männliche Gang- art vielfach auffallend bemerkt wurde. Die Hautfarbe ist bräunlich hell. Körperbehaarung ist vorhanden, wenn auch schwach, besonders an den Beinen. Das Haupthaar ist ziemlich hart und dicht, wird zur Zeit nach Frauenart getragen, reicht aber aufgelöst nur bis zur Schulter. Der Bartwuchs ist zur Zeit ziemlich stark, so daß er mehrere Male in der Woche entfernt werden muß, was in der Weise geschieht, daß Laabs teils die einzelnen Haare auszieht, teils vorsichtig mit einem Streichholz' abbrennt. Die Schmerzempfindlichkeit ist nicht groß, auch die Reaktionsfähigkeit der Blutgefäßnerven ist nicht bedeutend, so daß Erröten und Erblassen selten sind. Die Ohren sind relativ groß, der Blick ruhig. Das Auge kurzsichtig, und zwar 6,5 D. Von dem Gesichtsausdruck läßt sich schwer sagen, ob er mehr männlich oder weiblich ist. 46 Namentlich von Frauen ist oft das Männliche desselben bemerkt worden, so daß es z. B. vorgekommen ist, daß wenn Frauen in Gegenwart anderer Frauen sich um- zogen, sie sie speziell baten, sich zurückzuziehen, weil sie sich, trotz sonstiger Sym- pathie mit ihr, durch ihre Anwesenheit geniert fühlten. Der Atmungstypus ist ausgesprochen abdominal, also männlich. Der Kehlkopf tritt in männlicher Weise hervor. Die Stimme ist tief und laut, so daß sie völlig viril wirkt; durch Bemühungen kann sie dieselbe künstlich um etwa eine Oktave erhöhen. Die Gesangsstimme ist ebenfalls tief und umfaßt Baßtöne. Im übrigen ist Laabs völlig gesund, auch in bezug auf das Nervensystem, nur besteht, wohl in Zusammenhang mit den aus ihrer Natur sich ergebenden seelischen Kon- flikten, oft Schlaflosigkeit. In bezug auf die geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten ist zu bemerken, daß der Grundzug ihres Charakters ein energischer ist. Sie ist einer- seits begeisterungsfähig, andererseits besteht keine Neigung zu Gemütsaffekten, wie Weinen. Es ist ausgeprägter Familiensinn vorhanden, so daß der lebhafte Wunsch besteht, sich als Mann ein Heim und eine Familie zu gründen. Unter Stimmungen leidet sie nicht. Ihr Wesen ist ziemlich gleichmäßig, ihr Wille stark und ausdauernd. Furchtsamkeit ist nicht vorhanden. Die Bildung, welche sie im wesentlichen auto- didaktisch erwarb, ist über ihr Alter hinaus gründlich. Sie hat ein starkes Bestreben, dieselbe zu erweitern und zu vertiefen. Gedächtnis und Aufmerksamkeit, sowie Beob- achtungsgabe sind über den Durchschnitt gut und scharf, Neigung zur Schauspiel- kunst ist nicht vorhanden, dagegen lebhaftes Interesse für abstrakte Aufgaben, Volkswirtschaft, Politik. Kraftvolle Naturen wie Napoleon und Bismarck interessieren sie aus der Geschichte am meisten. Arbeiten für das Gemeinwohl sind ihr für ihre eigene Person am sympathischsten. Sie liest viel wissen- schaftliche Werke, besonders nationalökonomische. Die Kleidung ist ihr gleichgültig. Jeder Schmuck erscheint ihr lästig, sie zieht dunklere Farben vor und hat Abneigung gegen Parfüms, wallende Gewandung, sowie überhaupt Toilettengegenstände, die einen mehr weiblichen Charakter tragen. Die Schriftzüge sind ebenfalls männlich, stark ausgeschrieben, und wenn auch nicht sehr fest, so doch in keiner Weise den Eindruck hervorrufend, als ob sie von einer Dame herrührten. Geschlechtsorgane und Geschlechtstrieb: Die Geschlechtsteile, welche außer von dem Unterzeichneten u. a. von Dr. med. G. M e r z b a c h zu Berlin und Dr. med. I. Bloch zu Charlottenburg inspiziert wurden, zeigen nach überein- stimmender Diagnose zur Zeit einen durchaus männlichen Typus. Es ist ein männ- liches Glied vorhanden, welches im erschlafften Zustande ca. 4 cm lang ist und ca. 3 cm im Durchmesser hat, während es im erigierten Zustande dreimal so lang und doppelt so breit ist. Der Penis ist nicht von einer Harnröhre durch- bohrt, dagegen geht von der Spitze der Eichel analwärts eine Binne, welche nach unten ziehend den Hodenbehälter in zwei seitliche Hälften teilt. Etwa im Mittelpunkt der Rinne, während ihres Hodenverlaufes, befindet sich die Öffnung der Harnröhre, durch die man in die Harnblase mit einem Bougie gelangen kann. In der linken Hoden- sackhälfte ist ein Hode nachzuweisen, welcher etwas- verkleinert ist, während in der rechten Hälfte kein Hode zu fühlen ist, so daß hier die! Vermutung nahe liegt, daß derselbe einen Teil des Leistenbruchinhaltes rechterseits bildet. Es ist nämlich auf beiden Seiten der Leistenkanal offen, so daß ein doppelter Leistenbruch vorliegt, welcher seit dem Jahre 1900 durch ein Doppelbruchband zurückgehalten wird. Nach der Analogie ähnlicher Fälle wäre eine genaue Untersuchung des Bruchinhaltes, die natürlich nur operativ vorgenommen werden könnte, für die genaue Feststellung der Keimdrüsen sehr wesentlich. In die Urethra müssen auch die Samen ausstoßenden Kanäle münden, was daraus hervorgeht, daß das Ejakulat, welches durch Automasturbation gewonnen wurde, wie Dr. Merzbach sorgfältig beobachtete, aus der Harnröhrenöffnung, hervor- quoll. Über die Beschaffenheit desselben äußert sich Kollege Merzbach wie folgt: „Das Ejakulat zeigt an Farbe, Geruch und Reaktion die Beschaffenheit der Sperma- L Kapitel: Hermaphroditismus 47 flüssigkeit. Seine Menge betrug ungefähr ein Drittel Teelöffel und gerinnt in der vor- her leicht angewärmten Glasschale zu einer Gallerte, die mit physiologischer Kochsalz- lösung verdünnt, zur Untersuchung gelangt. Es finden sich keine Sperma- tozoon und auch keine Fragmente derselben, ebenso keine Prostatakristalle vor. Die Prostata ist per anum nicht palpabel und ein Druck im Prostatateil des Rektum förderte auch kein Sekret zutage. Die Aspermie erklärt sich wohl aus der Verkümme- rung des linken palpablen Hodens und aus dem vermutlichen Fehlen des rechten Hodens, der auch möglicherweise als Bauchhoden unpalpabel sein kann. Die ersten geschlechtlichen Regungen traten im 25, Lebensjahre auf. S i e waren spontan und instinktiv auf das Weib gerichtet. Libidinöse Träume bezogen sich auf den Verkehr mit Frauen. Auf der Straße, der Bühne usw. wurde das Auge unwillkürlich mehr von Frauen angezogen. L. teilt mit, daß schöne Frauenkörper, etwa im Bade, stets ihre Bewunderung erregten, daß sie aber anfangs glaubte^ dieses Interesse sei ein rein ästhetisches. Erst ganz allmählich wurde es ihr klar, daß diese Anziehung auf den Geschlechtstrieb zurückzuführen sei. Andererseits bestand eine sehr ausgesprochene sexuelle Abneigung gegen den Mann. Der Gedanke, mit ihm geschlechtlich zu verkehren, ruft in ihr starken Ekel hervor. Sie hat mehrere Heiratsanträge, welche ihr eine gute wirtschaftliche Versorgung geboten hatten, wegen ihrer geschlechtlichen Abneigung zurückgewiesen ; als sie 17 Jahre alt war, machte ihr ein sehr reicher Mann einen Heiratsantrag, später ein Jurist und 1905 ein Postbeamter, alle wies sie ab, weil es ihr unmöglich erschien, mit einem Manne geschlechtlich zu verkehren. Der Geschlechtstrieb selbst ist stark. Sie ist überzeugt, daß sie auf die Dauer ihn nicht beherrschen kann; sie fühlt sich nach dem geschlechtlichen Verkehr mit einer weiblichen Person gekräftigt und befriedigt. Der Typus, welcher sie besonders anzieht, sind vollentwickelte Frauen zwischen 20 und 30 Jahren, und zwar ist dies seit dem Erwachen des Geschlechtstriebes stets unverändert. Namentlich sind es Brünetten mit ausgesprochen weiblichen Figuren, während Frauen, die männlichen Typus haben, Bartanflug oder tiefe Stimme besitzen, sie abstoßen. Eine schöne weibliche Altstimme oder Mezzosopran wirken erogen. Vor allem liebt sie bei der Frau das weiche hingebende Wesen. - Ein geschlechtlicher Verkehr mit einer Frau fand zuerst vor zwei Jahren statt, und zwar war das Begehren und die Betätigung eine aktive. Seitdem hat sie wieder- holt den Koitus in einer der normalen ähnlichen Art vollzogen. Als höchstes Ideal steht ihr eine dauernde eheliche Verbindung vor Augen. Sie beabsichtigt nach Umänderung ihrer Metrik mit einer Dame die Ehe einzugehen, mit der sie sich als verlobt betrachtet. ^ Konflikte erwuchsen ihr1 insofern, als, während sie eine beamtete Stellung mehrere Jahre zu großer Zufriedenheit ihrer Chefs versehen hatte, plötzlich das Ge- rücht entstand: „Anna Laabs ist ein verkleideter Mann." Vorher hatte sie sich schon einmal Zyankali besorgt, um mit ihrer Freundin aus dem Leben zu scheiden, weil ihr die Schwierigkeiten, dieselbe zu heiraten, unüberwindlich schienen. Epikrise: Es kann nach allem nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß es sich bei Anna Laabs um einen Fall von irrtümlicher Geschlechtsbestimmung handelt. Sowohl der Genitalbefund als die sekundären Geschlechtscharaktere, sowie der Ge- schlechtstrieb stellen es in ihrer Gesamtheit sicher, daß Laabs in Wirklichkeit Mann ist. Nach der ganzen Sachlage erscheint es daher dringend geboten, daß so rasch wie möglich die zu der Umänderung ihres Personenstandes nötigen behördlichen Maß- nahmen getroffen werden. Gleich nach seiner Umschreibung heiratete Herr Laabs — sein wirklicher Name ist natürlich ebensowenig Laabs wie Nobody — seine Freundin; ihre erste Ehe war geschieden worden, während er seine Geschlechtsberichtigung betrieb. Dabei war von dem Gericht 48 I. Kapitel: Hermaphroditismus die Frage erwogen worden, ob nicht der Beischlaf mit einer Person, die zwar für ein Weib gehalten wurde, in Wirklichkeit aber ein Mann war, als Ehebruch zu erachten sei. Der Ehemann hatte diese Frage aufgeworfen, als er mit Rücksicht auf einen von ihm be- gangenen Ehebruch als allein schuldiger Teil angesehen werden sollte; er gab als Grund seiner Untreue das Verhältnis seiner Frau mit ihrer Freundin an. Bald nachdem Laabs unter Überwindung so großer Schwierigkeiten seine Gattin heimgeführt hatte, traf ihn ein neuer Schicksalsschlag. Sie starb nach dreimonatiger Ehe an einer Lungenentzündung. Nun entstand ein neuer Prozeß. Die Familie der ziemlich wohlhabenden Frau focht die Gültigkeit der Ehe und die Erbberechtigung des Gatten an, weil er kein Mann, zum min- desten kein richtiger Ehemann gewesen sei. Sie drangen jedoch nicht mit ihrer Ansicht und Absicht durch. Wie ich höre, lebt Laabs, der seit Jahren eine Beamtenstelle bekleidet, bereits längere Zeit in einer zweiten glücklichen Ehe. Ich habe oben bereits auf die verhältnismäßige Häufigkeit hermaphroditischer Geschwister hingewiesen. War es in dem eben geschilderten Fall der Anna L. nicht möglich zu ermitteln, ob die Schwester nur äußerlich stark männlich oder ebenfalls von herma- phroditischer Beschaffenheit war, so konnte diese Feststellung bei den in dem nunmehr folgenden Gutachten geschilderten Ge- schwistern mit um so größerer Sicherheit vorgenommen werden. Zum Zwecke der Feststellung des Geschlechts und der Abänderung ihrer Ge- schlechtszugehörigkeit suchten uns Mitte Juli 1911 in Begleitung ihrer Eltern die 16jährige Charlotte L. und die 14jährige Gertrud L., aus Insterburg gebürtig, auf. Nach wiederholter genauer Untersuchung und eingehender Anamnese erstatteten wir das folgende Gutachten. , Vorgeschichte: Anna Louise Charlotte L. wurde als zweites Kind — das erste war ein völlig normaler Knabe — am 14. Mai 1895 geboren, ihre Schwester Gertrud Meta Hilde am 18. August 1897. Bei beiden bemerkte die Mutter kurz nach der Geburt eine Abnormität der Geschlechtsteile, über die sie aber von der Hebamme mit der Versicherung beruhigt wurde, das würde mit der Zeit verwachsen und dann der normale weibliche Zustand her- gestellt werden. Als Gertrud später an einem schweren Darmleiden erkrankte, machten die Eltern den Arzt gleichzeitig auf die angeborene Mißbildung der Geni- talien aufmerksam. Er untersuchte beide Kinder, kam aber hinsichtlich des wahren Geschlechts zu keiner bestimmten Entscheidung. So kam es, daß beide zunächst als Mädchen erzogen1 wurden und die Mädchenschule besuchten. Während der Schulzeit traten nun bei beiden Kindern Erscheinungen auf, die ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlechte sehr zweifelhaft erscheinen ließen und Anlaß zu fortwährenden Belästigungen und Verhöhnungen von Seiten der Mitschülerinnen gaben. Nachdem Charlotte mit 8 Jahren eine schwere Lungenentzündung durchgemacht hatte, deren Folgen noch heute nicht völlig überwunden sind, bekam sie im zehnten Lebensjahre plötzlich eine tiefe männliche Stimme, die bei ihrem ersten Auftreten als eine vorüber- gehende Heiserkeit aufgefaßt und behandelt wurde, bald jedoch als eine nicht krank- hafte, natürliche Erscheinung der beginnenden Mannbarkeit sich erwies. Bei der jüngeren Schwester Gertrud stellte sich diese tiefe Stimme schon im siebenten Lebens- L^Kapitel: Hermaphrodhismus 4g jähre ein, kurz vor Beginn des Schulbesuches. Sie wurde in der Schule viel ge- hänselt, z. B. vom Lehrer „Brummbär" genannt, was ihr viel Kummer ver- ursachte. Wegen ihrer tiefen Stimme wurde Charlotte nach Untersuchung durch den Schularzt von der Teilnahme am Gesangunterricht befreit, ebenso Gertrud. Gleichzeitig mit der Stimmveränderung machte sich eine stärkere Ent- wicklung der Geschlechtsteile bemerkbar, die mit starkem Haar- wuchs am Möns veneris einherging. Damals schon fiel Gertrud dem Arzt, der sie zu- fällig in einem Badeorte sah, derart auf, daß er ihre Mutter ausfragte; dann auch eine körperliche Untersuchung vornahm, ohne das wirkliche Geschlecht genau festzustellen Dies geschah erst von seiten eines Professors, den beide Kinder zwecks elektrolytischer Entfernung zahlreicher Barthaare konsultierten, nachdem sich bei Charlotte mit 12, bei Gertrud mit 10 Jahren ein starker Bartwuchs eingestellt hatte. Nach der Untersuchung der Geschlechtsteile erklärte der Professor, daß beide Mädchen Knaben seien, und er schlug schon damals eine Abänderung der Geschlechts- zugehörigkeit vor. Diese Mitteilung rief jedoch bei den Kindern eine große Nieder- geschlagenheit und Melancholie hervor, daß man auf Anraten einer zweiten ärztlichen Autorität beschloß, sie vorläufig noch als Mädchen leben zu lassen. Dieser mehrere Jahre durchgeführte Versuch erwies sich aber auf die Dauer als unmöglich, da der männliche Habitus bei beiden Kindern immer deutlicher hervortrat und so viele Un- annehmlichkeiten im Gefolge hatte, daß sie jetzt selbst zu der Erkenntnis der Not- wendigkeit der Umwandlung ihrer Geschiechtszugehörigkeit gekommen sind. Der Bartwuchs ist nämlich inzwischen derart stark geworden, daß die Kinder schon heute von der Mutter täglich sehr scharf rasiert werden müssen. Trotzdem fallen sie in der Öffentlichkeit unangenehm auf, werden überall mit neugierigen Blicken, auffallendem Anstoßen und Flüstern der Leute belästigt, können es nicht wagen, in Gegenwart anderer zu sprechen, weil ihre Stimme sofort größtes Aufsehen erregt. Der Zustand ist allmählich unerträglich geworden, „jede Freude am Leben den Kindern vergällt, jedes unbefangene Auftreten in der Öffent- lichkeit ihnen unmöglich gemacht", so daß sie jetzt selbst den einzigen Wunsch haben, baldmöglichst Knaben zu werden, als welche sie sich jetzt auch in jeder Beziehung fühlen. Die Mutter der Kinder macht noch die bemerkenswerte Angabe, daß eine Schwester ihres Gatten absolut viril und, eine ausgesprochene Männerfeindin sei. Auch soll eine Cousine der Kinder, Tochter ihrer Schwester, eine ganz ähnliche Anomalie der Geschlechtsteile haben. Tatsächlicher Befund: Die am 19. Juli 1911 vorgenommene Unter- suchung des Status praesens ergibt bei beiden Kindern das Folgende: Sowohl Charlotte als auch Gertrud L. machen beim ersten Anblick den Eindruck absoluter Männlichkeit. Im einzelnen wird dieser virile Habitus und weiter die Zu- gehörigkeit beider zum männlichen Geschlecht durch folgende Befunde sicher er wiesen: 1, Verhältnis der Schulter zur Hüflbreite. Charlotte: 39 crrt Schulterbreite, 30 cm Huftbreite. Gertrud: 36 cm Schulterbreite, 33 cm Hüftbreite. Dieses Überwiegen der Schulterbreite über die Hüftbreite ist ein ausschließlich männlicher Geschlechtscharakter, auch die übrigen Konturen lassen jede weibliche Bundung vermissen und zeigen vollkommen männlichen Typus. 2. Behaarung. Das ungeschnittene Haupthaar reicht bei Charlotte bis zur Brust- wirbelsäule, bei Gertrud bis zur Höhe des Schulterblattes, bei beiden also nur so weit, wie es den ausgesprochenen männlichen Kopfhaaren entspricht. Sodann ist bei beiden der starke Bartwuchs an Oberlippe, Wangen und Kinn sehr auffällig der trotz des Rasierens sofort in die Augen fällt. Ferner haben beide an den Unter- schenkeln sehr reichliche Behaarung, was ebenfalls ein typisch männ- licher Geschlechtscharakter ist. Endlich zeigt auch die Schambehaarung durchaus männlichen Habitus, der sich auch durch eine nach dem Nabel zu sich erstreckende Haarlinie bekundet. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 4 5q I. Kapitel: Heimaphioditismus 3. Stimme. Die Stimme ist auch bei leisem Sprechen bei beiden Kindern sehr tief und rauh, eine ausgesprochene Männerstimme., Ihr entspricht deutlich die Ent- wicklung des Kehlkopfes, der stärker vorspringt als bei weiblichen Personen. 4 Brüste. Auch diese zeigen bei beiden Kindern männlichen Habitus, sind flach und wenig ausgebildet. Bei Charlotte sind links zwei überzählige sehr kleine Brustwarzen unter der eigentlichen Mammilla zu sehen (sog. „Polytehe"). 5. Beschaffenheit der Geschlechtsteile. Sowohl bei Charlotte als auch bei Gertrud ist ein typisches männliches Glied vorhanden, das bei ersterer 4xj2 cm, bei letzterer 5 cm Länge hat. Die früher als Scheide angesehene Öffnung erweist sich bei beiden als eine ausgesprochene Hypospadia peniscrotalis. Hoden ließen sich nicht mit Bestimmtheit palpieren, es ist bei beiden ein Zustand von Kryptorchismus vor- handen. Für die Existenz der Hoden spricht aber die Tatsache, daß Gertrud wieder- holt denAbgangeinerklebrigenFlüssigkeit beobachtet hat. Vor allem ist von irgendwelchen weiblichen Charakteren an den Genitalien nicht das Geringste nachweisbar, weder Teile der äußeren noch der inneren weiblichen Geschlechtsteile. Irgendwelche Spuren der Menstruation haben sie nie gezeigt. 6. Psvchisches Verhalten. Auch das gegenwärtige Seelenleben ist du rchausdasvon Knaben gleichenAlters. Sie interessieren sich ausschließlich für männliche Beschäftigungen und Spiele, fühlen sich zu männlichen Berufen hingezogen. So will die Ältere jetzt Kaufmann werden. Beide Kinder äußerten auch bereits den Wunsch, Soldat zu werden. Auch ihr Geschlechtstrieb, soweit davon schon jetzt die Bede sein kann, zeigt eine Inklination zum weiblichen und nicht zum männlichen Geschlecht. Ergebnis: Aus der Vorgeschichte der Kinder und aus der von uns vorgenom- menen Untersuchung, die in allen wesentlichen Teilen übereinstimmen, so daß An- amnese und Untersuchungsbefund sich vollkommen decken, ergibt sich mit Sicherheit, daß sowohl Charlotte als auch Gertrud L. männlichen Ge- schlechts sind, und zwar handelt es sich um einen ausgesprochenen Fall von sog. „Pseudohermaphroditismus masculinus" bei überwiegend männlichem Habitus, also eine Entwicklungsstörung bei einem in allen Teilen männlichen Indi- viduum ohne Beimischung wesentlicher weiblicher Geschlechtscharaktere. So muß die Geschlechtszugehörigkeit beider Kinder als eindeutig männlich bestimmt werden. Es liegt im individuellen Interesse der Kinder und im sozialen Interesse, daß eine Umwandlung der beiden als Mädchen Erzogenen so bald wie möglich vorgenommen wird, da die Inkongruenz zwischen dem künstlich anerzogenen und dem wirklichen Geschlechte immer größer wird und zu schweren Ärgernissen Veranlassung gibt, die auf die Dauer eine gedeih- liche Entwicklung und Lebensführung der Kinder, sowie die Ausübung eines Berufes unmöglich machen, vor allem aber auch den Eltern und den Kindern dauernd so schwere seelische Leiden auferlegen, daß es bisher nur dem ärztlichen Zuspruche gelungen ist, sie vor verzweifelten Schritten zu bewahren. Was die Namensänderung betrifft, so geht der Wunsch der Eltern dahin, daß Anna Louise Charlotte in Ludwig, Gertrud in Gerhard umgeschrieben wird. Die Behörden trugen natürlich der in diesem Gutachten ge- zogenen Schlußfolgerung Kechnung. Äußerlich vollzog sich die Umwandlung, wie übrigens auch in den meisten anderen Fällen so, daß die Unikleidung in Verbindung mit der Änderung der Haar- tracht in meiner Wohnung vorgenommen wurde. Die Kinder be- traten dieselbe als Schwestern und verließen sie als Brüder. Wenn möglich, empfiehlt es sich auch, um dem Gerede der Nachbarschaft aus dem Wege zu gehen, gleichzeitig einen Ortswechsel oder wenig- stens Wohnungswechsel eintreten zu lassen. Ich verlegte deshalb Kapitel : Hermaphroditismus die Umwandlung meist in die Nähe eines Quartalstermins. Ludwig und Gertrud P. kamen von mir aus in Pension zu dem mir be- freundeten Pfarrer B. in V., welcher sieh der Kinder mit großer Liebe und Sorgfalt annahm. Sie wurden dort konfirmiert und ent- wickelten sich zu höchst fleißigen, braven und tüchtigen Menschen Auch ein Fall von drei hermaphroditisch en Ge- schwistern befindet sich in meiner Kasuistik. Bisher wurde allerdings erst die Umschreibung des ältesten Kindes veranlaßt. Mit der (xeschlechtsberichtigung der beiden jüngeren wollen die Eltern noch warten, bis sie sich überzeugt haben, ob und wie sich der be- deutsame Schritt in dem einen Fal}e bewährt hat. Phri™ LaU^ deSo, S°mmers 1917 suchte mich die zur Zeit 19jährige Karoline if r. ?n'n? d6S Eisenwarenfabrikanten Friedrich Ehrmann aus Berlin, / 'u 816 ZU untersuchen> da sie der sicheren Überzeugung sei, daß sie nicht dem weiblichen, sondern dem männlichen Geschlecht zugehöre. Ich habe K E. kngere Zeit zusammen mit meinem Kollegen Ho dann, beobachtet und körperlich wie psychisch untersucht. Wir kamen bezüglich des Zustandes der Patientin zu diesem Ergebnis: P«»,w£ bestanden im Hinblick auf die Geschlechtszugehörigkeit der Patientin offenbar keine Zweifel. Sie wurde unter weiblichem Vornamen in das K n^i r?nBe??en- Jed°Ch S0U SiG nach dgenen Angaben bereit* ^ «er Kindheit ein auffallend knabenhaftes Aussehen aufgewiesen haben, so daß sie dadurch auffiel und daraufdeuteride Bemerkungen des öfteren laut wurden. Sie war sich lt°^ frühHbewuJ\ anders zu ^in als ihre Altersgefährtinnen; sie hielt sich meist allein spielte im übrigen mit den Mädchen vorzugsweise Laufen Versteck- LDFrS /l1-6" 7? Sie V°n j6her für körPerliche Betätigung und Ausarbeitung im Freien mehr Sinn hatte als für Arbeit im Zimmer InteJS rrrdr,imAaUp deur.fern erzo*en' in der 'Schule wies sie bei stärkerem Interesse für Deutsch, Geschichte und Erdkunde durchschnittliche Leistungen auf Spater ging sie auf eine Berliner Handelsschule, um Stenographie und Schreibmaschine schreiben zu lernen, und nahm dann eine Bureaustelle an In der Familie, aus der Karo line stammt, s i n d d i e g 1 e i c h e n Erscheinungen wie die, die bei der Patientin beobachtet wurden, noch an den beiden Schwestern der Patientin zu ver- 26 ,2nen/ nDer Bmder ist gesund- Die Eltern sind Cousin und Cou- vn^LL ff" lmAFalle der beiden Schwestern ist Patientin in der Familie nichts ™5h i vu Anom*h,en' ernsleren Krankheitsfällen, insbesondere nichts von psychischen Krankheiten bekannt. Patientin selbst ist angeblich immer gesund gewesen. Ihre Vorgeschichte weist s^ch^N f1^1«6 *fr auf> ^ *> an irgendwelchen Verstimmung n geüuen Lbe ' " WedlSelnder Affeklla^> Ängstlichkeit, früher an Kinderfehlem Die Pubertät trat angeblich mit dem 13. Jahre ein. Von geschlechtlichen teEpn^JV6 v Z?i ZUm erStenmal aus der Zeitung ™d einem populär » k Jahre ab hat Sie in "»regelmäßigen Abständen onaniert. Angebhch will sie bereits im 12. Jahre Stimmwechselerscheinungen und Bartwuchs bemerkt haben. Eine M enstruation isf niemals eingetreten desgleichen keine ihr analogen psychischen Erscheinungen. Der Geschlechtstrieb war von jeher ausschließlich auf das weibliche 12) Es ist ein höchst beachtenswertes Moment, wie häufig in der Vorgeschichte unserer Hermaphroditen die Angabe : „Eltern : Cousin und Cousine" wiedikehrt 52 I. Kapitel: Hermaphroditismus Geschlecht gerichtet, seine Richtung ist unverändert dieselbe geblieben, übermäßig stark scheint er nicht entwickelt zu sein, Patientin scheut steh offenbar darüber Angaben zu machen. Jedenfalls hat sie den Koitus noch nicht vollzogen. Ist jedoch nach ihren Angaben völlig sicher, daß s i e i h re m W e s e: n n a c h männlich ist. Erotische Träume bezogen sich ausschließlich auf das Weib. Sie äußert daher nachdrücklich den Wunsch, daß ihr Name im Standesregister geändert wird und sie die Erlaubnis erhält, männliche Kleidung tragen und ihre Lebensweise nach männlicher Art einrichten zu dürfen, da sie dies als ihrer Veranlagung und ihrem Triebleben entsprechend als einzig ihr gemäß empfindet. Sie vertritt diesen Wunsch mit Zielsicherheit und Bestimmtheit. Körperliche Untersuchung: K. E. ist mit 20 Jahren 147 cm groß und wie«t 452 kg. Die Statur macht auch in weiblicher Kleidung einen durchaus männlichen Eindruck. Die Haut ist fest und straff gespannt, der Teint nicht ganz rein Hautfarbe nach der v. Luschanschen -Skala 3 bzw. etwas dunkler, im übrigen ebenso wie die Schleimhaut gut durchblutet. Fettpolster mäßig, dagegen außers kräftige und gut in Gruppen abgesetzte Muskulatur. Der Knochenbau ist sehr kräftig, in seinen Proportionen ausgesprochen viril. Dieses spricht sich vor allem in dem V e r h ä 1 1 n i s der größeren Achselbreite zur kleineren Hu f t - breite aus: Akromialbreite 36,0 cm, Distant iliaca 26, Distant spinata 25,0 cm, Distant trochant. 28,5 cm. • Die Brüste sind durchaus männlich geformt, die Warzen nach männlichem Typus rudimentär. Drüsenkörper sind nicht zu fühlen. Der Kehlkopf springt vor und ist hart zu tasten. Stimme männlich. Behaarung zeigt ausgesprochen männlichen Typus. Das Haupthaar, das Patient als Mädchen lang trug reicht bis zu den oberen Lendenwirbeln. Der B ar t w uc h s ist kräftig, Patientin entfernte bisher die Haare durch Ausziehen. Die Schambehaarung zeigt in ihrem Über- gang in die Körperbehaarung, in der Beschaffenheit des Einzelhaares und der Anord- nung der Haargruppen männlichen Typus. Es reicht, wenn auch schütterer ais auf dem Möns pubis rautenförmig längs der Linea alba bis zum Nabel hinauf. Die Extremitätenbehaarung ist ebenfalls in ihrer Stärke und Ausbreitung, sowie in der Natur der Einzelhaare, durchaus dem männlichen Typus entsprechend. Die inneren Organe sind gesund, das Nervensystem zeigt keine Be- sonderheiten, i Geschlechtsorgane: Von vorn, bei geschlossener Beinhaltung gesehen, macht die Regio pubis, abgesehen von der Haarverteilung, einen weiblichen Eindruck. Bei auseinandergehaltenen Beinen jedoch gewinnt man ein völlig anderes Bild. An der Stelle der Klitoris zeigt sich, fast völlig von der starken Behaarung überdeckt, ein 41/ — 5 cm langer penisähnlicher Körper, etwa von der Stärke des rechten Daumens der untersuchten Person. Die beiderseits von diesem Körper abwärts ziehenden Wülste gleichen hypotrophischen großen Labien; ein beweglicher oder unbeweglicher Körper ist in diesen Wülsten n i c h t zu fühlen. Medialwärts dieser großen Labien finden sich beiderseits die kleinen Labien, welche kulissenartig als zwei dünne Falten den stark geröteten Vorhof der Urethral- und Vaginalöffnung umgeben. Die ganze Gegend erscheint mit feiner Schleimhaut über- zogen und sieht blutig rot aus. Die Urethralöffnung befindet sich als ganz kleiner stecknadelkopfgroßer Punkt mit Schlitz an der Stelle, wo sich normalerweise die weibliche Urethralöffnung befindet. Durch einen hier unschwer einzuführenden Katheter entleert sich Urin. Von dieser Schlitzöffnung der Urethra zieht zu der Spitze der Glans clitoridis eine seichte Rinne bis dicht unter die Spitze des Gliedes, welches nicht durchbrochen ist. Dicht unter der Urethralöffnung befindet sich noch ein kleines Loch, das in einen ca. 5 cm langen Blindsack führt, welcher an seinem Grund keinerlei Öffnung noch Erhabenheit erkennen 'läßt. Von dem zuletzt erwähnten Loch erstreckt sich der Damm 3 cm zum Anus hin; von einem Hymen findet sich keine Spur. I. Kapitel: Hermaphroditismus 53 Die inneren Geschlechtsorgane können nur vom Anus aus bima- miell untersucht werden, und auch diese Untersuchung ist nur möglich, nachdem die Därme gründlich entleert sind. Nach wiederholten Untersuchungen ergab sich mit Sicherheit der folgende Befund, der von Geheimrat Wilhelm AI exander Freund in Dr. S e e 1 i g s Klinik wie folgt festgestellt wurde : Zwischen der absolut männlich geformten Blase und dem Rektum, in der Mitte etwa 1 cm über den beiden Enden des Vaginalschlauches, mit diesem aber ohne Ver- bindung, fühlt man einen Körper, der Größe und Form einer Saubohne hat. Er be- findet sich 5 cm über dem Anus und macht den Eindruck eines Utriculus prostaticus. Eine eigentliche Gebärmutter ist nicht vorhanden. Nach beiden Seiten von diesem medial gelegenen knopfartigen Gebilde ziehen Stränge, die sich wie Bindfaden an- fühlen und hart am Os ileum unter der Linea arcuata interna in spindelförmige Drüsen enden, die sich wie kleine Hoden ausnehmen. Psychischer Befund: In pathologischer Hinsicht zeigt die Psyche keiner- lei Anomalien: K. E. ist ein stiller, ruhiger Mensch von gleichmäßiger Affektlage. Da der sexuelle Trieb nicht übermäßig stark ist, verleiht er dem psychischen Bilde keine ausgesprochene Prägung. Immerhin ist wichtig, daß zweifelsfreie Rückwirkungen der Triebrichtung auf das psychische Geschehen in der Sphäre des Unterbewuß- ten in Form sexueller Träume, die ausschließlich das Weib als Gewinnziel aufweisen, zu verzeichnen sind, daß dieses Triebleben selbst eindeutig männlich ist, daß demzufolge die ihm entspringenden Willensmotive klar ihre männliche Natur darbieten. Intelligenz, Merk- und Orientierungsfähigkeit zeigen keinerlei Defekte. Gegen- über weiblichen Personen besteht starkes Schamgefühl. E. bestand darauf, daß sich die Schwestern während der Untersuchung aus dem Zimmer entfernten. Männern gegenüber schämt sich Patient nicht. Zusammenfassung: Für die männliche Geschlechtszugehö- rigkeit der Patientin sprechen eindeutig die Statur, der Knochen- bau, die Behaarung, die Stimme, die männliche Form der Brüste, dasVerhältnis der Schulter- zur Beckenbreite. See- lisch die gesamte T r i e b r i c h t u n g , sowie die Sexualsphäre des Unterbewußtseins. Auch im körperlichen Genitalbefund überwiegt der männliche Habitus: Der externe Geschlechtshöcker ist mehr penis- wie klitorisartig, intern befindet sich ein mehr prostata- als uterus- förmiges Gebilde. Der Finger stößt auf zwei mehrhoden - als eierstock- ähnliche Drüsen. Die Blase ist männlich. Ein Hymen fehlt, desgleichen Men- struation. An Stelle der Scheide liegt nur ein enger Blindkanal. Ein aktiver männlicher Koitus ist mit diesen Organen möglich, dagegen ist die Möglichkeit ausgeschlossen, sich wie ein Weib koha- bitieren zu lassen. Zusammenfassend ist also bei K. E. auf männliches Ge- schlecht zu erkennen. Aus diesem Grunde wird unsererseits der Antrag der Patientin, ihr Geschlecht im Standesregister aus weiblich in männlich, ihren Vor- namen aus Karoline in Karl ändern, männliche Kleidung tragen und eine männliche Lebensweise führen zu dürfen, dringlichst befürwortet. Ich will diesen Geschwistern noch einige weitere, ähnliche Fälle von irrtümlicher Geschlechtsbestimmnng- anfügen, in denen sich ebenfalls die Notwendigkeit der Geschlechtsumschreibung in der- selben Zeit, nämlich in dem für die Entwicklung des Menschen so bedeutsamen dritten Lebenssiebentel ergab. Trotzdem ich mir bewußt bin, daß diejenigen Leser, welche die Kasuistik mehr überfliegen als studieren, die Häufung der Fälle leicht eintönig empfinden werden, habe ich mich doch aus verschie- 54 f. Kapitel: Heimaphroditismus denen Gesichtspunkten entschlossen, meine einzelnen Fälle von Ge- schlechtsherichtigung möglich genau zu bringen, und zwar nicht nur, weil sie meines Erachtens als dokumentarisches Material von höchstem Werte sind, sondern weil sie neben großen Übereinstim- mungen stets auch ebenso große Verschiedenheiten aufweisen und vor allem, weil sie die unentbehrliche Grundlage für das Verständnis aller Abweichungen vom Geschlechts- typ u s bilden. Zunächst zwei Fälle, die dem letztbeschriebenen inso- fern verwandt sind, weil den Personen neben der sexuellen Anomalie ein sehr untersetzter, fast zwerghafter Körperbau und andere Pro- portionsanomalien eigen waren, die auf Normabweichungen im innersekretorischen System schließen lassen (vgl. Tafel II). Im Frühjahr 1916 suchte mich Frau Martha D., Ehefrau des in Rußland im Felde stehenden Landwehrmanns Karl D., mit ihrem einzigen Kinde Bertha D. auf, die damals 14 Jahre alt war. Die Mutter war vom nationalen Frauendienst an mich ge- wiesen, weil einer leitenden Dame die tiefe Stimme und die Bartstoppeln des Mädchens aufgefallen waren. Ich habe mich dann mehrere Monate mit dem körperlichen und seelischen Zustand der Bertha D. beschäftigt und stellte folgendes fest: Bertha D. ist von katholischen Eltern, 4 Jahre vor der Ehe geboren. Bei ihrer Geburt zweifelte niemand an dem weiblichen Geschlecht des Kindes. Ate Bertha 4 Jahre alt war, zogen die Eltern nach1 F. Sie besuchte hier die Mädchenschule bis zur ersten Klasse und wurde mit 13 Jahren als Mädchen konfirmiert. Sie lernte darauf die Wäscheschneiderei. Schon auf der Schule fiel ihre tiefe Stimme auf, s i e wurde von den anderen Kindern deswegen geneckt, beispielsweise oft „alter Brummbär", „Männerbart", „Junge" gerufen, was ihr das Leben verleidete und sie oft in Tränen ausbrechen ließ. Trotzdem kam ihr nicht der Gedanke, daß sie lieber ein Knabe sein möchte. Selbst als ich ihr nach der ersten Untersuchung mitteilte, daß sie eigentlich ein Knabe sei, und sie fragte, ob sie nicht vorziehen würde, als solcher zu leben, sträubte sie sich sehr. „W as würden dann die Leute sagen," meinte sie; auch überwog damals noch das Gefühl, ein Mädchen zu sein. — Als aber der Bartwuchs immer stärker wurde und tägliches Rasieren er- forderte, kam sie allmählich doch zu der Überzeugung, daß es für sie vorteilhafter sein würde, Männerkleidung zu tragen und einen männlichen Vornamen anzulegen, um nicht mehr kränkenden und sie beschämenden Bemerkungen ausgesetzt zu sein. Er- schwert wurde dieser Schritt dadurch, daß der Vater sich im Felde befand und die Mutter unterleibskrank (Gebärmuttervorfall) ist, außerdem die Mittellosigkeit so hoch- gradig war, daß die zur Umkleidung erforderlichen Mittel nicht zur Verfügung standen. Daher gab ich zunächst das folgende Vorgutachten ab, das an den Truppenkomman- danten ging: „Vorbehaltlich ausführlicher Begründung gebe ich mein Sachverständigen- Gutachten dahin ab, daß das am 19 . . geborene Kind des Malers und jetzigen Landwehrmanns Karl D. und Frau Martha, geb. G., welches bei der standesamtlichen Anmeldung den Namen Bertha erhielt, nicht weiblichen, sondern männlichen Geschlechts ist. Es ist daher unbedingt erforderlich, daß eine Umschreibung des Namens (stattBerthaD. inBerthold D.) erfolgt und daß das Kind Kleidung, Haarschnitt und Lebensweise nach der männlichen Richtung umändert. Damit un- nötiges Aufsehen vermieden wird, ist auch ein Wohnungswechsel geboten. Da Frau D. selbst unterleibsleidend und sehr schwach ist, kann sie allein ohne An- wesenheit und Hilfe ihres Mannes die zur Geschlechtsberichtigung er- forderlichen Schritte nicht unternehmen." Herr D. erhielt darauf Urlaub. Durch Wohltätigkeit (Hilfsstelle des Nationalen Frauendienstes für Bekleidung) konnten die erforderlichen Kleidungsstücke beschafft werden und wurde dann während der Beurlau- bung des Mannes der Wohnungswechsel in Verbindung mit der Umkleidung und Ab- Gresclilecktsberichtigung' im 14. Lebensjahr Tafel II. 5 6 Beschreibung des Falles findet sich im Text, Seite 54 bis 57. Bei der wiederholt gemeinsam mit dem Gynäkologen Prof. W. A. Freund vorgenommenen Exploration waren weder männliche noch weibliche Geschlechtsdrüsen, auch nicht Uterus ■oder Prostata auffindbar. Geschlechtstrieb fehlt. Somatisch und psychisch über- wiegen stark die männlichen Geschlechtscharaktere. Diagnose: Hermaphroditismus neutralis. Geschlechtsumschreibung aus praktischen Gründen geboten. Hirse Ilfeld. Sexualpathologie. II. A. Marcus & E. Webers Verlag', Bonn. 55 änderung des Haarschnitts — beides fand in meiner "Wohnung statt — vor- genommen. Da nun noch die Umschreibung im Standesregister und die gewünschte kirchliche Umtaufung aussteht, sei nun folgendes festgestellt. I. Die äußeren Geschlechtsorgane: Wie aus dem beigefügten Bilde ersichtlich, machen die Geschlechtsorgane, wenn D. sich entkleidet, zunächst einen völlig weiblichen Eindruck. Man sieht nichts von einem Penis, auch nichts von einem Hodensack. Die üppige* Schambehaarung zeigt allerdings mehr virilen Charakter. Ganz anders aber gestaltet sich das Bild, wenn man D- mit gespreizten Beinen untersucht. Da zeigt sich ein Gebilde, das äußerlich viel mehr einem Penis als einer Klitoris gleicht. Die Glans ist von einem Corpus Penis1 durch den deutlichen Sulcus coronarius geschieden. Die Mutter gibt an, daß dieses Gebilde in den ersten Monaten nach der Geburt nur ein kleines „Knöspchen" gewesen sei, das dann erst später größer und immer größer geworden wäre. Die Eichelspitze erscheint durchbohrt, sieht man aber genauer nach, so merkt man doch die Fossa navicularis nicht unmittelbar in die Harnröhre übergehen, son- dern in eine seichte Rinne verlaufen, die sich an der ganzen Unterseite des Penis herab- zieht und schließlich in einem Spalt endet, der sich scheidenartig vertieft. D. gibt an, daß der Höcker sich oft von selbst steift, Geschlechtsempfindungen werden dadurch nicht ausgelöst. Der Urin entleert sich aus dem Spalt. D. kann nur sitzend, nicht stehend im Strahl Wasser lassen. Man sieht auf dem Bilde deutlich, wie zwei nach unten konvergierende Wülste den taschenförmigen Spalt umgeben. Diese "Wülste sind leer. Sie entsprechen den großen Labien, entwicklungsgeschichtlich aber auch den beiden Skrotalhälften. Auch die kleinen Labien sind als zwei feine Falten neben und über der Klitoris andeutungsweise vorhanden. Möns veneris ist schwach ent- wickelt. Blutungen sind niemals vorgekommen. (Vgl. Tafel II.) II. Die inneren Geschlechtsorgane: Die interne Untersuchung nahm ich in Gemeinschaft mit Geheimrat Prof. Dr. W. Freund und dem Frauenarzt Dr. Seelig vor. D. hatte sich für die Untersuchung durch Entleerung von Darm und Blase vorbereitet. Ich gebe das Diktat des Geheimrats Freund bei der bimanuellen Untersuchung per anum wieder: „Ich fühle an der vorderen Beckenwand, beginnend in der Höhe des Arcus pubis, eine kleinfingerlange, fleischige, strangförmige Hervorragung, die von unten etwas schräg nach links aufsteigt, sich nach oben verjüngt und allmählich aufhört. Am rechten Beckenrande unter der Linea arcuata ist eine flache, dem Knochen anliegende Erhebung zu konstatieren. Druck auf diese Stelle soll empfindlich sein, doch zeigt das Gesicht bei stärkerer Betastung keine auf Schmerz hindeutende Verzerrung. Die Untersuchung mit dem harten Katheter führt durch die etwa 3 cm tiefe Scheide an den Anfangsteil dieses derben, fleischigen Organs, das an der Vorderwand des Beckens wie ein kleiner Finger ge- legen ist. In der linken Beckenseite ist nicht das geringste von einem derben Katheter zu fühlen." j Mit dem weichen Katheter gelangte Dr. Seelig nicht ohne Schwierigkeiten schließ- lich in die Blase. Die Urethralmündung befindet sich ganz am Ende der vaginalen Tasche, dicht unter dem derben, kleinfingerförmigen Körper. Sie zeigt nicht die ge- wöhnliche schlitzförmige Beschaffenheit der Harnröhrenmündung, sondern eigentüm- lich gewulstete und gefaltete Ränder. ni. Körperliche Geschlechtscharaktere: a) Gestalt. D. ist mit 15 Jahren 1,46 m groß und wiegt 50 kg. Er hat eine untersetzte, stämmige Figur. Die Muskeln sind kräftig. Das Fleisch fühlt sich hart und fest an. Die Armkraft ist bedeutender als die der Beine (viriles Zeichen). D. hat deutliche X-Beine. Die Wade ist viril abgesetzt. Füße und Hände sind relativ klein. Kopfform ist ebenso wie der Gesichtsausdruck männlich. Stirn ausgesprochen mas- kulin, dagegen Kinn1 feminin. Die Raute in der Kreuzbeingegend ist schmal (viriler Typus). Die Nates erscheinen mehr feminin. 56 I. Kapitel: Hermaphroditismus b) Becken. Dieses wichtige Geschlechtsmerkmal zeigt keinen ausgesprochen virilen, aber auch keinen femininen Typus. Als weibliches Becken muß es allgemein zu klein bezeichnet werden; Freund nannte es „infantil" und „unentschieden". Die Beckenmaße sind: Spinae 23l/s. cristae 25, Conjugata 16. c) B e h a a r u n g. Im 13. Jahre trat starker Bartwuchs auf; trotz „Enthaaiungs- pasten" wurde er immer stärker. In dem gleichen Alter entwickelten sich die Scham- haare, die nach dem Nabel zu längs der Linea alba in einem Haarstrich aus- laufen. Ober- und Unterschenkel sind ziemlich stark behaart; auch um den Brust- warzenhof finden sich Haare. Das Haupthaar reicht aufgelöst bis zum unteren Skapularrand. Das Einzelhaar ist dunkel und spröde. d) Die Mammen zeigen völlig männliches Verhalfen. Von einem Brustdrüsen- körper findet sich keine Spur. e) Der Kehlkopf ist ebenfalls viril gebaut. Die tiefe sonore Stimme ent- sprechend der Stärke und Länge der Stimmbänder, war das erste Zeichen, das ihrer Umgebung auffiel. IV. Seelische Geschlechtscharaktere: Hier findet sich eine innige Vermischung männlicher und weiblicher Züge. D. ist von weicher Gemütsart, ihre Stimmung ist gleichmäßig; an und für sich ist sie mehr lustig, nur beunruhigt und betrübt über ihr ungewisses Schicksal. Sie ist still, pünktlich, sparsam, zuverlässig und mutig. Ihr Wille ist stark zu nennen. Sie möchte sehr gern Soldat werden und wie ihr Vater in den Krieg ziehen. Aus diesem Grunde würde sie sich gern operieren lassen, damit sie nach Männerart harnen kann und unter den Kameraden, falls sie eingezogen werden sollte, nicht auf- fällt. Trotzdem hat sie aber kein ausgesprochenes Empfinden, ein Mann zu sein. Sie hat die Schneiderei erlernt, würde aber lieber Kürschner werden. Sie fühlt sich auch zur Hauswirtschaft hingezogen; namentlich mag sie „Reinemachen" gern. Im Trinken und Rauchen ist sie (im Gegensatz zum Vater) sehr mäßig. Sie liebt einfache Kleidung und hält sich sehr eigen. So lange sie Mädchenkleider trug, erklärte sie, sie bevorzuge für sich die weibliche Kleidung; seit- dem sie männliche Kleidung trägt, sagt sie, sie ginge lieber als Junge. Sie ist musi- kalisch. Ihre Intelligenz entspricht ihrem Alter. Auf die Frage, was sie vom Kriege denkt, antwortet sie: „Der Krieg ist eine fürchterliche Menschenschlächterei; Schuld hat England." Sie ist fromm und geht regelmäßig zur Beichte. V. Geschlechtstrieb: Geschlechtliche Regungen und Neigungen sind nicht vorhanden. Sie weiß nicht anzugeben, welches Geschlecht ihr sympathischer ist. Auf die Frage: ob sie später lieber einen Mann oder eine Frau heiraten möchte, entgegnet sie in der ersten Zeit: einen Mann. Jetzt weiß sie darüber keine Auskunft zu geben. Irgendwelche mastur- batorische Akte werden vollkommen in Abrede gestellt. Die Mutter sagt: „Sie ist noch sehr unschuldig." VI. Abstammung und Kindheit: Da man in Fällen ähnlicher Art dem degenerativen Faktor eine Be - deutung zugeschrieben hat, sei darauf hingewiesen, daß D.s Vater in früheren Jahren als Maurer sehr viel alkoholische Getränke zu sich ge- nommen hat. Die Mutter, welche einen sehr blutarmen und schwächlichen Eindruck macht, gibt an, „unterleibskrank" zu sein. Bertha ist die einzige Über- lebende von 11 Geschwistern; 10 verstarben klein an „Lebensschwäche". Dagegen sind die Geschwister der Mutter — ■ ebenfalls sieben an der Zahl völlig gesund; auch der Vater hat fünf gesunde Geschwister, 3 Brüder, die wie er an der Front sind und zwei Schwestern. Von Kinderkrankheiten hat Bertha nur zweimal Diphtheritis durchgemacht. Mit einem Jahre lernte sie gehen und sprechen. Sie war als Kind sehr ängstlich und scheu. An Kinderfehlern litt sie nicht. Sie bevorzugte weibliche Kinderspiele, vor allem auch Puppenspiele und weibliche Handarbeiten wie Sticken und Stricken. In der Schule war sie gut; besonders beanlagt war sie für 57 Rechnen und Geschichte. Sie singt gern, besonders Kirchen- und seit neuerer Zeit auch Kriegslieder. Der Stimmwechsel trat mit 12 Jahren ein; gleichzeitig wuchsen ihr die Bart- und Schamhaare. Zusammenfassung. A. Vollkommen männlich geartet sind : Bartwuchs, Körperbehaarung, Pubes, Stimme, in negativer Beziehung besonders die Brüste. Mehr männlich sind : Penis, Gesichtsausdruck, Becken, Bewegungen. Von männlichen Geschlechtszeichen sind nicht nachweisbar: Testes, Skrotum, Prostata, Ejakulation. , B. Weiblich geartet sind : Die Labia majora. Mehr weiblich sind : Harnröhre und Scheide. Von weiblichen Geschlechtszeichen sind nicht nachweisbar: Ovarien, Uterus, Tuben, Menstruation. C. Alle übrigen körperlichen und seelischen Geschlechts- merkmale sind gemischt. ' D. Überhaupt nicht vorhanden, also weder männlich noch weiblich, ist der Geschlechtstrieb. Auch fehlt bisher ein deutlich männliches oder weibliches Ge- schlechtsbewußtsein. Welche Folgerungen sind hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit aus diesen Prämissen zu ziehen? Ein generativer Geschlechtsdrüsenanteil ist weder organisch noch funktionell feststellbar. Dagegen muß entsprechend dem Prävalieren männlicher Geschlechts- charaktere der innere Chemismus überwiegend männlich sein. Es muß eine männliche Pubertätsdrüse mit männlicher Innensekretion angenommen werden. Da weibliche Geschlechtszeichen demgegenüber völlig zurücktreten, ist die bisherige Bertha D. dem männlichen Geschlecht zuzuzählen. Dementsprechend ist ihr Geschlecht im Standesregisler in männlich, ihr Name Bertha, ihrem Wunsche gemäß, in Berthold umzuschreiben. Kleidung, Haartracht und Aus- weispapiere sind entsprechend abzuändern. Ihr Verlangen, nochmals als Knabe getauft und eingesegnet zu werden, erscheint begründet. Die Behörde entsprach auch der in dem letzten Gutachten auf- gestellten Forderung. Muß diese Lösung vom praktischen Ge- sichtspunkt hei den zur Zeit herrschenden Anschauungen als die rich- tige erscheinen, so wollen wir uns doch nicht verhehlen, daß sie, theoretisch genommen, den Tatsachen insofern nicht Kech- nung trägt, als mangels auffindbarer Geschlechtsdrüsen im vor- liegenden Fall weder das männliche noch das weibliche Geschlecht als völlig sichergestellt gelten kann. Auch in dem folgenden Fall konnten bei wiederholten Unter- suchungen mit ausgezeichneten Fachärzten weder Testes und Prostata, noch Ovarium und Uterus nachgewiesen werden. Praktisch bietet er das höchste Interesse, weil er die Frage nahelegt, ob nicht in vielen Fällen, in denen Frauen sich zum Kriegsdienste drängten, Störungen der inneren Sekretion vorgelegen haben mögen, beispiels- weise bei der J ungf rau von Orleans, von deren überaus enger Scheide in alten Codices wiederholt die Eede ist. Im Frühjahr 1917 suchte mich die jetzt 21jährige K a r o 1 a H e f n e r auf. Sie hatte sich, da sie der sicheren Uberzeugung ist, daß sie dem männlichen Geschlecht angehört und den brennenden Wunsch hat, Soldat zu werden, jetzt, majorenn ge- worden, zum Militär gemeldet, nachdem eine diesbezügliche Meldung, die bereits zu Kriegsbeginn abgegeben wurde, abschlägig beschieden worden war. Von dem unter- I. Kapitel: Hermaphroditismus suchenden Herrn Garnisonarzt war sie zwecks spezialärztlicher Begutachtung 30 ""ich hat8 £Ä« hindurch in Gemeinschaft mit meinem Kollegen Hodann KarolaH beobachtet. Wir kamen bezüglich ihres körperlichen und seehschen Zu- "iÄ5tf«n als das dritte Kind des Schuhmachers Paul H. und seiner Ehefrau Anna geb. Müller geboren. Die Geburt soll normal verlaufen sein. Ä^irTeSSditlichen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht bestanden ^ damals kene Zweifel. Jedoch schon in früher K i n d h e it sollen ach die Leute über sie auf -ehalten haben, da sie einen knabenhaften Charakter zur Schau trug. D er Fat totin war das Gerede der Leute sehr unangenehm, doch begann sie sich sehr bald de Berechtigung dieser Bedereien bewußt zu werden; sie will schon se t der She eine t Stimme gehabt haben; sie trug sich auch schon damals mit ^dem sicheren Gefühl: „Ich bin kein Mädchen." Ob sie ein Junge sei, ist ihr jedoch damals iot : nicht völlig'klar gewesen, sie hat angeblich nur verspürt daß etwas ; mch in Ordnung sei". Dementsprechend blieb sie viel für sich; wenn sie mi -anderen Kindern spielte waren es stets Jungen. Sie fühlte sich aber diesen gegenüber durch fhre Seidun behindert und empfand infolgedessen oft eine Zurücksetzung. Dies steigerte ihre Zurückgezogenheit in späteren Jahren. In der Schule kam ihr die Klar- heitdarüber, daß ihre Entwicklung -eine völlig knabenhafte sei. Siehatni e einen KnixTemacht, stets nach Knabenart mit dem Kopf genickt und sich leicht ver- beugt Sie hat in dieser Zeit mit großer Begeisterung an allen Knabenprugeleien teil- l n und zumeist über die Gespielen den Sieg davongetragen. Viel Gedanken über ihre Knabenhaftigkeit machte sie sich nicht. Gelegentlich einer Magenunter- uchung fragte sie einmal nebenbei einen Arzt Sie empfand das Auftreten männlicher Merkmale im Laufe der Entwicklung als Selbstverständlichkeiten, überhaupt ist die schon sehr früh auftretende Sicherheit über »hre Geschlechts. Zugehörigkeit bemerkenswert, was bei derartigen Fällen in dieser Eindeutigkeit keineswegs immer zu beobachten ist. Nach der Konfirmation ging K^H. für drei Jahre als Hausmädchen zu den Wirtsleuten ihrer Eltern in Diens , die über ihren Zustand unterrichtet waren. Man wunderte sich jedoch in dieser Zeit oft über ihre auffallende Geschicklichkeit bei männlichen Arbeiten, wie beim Klempnern und Tischlern. Die Hausarbeit machte sie „so hin", fühlte sich aber sehr unbefriedigt davon; nach 3 Jahren verließ sie den Dienst, um von da ab bis jetzt ohne besonderen Beruf im Hause ihrer Eltern zu leben. Anfang des Krieges meldete sie sich zum Militär da sie durch die Auskunft einer Hebamme, die sie mit 17 Jahren kon- sultiert hatte, in ihrer Sicherheit, männlich zu sein, nur noch bestärkt worden war, um ,raus zu kommen", und weil es sie der verständnislosen häuslichen Umgebung gegenüber drängte, ihre Männlichkeit zu beweisen. Ihr Wunsch nach männ- licher Tätigkeit md demzufolge nach einer Umwandlung, was Namensfuhrung, Kleidung und Lebensweise anbetrifft, ist a u ß e r o r d e n 1 1 i c h r e g e und wird mit starkem, zielbewußtem Willen vertreten. - .. . Bezüglich des körperlichen und seelischen Befundes, unter besonderer Berück- sichtigung der sexuellen Merkmale, konnten wir folgendes feststellen: LÄußereGeschlechtsteile:Bei geschlossenen Beinen macht die Scham- gegend einen weiblichen Eindruck, abgesehen von der Schambehaarung, die stark ent- wickelt ist und nicht absolut mit der Querfalte des Möns venens abschneidet wie es dem rein weiblichen Typus entsprechen würde, sondern diese Falte überschreitet und, wenn auch spärlich, in Dreiecksform längs der Linea alba hinaufzieht. Bei gespreizten Beinen dagegen gewinnt man ein völlig anderes Bild. An Stelle der Klitoris zeigt sich ein nicht völlig abhebbarer, infolge einer tiefen Hypospadie an der Unterlage weitgehend fixierter Penis, der in nicht erigiertem Zustand o,7 cm lang ist. Die Glans penis, der Sulcus glandis und das Praeputium sind normal ausgebildet. An der Stelle, wo sich normalerweise beim Manne die Harnröhrenöffnung befindet, zeigt sich entsprechend der Fossa navicularis eine punktförmige Einziehung, von der I. Kapitel: Hermaphroditismus aus kein Gang in die Tiefe führt, dagegen verläuft oberflächlich längs der Unterseite des Penis ein nässender rötlicher Schlei mhau t streif en, der an der tiefsten Stelle der Radix penis auf das hierher verlagerte Orificium urethrae trifft. Auf beiden Seiten des Schleimhautstreifens sind entsprechend den großen Labien der Weiber stark gefaltete, pigmentierte, aber leere Skrotalwülste sichtbar, die normale Behaarung aufweisen. Sie umgreifen nach Art der großen Labien die Radix penis jedoch nicht vollständig. Das Skrotum ist in der Raphe gespalten, die Skrotalsäcke sind leer. Eine Tunica vaginalis läßt sich mit Sicherheit nicht palpieren. Der äußere Leistenring ist beiderseits vollkommen geschlossen und somit für den Finger undurchgängig. Der Damm ist normal gebildet, ebenso der After. Men- struation ist nie vorgekommen, desgleichen keine ihr entsprechenden psychischen Erscheinungen. Der Harn kann von K. H. nur im Sitzen, nach Art der Weiber, gelassen werden. Er entleert sich aus dem beschriebenen Orificium urethrae externum. IL Innere Geschlechtsorgane: Die interne Untersuchung per anum, die mit Stabsarzt Dr. Stabel vorgenommen wurde, ergab folgenden Befund- Man fühlt längs der vorderen Rektalwand keine Spur von Uterus, desgleichen nichts, wis mit Sicherheit auf Tuben und Ovarien zu schließen berechtigte; links am Rektum fühlt man 3 kleine, mit Schleimhaut bedeckte Knötchen harter Konsistenz, die näher zu identifizieren nicht gelingt. Hoden, Samenblasen oder Ductus deferentes nicht feststellbar, desgleichen keine normale Prostata. „o"1- KörPerbefund im allgemeinen: K. H. ist jetzt mit 21 Jahren 134,7 cm groß (angeblich seit dem 9. Jahre nicht mehr gewachsen) Sie wiegt 80 Pfund. Die ganze Statur macht einen durchaus männlichen Eindruck Die Haut ist fest, straff gespannt und an den meisten Stellen auffallend stark pig- mentiert. Nach der Hautfarbentafel von v. Luschan ergeben sich für die Stirnhaut Nr. 21, Innenseite des Unterarmes Nr. 7, Bauchdecken Nr. 10—12 als Werte Das Fettpolster ist mäßig entwickelt. Die Muskulatur ist sehr kräftig die einzelnen Muskelgruppen setzen sich deutlich ab. Der Knochenbau ist kräftig. ' Der Kopf wie der Gesichtsausdruck ist ausgesprochen viril. Das Becken zeigt einen virilen Charakter. Die Distantia iliaca mißt 215 die Distantia spinata ebenfalls 21,5; die Distantia trochanterica 26,5 gegen 30,2 Akromial- breite, was wiederum ein ausgesprochen männliches Zeichen ist, da bei Weibern die Huftbreite größer zu sein pflegt als die Schulterbreite. Die Conjugata externa er- reicht 17,5. Die Behaarung: Das Kopfhaar ist schwarz, fettig und strähnig, reicht bis zur Mitte der Lendenwirbelsäule. Die Oberlippe zeigt etwas Flaumhaar, das Gesicht ist rasiert, die Brauen sind gut entwickelt, schwarz. Die Arme zeigen männlichen Behaarungstypus in ausgesprochener Weise. Die Achselhaare sind schwach entwickelt. Die Schamhaare sind oben beschrieben. Die Behaarung der Beine zeigt ebenfalls männlichen Typus. Die Brüste sind ausgesprochen männlich, die Warzen in männlicher Wei«e atrophisch, keinerlei Drüsenkörper zu fühlen; dagegen starke Entwicklung der Pekto- rales, darüber mäßig starkes Fettpolster. Der Kehlkopf springt nicht vor, jedoch' besteht männlich-tiefe Stimme. Pal- pation zeigt widerstandsfähige Knorpelmassen. , Gesamteindruck: Der Thorax ist gut gewölbt, die inneren Organe ohne Besonderheiten, abgesehen von der Schilddrüse, deren rechter Lappen etwas ver- größert erscheint Dies läßt auf Anomalien im System der innersekretorischen Drusen — vielleicht im Zusammenhang mit der Anomalie der Geschlechtsdrüsen — schließen, was auch in der abnorm dunkel gefärbten Haut, sowie inbasedowoiden Symptomen zum Ausdruck gelangt, wie dem Exophthalmus, den maximal weiten Pupillen und dem positiven Stellwagschen Symptom, die sich beobachten lassen 6Ü I. Kapitel: Hermaphroditismus Desgleichen läßt das gehemmte Wachstum sowie die Pro- portionen der Arme zu deri Beinmassen (Arme unverhältnismäßig lang) Juf Normabweichungen im System de]r i n n e r s e k r e t o r , s c h e n DrÜSAbgnesSehCen1iö3nßdeiesen Anomalien und den Mißbildungen im Bereich der Genital- organe macht der Körper einen durchaus männlichen Eandruck. Auch die Be- w^ngen^d durchaus männliche, desgleichen läßt der kräftige Händedruck auf mannliche Geschlechtszugehörigkeit erkennen, Patient xst ursprünglich Links- händer, aber gewohnheitsmäßig weitgehend zur Rechtshändigkeit erzogen worden IV Psychischer Befund: Das Ergebnis der körperlichen Untersuchung wird durch den seelischen Status in jeder Hinsicht bestätigt. Die Psyche ist so ausgesprochen männlich, wie man es selten in Fallen nicht ganz eindeutiger Geschlechtsbestimmunjr, findet. Auffallend dabei ist, wie bereits er- wähnt, daß schon in früher Jugend bei der Patientin keine wesentlichen Zweifel an ihrer Geschlechtszugehörigkeit bestanden und alles, was andere Patienten in ähnlicher Lage peinlich oder wenigstens auffallend finden, ihr nur wohltuende und ihre » Sicher- heit stärkende Bestätigungen des von ihr längst Geglaubten oder Gewußten bedeuteten. Der Wille ist z i e 1 s i c h e r u n d s t a r k. Patientin hat trotz der hauslichen Widerstände ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen und ist entschlossen, ihren Willen unter allen Umständen durchzusetzen. Auch ihre Meldung zum Heeresdienst ist ein Indizium für diese durchaus viril zu wertende Entschlossenheit, desgleichen die Angabe, daß sie in einem Liebesverhältnis niemals zu einem Menschen neigen würde, der ihr etwas vorschreiben wollte: Sie müsse der „Herr ira Hause" sein und bleiben. Insgesamt zeigt die Psyche keinerlei Anomalien. Auch keine, wie ebenfalls bereits angedeutet, periodenmäßigen Reizerscheinungen, wie sie im allgemeinen die Menstruationstage der Weiber zu begleiten pflegen. Sie ist ein - wohl mit durch das Milieu und ihre erzwungene Zurückgezogenheit -' stiller, aber freundlicher Mensch. Im Verkehr mit Kameraden bestimmt und keinesfalls anlehnungsbedürftig. Im Gegen- teil zeigt sie ein auffallend scharfes Urteil und zeichnet sich durch eine recht be- merkenswerte Intelligenz sowie selbständiges Denken in jeder Hinsicht aus wenn sie auch in ihren Schulleistungen keine Erfolge aufzuweisen hatte., Vielleicht ist dies wesentlich durch die äußere Lage unter Mädchen, in der sie sich nicht wohl und zugehörig fühlen konnte, zu erklären. Bezeichnend für ihre ganze Konstitution ist auch, daß sie im freundschaftlichen Verkehr nur mit männlichen Freunden verkehrt. „Das Gequatsche mit die Weiber interessiert mich nicht, sagt sie im unverfälschten Berliner Volkston. Sie hat eine Abneigung gegen Schmuck, liebt, da sie zu ihrem Leidwesen noch gezwungen ist, Frauenkleidung zu tragen, eng anliegende und einfache Kleider. Der Tascheninhalt besteht zumeist aus Geld, Messer und Feuerzeug. S 1 e r a u c h t g e r n trinkt sehr wenig. Abenteuerlust besteht nicht, jedoch ein reger Unternehmungsgeist. Jedenfalls keinerlei depressiv zu deutende Erscheinungen; ist sich ihrer Sache m jeder Hinsicht sicher, macht sich um die Zukunft keinerlei Sorge. Ihre Antworten er- folgen prompt. Wenn es ihr nicht glückt, Soldat zu werden, so will sie Jockey werden, weil sie nach ihrem Körperbau und dem leichten Gewicht, verbunden mit starker Muskulatur und Widerstandsfähigkeit, dazu sehr geeignet erscheint. V. G e s c h 1 e c h t s t r i e b: Den Beginn der geschlechtlichen Reife verlegt Patien- tin ins 12. Lebensjahr. Menstruation war nie vorhanden, dagegen Pollutionen unter Erektion des Gliedes nach erotischen Träumen. Bartwuchs seit dem 18. Jahr. Be- dauert, daß sie sich, da sie als Frau leben muß, noch keinen Bart kann stehen lassen. Dem weiblichen Geschlecht gegenüber' früher befangen — was sich aber angeblich nur auf die Behinderung infolge der äußeren Verhältnisse zurückführen läßt, da sie selbst Kleider trage. Im übrigen verfügt sie über reges sexuelles Bedürfnis und ist keines- wegs von sexueller Schüchternheit oder Hypochondrie heimgesucht. I. Kapitel: Hermaphroditismus Q\ Der Trieb war stets mit seinem Bewußtwerden unverändert auf das weibliche Geschlecht gerichtet. Geschlechtsverkehr hat dementsprechend stattgefunden. Zusammenfassung: Es handelt sich um einen Fall von Hermaphroditis- mus, hervorgerufen durch eine hochgradige Hypospadie und beiderseitigen Kryplorchis- mus mit Sekundäratrophie der Geschlechtsdrüsen. Für die männliche Geschlechtszugehörigkeit sprechen ein- deutig die seelische Beschaffenheit der Patientin, der Körperbau, der Typus der Be- haarung (Bartwuchs, Pubes, Extremitätenbehaarung), die Brüste, die Beckenbildunir, die Art der Bewegung, die Stimmbildung, der stark entwickelte Geschlechtstrieb. Für eine weibliche Geschlechtszugehörigkeit ließen sich allenfalls die Haarlänge der Patientin anführen, sowie das Hinaufreichen der Skrotal- wülste über die Radix penis. Die Art des Urinierens ist mechanisch durch die Hypo- spadie bedingt und nicht als Charakteristikum zu werten. Nicht nachweisbar sind Testes, Samenblasen, Samenleiter, ebensowenig aber sind irgendwelche Anzeichen für das Vorhandensein der inneren weiblichen Genitalien vor- handen. Dagegen soll Erektionsfähigkeit und Ejakulationsfähigkeit bestehen. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß bei K. H. ein eindeutiges Vorwiegen männlicher Geschlechtscharaktere vorliegt und daß infolgedessen auf männ- liches Geschlecht zu erkennen ist. Aus diesem Grunde ist der Antrag der Patientin zu unterstützen, daß im Namen- register Karola in Karl umgewandelt wird, daß sie die Erlaubnis erhält, Männer- kleidung zu tragen und ihre Lebensweise der männlichen entsprechend einzurichten, schließlich, daß nach Maßgabe der zuständigen Stellen ihre Meldung zum Heeresdienst berücksichtigt wird, da nichts dagegen spricht, daß sie den im Heeresdienst gestellten Erfordernissen nicht gewachsen sein könnte. Allerdings wäre es wünschenswert, daß sie im Falle ihrer Einstellung von der gemeinschaftlichen Genitaluntersuchung befreit bliebe, damit gegenüber den Kame- raden der Patientin im Hinblick auf ihre etwas abweichende Körperbeschaffenheit keine Unannehmlichkeiten entstehen. Wie berechtigt dieser Hinweis ist, zeigt das Schicksal des folgen- den Hermaphroditen, der kurze Zeit nach seiner Geschlechtsberich- tigung Soldat wurde. Da man jedoch weder beim Baden, noch bei körperlichen Untersuchungen auf seine Anomalie die geringste Rücksicht nahm, verfiel er durch diese gröbliche Verletzung seines Schamgefühls in eine tiefe Depression, die ihn dem Selbstmord nahe brachte. Der Fall ist auch noch in weiterer Beziehung sehr beachtens- wert. Die Person hatte nämlich aus freien Stücken ihre Umkleidung als Dame vorgenommen, sich die Haare kurz schneiden lassen und die ihr verhaßte Frauentracht verbrannt. Die Eltern erklärten sich schließlich wohl oder übel damit einverstanden, nicht so die Behörde. Ihre Ungelegenheiten wurden noch vermehrt, als der von der Polizei um seine Meinung ersuchte Kreisarzt den eigenmächtigen Schritt der E. für nicht berechtigt erklärte. Wie sehr war doch in dieser Hinsicht das alte preußische Landrecht aus Friederizianischer Zeit dem jetzt gültigen Gesetz oder richtiger der jetzigen Gesetzlosigkeit überlegen. In dem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, welches am 1. Januar 1900 in Kraft getreten ist, sind nämlich die 62 L Kapitel: Hermaphroditismus Bestimmungen in Wegfall gekommen, welche sich im alten all- gemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (das seit 1. Juni 1794 Gültigkeit hatte) über Personen zweifelhaften Geschlechts be- fanden. Die 19—23 des alten preußischen Landrechts lauteten: § 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Eltern, zu welchem „Geschlecht sie erzogen werden sollen. § 20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem 18. Jahre die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle. . • « § 21. Nach dieser Wahl werden seine Recht© künftig beurteilt. § 22. Sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlecht eines ver- meintlichen Zwitters abhängig, so kann ersterer die Unter- suchung durch Sachverständige beantragen. § 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch gegen die Wahl des Zwitters und seiner Eltern. Dieser Abschnitt wurde im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch gänzlich eliminiert mit der Begründung, daß die Annahme der Existenz menschlicher Zwitter sich wissenschaftlich als ein Irrtum erwiesen hätte. Kaum drei Jahre waren nach dem Fortfall dieser Bestimmungen vergangen, als zum ersten Male auch für den Men- schen mit absoluter Sicherheit Fälle echten Zwittertums, also Hoden- und Eierstocksgewebe bei ein und derselben Person fest- gestellt wurden. Der Unterzeichnete ist aufgefordert worden, über die Geschlechtszugehö- rig k e i t des am 8. 12. 1899 zu Berlin geborenen Kindes des Restaurateurs Max Ritter und seiner Ehefrau Ursula, ein Gutachten abzugeben. Veranlaßt wurde dieses Gut- achten dadurch, daß die bis zum 5. 3. d. J. als Mädchen lebende Margarete Ritter über ihre Zurechnung zum weiblichen Geschlecht immer niedergedrückter wurde. Sie verließ seit bald 12 Monaten nicht mehr das Haus, fühlte sich tief unglücklich und war ent- schlossen, „aus dem Leben zu scheide n", wenn es ihr nicht endlich gestattet würde, als Mann weiterzuleben. Ganz besonders hatte sich dieses Verlangen verstärkt, seit sie im vorigen Sommer auf einer Erholungsreise im Riesengebirge vorübergehend an der böhmischen Grenze festgenommen wurde, weil man sie fälsch- licherweise für einen Spion in Frauenkleidung hielt. Schließlich gaben die Eltern dem stürmischen Drängen ihres Kindes nach; sie legte männliche Kleidung an, ließ sich die langen Haare abschneiden und nach männlicher Art stutzen und ver- tauschte ihren Vornamen Margarete mit Max. Der junge Ritter fühlte sich wie ver- wandelt, war mit einem Schlage, wie die Mutter sich ausdrückte, „ein ganz anderer Mensc h", und alles wäre in bester Ordnung gewesen, wenn nun nicht noch die Einwilligung der Behörde und die Umschreibung im standesamtlichen Register erforderlich gewesen wäre. Es wurde zu diesem Zweck von der Regierung in Potsdam ein kreisärztliches Attest gefordert. Dieses lautete nun aber dahin, daß der weibliche Anteil an der Geschlechtsbildung überwiege, die Beckenbildung sei eine weibliche, auch der Gesichtsausdruck und ebenso die Sprache seien weiblicher Natur, die1, großen weib- lichen Schamlippen seien vorhanden, nur münde die Harnröhre in der Scheide, die Schamhaare umgeben die Geschlechtsteile kreisförmig. Die Klitoris sei zwar ziemlich groß und erinnere an einen Penis; auch befände sich in der rechten Schamlippe ein t Kapitel: Hermaphroditisnius ß3 verschiebliches Gebilde, welches als Hode angesprochen werden könnte. Brüste seien nicht vorhanden. Da mithin, im ganzen genommen, die weibliche Geschlechtsbildung im Übergewicht sei, sähe sich der Kreisarzt nicht in der Lage, zu entscheiden, ob Fräulein R. berechtigt sei, in Zukunft einen männlichen Namen zu führen. R. gibt an, daß er bei der Untersuchung nach seinen seelischen Neigungen und Eigenschaften, sowie nach seinen sexuellen Empfindungen nicht gefragt worden wäre. Das kreisärztliche Attest stand im Widerspruch mit einem vorher von Sanitätsrat Dr. S c Ii. in Charlottenburg ausgestellten, das kurz und bündig lautete: „Fräulein Margarete Ritter, geb. 8. 12. 99, wurde heute ärztlich untersucht. Ich konstatierte, daß sie männlichen Geschlechts ist. Der rechte Hoden ist entwickelt in dem zur Hälfte vorhandenen Hodensack. Das männliche Glied ist vollständig ent- wickelt. Die Blasenöffnung ist am Damm und täuscht Scheidenöffnung vor. Eine Gebärmutter ist nicht vorhanden, j Ich bescheinige hiermit, daß das angebliche Fräulein Ritter ein Mann ist." Um die durch die beiden Atteste nicht beseitigten Zweifel, Widersprüche und Bedenken zu lösen, wurde ich nun mit Rücksicht auf die spezielle Erfahrung, die ich im Laufe vieler Jahre auf dem vorliegenden Gebiet gesammelt habe, aufgefordert, auch meine Sachverständigenmeinung zu äußern. Zu diesem Zweck seien, um über die Geschlechtszugehörigkeit des Exploranten ein abschließendes Urteil zu fällen, zunächst die Geschlechtsteile, dann die übrigen körperlichen Geschlechtsmerkmale, dann auch der Geschlechtstrieb und die übrigen seelischen Geschlechtscharaktere einer Prüfung unterzogen. Über die Abstammung R.s ist zu bemerken, daß sie von gesunden Eltern stammt; eine mir bekannte Schwester von 24 Jahren lebt und ist gesund, zwei Ge- schwister starben. Er wurde in Steißlage geboren. Es war eine schwere Ent- bindung, wie überhaupt von den vier Entbindungen der Frau R. drei abnorme Lage zeigten, nur das älteste Kind wurde in Kopflage geboren, das zweite befand sich in Quer-, das dritte in Steiß-, das vierte in Fußlage. Die Mutter der Mutter hatte 13 Kinder. Frau R. erinnert sich, daß sich nach der Geburt des Kindes der Arzt und die Hebamme besprachen und dann entschieden, das Kind sei ein Mädchen, wenn auch nicht völlig normal gebaut. So wurde denn das Kind als Mädchen aufgezogen, besuchte bis zum 15. Jahr die Mädchenschule und wurde auch als Mädchen in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche konfirmiert. Kinderkrankheiten machte sie nicht durch, nur schielte sie, was eine Augenoperation erforderlich machte, und hatte vom 10. bis 13. Jahr viel Kopfschmerzen. Das Kind entwickelte sich gesundheitlich gut, kam jedoch im Laufe des letzten Jahres, wo es wegen seines seelischen Zwiespalts nicht mehr das Haus verließ, sehr herunter. Seitdem er „um- gewandelt" ist und weiß, daß er nicht mehr auffällt, macht er täglich weite Spazier- gänge und hat sich schon gut erholt. Die erste und zweite Zahnung gingen normal vonstatten. ) Die eingehende Untersuchung ergibt zur Zeit folgenden Befund: a) Geschlechtsorgane:. Es findet sich bei R. ein Geschlechtshöcker von der Größe und Dicke eines mittleren Daumens. Derselbe zeigt eine deutlich abgesetzte Eichel; über dem Sulcus coronarius bemerkt man eine schnittartige Furche. Dieses Glied ist nicht durchbohrt, zeigt aber in der Mitte der unteren Fläche eine offene Rinne, die von der Eichelspitze nach dem Damm zu zwischen den beiden Scham- wülsten verläuft. Das Glied ist erektil, abends im Bett wird es oft fest und hart. Die Harnröhrenrinne mündet in einer Mulde, in welcher sie unmittelbar in die Harnröhre übergeht. Von den beiden Wülsten, deren Haut quergerunzelt und behaart ist, ist der linke leer, der rechte zeigt ein bewegliches Gebilde von der Form und Größe eines Hodens. Bei der Rektaluntersuchung ist kein Körper, der als Uterus oder Prostata gedeutet werden könnte, fühlbar. Der Ausscheidungsgeruch des Genitalapparates ist männlich, der Behaarungstypus dagegen triangulär. I 04 I. Kapitel: Hermaphroditismus b) Die übrigen körperlichen Geschlechtsmerkmale zeigen ein vollkommen männliches Gepräge. R. ist 1,69 m groß, wiegt 120 Pfd., Muskeln sind kräftig, er konnte mit Leichtigkeit 12 Klimmzüge machen, das Fleisch fühlt sich fest an, Fettpolster ist gering, die Schritte sind groß und fest. Seit früher Jugend pfeift er gern. Die Haut zeigt ziemlich viel Aknepusteln. Das Haupthaar steht dicht und fühlt sich hart an. Unterarm und Bein sind stark behaart, Seit kurzem wird auch ein Bartflaum sichtbar. Die Gefaßerregbar- keit ist gering. Er errötet sehr selten. Schmerzen werden gut vertragen. Hände und Füße sind verhältnismäßig groß, so daß er männliche Schuh- und Hand- schuh n u m m e r n (41,6 und 7*/2) trägt. Seine Handschrift ist sehr deutlich zeigt kräftige Abstriche und wurde von einem über den Fall ununtemchteten Schreibsach- verständigen männlich genannt. Er ist rechtshändig. Die Hüften sind im längsten Durchmesser etwas weniger breit wie die Schultern. Die Brüste sind platt, Brustwarzen klein; es besteht keine Spur eines weiblichen Brustdrüsenkörpers. Ohren sind mittelgroß, Blick ist fest, das Auge ist ein wenig träumerisch. Hinsichtlich des Geruchs besteht eine Ab- neigung gegen Parfüms, hinsichtlich des Geschmacks eine Vorliebe für stark «ewürzte Speisen. Den Gesichtsausdruck zeigt die beigefügte Photographie. Ich halte ihn im Gegensatz zu der Auffassung des Kreisarztes mehr für männlich als weiblich doch lehrt die Erfahrung, daß in dieser Hinsicht die Auffassungen vielfach divergieren. Der Kehlkopf tritt am Halse deutlich hervor. Die Stimme ist tiefer wie der weibliche, wenn auch etwas höher wie der männliche Durchschnitt. c) Die geistigen Eigenschaften zeigen in Übereinstimmung mit dem körperlichen Befund ein ganz männliches Verhalten. Schon als Kind wollte , Grete" nichts von Mädchenspielen, Kochen, Puppen, Handarbeiten wissen. Sie be- vorzugte Knabenspiele, wünschte sich vor allem Eisenbahnen, Sol- daten, Pferd und Wagen. Putz, weiblichen Zierat und Schmuck mochte sie nicht leiden; die Mutter erzählt, „daß sie furchtbar viel Wäsche (Untertaillen, weib- liche Hemden) zerrissen hat"; auch das Korsett ging immer rasch „kaput", er gab nichts auf seine weiblichen Kleider, sah nicht in den Spiegel und ließ andere das Nötige besorgen, jetzt, seitdem er „Mann" ist, kauft er sich alles selbst, ist eitel geworden und hält sich so adrett und sauber, wie er es als Mädchen nicht zuwege brachte. Seine Interessen nahmen eine ganz männliche Ent- wicklung. In der Schule war er sehr fleißig und gewissenhaft, saß immer in der ersten Reihe; seine Lieblingsfächer in der Schule waren Turnen, Rechnen, Schreiben, Naturkunde und Geographie. Für die Wirtschaft hatte er nichts übrig, dagegen lernte er früh Billard und Karten spielen, lief Rollschuh und interessierte sich sehr für Sport, besondersRennsport. Schon „als Mädchen von 15 Jahren" setzte er auf Pferde, die nach seiner Meinung gewinnen würden. Sein Gemüt ist gleichmäßig ruhig, er ist verschwiegen, neigt nicht zur Geschwätzigkeit ist aber etwas mißtrauisch und prüfend. Er ist sparsam, pünktlich, wahrheitsliebend und ordentlich. Sein Wille ist stark, er interessiert sich für wissenschaftliche Bücher, liest fleißig Zeitungen, verfolgt die Zeitereignisse. Er raucht gern. Im Trinken ist er mäßig. R., der die Handelsschule besucht, möchte gern einen kaufmännischen Beruf ergreifen; am liebsten Buchhalter oder Korrespondent. Er würde auch gern SoldatwerdenundhätteauchkeinBcdenkeninden Krieg zu gehen. Das einzige, was ihm unangenehm wäre, ist der Umstand, daß er nicht wie andere Soldaten austreten könnte, da er infolge der Mündung seiner Harnröhre nur sitzend oder hockend Wasser lassen könne; dies müßte den Kameraden auffallen. Er bevor- zugt in Farbe und Schnitt nicht auffallende Kleidung. Sein Tascheninhalt besteht aus Brieftasche, Feuerzeug .und Taschentuch. d) Eine sexuelle Betätigung mit einer zweiten Person hat bei dem im 17. Jahre befindlichen R. noch nicht stattgefunden, doch wurden gelegentlich ona- nistische Manipulationen an dem Geschlechtshöcker vorgenommen, bei denen unter Vorstellung der Umarmung eines Mädchens ein Orgasmus, aber keine Ejakulation ein- I I. Kapitel: Hermaphroditismus 65 trat. Die seelischen Liebesempfindungen sind deutlich auf das weibliche Geschlecht gerichtet. Namentlich zu 18- bis 20jährigen Mäd- chen, die, wie er sagt, „eine schlanke Figur, zierliche Hände und Füße, ein hübsches Gesicht, hübsche Augen und vor allem üppiges, dunkelbraunes Haar" haben, fühlt er sich hingezogen. Er möchte gern ihre Bekanntschaft machen und fühlt sich in ihrer Gesellschaft wohl. Vor Männern schämt er sich weniger als vor Frauen. Es ist sein Wunsch, sich später einmal zu verheiraten und ein glückliches Eheleben zu führen. Sein Sexualtrieb zeigt im übrigen keiner- lei Abweichung von der Norm und völlig das Verhalten, wie es einem Jüngling seines Alters entspricht. Wir gelangen zu folgendem Schluß: , a) Die Geschlechtsorgane R.s sind überwiegend männlich; er besitzt ein männliches Glied, einen Hoden, keine Gebärmutter, keine Eierstöcke und keine Scheide. b) Die übrigen körperlichen Geschlechtsmerkmale sind männlich; vor allem zeigen Körperbehaarung und Kehlkopf in positiver, Brust- und Beckenbildung in negativer Beziehung den virilen Typus. c) Das Geschlechtsempfinden und der Geschlechtstrieb ist männ- lich; R. fühlt sich geschlechtlich subjektiv als Mann und sieht die objektive Er- gänzung seiner Persönlichkeit im Weibe. d) Die übrigen seelischen Geschlechtsmerkmale sind männ- lich. Von Kindheit an bevorzugte er die Spiele und Gewohnheiten, Beruf und vor allem die Tracht männlicher Personen, während er Kleidung, Geschmacksrichtung und Lebensführung weiblicher Personen für seine eigene Person ablehnte. Hiernach kann es auch nicht mehr dem geringsten Zweifel unterliegen, daß bei der früheren Margarete Ritter eine irrtümliche Geschlechtsbestimmung vorliegt, deren schleunige Berichtigung im Standesregister ebensosehr vom Standpunkt der Wissenschaft, als dem der Menschlichkeit gefordert werden muß. In vieler Beziehung ein Seitenstück zu dem leztgeschilderten ist der folgende Fall, der namentlich auf psychologischem Gebiet viel Beachtenswertes bietet. Bezeichnend ist, wie der Vater, ein Haupt- lehrer, sich bemüht, seiner Tochter, die in Wirklichkeit ein Sohn ist, das jungenhafte Benehmen auszutreiben. Mitte Mai 1916 suchte mich Frau Emma Z. aus Berlin mit ihrer 15jährigen Nichte Maria Margarete (bisheriger Rufname Gretchen) auf, die seit einiger Zeit bei ihr zu Besuch weilte. Sie sei, wie sie mir mitteilte, von der Mutter des Kindes schriftlich ersucht worden, durch ärztliche Untersuchung feststellen zu lassen, ob ihr Kind ein Knabe oder Mädchen sei. Bis vor einem Jahre hätte sie niemals Zweifel gehabt, daß Margarete ein Mädchen sei; Arzt und Hebamme hätten es ja auch bei der Geburt als solches angegeben. Vor Jahresfrist etwa hätte sie aber das Kind im Schlaf aufgedeckt gefunden und dabei zu ihrem Schreck eine Entdeckung gemacht — vermutlich handelte es sich um nächtliche Erektion — die in ihr Bedenken erweckt hätten, die sie seitdem nicht mehr verlassen hätten. Margarete gab bald darauf der Mutter an, daß sie gelegentlich „Steifigkeiten" an ihrem Körper wahr- genommen hätte; man erklärte ihr, daß es sich da wohl um einen Bruch handelte; bei dieser Annahme hätte man sie bisher belassen. Dementsprechend habe man ihr gesagt, daß sie wegen der Wahl eines Berufs ärztlich untersucht werden sollte. Herr Sanitätsrat Dr. A 1 e s c h in Berlin, zu dem sich die Tante zunächst begab, gab der Meinung Ausdruck, daß nach dem Bau der Genitalien Margarete wohl ein anormaler Knabe sein dürfte, hielt es aber für ratsam, einen Arzt zu Rate zu ziehen, der sich speziell mit solchen Fällen beschäftigt hätte. Er wies sie deshalb an mich. Wie die Tante berichtet, scheut der Vater, welcher Hauptlehrer in einer kleinen schlesischen Ortschaft ist, sehr das Aufsehen, den Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 5 66 I. Kapitel: Hermaphroditismus ein etwaiger Geschlechtswechsel des Kindes in den ihm nahe- stehenden Kreisen verursachen könne. Aus diesem Grunde hätte er die Angelegenheit zur Erledigung nach hier überwiesen. Die Mutter schreibt, daß sie es nicht hätte über sich bringen können, zuerst mit dem Kinde davon zu sprechen, daß es möglicherweise kein Mädchen sei. Die Erziehung, die ganz auf die eines Mädchens zugeschnitten gewesen sei, hätte ihr oft genug Schwierigkeiten gemacht, weil das Kind so jungenhaft gewesen sei; sie werde froh sein, „wenn sie ihre Natur nicht mehr zu verleugnen braucht", '"in der Schilderung, die die Tante von Gretchen entwirft, heißt es: „Sie ist ein gutmütiger Kerl"; sie hat wenig Lust, zu den Eltern zurückzukehren. Bei uns kann sie mehr ihren Neigungen nachgehen. Wir sind Besitzer eines Luxusfuhrwesens, und es ist ihre größte Freude, meinem Manne behilflich zu sein. Da sie eine große Tierfreundin ist und eine spezielle Vorliebe für Pferde hat, findet sie hier immer Anregung sich zu betätigen. Als sie erst wenige Tage bei uns war und wir keine Ahnung von ihrer^Körperbeschaffenheit hatten, sagte mein Mann scherzend zu ihr: „Mädel, es ist schade, daß du kein Junge bist, du müßtest Inspektor bei mir werden." Sie hatte auch immer den Wunsch, die Land- wirtschaft zu lernen. Status praesens: Maria Margarete Z. wurde am 27. 5. 1900 zu Sch. als 5. Kind des Hauptlehrers Paul Z. und seiner Ehefrau Therese, geb. L., geboren und am 5. 2. 1910 katholisch getauft. Bei ihrer Geburt war der Vater 37, die Mutter 35 Jahre. Beide Eltern leben noch und sind gesund. Die 4 Geschwister, die vor ihr geboren wurden, waren Knaben. Daher wünschte sich die Mutter vor ihrer Geburt ein Mädchen, nach ihr wurden noch 2 Mädchen geboren. Sie gibt an, daß sie körperlich und geistig mehr der Mutter ähnlich sei, an der sie auch mehr hängt, als an dem- strengeren Vater. Dieser hat sie wegen ihres eigentümlichen Wesens und mangelhaften Lernens oft heftig geschlagen. Erbliche Belastung ist nicht nachgewiesen, die Lebens- weise der Eltern war auch in jeder Beziehung mäßig; namentlich ist weder Alkoholis- mus, Lues, noch sonst ein die Heredität im ungünstigen Sinne beeinflussender Um- stand vorhanden. Margarete wuchs im Elternhause auf, an Kinderkrankheiten und Kinderfehlern litt sie kaum, bezüglich der Kinderspiele bevorzugte sie Pferde - und Sol- datenspiele, war aber auch Mädchenspielen, wie Kochen und Puppen, nicht ab- geneigt; aus Handarbeiten machte sie sich weniger, am liebsten waren ihr Kreis- spiele, Greifen, Verstecken. Bis in die Reifezeit kam ihr nicht der Gedanke anders zu sein als andere Mädchen, immerhin fielen öfter Bemerkungen von Erwachsenen, daß an ihr eigentlich ein Junge verdorben sei. Die Frage, ob sie Soldat werden möchte, bejaht sie lebhaft unter dem Hinzufügen, „am liebsten Kavalleris t". , Gegen die Mädchenkleider bestand kein auffallender Widerwillen, sie hatte sogar „hübschen Staat" ganz gern, auch war Vorliebe für süße Speisen vorhanden. Ihr Wesen war gleichmäßig, ruhig; keinesfalls hätte man sie als nervöses Kind bezeichnen können. Sie ist weder eitel, noch ehrgeizig, weder redselig, noch neugierig. Ihr Ge- dächtnis ist leidlich gut, Phantasie gering. Körperliche Arbeit hegt ihr mehr als geistige. Bezeichnend ist auch, daß sie sich vor männlichen Personen, wie Ärzten, ungeniert nackt zeigt, während sie sich vor einer anwesenden Krankenschwester sichtlich schämt. Recht bemerkenswert war, wie sie bei der ersten Untersuchung mit höchster Spannung das Ergebnis erwartend mit der Frage herausstürzt: „,Herr Doktor, bin ich ein Junge?" Trotzdem sie der Entscheidung des Arztes in keiner Weise vorzugreifen suchte, tritt doch aus ihrem Verhalten unverkennbar zutage, daß das Gefühl, dem männlichen Geschlecht anzu- gehören, bei ihr das vorherrschende ist; so berichtet sie, daß sie sich für den Fall, daß sie ein junger Mann sei, bereits den Vornamen Günter ausgesucht habe. Ein eigentlicher Geschlechtstrieb scheint bisher bei ihr noch nicht vorhanden zu sein. Auf vorsichtiges Befragen äußert sie sich dahin, daß sie sich weder zu, männlichen, noch zu weiblichen Personen sexuell hingezogen fühlt. Auch autistische Handlungen, wie Onanie, Automonosexualismus, scheinen nicht vorzuliegen. Körperlicher Befund, a) Allgemeinzustand: Margarete Z. ist für ihr Alter sehr groß und stark. Die Körperlänge beträgt 17a cm, das Ge- wicht 120 Pfund, die Muskeln sind kräftig, das Fleisch fühlt sich fest an Ihre Be- wegungen tragen mehr männlichen Typus, ihr Gang ist gerade, stramm, Schritte fest, ein Drehen in den Schultern, Hüften oder in der Kopfhaltung findet nicht statt. Besonders die A u f s c h w u n g b e w e g u n g e n , wie sie sich bei- spielsweise mit einem schnellenden Ruck auf den Unter- suchungsstuhl schwingt, oder sich aufs Pferd setzt — sie reitet gern — zeigen unverkennbar männlichen Charakter. Sie pfeift gern und gut. Das Haupthaar reicht bis zu der Hüfte. Das einzelne Haar fühlt sich hart an. Hände und Füße sind groß; die Körperlinien mehr eckig. Die Brüste sind glatt, die Brustwarzen verhältnismäßig eckig. Ein Anschwellen der Brüste konnte bei Eintritt der Reifezeit — die sich durch das Erscheinen der Pubes kenntlich machte — nicht bemerkt werden. Ebensowenig trat eine Menstruation auf. Dagegen vertiefte sich um diese Zeit die Stimme merklich, was die noch ahnungslose Umgebung aber nicht für Stimmwechsel, sondern für Heiserkeit hielt. Die Hüften machen dem Augen- schein nach einen weiblichen Eindruck, man darf aber nicht außer acht lassen, daß die Kleine schon längere Zeit ein Korsett trägt, wodurch sich die Taille deutlicher abhebt; der Beckengürtel ist kleiner als der Schultergürtel, was dem männlichen Habitus entsprechen würde. Die inneren Organe sind gesund. b) Genitalbefund: Über die Genitalunlersuchung, die ich gemeinsam mit meinem Bruder Dr. Immanuel Hirschfeld und Dr. Alfred Seelig 1S) vornahm, gebe ich das wörtliche Protokoll des letzteren: „Am 5. Juni 1915 wurde ich von Herrn Dr. Magnus Hirschfeld, In den Zelten 19, zu einer gemeinschaftlichen Konsultation in seiner Sprechstunde gebeten. Bei der Untersuchung der Patientin waren zugegen: 1. Dr. Magnus Hirschfeld, 2. dessen Bruder, der Arzt Dr. Immanuel Hirschfeld und 3. Dr. Seelig. Patientin ist Herrn Dr. Hirschfeld von einem anderen Arzt zur Feststellung des Geschlechtscharakters uberwiesen worden. Das junge Mädchen gibt auf Befragen an, 15 Jahre alt zu sein Das Madchen ist sehr groß und kräftig gebaut. Zunächst ist sie etwas scheu und ängstlich, zeigt sich aber nach kurzer Unterhaltung als eine sehr verständige und offene Person. Sie gibt an, kürzlich Stimmwechsel durchgemacht zu haben. Die Stimme klingt wie die ei nes Knaben, der sich im Stimmwechsel befindet. Der Thorax ist kräftig gebaut, die Schultern sind auffallend breit die Mammae zeigen absolut keine Entwicklung, die Brustwarzen sind nicht prominent von vollständig männlichem Typus. Dagegen erscheint im Stehen das Becken breit gebaut, hat scheinbar weib- lichen Charakter. Die Entwicklung des Panniculus adiposus an den Nates ist voll- ständig weiblich. Die Taille ist ebenfalls weiblich. Jedoch zeigt der Bau der unteren Extremitäten männlichen Typus, insbesondere die Waden. Schnurrbart oder sonstige Behaarung im Gesicht nicht vorhanden. Die Genitalien sollen sich angeblich vom 9. Lebensjahre — nach einem Fall — verändert haben. Die Schamhaare sind reichlich entwickelt. Die großen Labien sehen nicht wie Labien aus, sondern haben die Form eines in der Mitte gespaltenen Skrotums. Statt einer Klitoris ist ein Körper vorhanden, der vollständig das Aussehen eines Penis eines ca. 8jährigen Knaben hat. An der Spitze dieses Gliedes befindet sich eine Einziehung von der Größe eines Stecknadelkopfes Es scheint sich jedoch nicht um einen Kanal zu handeln. Kleine Labien sind nicht vor- handen. Es fehlt ein Hymen. Es fehlt überhaupt der Eingang zu einer Vagina. Ca. 1 bis H/2 cm unterhalb der Wurzel des oben genannten Gliedes befindet sich eine ") Ich bemerke, daß ich bei meinen sämtlichen Hermaphroditen-Unter- suchungen, angesichts der Wichtigkeit der Fälle, Kollegen hinzuziehe. 08 kleine Öffnung, aus welcher — bei der Aufforderung zum Urinieren — der Urin in kleinem Strahl herauskommt. Die Mastdarmuntersuchung ergibt folgenden Befund: Starke Verstopfung; Uterus, Tuben und Ovarien nicht zu fühlen. In dem linken Labium. bzw. Skrotum befindet sich ein Körper, der sich wie ein Testis anfühlt. In dem rechten Skrotum ist ein Körper nicht zu fühlen, auch nicht im rechten Leistenkanal. Sehr charakteristisch ist die Haut der großen Labien, welche sich durch auffallende Runzelung aus- zeichnet und dadurch vollständig das Aussehen einer Skrotalhaut hat. Da der Darm mit Stuhlmassen angefüllt ist, wird beschlossen, an einem späteren Termin eine nochmalige exakte Untersuchung auf dem Operationstische meiner Klinik vorzunehmen und bei dieser Gelegenheit Fräulein Z. zu photographieren. Dies geschieht am 6. 6. 1915 in Gegenwart des Herrn Dr. M. Hirschfeld und der Oberschwester Anna Raddatz. Bei der Rektaluntersuchung läßt sich einwandfrei das Fehlen eines V a g i n a 1 s c h 1 a uc h e s , eines Uterus, der Tuben und Ovarien feststellen. Mit dem Harnkatheter gelangt man durch die oben erwähnte Öffnung, aus welcher der Urinstrahl hervorquoll, in die Blase und der touchierende Finger kann nun durch das Bektum sehr deutlich die Spitze des Katheters fühlen und feststellen, daß zwischen Bektum und Blase nur eine ganz dünne Tren- nungswand sich befindet, daß Blase und Rektum eng aneinander grenzen. Einen Prostata ähnlichen Körper konnte ich nicht feststellen. Sehr interessante Resultate ergab nun die Messung der Beckenmaße mit dem Tasterzirkel: Dist. spin. ant. sup. 24,5; Dist. crist. 25; Dist. Tro- chant. 30; Conj. ext. 16,5. Schulterbreite: 33. So hatte also bei dem ersten Aspekt der Schein getrügt. Die Messung ergibt also ein vollständig männliches Becken! Fräulein Z. ist 1,73 m groß. Halsumfang 39. Ganz charakteristisch sind die Be- wegungen des Fräulein Z. Während die meisten Frauen beim Besteigen des Unter- suchungstisches sich fast stets zuerst mit der Bauchseite hinlegen und dann sich auf den Bücken drehen, springt diese Person auf den Untersuchungstisch wie ein Knabe beim Turnen auf den sog. ,Bock'. Als dem Fräulein Z. von uns Ärzten eröffnet wird, daß sie nunmehr als Knabe gelten kann, ist sie äußerst glücklich; gefragt, welchen Namen sie nunmehr führen möchte, sagte sie sofort: .Günter'." Zusammenfassung: Es fehlen von charakteristischen Zeichen des weib- lichen Geschlechts Klitoris, Vagina, Uterus, Tuben, Ovarien, Menstruation, Mammae. Statt dessen sind vorhanden hodenartige Gebilde in den an der Stelle der Ge- schlechtswülste vorhandenen Erhöhungen, in denen wir aber sowohl große Labien, wie die Hälften eines gespaltenen Skrotums, erblicken können; ferner ein penisartiges Gebilde, männliches Becken, männliche Stimme, Behaarung, männliches Bewußtsein. Mithin überwiegen die männlichen Geschlechtscharak- tere in so hohem Grade, daß die Wahrscheinlichkeit, daß Maragarete Z. ein Mann ist, sehr viel größer ist als die, daß sie dem weiblichen Geschlecht angehört. Alle bisher geschilderten Fälle von Geschlechtsberichtigung trugen sieh im Verlauf der Geschlechtsreife. oder „zur Zeit der ersten Liebe" zu. Außer in diesen beiden Zeitperioden tauchen Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit am häufigsten im ersten Lebens- jahre auf. Auch hier verfüge ich über eine Reihe sehr bemerkens- werter eigener Beobachtungen. Zunächst folgender Fall: Dem Ehepaar Paul Z., 26 Jahre alt, und seiner Frau Elisabeth, geb. B., 24 Jahre alt, zu Berlin, wurde am 9. März 1914 das erste Kind geboren. Die Hebamme teilte mit, daß es ein Mädchen sei, und der Vater ließ es mit den Vornamen Käthe, Bertha, Meta in das Standesregister eintragen. Als die Mutter das Wochenbett verlassen hatte, bemerkte sie eine Schwellung an den Geschlechtsteilen des Kindes; sie suchte 69 darauf einen Arzt auf, der nach Untersuchung der Geschlechts- teile Bleiumschläge verordnete. Bei einem späteren Besuche riet der Arzt, Essigwasserumschläge zu machen, und beruhigte die Frau, welche äußerte, daß ihr die Geschlechtsteile nicht ganz richtig vorkämen, dahin, daß das Kind ein ganz normales Mädchen sei; bis es erwachsen wäre, würde alles in bester Ordnung sein. Die Eltern hatten darauf hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit des Kindes keine weiteren Zweifel. Als aber die Mutter mit dem Kinde einige Wochen später in die Säuglingsfürsorge ging, um dort wegen seiner Ernährung und Pflege Rück- sprache zu nehmen, äußerte der leitende Arzt Dr. Tugendreich seinerseits Be- denken hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit des Kindes. Seiner Meinung nach sei es ein Knabe; er empfahl aber den Eltern, die über diese unerwartete Eröffnung sehr bestürzt waren, sich zur eingehenden Geschlechtsfeststellung zu mir zu begeben. Darauf suchten die Eltern uns Mitte April mit dem nunmehr fünf- wöchigen Kinde in der Sprechstunde auf. Bef und: Käthe Z. ist ein gesundes, seinem Alter entsprechend kräftig ent- wickeltes und gut ernährtes Kind, an dessen inneren und äußeren Organen sich, von den Geschlechtsteilen abgesehen, keinerlei Regelwidrigkeiten nachweisen lassen. Der Gesamtausdruck ist eher ein knabenhafter; doch ist ja dieses Kriterium in so jugend- lichem Alter höchst unzuverlässig, so daß Schlüsse daraus nicht gezogen werden können. (Vgl. Tafel III.) Der Genitalbefund ist folgender: Bei geschlossenen Geschlechtswülsten bemerkt man zwischen diesen — die ihrer anatomischen Lage nach den großen Schamlippen, nach Größe und Gestalt abgerundeten, unterhalb der Symphyse bzw. des Möns veneris vertikal einander anliegenden Paranußkernen entsprechen — einen etwa IV2 cm langen Geschlechtshöcker, dessen Präputium (Vorhaut) die Glans (Eichel) dorsal (auf der Oberseite) zu etwa 2/3 freiläßt. An der Oberhaut der Geschlechts- wülste ist namentlich rechts eine leichte quere Runzelung (charakteristischer für Skrotalhaut) bemerkbar. Etwas unterhalb der Spitze inserierend zweigen, von den Präputialblättern aus- gehend, jederseits — nach unten und lateral sich verjüngend und endlich wieder ver- schmelzend — zwei häutige Blättchen (Frenulae) ab, während die ventrale (Unter-) Seite des Geschlechtshöckers mit einer rinnenförmigen Vertiefung in einen etwa 1 cm tief blind endenden Vaginalschlauch übergeht, der nach dem Damm zu durch eine ganz schmale häutige Kommissur begrenzt ist. Die Mündung der Urethra ist in diesem Bilde nicht zu sehen. Wir konnten aber beobachten, daß der Urin, in Rückenlage des Kindes, aus der Tiefe der Vagina bogen- förmig hervorspritzt, daß die Urethraimündung mithin an der h i n t e r e n Vaginalwand liegen muß. , In beiden Geschlechtswülsten fühlt man ein median gelegenes, etwa hanfkem- großes, konsistentes, jederzeit bewegliches Körperchen, welches beim Palpieren die Neigung zeigt, nach oben zum Leistenkanal hin zu entschlüpfen. Man bemerkt endlich zwei punktförmige Öffnungen neben der Peniswurzel zwischen den Frenulae- Blättern, welche als Mündungen der Vasa deferentia angesehen werden dürften. Bei der analen Palpation fühlt man in der Prostatagegend hinter .der Rektal- schleimhaut einen bohnengroßen Körper. Gutachten: Es ist auf Grund genauer Inspektion und Palpation anzunehmen, daß hier sowohl Reste der Wolffschen wie der Müllerschen Gänge vorhanden sind, Im Anschluß an die blind endende Vagina ist das Vorhandensein eines Uterus- körpers wahrscheinlich, während die in den Geschlechtswülsten fühlbaren Körperchen, die Keimdrüsen, in Verbindung mit den als Orificien der Vasa deferentia zu deutänden Öffnungen zu beiden Seiten des Geschlechtshöckers als männliche Keimdrüsen (Hoden mit Nebenhoden) mit den dazu gehörigen Keimschläuchen aufzufassen sind. Nach dem geschilderten Befunde ist der Fall mit allergrößter Wahrscheinlichkeit als Pseudohermaphroditismus masculinus externus (äußeres männliches Schein- zwittertum) anzusehen. 70 I. Kapitel: Hermaphroditismus Es sprechen dafür folgende sachliche Erwägungen: 1. Diese Form des Scheinzwittertums ist a n s i c h die häufigste und gibt in den meisten Fällen irrtümlicher Geschlechtsbestimmung zu dieser Anlaß. 2. Der Vergleich und die in einzelnen Fällen nahezu völlige Übereinstimmung des äußeren Genitalbefundes mit anderen Fällen von Pseudohermaphroditismus m a s c u - 1 i n u s läßt die Zugehörigkeit unseres Falles zu dieser Form der Geschlechtsübergänge mit denkbar größter Wahrscheinlichkeit folgern. Im einzelnen sprechen dafür noch folgende Umstände: a) Die in den Geschlechtswülsten fühlbaren Körperchen sind ihrer Lage und Konfiguration nach, sowie auch in Verbindung mit den aller Wahrscheinlichkeit nach als Orificien der Vasa deferentia zu deutenden kleinen Löcherchen, als männliche Keimdrüsen (Hoden und Nebenhoden) aufzufassen. b) Die Geschlechtsrinne ist ihrer Konfiguration nach mit gleichfalls größter Wahr- scheinlichkeit als eine Hypospadia peniscrotalis aufzufassen; ihre Fortsetzung auf den Geschlechtshöcker spricht aus Analogieschlüssen mit Wahrscheinlichkeit gegen weibliches Scheinzwittertum. Nach dem Gesagten ist das Kind Käthe Z. mithin mit größter Wahr- scheinlichkeit ein männlicher Scheinzwitter und als solcher männlichen Ge- schlcchts. Für die Änderung der Geschlechtsmatrikel sprechen außerdem wichtige praktische Gründe. Von allen Sachverständigen ist mit Recht betont, daß in etwa doch zweifel- haft bleibenden Fällen eine vorläufige Erziehung des Kindes als Knabe im Interesse seiner Zukunft angezeigt ist, da es durch dieselbe besser auf den bevorstehenden Daseinskampf vorbereitet wird. Es haben sich in diesem Sinne u. a. Neugebauer in seinem fundamentalen Werke über den Hermaphroditismus, Wilhelm in seiner Schrift über „Die rechtliche Stellung des Zwitters de lege lata und de lege ferenda", sowie der unterzeichnete Dr. H i r s c h f e 1 d in früheren Arbeiten ausgesprochen. Unser Gutachten geht demnach dahin: Das Kind Z. ist mit höchster Wahrscheinlichkeit ein Kind männlichen Geschlechts. Daher erscheint eine entsprechende Änderung der Geschlechtsmatrikel aus medizinisch - wissen- schaftlichen Gründen geboten. Der Antrag auf Geschlechtsberichtigung wurde daraufhin durch folgendes, von beiden Eltern unterzeichnetes Schreiben gestellt: Bei dem Kgl. Standes- Amt gestatten wir uns auf Grund des ein- gereichten spezialärztlichen Gutachtens, welches das Geschlecht unseres am 9. März 1914 geborenen und als Mädchen angemeldeten Kindes: Käthe Meta Berta Z. als männlich festgestellt hat, den Antrag zu stellen: „die Geschlechtsmatrikel unseres Kindes möge entsprechend dem ärztlichen Gutachten berichtigt und der Vorname ,Käthc' möge in ,Kurt' abgeändert werden". Mit absoluter Bestimmtheit läßt sich der Nachweis männlichen Keimgewebes zu so früher Lebenszeit nicht erbringen. Erst die Pubertät zeigt, ob die Keimstoffe und sekundären Ge- schlechtscharaktere das angenommene Geschlecht bestätigen. In seinem grundlegenden Werk über „Die innere Sekretion" (Wien und Berlin 1913) vertritt B i e d 1 die durchaus einleuchtende Auffassung, daß alle Fälle äußeren Zwittertums auch mit irgendwelcher Doppelgeschlechtlichkeit der inneren Geschlechtsdrüsen, zum min- I. Kapitel: Hermaphroditismus 71 desten der innersekretorischen Elemente, welche nachweislich die äußeren Geschlechtsmerkmale bestimmen, verbunden sein müssen. Diese Erkenntnis bedingt naturgemäß eine ungemeine Aus- dehnung des Begriffs echten Zwittertums. Praktisch ist eine Entscheidung über die Geschlechtszugehörig- keit nicht allein im Interesse des Kindes, sondern auch indemder Eltern erforderlich, da diese durch die Ungewißheit über das Ge- schlecht ihres Kindes in einen unerträglichen Zustand nervöser Spannung versetzt waren, welchem aus psychischen Gründen ein Ende gemacht werden mußte. Rein wissenschaftlich wäre es in solchem Falle sicherlich gerechtfertigt, das Kind beim Standesamte als unbestimmten oder zweifelhaften Geschlechts an- zumelden. In einem konkreten Falle habe ich vor einigen Jahren in Char- Jottenburg in diesem Sinne mein Gutachten abgegeben. Es lautete: „Ich bescheinige, daß dem Ehepaare Karl St. und Louise geb. G. am 27. Juli vormittags 7,12 Uhr, ein Kind unbestimmten Ge- schlechts geboren wurde. Dem ersten Eindruck nach wurde dasselbe von der Hebamme als Mädchen angesehen, doch kamen derselben wegen des ungewöhnlichen Befundes bald Zweifel in bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit des Kindes, weshalb meine Hinzuziehung als Sachverständiger von ihr befürwortet Wurde. Die Untersuchung ergab, daß die Geschlechtswülste in der Tat keine Hoden enthielten, andererseits jedoch der Geschlechtshöcker so stark entwickelt ist, daß der männliche Charakter überwiegend erscheint Zwischen den Geschlechtswülsten befindet sich jedoch noch ein kleiner Spalt, wie er bei Knaben nicht vorkommt. Man würde bei dem Kinde nun annehmen können, daß es männlich ist mit Peni- skrotalspa.lt und Kryptorchismus, wenn nicht die Erfahrung gelehrt hätte, daß in manchen solcher Fälle die inneren Organe und die spätere Körper- und Geistesentwicklung weiblichen Charakter tragen. Es ist unter diesen Umständen vom wissenschaftlichen Standpunkt aus geraten, das Kind als unbestimmten oder zweifelhaften Geschlechts einzutragen. Aus praktischen Gründen, ferner aber auch, weil äußerlich der männliche Charakter etwas überwiegt, habe ich den Eltern empfohlen, das Kind als Knaben zu erziehen und es Paul Martin, in Klammern: Paula Marta, falls sich später eine Änderung der Metrik vernotwendigen sollte, zu nennen. Ich bemerke noch, daß das Kind im übrigen ein voll- kommen gesundes und kräftiges ist." Tragen die Angehörigen mit Rücksicht auf die heute noch be- stehenden Vorurteile Bedenken, die Anmeldung wie empfohlen, vor- zunehmen1, so erscheint es im Prinzip richtiger, das Kind als männ- lich zu registrieren. Vor allem ist es in solchen Fällen geboten, das In- dividuum männlich zu erziehen, und zwar aus folgenden Gründen: 72 L Kapitel: Hermaphroditismus Einmal scheint es so, als ob sich tatsächlich in der größten Mehr- zahl der bisher bekannten Fälle das bis dahin latente Geschlecht zur Reifezeit nach der männlichen Richtung differenziert. Vor allem aber empfiehlt sich dies aus wirtschaftlichen Gründen. Denn wie die sozialen Verhältnisse heute nun einmal liegen, ist es im Fall einer Fehldiagnose für einen Mann wesentlich leichter, sein Leben als Frau fortzusetzen, wie es für eine weiblich erzogene Person ist, zum Manne sozusagen zu avancieren. Vor allem ist aber eine gesetzliche Restitution der alten, oben bereits im Wortlaut angeführten Bestimmung des preußischen Land- rechts in einer den modernen wissenschaftlichen For- schungen angepaßten Form erforderlich. Wie leicht im vorpubischen Alter, in dem uns weder das Ge- schlechtsbewußtsein Und der Geschlechtstrieb, noch die körperlichen Geschlechtszeichen sichere Anhaltspunkte bieten, Irrtümer in der Geschlechtsbestimmung vorkommen, lehrt die folgende Beobachtung: Im Jahre 1900 wurden mir von einem Kollegen die aus der Leiche ausgeschnittenen inneren und äußeren Geschlechtsorgane eines fünf- jährigen Kindes übersandt. Es war bei seiner Geburt wegen einer d eut- lich vorhandenen Geschlechtsrinne zunächst für ein Mädchen gehalten und als solches standesamtlich eingetragen und getauft worden. Als im 2. Lebensjahr immer stärker ein anfangs kaum sichtbarer „Bürzel" hervortrat und der enge Spalt kaum mehr sichtbar war, erklärte eim Arzt das Kind für einen Knaben, der nicht ganz normal gebaut sei (er diagnostizierte „Hypospadie und Kryptorchismus"). Es erfolgte darauf die Umschreibung und Umtaufe des Kindes als männlich. Im 5. Lebensjahr ging das Kind an Diphtherie zugrunde. Die Unter- suchung des Leichenpräparates ergab, daß das Geschlecht anfäng- lich richtig und später falsch bestimmt war. Der enge Spalt führte in einen sehr schmalen Kanal, an dessen Ende man auf einen Muttermund stieß. Ein gut entwickelter Uterus nebst Tuben und Ovarien war leicht herauszupräparieren. Die vom Kollegen Pick vorgenommene mikroskopische Untersuchung ergab reines Eierstockgewebe. In meiner eigenen Kasuistik ist diese Beobachtung der einzige post mortem sicher gestellte Fall von Pseüdohermaphroditismus femininus internus. Anscheinend ist ja der weibliche Hermaphro- ditismus — außen männliche, innen weibliche Organe — überhaupt viel seltener, als das männliche Scheinzwittertum ; — ich sage an- scheinend, denn meist ist die Täuschung beim Weibe eine viel voll- kommenere, als beim Hermaphroditismus des Mannes; kennen wir doch Fälle, wo es sich, wie in dem oben geschilderten Fall Fibigers, nur um eine Hypospadie zu handeln schien, bis man infolge einer zufällig beantragten Nekropsie entdeckte, daß in dem Endteil der Harnröhre eine Scheide mündete, an die sich eine Gebärmutter, Ei- I. Kapitel: Hermaphroditismus 73 leiter und Eierstöcke schlössen; ja, es ist vorgekommen, wie im Falle Heymanns, daß man mit dem Katheter durch eine regulär mündende Harnröhre nach vorne in die Blase, nach hinten in eine Scheide ge- langte. Infolgedessen kommt kaum jemand auf den Gedanken, daß hinter dieser so überwiegend männlichen Front weibliche Geschlechtsorgane stecken könnten, weder bei Lebzeiten, noch auch nach dem Tode, namentlich wenn auch die sekundären Ge- schlechtsmerkmale männlich sind, beispielsweise ein Bart vorhanden ist. Auch fühlt sich ein fälschlich für einen Mann gehaltenes Weib im allgemeinen weniger bemüßigt, sein Geschlecht berichtigen zu lassen, als ein Mann, der bei völligem Mannesbewußtsein verurteilt ist, die Bolle eines Weibes durchzuführen. Mit der schwierigeren Geschlechtsfeststellung bei weiblichen Hermaphroditen hängt es auch zusammen, daß unter ihnen die Fälle besonders häufig sind, in denen nach dem Tode die größten Über- raschungen vorkamen oder in denen eine Person ihr Geschlecht nicht nur einmal, sondern zweimal und öfter ge- wechselt hat. Wir sahen das in dem eben geschilderten Falle. Als Seitenstück zu diesem sei kurz die Lebensgeschichte von Elisabeth Wilhelm Moll erwähnt, einem in mehr als einer Hinsicht bemerkenswerten Zwitter. Dr. Heinrich Gunkel berichtet ausführlich über ihn in seiner Doktordissertation 14). „Im Dorfe Ellershausen lebte im Jahre 1884 eine Person, die damals 48 Jahre alt war. Sie galt bei ihrer Geburt als Mädchen und erhielt den Namen Elisabeth. Bald nach der Geschlechtsreife fiel ihre starke Zuneigung zu Frauen auf, schließlich hieß es im ganzen Dorf, sie habe ein Verhältnis mit ihrer Stiefmutter, das nicht ohne Folgen geblieben sei. Jetzt schritt die Gendarmerie ein — i es war im Jahre 1863 — und die Behörde ließ das Individuum von einem Arzt (Sanitätsrat Dr. Heinemann in Frankenberg) untersuchen, der erklärte, bei p. Moll sei der männliche Typus sowohl örtlich an den Geschlechtsteilen, als auch im gesamten Körperbau vorherrschend, nur litte sie an Hypospadie. Sie wurde darauf nochmals getauft, erhielt den Namen Wilhelm und wurde in das Kirchenbuch als Elisabeth Wilhelm eingetragen. Auf ihren Wunsch wurde aber durch Regierungsverfügung dem nunmehr zum Manne erklärten Individuum die Erlaubnis erteilt, die weibliche Kleidung weiter tragen zu dürfen'." Im Jahre 1S84 wurde sie wegen eines schweren Schlaganfalls in die Marburger Klinik aufgenommen. Günsel schreibt: „Die p. Moll machte bei der Untersuchung und weiteren Beobachtung durchaus den Eindruck eines Mannes. Sie wurde auf die Männerabteilung gelegt, durfte aber auf ihren Wunsch weib- liche Kleidung tragen. Auch beließ man ihr die langen Haare, worauf sie be- sonders Wert legte. Die Annahme, daß es sich um einen Hypospadiaeus handelte, war so fest, daß eine innere Untersuchung per rectum niemals erfolgte. Nach mehr als dreijährigem Aufenthalt in der Klinik verstarb sie am 14. Juni 1887; die von Prof. Marchand ausgeführte Sektion ergab folgendes: Kleine Leiche von durchaus männ- lichem Habitus, 136 cm lang, Brustdrüsen nicht entwickelt, beiderseits kleine männ- liche Brustwarzen, Muskulatur überall schwach. Unterhautfett fast vollständig ge- schwunden. Die Länge des in einem Zopf geflochtenen Kopfhaares beträgt 50 bis 14) Pseudohermaphroditismus femininus (aus dem pathologischen Institut zu Mar- burg). Marburg 1887. 74 I. Kapitel: Hermaphroditismus l_ 60 cm Im Gesicht starker rasierter Bartwuchs an Backen, Kinn und Lippen. Kehl- kopf nicht besonders stark entwickelt. Als man das kleine Becken öffnete, fand man bei dieser Person, an derem männlichen Geschlecht keiner der Arzte während ihres mehrjährigen Aufenthaltes in der Klinik auch nur je den geringsten Zweifel hegte, völlig ausgebildete weib- liche Organe: Zwei Ovarien, beide Tuben, Uterus und eine sich nach unten stark verengende Scheide, welche sich, in eine umfangreiche Prostata einsenkend, im Colliculus seminalis der Farnröhre öffnete. Diese durchzog das verhältnismäßig kurze (5 cm) Geschlechtsglied, mündete aber bereits */* cm unterhalb der Eichelspitze nach außen. Der anscheinende Hodensack war leer und schlaff und zeigte keinen Spalt. Er war in der Mittellinie durch eine Raphe völlig vereinigt. Tatsächlich handelte es «ich also um zwei völlig miteinander verwachsene große Schamlippen. An der Stelle, wo die Scheide in die Harnröhre einmündete, fanden sich zwei kleine Hymenalfalten. Bemerkenswert *ar noch, daß sich im rechten breiten Mutterband kleine akzes- sorische Nebennieren fanden und daß die Nebennieren selbst m sehr um- fangreiche Geschwülste umgewandelt waren. Nach dem Leichenbefund unterliegt es keinem Zweifel, daß die Moll im Jahre 1863 fälschlich ärztlicher- und behördlicherseits für einen Mann erklart war. Fassen wir das wesentlichste dieses Falles noch einmal kiirz zusammen, so waren bei dieser Person männlich: der allgemeine Habitus, die Brüste, der starke Bartwuchs, der Gesichtsausdruck, die Genitalien insofern, als Glied und Hodensack vorhanden waren, allerdings war das Glied nur von geringer Größe und der Hodensack leer. Die Harnröhre mündete an der Unterseite des Gliedes (Krypt- orchismus und Hypospadie). Demgegenüber fanden sich im Innern durchaus weibliche Genitalien, zwei Ovarien, zwei Tuben, Uterus und Scheide, freilich endeten die Tuben blind und in den mikro- skopisch sicher gestellten Ovarien fand sich nichts, was auf eine Ovulation hindeutete. Großen Wert lege ich aber darauf, daß sich auch noch eine umfangreiche Prostata vorfand, welche die Scheide und zugleich den an die Blase stoßenden Teil der Harnröhre um- schloß. Es ist sehr wahrscheinlich, daß durch die innere Sekretion dieser männlichen Drüse die zahlreichen männlichen Geschlechts- zeichen der Moll ihre Erklärung finden; sicherlich würde sich durch ein recht exaktes Studium der Zwitterbildungen überhaupt viel Licht bringen lassen in die bisher noch nach vielen Seiten so dunkle Wirkungsweise der einzelnen endokrinen Organe/ Der beharrliche Wunsch Elisabeth Wilhelms, sich als Weib kleiden zu dürfen, entsprach keinem transvestitischen Drang, son- dern einem mit ihrem wahren Geschlecht völlig übereinstimmenden Empfinden. Dagegen muß ihre Neigung zu Frauen offenbar als eine homosexuelle Triebrichtung aufgefaßt werden. Ist eine solche vorhanden, so kann, worauf schon einmal Amtsgerichtsrat Dr. Wil- helm hinwies, die Geschlechtsberichtigung für einen Zwitter insofern eine erhebliche Schädigung bedeuten, als es seine vorher straflose Betätigungsweise zu einer strafbaren macht. Es erklären sich da- durch wohl auch die Fälle, in denen umgeschriebene Personen darauf drangen, wieder zurückverwandelt zu werden. So übergab mir auf dem internationalen Ärztekongreß in London der Kollege Dr^ Albert Wilson die Photographien eines von ihm untersuchten Individuums, das bis zum 18. Lebensjahr ein Mädchen war Sie änderte dann auf Eat ihres Arztes ihr Geschlecht und ließ sich als Jungling eintragen. Vier Jahre später verliebte sie sich heftig in einen Mann, wurde darauf wieder Mädchen (changed back to a girl) und heiratete, 23 Jahre alt, den Mann. Ob hennaphroditische Frauen auch Kinder gebären können scheint mir bisher noch fraglich. Es werden zwar in der Literatur eme ganze Reihe hierher gehöriger Geschichten überliefert, von denen am bekanntesten die des schwangeren Mönches (in Issoire en Auvergne 1473) geworden ist, auf den seine Zeitgenossen die Alli- teration münzten: mas, mulier, monacus, raundi mirabile, monstrum. Wiederholt berichten auch Chronizisten von Soldaten, die zum Er- staunen der Mitwelt eines Tages entbunden wurden. In der Berli- nischen Zeitung von Staats- und Gelehrten-Sachen anno 1746 wird mitgeteilt, daß sich im Gräflich Haakschen Regiment ein Pfeifer schwanger erwieg, gebar und dann den Regimentstambour, der Vater des Kindes war, heiratete. Caspar Bauhin16) erwähnt einen Sol- daten, welcher in Ungarn und Flandern gedient hatte und bereits sieben Jahre mit einer Frau verheiratet war, als er von einer Tochter entbunden wurde, Vor Gericht gestellt, gestand der Soldat ein, mit einem Kameraden geschlechtlich verkehrt zu haben. Alle diese Fälle liegen teils viel zu weit zurück, sind auch zum leil nicht von genügend sachverständigen Ärzten untersucht worden um als einwandfreies Material dienen zu können. Wer die Erfah- rung gemacht hat, wie stark bei manchen in ihrem Genitalapparat normal beschaffenen Frauen der Trieb ist, das Leben eines Mannes zu fuhren, wer vor allem weibliche Transvestiten und Homosexuelle genauer kennt, wird schon aus diesem Grunde in die Richtigkeit der Differentialdiagnose erhebliehe Zweifel setzen. So führe ich in meinen „Transvestiten" den Fall einer mir be- kannten Charlottenburgerin an, die jahrelang als Matrose ein aben- teuerliches Leben führte. Ein Bild in meiner Sammlung zeigt sie »uf Deck im Kreise der Schiffsleute, von denen niemand ihr Ge- schlecht ahnte. Eines Nachts aber entdeckte ein Seemann ihr Ge- heimnis und drohte es zu verraten, wenn sie sich nicht von ihm «-e- brauchen ließe. Aus Furcht willigte sie ein, wurde schwanger und gebar ein Kind. Daß es sich hier nicht, wie man früher wohl ohne weiteres angenommen hätte, um einen Zwitter, sondern um eine 15) De Hermaphroditorum monstrosorumque partuum natura ex Theologorum f^Tno uUm' finn'T' Phüos°Phoru^ Rabbinorum sententia Francofurü 1500 und 1609, Havmae 1600. Bauhin erörterte in dieser Schrift auch die Frage- Herm- apiiroditus an potest esse medicus, advocatus, rector universitatis? yg I. Kapitel: Hermaphfbditismus ganz typisch transvestitische Frau handelte, stellte die Unter- suchung" mit Sicherheit fest. So bedenklich ich hinsichtlich der Gebärfähigkeit der Hermaphro- diten bin, so wenig zweifle ich daran, daß sie oft z e u g u n g s f a h i g sind. Da bei zahlreichen auch als Frauen lebenden Schemzwittern Absonderimg von lebendigem Sperma nachgewiesen wurde, ist nicht einzusehen, weshalb die aus einer männlichen in eine weibliche Vagina geschleuderten Spermatozoen nicht einmal bis zu einem weiblichen Ei vordringen und dieses befruchten sollten. In meiner Praxis befindet sich ein jetzt 54 Jahre alter Hermaphrodit, der - bis zu seinem 25. Jahre als Weib galt und lebte. Er suchte mach öfter in Begleitung seiner jetzt 17jährigen Tochter auf. Wenngleich na schließlich jeder Vater bis zu einem gewissen Grade ein Pater m- certns ist, so halte ich in diesem Falle nach Kenntnis der drei Be- teiligten, der überaus soliden Mutter, der dem Vater sehr ähnlichen Tochter und des sexuell sehr bedürftigen Vaters, in dessen Ejaku- laten sich Samenfäden vorfanden, einen Zweifel an der Vaterschaft für ausgeschlossen. In einem früheren Bericht, den ich über diesen Fall veröffentlichte, heißt es: Bei seiner Geburt stritten sich die Hebamme und der Vater um das Geschlecht des Kindes. Schließlich siegte die Meinung der Hebamme, welche das Kind wegen des Spaltes für weiblich erklärte. Als sie mit 15 Jahren die Schule verließ wurde s.e Laufmädchen in verschiedenen Geschäften, dann Arbeitern! m einer Buchd uckerei. Damals begann sie mit' Arbeiterinnen geschlechtlich zu verkehren, zog sich aber bald eine geschlechtliche Krankheit (Gonorrhöe) zu und beschloß nun nachdem diese e geheilt war und sie immer mehr die Überzeugung ihres wirklichen Geschlechts ge- wonnen hatte, auch äußerlich Mann zu werden. Kreisphysikus Walhchs in Altona den sie im Juli 1888 aufsuchte, gab ihr folgendes Attest: „Lucie B welche in die dortigen Geburtsregister als Mädchen eingetragen ist, habe heute auf ihren GeschlecMs- zustand untersucht, demnach steht es nunmehr völlig fest, daß dieselbe männlichen Geschlechts ist, ihr ganzer Habitus ist der eines Mannes, Knochenbau Muskeln (Ins Fehlen der Brüste sowie der Bartwuchs kennzeichnen sie als Mann. Das männliche Glied ist klein, aber doch 5 cm lang, an der Spitze der Eichel nicht von der Harn- röhre durchbrochen, dieselbe liegt vielmehr in einer kahnförmigen Grube an dei hinteren Raphe des Hodensacks, welcher die beiden gut entwickelten normal großen Hoden enthält. Auf funktionelle Verhältnisse braucht nicht weiter eingegangen zu werden, da es nach vorliegendem völlig feststeht, daß Lucie B. männlichen Geschlechts ist" Sie übersandte dieses Attest ihrer Mutter mit der Bitte zwecks Änderung ihrer Personalien bei der Bremer Staatsregierung vorstellig zu werden. Es ging wenige 1 age darauf folgende Antwort ein: \uf den Bericht des Senatskommissars für das Standesamt Bremen, daß des verstorbenen hiesigen Bürgers, Tischlermeister J. B. Witwe nachsuche, die Geburts- urkunde ihres am 27. Mai 1863 geborenen Kindes L. dahin zu ändern, daß das ge- nannte Kind als männlichen Geschlechts bezeichnet werde und den Vornamen Johann erhalte, und daß kein Bedenken obwalte, diesem Gesuche zu entsprechen, beschließt der Senat, daß dem Gesuch stattgegeben werde, und die Sache im übrigen an den Senatskommissar für das Standesamt zum Zwecke der Berichtigung des Ziyilstancls- registers zurückverwiesen werde. Bremen, beschlossen in der Versammlung des Senats vom 15. Juli 1888." i I. Kapitel: Hermaphroditismus Sobald die Person diesen Bescheid erhielt, begab sie sich, um die äußerlichen Veränderungen vornehmen zu lassen, eiligst zum Schneider und zum Friseur und ver- ließ die Werkstatt, die sie des Morgens noch als Weib betreten, abends als Mann, um in St. Pauli die fröhlichste Nacht ihres Lebens zu verbringen. Über die Häufigkeit des Herrnaphroditismus irgendwelche Angaben zu machen, erscheint zur Zeit ganz unmögich. v. Neu- gebauer fand unter etwa 1000 Personen, die durch seine Hände gingen, einen Hermaphroditen, und zwar meist mit irrtümlicher Ge- schlechtsbestimmung. In seinem Wohnsitz Warschau — einer Stadt von damals 800 000 Einwohnern — kannte er ca. 30. Aus diesen Zahlen irgendwelche Schlüsse zu ziehen, ist nicht angängig. Eben- sowenig bietet die militärische Musterung Anhaltspunkte, da die meisten männlichen Scheinzwitter als Mädchen auf- wachsen. Sicher ist, daß eine ganze Anzahl von Hermaphroditen ihr Leben verbringen, ohne eine Ahnung zu haben, daß sie dem Ge- schlechte nicht angehören, zu dem sie gerechnet werden, und von denen, die es wissen, hüten sich die meisten, das dunkle Geheimnis ihres Lebens preiszugeben. So suchte mich vor einiger Zeit eine den besseren Ständen angehörende Dame von über 70 Jahren auf. Sie klagte über nervöse Herzbeschwerden. Ihre tiefe Stimme machte mich stutzig. Sie gab an, daß diese nach Mitteilung ihrer Mutter bereits in ihrem vierten Jahre aufgetreten sei. Die Früh- reife sekundärer Geschlechtscharaktere ist ja eine bei Hermaphro- diten oft wahrzunehmende Erscheinung. Ein Arzt, an den sich der Vater damals wandte, legte dieser Stimmveränderung keine Be- deutung bei. Patientin besuchte dann die höhere Töchterschule ihrer kleinen Vaterstadt; sie lernte sehr gut. Später lebte sie mit ihrer Mutter, die 90 Jahre- alt wurde, in einem Berliner Vorort. Zwei Heiratsvorschläge lehnte sie ab, weil sie sich nichts aus Männern machte. Auch Frauen gegenüber hätte sie keinerlei geschlechtliche Regungen verspürt. Nach einigem Widerstreben gestattete mir die alte Dame eine oberflächliche Untersuchung ihres Genitalapparates „der Wissenschaft halber", wie sie bemerkte. Ich fand eine 5 cm lange, ziemlich dicke Klitoris, eine 7 cm tiefe Vagina, welke, ge- runzelte Labien, von denen eins eine taubeneigroße Geschlechtsdrüse, vermutlich einen Testikel, enthielt. Die Pubes waren dünn, grau- meliert. Von weiblichen Brüsten war keine Spur vorhanden; aber auch kein Bartwuchs. Patientin, die auskömmlich als Rentnerin lebte, erklärte, daß sie am liebsten Kaufmann geworden wäre; oft hätte sie gedacht, daß man sie lieber Emil statt Emma hätte nennen sollen. Aber gesprochen hätte sie mit niemanden darüber, auch nicht mit ihrer Mutter. Sie fährt dann wörtlich fort: „erst genieren sich die Etern und später schämt man sich selbst; nachher kommt 7g t. Kapitel: Hermaphroditismus zu dem Schamgefühl die Gewohnheit und so verhringt man sein Leben in einer Zwangsjacke." Überschaue ich die einzelnen Fälle von Hermaphroditismus, sowohl diejenigen meiner eigenen, in obigen Berichten nicht völlig erschöpften Kasuistik, als die von Neugebauer in seiner großen Enzyklopädie zusammengestellten und auch die anderweitig veröffent- lichten, so gelange ich zu dem Schluß, daß die bisher üblichen Einteilungen des Hermaphroditismus weder theo- retisch noch praktisch den wirklichen Tatsachen gerecht werden. Die Schwierigkeiten einer strengen Abgrenzung machen es begreiflich, daß immer wieder neue Gruppierungs Vor- schläge gemacht worden sind, die aber selten Verbesserungen waren. Am meisten Anklang und Eingang hat seinerzeit die Klassifikation \on Klebs gefunden, die auch Neugebauer angenommen hat. Er unterscheidet zunächst den wahren und falschen Hermaphroditismus (H. verus und spurius oder Pseudohermaphroditismus). Der wahre sei vorhanden, wenn eine Person gleichzeitig männliche und weib- liche Geseblechstdrüsen, Hoden und Eierstock, besitzt; der falsche bestehe darin, daß eine Person zwar nur Hoden oder nur Eierstöcke aufweist, hingegen die sonstigen Charaktere nicht mit der männ- lichen oder weiblichen Keimdrüse übereinstimmen. Der wahre Hermaphroditismus zerfällt nach Klebs in einen doppelseitigen (bilateralis), wenn sich auf jeder Seite ein Hoden und ein Eierstock befindet, in den einseitigen (unilateralis), wenn sich nur auf einer Seite beide Geschlechtsdrüsen nebeneinander befinden, während auf der anderen Seite nur ein Hode oder ein Eierstock liegt. Als seitlichen Hermaphroditismus (H. lateralis) endlich bezeichnet Klebs, wenn auf der einen Seite nur ein Hode, auf der anderen nur ein Eierstock gelegen ist. Wir werden sehen, daß es sich hier um Konstruktionen handelt, welche mit den wirklichen Befunden nicht übereinstimmen. Lag doch zu Klebs Zeiten ein mikroskopisch sicher gestellter Fall von wahrem Hermaphroditis- mus überhaupt noch nicht vor. Aber auch die Zerlegung des falschen Hermaphroditismus in den H. masculinus und femininus kann, wie wir oben bereits an- deuteten, nicht befriedigen, denn sie berücksichtigt nur die ge- schlechtssicheren Fälle, nicht aber die mindestens ebenso zahl- reichen, die gleichviel ob äußerlieh als Mann oder Weib auftretend, so rudimentäre Geschlechtsdrüsen aufweisen, daß selbst mit Zuhilfe- nahme des Mikroskops weder in vivo, noch bei einer Operation, und auch nicht einmal post mortem die Möglichkeit besteht, eine sichere Geschlechtsdiagnose zu stellen. Rudolf Virchow, der größte patho- logische Anatom unseres Zeitalters, hat in diesem Sinn schon von „homines neutrius generis" gesprochen. Wir werden daher zum mindesten neben dem Hermaphroditismus masculinus und femininus einen H. neutralis anzunehmen haben. Auch die weitere Klebssche Einteilung- des falschen Herma- Phroditismus in einen H. externus, internus und complc- tu,s, je nachdem nur die inneren oder nur die äußeren Geschlechts- organe, oder beide mit den Geschlechtsdrüsen diakongruieren ist schon früher mit Eecht bemängelt worden, beispielsweise von Paul Kaplan m seiner Dissertation über Hermaphroditismus und Hypospadie16). In der Tat lassen sich in den meisten Hermaphroditenfällen zwischen den äußeren und inneren Ge- schlechtsteilen überhaupt nicht so scharfe Grenzen ziehen. Eher konnte man noch von einem H. completus und partialis sprechen, „completus" dann, wenn sich Tuben, Uterus, Vagina und Klitoris trotz Hoden vorfinden, oder wenn Vas deferens, Penis, Skrotum und Prostata trotzOvarien vorhanden sind, „partialis" dann, wenn nur das eine oder andere oder einige dieser Stücke im Gegensatz zu den Geschlechtsdrüsen gefunden werden. Aber ab- gesehen davon, daß der Ausdruck H. completus von einigen in anderem Sinne, beispielsweise von Kaplan gleichbedeutend mit H verus gebraucht wird, berücksichtigt diese Einteilung weder die Falle, in denen entsprechende männliche und weibliche Organe, wie Uterus und Prostata nebeneinander vorkommen, und auch nicht die, m welchen keines von beiden zur Entwicklung gelangte. Genau genommen, kommen völlig miteinander übereinstim- mende Fälle von Hermaphroditismus überhaupt kaum vor, jeder trägt sein besonderes Gepräge. Hat man angesichts dieser Fülle von Varianten überhaupt das Bedürfnis, den genitalen Hermaphroditismus noch in Unter- gruppen zu teilen, so könnte man voneinander trennen den: I. Hermaphroditismus masculinus, männliche Geschlechtsdrüsen mit w e i b 1 i c h e n Genitaladnexen. II. Hermaphroditismus femininus, w e i b 1 i c h e G eschlechtsdrüsen mit männlichen Genitaladnexen. III. Hermaphroditismus neutralis, rudimentäre Geschlechtsdrüsen, weder männlich noch weiblich. IV. Hermaphroditismus dualis, Geschlechtsdrüsen, die teils männlich, teils weiblich sind (Ovotestes); bei III und IV können die genitalen Adnexe a) männ- lich, ß) weiblich oder y) teils männlich, teils weiblich sein. Daneben würde sich in Anlehnung an einen Vorschlag von Siegenbeck van Heukelom folgende Einteilung empfehlen: 16) Inaugural-Dissertation vom 15. 8. 1895. Vogt, Berlin, Linkstraße 16. 80 I. Kapitel: Hermaphroditismus A. Hermaphroditismus genitalis glandularis, die Geschlechtsdrüsen sind männlich und weiblich gemischt. B. Hermaphroditismus genitalis tubularis, die genitalen Ausführungsgänge sind männlich und weiblich gemischt. C. Hermaphroditismus genitalis conjugalis, die Verbindungswerkzeuge sind männlich und weiblich ge- mischt. Von diesen drei Abteilungen nimmt die glanduläre Gruppe in- sofern eine besondere Stellung ein, als ja die Geschlechtsdrüse zu- nächst rein anatomisch die Grundlage darstellt für jede Ein- teilung des Hermaphroditismus überhaupt. Darüber hinaus aber ruft ihre Beschaffenheit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahr- scheinlichkeit auch funktionell alle übrigen Abstufungen des Hermaphroditismus hervor, so daß letzten Endes jede Form sowohl des genitalen als des körperlichen und psychischen Hermaphroditis- mus ein glandulärer ist. Allerdings sind wir noch nicht in der Lage, hierfür den exakt mikroskopischen Beweis zu erbringen, der dann geliefert sein würde, wenn wir bei Männern mit irgend- welchen weiblichen Einschlägen zw Ischen den männ- lichen weibliche Pubertätszellen und umgekehrt bei Frauen mit männlichen Geschlechtscharakteren unter den weiblichen männliche Pubertätszellen nachweisen könnten. Wenn wir uns gleichwohl für berech- tigt halten, Ursprung und Ursache aller Abweichungen vom Ge- schlechtstypus in andersgeschlechtlichen Einsprengungen zu er- blicken, die wir vor allem unter den Zwischenzellen der Geschlechts- drüsen zu suchen haben, so stützen wir uns dabei nicht zuletzt auf die Tatsache, daß es Steinach gelungen ist, mit großer Exakt- heit künstliche Hermaphrodisierungen, die den natür- lichen völlig gleichgeartet sind, zu erzeugen, indem er männliche und weibliche Geschlechtsdrüsenzellen gleichzeitig einpflanzte und ihre Wirkung entfalten ließ. Mit vollem Rechte konnte er auf Grund seiner bedeutungsvollen Ergebnisse schreiben17): Wenn es gelingt, wie ich es hier dargetan habe, durch Einführung von Puber- tätsdrüsenzellen beiderlei Geschlechtes in ein und dasselbe Indi- viduum eine Zwitterbildung zu erzeugen, in der Art, daß sich in somatischer wie psychischer Richtung Sexuszeichen beiderlei Ge- schlechter ausbilden, so ist mit um so größerer Sicherheit der Rück- schluß erlaubt, daß in all den vielen Fällen, wo homologe und hetero- loge Merkmale sich bei einem Individuum mit eingeschlechtig scheinenden Gonaden vereinigt finden, es sich hier darum handelt, Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen von Prof. Dr. Roux. Bd. 42, H. 3, S. 327 u. ff., 1916. I. Kapitel: Hermaphroditismus gj^ daß diese Gonaden nur in bezug- auf die generativen Anteile eingeschlechtig, aber in bezug auf die innersekretorischen Elemente zweigeschlechtig sind, daß sie also eine „zwittrige Puber- tatsdruse enthalten", und noch präziser faßt Steinach seine For- schungsergebnisse in dem Satze zusammen: Es gibt für alle Zwitter- erscheinungen nur eine Ursache und diese beruht auf dem Entstehen einer zwittrigen Pubertätsdrüse als Folge einer unvollständigen Differenzierung der Keimstockanlage, während die normale ein- geschlechtige Entwicklung durch die vollständig durchgreifende Differenzierung derselben zu einer männlichen oder weiblichen Pubertatsdrüse bedingt ist." Es ist wenig bekannt, daß schon der alte Waldeyer — allerdings nur für eine einzelne hierher -e- honge Erscheinung - nämlich das Auftreten menstruationsartiger Blutungen bei Männern, die Erklärung gab, daß hier primitive Ovula inren Einfluß auf den Organismus ausüben dürften, die sich ge- legentlich aus früheren Zeiten im Hoden hielten. Auch Kamm er er führt in seiner „Allgemeinen Biologie"18) den Pseudohermaphroditismus auf die „potentiell zwittrige Anlage des Keims- zurück. Tandler und Groß geben der Meinung Aus- druck daß „ebenso wie ein Hermaphroditismus der generativen Keimdrusenanteile existiert, ein solcher der innersekretorischen An- teile existieren könne". Eine sorgsame Prüfung des Tatsachenmaterials lehrt nun, daß m extremen Fällen eine Person, die Samen produziert und sezerniert ganz uberwiegend weiblich und ein menstruierendes Individuum männlich geartet sein kann, anders ausgedrückt, daß es pollutio- nierende Frauen und menstruierende Männer gibt. Schon daraus geht hervor, daß der extrasekretorische generative und innersekretorische formative Anteil der Geschlechts- druse nicht immer in Übereinstimmung miteinander stehen. Dieser Gegensatz bildet den Schlüssel zu allen den widerspruchsvollen Ge- schlechtsdoppelheiten, die dem Menschen, welcher nicht in die Tiefe zu dringen vermochte, monströs und wider die Natur er- schien, weil er sie nicht mit dem Naturplan in Einklang bringen konnte, der seiner vor eingenommenen Auffassung entsprach. Heute, wo wir Bau und Funktion der Geschlechtsdrüsen viel genauer kennen als ehedem, lösen sich die Rätsel leicht. Vor allem haben wir entsprechend dem Bau der geschlechtlich differenzierten Gonade bei einer indifferenziert zwitterhaften Keimdrüse zweierlei zu unterscheiden: den innersekretorisch formativen Herm- aphroditismus, der an das Vorhandensein männlicher und weiblicher Pubertätszellen gebunden ist, und einen germinal generativen, ") Zitiert nach St ei nach: Pubertätsdrüsen und Zwitterbildung. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. g go I. Kapitel: Hermaphroditismus der sich auf die gleichzeitige Existenz von Ei- und Samenzellen (der Gameten) Dezieht. Von dem generativen H. wissen wir noch nicht genau, ob er nur morphologisch oder auch funktionell vorkommt. Zwitterdrüsen, in denen sich Eifollikel und Samenkanälchen, und zwar ein meist stärker entwickelter Hoden in enger Verbindung mit einem Eierstock vorfinden, sind bei Säugetieren und auch beim Menschen mit Sicherheit festgestellt und als „Ovotestes" be- schrieben worden. Fraglich ist dagegen, ob auch beide Anteile Ge- schlechtszellen absondern, und ob die vielfach von Zwittern selbst gemachten Angaben, sie hätten Kinder gezeugt und geboren^ auf Wahrheit beruhen. So finde ich erst vor ganz kurzer Zeit in einem amerikanischen Fachblatt19) einen Artikel über „Hermaphroditism in the human species" von R. W. Shufeldt (Major, medical corps, U. S. Army, Washington, D. C), in dem an Hand von Bildern über einen seltsamen Fall berichtet wird. Eine junge Dame von 24 Jahren lebte in New York in einem Boardinghouse, woselbst sie mit einem 50jährigen Mann, der eine achtzehnjährige Tochter hatte, in Beziehungen trat. Sie wurde von ihm schwanger und gebar ein Kind (she lived with this man as his wife in a surreptitious manner, became pregnant and was delivered of a child). Gleichzeitig ver- liebte sie sich aber in die Tochter des Mannes, knüpfte mit dieser ein Verhältnis an (they lived together as man and wife). Die Tochter wurde von ihr geschwängert und gebar ebenfalls ein Kind. Auf dem Bilde sehen wir eine hübsche Person in malerischer Stel- lung mit langem Haupthaar, Brüsten, breitem Becken, von über- wiegend weiblichem Eindruck. Über den Genitalbefund drückt sich der Autor wie folgt aus: „Both testicles and penis in this case are developed and are of large size. Altough I have never personally examined this case, I am, of the opinion, judging from what know of its history, that all the internal generative organs of the female are present and functional. („Testikel und Penis sind in diesem Fall entwickelt und von ansehnlicher Größe; obwohl ich diesen Fall nie- mals persönlich untersucht habe, bin ich nach dem, was ich von ihrer Geschichte weiß, der Meinung, daß alle Fortpflanzungsorgane des Weibes funktionsfähig vorhanden sind.") Für wissenschaftlich erwiesen kann ich diesen Fall ebensowenig ansehen, wie die alten, die besagen, zwei Ehegatten seien gleichzeitig voneinander schwanger geworden; so soll nach Venelle20) im Jahre 1663 in Paris ein junges Ehepaar aus diesem Grunde zum Tode verurteilt worden sein. Ein berühmter Arzt Laurent Mathieu hätte sie aber von dem Scheiterhaufen gerettet. i») The Alienist and Neurologist, Bd. XXXVII, August 1916, Nr. 3, S. 268. 20) Neugebauer, Jahrb. f. sex. Zw., Jahrg. 10, S. 136. f. Kapitel: Hermaphroditismus Daß ein anscheinender Ehegatte ebenso wie ein Soldat, Matrose oder Mönch gelegentlich einmal niedergekommen ist, kann wohl möglich sein, wie aber will man den Nachweis erbringen, daß die Ehefrau auch wirklich der Vater des Kindes ist oder gar daß die Befruchtung wechselseitig stattgefunden hat. So-ar Selbstbefruchtungen aus Zwitterdrüsen, wobei abgestoßene Eier und Samenzellen sich in der Gebärmutter gefunden, vereinigt und zur Jaucht entwickelt hätten, sind, gewissermaßen als eine Art un- befleckter Empfängnis behauptet worden, aber sicherlich handelt es sich hier mehr um ein theoretisches Problem oder ein Spiel der -Phantasie, als um ein tatsächliches Vorkommnis. Dagegen möchte ich die Mitteilungen, daß bei ein und derselben Person Menstruationen und Samenentleerungen nachgewiesen sind nicht schlankweg als Erfindung abweisen. Sicherlich kommen auch hier bewußte Unwahrheiten und unbewußte Irrtümer vor So scheinen mir die dahingehenden Angaben der vielfach bald als Vir- ginia Maura aus Eom, bald als Zephte Aheira aus Tunis beschrie- benen Person, die ich gleichfalls persönlich untersuchte21), höchsl unzuverlässig zu sein. Virchow22) schenkte den von ihr behaupteten lehlgeburten auch keinen Glauben. Berücksichtigt man aber, da« bei der mit einem stattlichen Vollbart und einer 5 cm langen Klitoris ausgestatteten Person eine 7 cm tiefe Vagina, große und kleine Labien, Hymenwülste, eine Vaginalportion, Uterus und links eine Geschlechtsdrüse vorhanden waren, während die Urethra in die Vagina mündete, ferner, daß Levy-Dorn mit Röntgenstrahlen ein weiblichs Beckenskiagramm nachwies, so scheinen inir immerhin die Angaben der mit einem Mann verheirateten Person sie habe regelmäßig menstruiert, abortiert und ein totes Kind ge- boren, nicht weniger Glauben zu verdienen, wie ihre Behauptung sie hatte auch mit Frauen regelmäßigen und „ganz normalen" Ge- schlechtsverkehr gepflogen; dieser hätte ihr sogar den größeren Genuß bereitet. Bleibt dieser wie so mancher andere Zwitterfall im Hauptsäch- lichsten unaufgeklärt, so möchte ich dies von dem folgenden, in neuerer Zeit wohl am meisten studierten Hermaphrodititenfall nicht behaupten. i Katarina Höh mann war 1824 in Mellrichstadt geboren und starb 1881 als Karl Höh mann, glücklich mit einem Weibe verheiratet, und als Vater eines bohnes in Neuyork, an der Lungenschwindsucht. Zwischen diesen Daten liegt ein bewegtes Lebensschicksal, von dem sich die größten Fachgelehrten lange Zeit nicht einig werden konnten, ob es eine Frau oder einen Mann betraf. Die Person besaß einen hypospadischen Penis, ein gut entwickeltes rechtes bkrotum mit Hoden, ein stark verkümmertes ünkes ohne einen solchen, eine verhält- 21) Bilder im Jahrb f. sex. Zw., Jahrg. 1899, S. 17. 22) Vgl. Münchn. med. Woch. 1898, Nr. 13, H. 5, S. 394. 84 nismäßig lange Urethra, in die rückwärts ein feiner Vaginalkanal mündete, der mit einem kleinen Uterus und Tuben in Verbindung stand. Prostata und Samenbläschen sind nicht nachweisbar, dagegen ein Vas deferens. Die Mammae sind stark entwickelt, sie entleeren zuweilen eine weißliche Flüssigkeit. Kopfhaar hat mehr weiblichen Typus, Bartwuchs ist gering. Das Becken ist nach Virchow männlich. Neugebauer berichtet, die rechte Gesichtshälfte habe einen männlichen, die linke einen weiblichen Ausdruck gehabt. Friedlich in Heidelberg konstatierte zuerst bei Katharina normales Sperma mit lebenden Spermatozoen; gleichzeitig stellte er periodisch sich aus der Urethra wiederholende Blutungen fest. Franque erklärte diese für ganz zweifellose Menstruationen, nicht nur wegen ihrer typischen Regelmäßigkeit — 22 Jahre lang alle 3 bis 4 Wochen — , sondern auch wegen der Molimina menstrualia und der Kolostrum- ausscheidung aus den Brüsten, welche diese Blutungen begleiteten. Drei Mediziner von höchster wissenschaftlicher Kompetenz und Skepsis, der Gynäkologe v. Skanzoni. sowie meine beiden Lehrer v. Recklinghausen und v. Kölliker unterschrieben ein Untersuchungsprotokoll, in dem es heißt: „Jedenfalls ist von größtem Interesse der Nachweis, daß in männlicher wie weiblicher Richtung Funktionen vorhanden waren. Eine von ihr entnommene Flüssigkeit, welche im Jahre 1863 Herr Gerichtsarzt Vogt untersuchte, ergab die Anwesenheit von Spermatozoen. Wir Unterzeichneten konnten in diesen Tagen wiederholt die Entleerung von Blut aus der Harnröhre beob- achten, welche zwei Tage andauerte und auch nach der mikroskopischen Untersuchung durch die vollkommen frische Beschaffenheit der Blutkörperchen und die Beimischung von Schleim eine menstruale Natur bot." Die ersten Pollutionen hatte Katharina mit 15 Jahren. Damals begann sie mit Frauen zu koitieren, wobei sehr schnell Ejakulationen erfolgten. Nach dem Eintritt menstrueller Blutungen im 20. Lebens- jahr regte sich auch der Geschlechtstrieb zum Mann. Sie hatte auch während des Beischlafs mit Männern Samenergüsse, aber keine Erektion. Mehr Geschlechtsgenuß hatte sie beim Verkehr mit Frauen. Der Drang zum Manne war stets am stärksten die ersten 2 bis 3 Tage nach der Periode. An dieser zu zweifeln, wie Ahlfeld und Abel das tun, indem sie meinen, Katharina habe an periodischem Nasenbluten gelitten, und sich vermutlich damit die Genitalien be- schmiert, halte ich mit Neugebauer für ein zu weit getriebenes Miß- trauen, zumal ja auch anderweitig Menstruationen23) bei Schein- zwittern mit Sicherheit beobachtet sind. Immerhin ist es nicht aus- geschlossen, daß Menstruationsaequivalente, etwa Blasen- blutungen, vorgelegen haben können. Auch weist Prof. Ed. Hof- niann24) nicht mit Unrecht darauf hin, daß das Bestehen menstruel- ler Blutungen nicht mit vollkommener Sicherheit das weibliche Ge- schlecht beweist. Nachdem man gelegentlich auch nach operativer Entfernung der Eierstöcke die Fortdauer von Menstruationen wahr- genommen hat, ist man nicht mehr berechtigt, aus ihrem Vorhanden- sein unbedingt „auf die Existenz von Ovarien, noch weniger aber auf die Nichtexistenz von Hoden zu schließen". J3) Vgl. Fr. v. Neugebauer: 58 Beobachtungen von periodischen, genitalen Blutungen menstruellen Anscheins, pseudomenstruellen Blutungen, Menstrualia vicaria, Molimina menstrualia usw. bei Scheinzwittern im VI. Jahrb. f. sex. Zw., S. 277 u. ff. -■') Zitiert nach VI. Jahrb. f. sex. Zw., S. 221. , I. Kapitel: Hermaphroditismus g5 Kann nach allem die Frage, ob und inwieweit ein nach außen funktionierendes Zwittertum existiert, noch nicht abschließend beantwortet werden, so darf das gemeinsame morphologisch o Vorkommen von männlichen und weiblichen Geschlechtszellen auf ein und demselben menschlichen Individuum jetzt als absolut sichergestellt angesehen werden. Über analoge Erschei- nungen bei getrennt geschlechtlich lebenden Tieren war man bereits seit längerem unterrichtet25), für den Menschen aber liegen dies- bezügliche Beobachtungen erst seit kurzem und in geringer Anzahl vor. Wegen ihrer grundsätzlichen Wichtigkeit bringe ich eine kurze Übersicht der bisher wissenschaftlich feststehenden Fälle. 1. Am 24 November 1912 stellte Professor Garre im Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg einen Fall von echtem Zwittertum beim Menschen vor. Aus- führlich geschildert in Wort und Bild ist der Fall von WalterSimon im 172. Bande von „Virchows Archiv". Es handelt sich um eine zwanzigjährige Person, die als Knabe aufwuchs und sich schon vollkommen als Mann fühlte, so daß es ihr höchst unangenehm war, als sie ein Anschwellen der Brüste — links mehr wie rechts — 1 und monatliche Blutungen aus dem vermeintlichen Skrotalspalt wahrnahm. Von Zeit zu Zeit ging auch weißlicher Schleim ab, wobei Erektionen des membrum und libidinöse Vorstellungen auftraten, die sich stets auf das Weib bezogen. Im Körperbau und Gesichtsausdruck herrschte der weibliche Typus vor, nur im Thorax- bau, in Schulter und Armansatz überwog der männliche Charakter. In der rechten Seite fand sich ein leistenbruchartiger Tumor, in welchem Garre eine Keimdrüse ver- mutete. Patient wollte eine Probeinzision zunächst nur unter der Bedingung ge- statten, daß man ihm in der Narkose die Brüste amputiere. Als er schließlich auch ohne diese Einschränkung einwilligte, fand man im Bruchsacke einen Hodeneier- stock, Nebenhoden, Nebeneierstock, Samenstrang und Tube. .Die mikroskopische Untersuchung des ausgeschnittenen Stücks aus dem Ovarien- t e i 1 ergab das typische Gewebe der Eierstocksrinde mit Primordialfollikeln. Das Hodenstückchen zeigte zahlreiche Samenkanälchen im Buhestadium, sowie reichlich Zwischenzellen. Da nur ein kleiner Abschnitt untersucht wurde, ist es nicht ausgeschlossen, daß sich andere Teile im Zustand der Spermatogenese befanden. Wir wissen ja, daß niemals alle Samenkanälchen in der gleichen Entwicklungsphase stehen. 2 Uffreduzzi 26) beobachtete • ein Kind von 7 Jahren, das als Mädchen auf- gewachsen war. Im Spiel hielt es sich mehr zu den Knaben. Es litt an doppeltem Leistenbruch. Auf der einen Seite waren zweimal Einklemmungserscheinungen aufgetreten, deshalb wünschten die Eltern Operation. Die äußeren Geschlechtsorgane zeigten Hypospadia peniscrotalis. In jeder der nicht verwachsenen Skrotalhälften tastete man einen kleinen harten Körper. Vagina, Uterus, Prostata nicht nachweisbar. Bei der Herniotomie fand man im Bruchsack Hoden, Nebenhoden, Tube und Vas de- f erens. Am oberen Pol des Hodens befand sich eine Verdickung von weißlicher Farbe. Diese Gebilde wurden entfernt. Im Mikroskop sah man kindliches Hodenparenchym, daneben ein Ovarium mit Primordialfollikeln. 25) Ernst Sauerbeck, Über den Hermaphroditismus verus und den llerma- phroditismus im allgemeinen vom morphologischen Standpunkt aus. Frankf. Ztschr. f. Path, Bd. 3, H. 2-4, 1909. 26) 0. Uffreduzzi, Ermafroditismo vero dell'uomo. a) Arch. per le scienze Med., Bd. 34, Nr. 13, 1910. b) Giorn. della B. Accad. di Med. di Torino, Bd. 16, ann. 73, fasc. I/II, 1910. c) Arch. di Psychiatr., Bd. 31, fasc. 6, 1910. gg I. Kapitel: Hermaphroditismus 3. Zu Gudernatsch =7) kam eine 40jährige Kranke. Sie galt als Weib und fühlte sich als solches. In der rechten Leiste hatte sie eine Geschwulst, die sie operieren lassen wollte. Als man den Tumor öffnete, stieß man auf einen großen Hoden mit Nebenhoden; zwischen Hoden und Nebenhodenkopf aber lag ein rudimentärer Eierstocksteil, wenige Millimeter groß. Man konnte an ihm mikroskopisch eine Rinden- und Markschicht wahrnehmen, einen Keimepithel- bezug und in der Rindenschicht die charakteristischen Spindelzellen. Richtige Ovula waren aber nicht vorhanden. 4. Auch in dem von Photakis28) 1916 veröffentlichten Fall handelte es sich um eine Brucheinklemmung. Der Tod erfolgte, ohne daß es zu einer Operation gekommen war. Das Kind war als Mädchen erzogen. Nach Angabe der Eltern ent- wickelten sich die Geschlechtsorgane erst vom 12. Lebensjahre ab männlich.; Ge- sichlsausdruck männlich, Stimme tief, Bewegungen weiblich. Die Person war erst Kindermädchen, dann Krankenschwester. Ob sie menstruierte, ist nicht bekannt. Die Sektion ergab (zitiert nach Pick): „Größe 1,55 m, Muskulatur mager, von entschieden männlichem Habitus, Schultern eckig, Gesicht scharf geschnitten, männlich, mit frisch rasiertem Bart. Kopfhaar dicht, bis in Schulterhöhe hängend. Brüste vollkommen fehlend, Becken dem männlichen Typus genähert. Äußeres Genitale vollständig männlich, mit 7 cm langem Penis und Skrotum. Der Penis ist aber undurchbohrt und zeigt ah seiner Wurzel die Öffnung des Sinus urogeni- lalis. Im hinteren Skrotalabschnitt deutliche Raphe. Im rechtsseitigen Leistenbruch- sack innerhalb der rechten Hodensackhälfte finden sich eingeklemmte Teile des Dünn- und Dickdarms und des Netzes, sowie hämorrhagisches Transsudat. Hoden rechts vorhanden, 4 + 2 + 2 cm, mit Gubernaculum Hunteri. Nebenhoden, Vas deferens und rechtsseitige Samenblase sind ausgebildet. Letztere enthält bei frischer Unter- suchung nur Epithelzellen und Kristalle, keine Spermatozoen. Prostata haselnußgroß. An der Stelle des Colliculus seminalis setzt die 6 cm lange Scheide mit 11 cm langem zweihörnigen Uterus an. Rechte Tube ein lumenloser Strang, linke Tube 10 cm lang, 3 mm dick. Unter ihrem mittleren Drittel das Ovarium, 2,5 cm lang, in der Mitte 4 mm breit, an der Oberfläche glatt. Kein Parovarium. Mikroskopisch : Typischer Hoden, doch fehlen am Epithel alle Zeichen der Spermiogenese. Im Stroma kleine Häufchen und Züge von Zwischenzellen. Das Ovarium zeigt ein charakteristisches Rindenstroma und Primordialfollikel, in ver- schiedener Dichtigkeit gruppiert. Höhere Entwicklungsstadien der Follikel sind nicht vorhanden. Keimepithel streckenweise erhalten29)." Bemerkenswert ist, daß in allen diesen Fällen von Ovotestes i m Eierstocksanteil Primordialfollikel vorhanden waren, während in den Hodenabschnitten Samenzellen fehlten. Aber auch eine Beobachtung mit Keimzellen beider Geschlechter liegt vor, und zwar in dem besonders gut studierten Fall von Erust Sälen. 5. Dieser Fall wurde zuerst 1899 in München bei der Tagung der Deutschen pathologischen Gesellschaft durch Ziegler demonstriert30): Die 43 Jahre alte, un- 27) J. F. Gudernatsch', Hermaphroditismus verus in man. Amer. journ. üf Anat., Bd. 2, Nr. 3, 1911. 2S) Basileios Photakis, Über einen Fall von Hermaphrodilismus verus lateralis masculinus dexter. Virch. Arch., Bd. 221, 1916. ■-'■') Berl. klin. Woch. Nr. 42, S. 1142. 30) V gl. Verhandl. dieser Gesellschaft, herausgegeben von P o n f i c k. Berlin 1900, S. 24 und Zentralbl. f. Gyjiäkol., 1900, Nr. 32, S. 862; ferner Pick, Beil. klin. Woch., 1916, Nr. 43, S. 1174. I. Kapitel: Hermaphroditismus 37 verehelichte Augusta Persdotter hatte seit ihrem 17. Jahr Menstruationen. Beischlafs- akle mit Männern waren schmerzhaft; mit Frauen hatten keine stattgefunden. Die äußeren Geschlechtsteile waren weiblich, nur war die Klitoris ziemlich groß (5cm lang). Unterhalb der Harnröhrenöffnung lag die enge Scheidenöffnung, durch die eine dünne Sonde 8 cm tief eindringt. Im November 1898 wurde die Frau laparotomiert und ein manneskopfgroßes zystisches Uterusmyom, an einem kurzen Stiele sitzend, entfernt. Ebenso wurden die Geschlechtsdrüsen fortgenommen, die an der Stelle der Ovarien saßen. Am 8. Januar 1899 verließ die Patientin geheilt das Hospital. Die Unter- suchung der Geschlechtsdrüsen ergab folgendes : links ein ziemlich kleines 0 v a r i u m mit typischen Primordialfollikeln, die bis zu G r a a f sehen Follikeln reifen, rechts eine Zwitterdrüse, deren eine Hälfte Eierstocksgewebe, deren andere Hodengewebe zeigt. Ihre Maße betragen 4 : 2,5 : 1 cm. Der Eier- stocksteil ist gelb, derb, gehöckert. Auf dem makroskopischen Durchschnitt zeigt er einige zystische Follikel und ein Corpus candicans, bei der mikroskopischen Unter- suchung G r a a f sehe Follikel und typische Eizellen in einem spindel- zellreichen Strom a. Der Hodenteil ist glatt mit weißer glänzender Tunica albuginea, auf dem Durchschnitt braungrau, von weißen Bindegewebssepten durch- zogen. Mikroskopisch ergeben sich hier Samenkanälchen mit größeren und kleineren Anhäufungen von Zwischenzellen; größtenteils verdickte Membranae propriae. Das Epithel besteht lediglich aus Sertolischen Zellen; Spermatogonien oder andere Stadien der Spermiogenese werden nicht gefunden. Der Bau bietet eine auffallende Ähnlich- keit mit der Struktur des ektopischen Hodens nach der Pubertät. Da Ernst S a 1 6 n früh verstarb, übergab seine Gattin, die in Stockholm als Frauenärztin praktizierte, das gesamte Material Prof. L. P i c k in Berlin, der die Unter- suchungen von SalSn nicht nur bestätigte, sondern in sehr wertvoller Weise ergänzte. Er schreibt: Ich gelangte hier zu tatsächlichen Feststellungen, die ni'cht den mindesten Zweifel darüber lassen, daß neben den Keimzellen im Eierstocks- teil des Ovotestis beim Menschen auch im Hodenteil Zellen der männlichen Keimzellenreihe tatsächlich vorhanden sein können. Wir treffen neben dem normalen Ovarialteil des Ovotestis hier in einem Teil der Hodenkanälchen, nicht einmal allzu selten, die typische Form männlicher Sexualzellen vor Beginn der Spermatogonienwucherung. Es finden sich große kuglige durchsichtige Elemente mit zentralem hellen Kern und Nukleolus, die von den Sertoli- zellen follikelartig umfaßt werden. Im Anschluß hieran haben wir noch kurz das ebenfalls zuerst (1905) von Pick31) beschriebene Adenoma tubuläre testiculare ovarii (auch Adenoma testiculare ovotestis genannt) zu erwähnen. Hier hat sich aus einer Einsprengung- von Hodenkanäl- chen und testikulären Zwischenzellen in einen normal gebauten Eierstock eine Geschwulst entwickelt, von der sich mikroskopisch mit Sicherheit der Nachweis erbringen ließ, daß sie von den Sertolischen Zellen abstammt. Auch die voll- kommene Identität dieser Eierstockstumoren mit Hodengeschwülsten ließ nur den Schluß zu: Diese Eierstocksgesehwulst ist ein testi- kuläres tubuläres Adenom. Ein getreues Gegenstück zu der Pick- schen Keimdrüsengeschwulst beschrieb Sc h i c k e 1 e 32) ebenfalls als 31) Ludwig Pick, Über Neubildungen am Genitale bei Zwittern nebst Bei- trägen zur Lehre von den Adenomen des Hodens und Eierstocks. Berlin 1905. 32) G. S c h i c k e 1 e , Adenoma tubuläre ovarii testiculare in Hegars Beitr. z. Geb. u. Gyn., Bd. 11, 1906. . 88 I. Kapitel: Hermaphroditismus Adeuoma tubuläre ovarii testiculare. Der aus Bestandteilen der männlichen Geschlechtsdrüse im Eierstock entstandene Tumor ge- hörte einer 26jährigen Nullipara an von völlig weiblichem Habitus. Sie gebar ein Jahr nach der Operation ein Kind. In dieselbe Gruppe gehört nach Auffassung von Josephson 33) auch der sehr interessante Fall, den 1915 Blair Bell34) beschrieben hat: Bei einer Person, die im 14. Lebensjahre zuerst menstruiert hatte, setzten nach lJ/0 Jahren die Perioden aus. Sie bekam einen Schnurrbart und männliche' Körperbehaarung; auch die Schamhaare zeigten männlichen Typus. Das Aussehen wurde immer männlicher. Daneben bestanden weibliche Mammae und ein weibliches Genitale. Nur die Klitoris war ziemlich groß. Der linke Eierstock zeigt sich bei der wegen einer Geschwulstbildung vorgenommenen Probelaparotomie pflaumengroß und testisähnlich. Die rechte Keimdrüse imponierte als etwas ver- kleinertes Ovarium. Mikroskopisch wurde rechts Ovarialsubstanz in Funk- tion festgestellt, links ein „Zylinderzellenkarzinom". Darauf wurde der Fundus uteri mit beiden Anhängen entfernt. Die Nachuntersuchung der linken Geschlechtsdrüse führte Bell zu der Annahme eines Ovotestis. Die von den pathologischen Anatomen bei der Probelaparotomie für ein Zylinderzellenkarzinom gehaltene Neubildung zeigte Tubuli von mehrschichtigen, auch einschichtigen Zylinderepithel und dazwischen Zwischenzellen nach Art der interstitiellen Hodenzellen, am Bande zeigte sich Ovarialsubstanz mit G r a a f sehen Follikeln. Diese Lagerung spricht aber mehr für ein tubuläres Adenom, als für einen regulären Ovotestis. Höchst bemerkenswert war in diesem Fall, der sich durch be- sonders viel männliche Pubertätszellen (Zwischenzellen) und dem- entsprechend einen starken männlichen Einschlag in den allgemeinen Geschlechtscharakteren auszeichnete, der weitere Verlauf: Neun Monate nach der Operation hatte sich das Aussehen dieser Person völlig verändert. Der Schnurrbart war verschwunden, ebenso die Haare an den Beinen, die Stimme war höher geworden, die Haut zarter, die Konturen gerundeter, die Gesamterscheinung weiblicher. „So hatte die Ausschaltung der männlichen Zwischen- zellenhormone den Rückgang der männlichen Sexual- charaktere bewirk t." Trotzdem seit der Entdeckung der Zwitterdrüsen erst wenige Jahrzehnte verflossen sind — Reuter beschrieb die ersten bei ge- trennt geschlechtlich lebenden Tieren im Jahre 1885, Sälen die ersten menschlichen 3899 — so haben sich auch hier bereits, wie überall, wo man auf sexualwissenschaftlichem Gebiet tiefer schürft, so viele Varianten ergeben, daß man alsbald zu Unterabteilungen gelangte. So unterscheidet L. Pick die germinale, vegetative und germinal-vegetative Form des Ovotestis; germinal nennt er die Zwitterdrüsen, in deren Geschlechtsdrüsenanteil Keimzellen oder deren Vorstufen nachweisbar sind; als vegetative bezeichnet er 33) Josephson, Om Hermaphroditismus veros hos däggdjur och människa Upsala. Läkare förenings Förhandlingas, Ny följd 1915, Bd. 21, H. 1 u. 2. 34) So called true Hermaphroditism, with the report of a case. Proceedings of the Boyal. Soc. of Med., Bd. 8, H. 8. Obst, and Gyn. Sect. 1915, S. 77, I. Kapitel: Hermaphroditismus diejenigen, welche zwar den geschlechtsspezifischen Bau des Hodens oder Eierstocks zeigen, jedoch keine Germmalzellen oder Vorläufer von ihnen erkennen lassen. Besitzt nur ein Teil — gewöhnlich ist es der Hodenteil — diesen vegetativen Charakter, während der andere — meist der Eierstock — auch Keimzellen wahrnehmen läßt, so spricht er von einer vegetativ-germinalen Form. Ziehen wir nun noch in Betracht, daß mit allen diesen Spielarten sowohl männliche wie weibliche Zwischenzellen verbunden sein können, so liegt es klar auf der Hand, welche Fülle von Vermischungsarten auch hier wieder denkbar sind und vorkommen. Um das ganze Gebiet des Hermaphroditismus nicht zu sehr durch Unterschiede zu verwirren, denn im Grunde will doch jeder einzelne Hermaphrodit für sich gewürdigt und betrachtet werden, tun wir schließlich doch am richtigsten, uns an größere Richtlinien zu halten. Als solche scheinen mir die folgenden am ge- eignetsten: Wir gehen von der Begriffsbestimmung aus, daß der Herma- phroditismus eine Vermischung entgegengesetzter Ge- schlechtscharaktere, oder um mit J. Orth zu reden, eine Verwischung der Geschlechtscharaktere ist. Die gemischten Ge- schlechtscharaktere können, wie wir dies im ersten Bande bei an- deren Sexualstörungen, beispielsweise bei der Früh- und Spätreife, ausführten, sowohl den G e n i t a 1 apparat betreffen, als die übrigen körperlichen Geschlechtsunterschiede, ferner aber auch die psychischen und die psychosexuellen Geschlechtscharak- tere. Dementsprechend können wir die Geschlechtsübergänge in folgende Gruppen einteilen: I. Hermaphroditismus genitalis (Zwitter im engeren Sinne), Mischung männlicher und weiblicher Geschlechtsor gane. II. Hermaphroditismus somaticus (Androgy nie), Mischung sonstiger körperlicher Geschlechtsunterschiede. III. Hermaphroditismus psychicus (Transvestitismus), Mischung seelischer Geschlechtsunterschiede. IV. Herrn, psychosexualis (Homosexualität, Metatropismus), männlicher Geschlechtstrieb beim Weibe, weiblicher beim Manne. Der genitale Hermaphroditismus ist der Hermaphroditismus im eigentlichen Sinn, für den sich auch die Bezeichnung Sexus an- ceps vorfindet, während C. Ben da die Ausdrücke Pseudothelie und Pseudoarrhenie vorgeschlagen hat. Ein Pseudoweib kann frei- lich ebenso in ihren Genitalien ein Weib und in fast allem andern ein Mann sein, wie man darunter auch einen äußerlichen Mann mit weiblichen Charakterzügen verstehen kann. Den somatischen Hermaphroditismus bezeichnen wir auch als Androgy nie. Auf qq I. Kapitel: Hermaphroditismus den Ursprung und ursprünglichen Gebrauch beider Ausdrücke komme ich im nächsten Kapitel zurück. Der markanteste Fall des psychischen Hermaphroditismus ist der Transvestitis- mus, während wir unter psy chosexuellem Hermaphro- ditismus die Erscheinungen zusammenfassen, in denen Manner mehr einen weiblichen und Frauen einen männlichen Geschlechts- trieb erkennen lassen. Es fällt demnach in dieses Gebiet sowohl die Homosexualität und Bisexualität beider Geschlechter, als die Aggressionsinversion, der Metatropismus, beispielsweise der Masochismus und Sukkubismus des Mannes und der Sadismus und Inkubismus des Weibes. In diesem Kapitel haben wir uns ausschließlich mit dem geni- talen Hermaphroditismus beschäftigt. Diese Vermischung der genitalen Geschlechtszeichen kann die Geschlechtsdrüsen, die Ausführungs- und Vereinigungsorgane betreffen. Dem- entsprechend unterscheiden wir den Hermaphroditismus genitalis glandularis, tubularis und conjugalis. Der Glanduläre Hermaphroditismus kann sowohl den gene- rativen als den interstitiellen Anteil der Geschlechtsdrüse betreffen, also die Keimdrüse und die Pubertätsdrüse. Der letztere nimmt insofern eine ganz besondere Stellung ein, als die weiteren noch zu behandelnden Hauptformen des Hermaphroditismus die Androgvnie, der Transvestismus und die Triebinversionen letzten Endes in ihm basieren. Der tubuläre und konjugale Hermaphrodi- tismus scheint weniger unmittelbar, jedenfalls nicht ausschließlich von den Hormonen, welche in der Geschlechtsdrüse fabriziert wer- den, abzuhängen. Da aber diese beiden Formen, die man früher ge- wöhnlich als externen und internen Pseudohermaphroditismus bezeichnete, sowohl bei einer rein männlichen und rem weiblichen Keimdrüse vorkommen, aber auch mit Geschlechtsdrüsen vergesell- schaftet sein können, die weder männlich noch weiblich sind, oder endlich auch mit solchen, welche beide Geschlechts- und Zwischen- zellen zugleich enthalten können, kommen wir zu einer weiteren Ein- teilung, nämlich zu der der Hermaphroditismus inasculmus, femininus, neutral is und dualis. Für einen wahren und falschen Hermaphroditismus ist in dieser Einteilung kein Platz, denn ganz mit Recht sagt Sauerbeck J) : „Die Diagnose Hermaphroditismus nur da stellen, wo funktionierende Drüsen- beiderlei Geschlechts vorhanden sind; ist logisch gleich- wertig mit der Forderung, keinen Menschen vor Nachweis der Vaterschaft oder Mutterschaft zum einen oder anderen Ge- s chlecht zu zähle n." 35) Loc. cit. 690. I. Kapitel: Hermaphroditismus 91 Hinsichtlich des glandulären Hermaphroditismus könnte man die Einteilung beibehalten, welche Klebs seinerzeit für den „wahren" Hermaphroditismus vorschlug: H. gl. bilateralis, wenn rechts und links Hoden- und Eier- stocksgewebe vorhanden ist, H. gl. unilateralis, wenn mir auf der einen Seite beide Geschlechtsdrüsenteile nachweisbar sind, auf der anderen Seite ent- weder nur das eine oder andere; dies scheint beim Menschen der häufigste Fall zu sein. H. gl. lateralis, wenn sich auf der einen Seite nur ein Eier- stock, auf der anderen nur ein Hode vorfindet. Jedoch ist zu bemerken, daß bisher niemals, wie es sich Klebs vorstellte, räumlich voneinander getrennte Gonaden beiderlei Geschlechts wahrgenommen wurden, sondern immer nur eng miteinander verbundene von der Gestalt der ovotestes. Es ist dies auch nach der Entstehungsgeschichte der Geschlechts- drüsen aus dem sich aus einer einheitlichen Anlage differenzieren- den Keimepithel das wahrscheinlichere. Bei den Zwitterbildungen der Ausführungsgänge und Konju- gationswerkzeuge kommt es auch vor, daß männliche und weibliche Stücke, die entwicklungsgeschichtliche und funktionelle Ana- logien darstellen, nebeneinander vorkommen, wie etwa ein Samenstrang neben einem Eileiter, oder gleichzeitig Uterus und Prostata. Ebenso häufig aber ereignet es sich auch, daß männliche und weibliche Teile durcheinandergemischt sind, so daß das Indi- viduum beispielsweise einen Uterus und Samenleiter, aber keine Prostata und keinen Eileiter besitzt. Ein Einteilungsprinzip aus diesen Verschiedenheiten herzuleiten, ist bei der Fülle der theore- tisch möglichen und tatsächlich vorkommenden Kombinationen nicht angebracht. Es mag endlich noch erwähnt werden, daß auch in den äußeren Genitalien neben der bei weitem häufigeren Vermischung männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale, wie beispielsweise dem Vorkommen von Glied und Scheide untereinander eine Nebeneinanderlagerung der aus derselben Uranlage hervor- gegangenen Genitalien, wenn auch ungemein selten, beobachtet ist. Ältere Hermaphroditenforscher vinterschieden deshalb meist bei Zwittern eine Supraposition und Juxtaposition der männ- lichen und weiblichen Genitalien. Noch Arnaud (1766) veröffent- lichte Bilder und Beschreibungen von Zwittern, die nebeneinander männliche und weibliche Schamteile, also ein Skrotum neben einer Vulva oder einen Penis neben einer Klitoris besitzen. Da aber die Fälle ungemein selten sind und sicherlich die Berichte der Alten in dieser Hinsicht oft phantastisch ausgeschmückt sind, erklärte schließlieh Oesterlcn in Maschkas Handbuch der gerichtlichen Medi- zin (Bd. III, S. 64) und Ahlfeld und Nagel waren derselben Meinung: „Eine gleichzeitige Entwicklung männlicher und weiblicher äußerer Teile nebeneinander kommt nicht vor, weil diese Teile aus derselben embryonalen Anlage hervorgehen." Gleichwohl ist aber die Möglichkeit einer doppelten Mißbildung nicht völlig auszu- schließen. Wissen wir doch, daß eine Verdoppelung der äußeren Schamteile durch Keimspaltung, beispielsweise zwei Penisse bei ein und derselben Person, als sehr großeRarität vorkommen, dann ist es aber auch nicht unmöglich, daß sich allerdings als: eine noch viel größere Rarität aus der Doppelbildung nebeneinander auf der einen Seite ein Penis mit Skrotum, auf der anderen eine Vagina mit Klitoris formt. Daß aber solche Doppelformationen auch tatsächlich beobachtet wurden, zeigen der Warschauer Fall v. Neu- gebauers aus dem Jahre 1894 und der 1905 in der Zeitschrift für Medizinalbeamte (Nr. 18) beschriebene Fall von M. Mayer. Beide Male fanden sich die Geschlechtsteile beiderlei Geschlechts neben- einander gelagert vor ; im Neugebauerschen Fall waren die weib- lichen beinahe normal, während die männlichen rudimentär er- schienen. Er diagnostizierte: „Juxtapositio organorum sexualium externorum utriusque sexus." Bemerkenswert ist, daß in diesen Fällen auch andere schwere Entwicklungsstörungen bestanden; im Warschauer Fall lag ein Anus praeternaturalis vulvaris vor, der Mayersche Junge besaß ein überzähliges drittes Bein, bestehend ans Unterschenkel, Fuß und 4 Zehen. Es wuchs aus dem rechten Oberschenkel hervor und wurde entfernt, als der Junge 3 Monate alt war. Diese Befunde beweisen, daß die Verdoppelung und hermaphroditische Juxtaposition der Genitalien als ein un- gleich tiefergreifendes Degenerationsmerkmal zu erachten ist, als die einfache Vermischung der Geschlechtscharaktere. II. KAPITEL Androgynie Die Hermaphroditendarstellungen antiker Künstler — Diskongruenz ist nicht immer Disharmonie — Enge und weite Fassung des Zwitterbegriffes — Hypoplastische, metaplastische und aktivierte Androgynie — Endokrine Zusammenhänge — Propter andrinum vir id est, quod est — Propter gynaecinum mulier id est, quod est — Die von S t e i n a c h experimentell bewirkte Vermännlichung, Verweiblichung und Z w i 1 1 - r i g k e i t — Die geschlechtsspezifische Beschaffenheit der Gonaden — Männliche und weibliche Erotisierung — Antagonismus der Sexual - hormone — Tabellarische Gegenüberstellung der Geschlechtstypen: Mann, Weib, weiblicher Mann, männliches Weib (M., W., wM., mW.) — Unterschiede in Körper- größe, Knochenbau, Schädel, Becken, Gelenken, Muskulatur, Händen, Handschrift, Mimik, Gestik, Gang, Gruß, Fettgewebe, Haut, Kreuzbeingrübchen, Ausdünstung, Haar- kleid, Milchdrüsen, Kehlkopf, Stimme, Atmung — Weiblicher arcus und männlicher a n g u 1 u s — Geschlechtliche Verschiedenheiten der inneren Organe — ; Uber- gewicht der Brust organe beim Manne und Bauch organe beim Weibe — Differenzen in der Zusammensetzung des Blutes — Die Vasomotoren femininer Männer — Ge- schlechtscharakter der innersekretorischen Drüsen (Schilddrüse, Hypophyse, Zirbel, Nebennieren, Thymus, Pankreas und Epithelkörperchen) — Die größere Häufig- keit der Basedow sehen Krankheit beim Weibe und Addison sehen Krankheit beim Manne — Hypophysenveränderung durch die Schwangerschaft — Geschlechts- eigentümlichkeiten der Gehirnstruktur — Stärkere Entwicklung des Muskel- zentrums beim Manne und Sprachzentrums beim Weibe — Die größere Nervenmasse des weiblichen Rückenmarks — Verschiedenheit der Gef ühlabetonung und Geschmacksrichtung — Farbenblindheit zehnmal häufiger bei Männern als bei Frauen — ■ Die weibliche Labilität — Gemütsbewegungen und Mienenspiel der Androgynen — Überempfindlichkeit femininer Männer und Unter- empfindlichkeit viriler Frauen — Männliche Hysteroneurasthenie als Folge der femininen Konstitution (gutachtliches Beispiel) — Parallelismus zwischen „femininen Einschlägen" beim Manne und „eingesprengt en" Eierstocks- gewebe, sowie „virilen Einschlägen" beim Weibe und eingesprengten Hodenzellen im Eierstock — Unbegrenzte Mannigfaltigkeit androgyner Varianten — Besonders häufige Kombinationen androgyner Einzelerscheinungen — Über das Ver- hältnis genitaler körperlicher, seelischer und psychosexueller Geschlechts- atypien — Diagnostische Bedeutung des Geschlechtsgefühls und Geschlechts- willens — Irrtümlicher Homosexualitätsverdacht — Der androgyne Drang — Außenprojektionen des endokrin bedingten Feminismus und Masculismus — Über- gewicht der sexuellen Psyche über das S o m a g e sc h 1 e c h t — Androgyne Wunsch- und Phantasie Vorstellungen — Barthaß femininer Männer und Brusthaß viriler Frauen — < Der androgyne Wahn — Beispiel eines an seine Weibbrüstigkeit fixierten Mannes mit charakteristischen Briefstellen. Wenn wir uns die aus dem Altertum übernommenen bildlichen Darstellungen von Hermaphroditen betrachten, deren fast jedes Antikenmuseum eines oder mehrere besitzt, so werden wir bald ge- wahr, daß dasjenige, was die Alten als Hermaphroditismus bezeich- neten, keineswegs mit dem übereinstimmt, was wir darunter ver- stehen. Kaum eines werden wir unter diesen zahlreichen Bild- werken finden, dessen Geschlechtsorgane zwitterhaft gebildet sind vielmehr zeigen alle antiken Hermaphroditen männliche, wenn auch oft auffallend kleine Genitalien. Neben diesen findet sich dann, und dies erschien offenbar den Alten als das Wesentliche, ein weiblicher Körperbau, vor allem sind stets weibliche Brüste vorhanden, außerdem sind fast immer Gesichtsausdruck und Haarschmuck, Beckenbildung und Körperhaltung weiblich. Die griechisch-römische Überlieferung legte Wert darauf zu betonen, daß diese Hermaphroditen keine Phantasieprodukte des Künstlers, sondern dem Leben nachgebildete Menschen seien, beispielsweise wird von der berühmten Bildsäule des Hermaphroditen in Born, die Poliklet verfertigte, ausdrücklich vermerkt, daß sie genau der Natur nachgemeißelt sei. Der jetzige klinische Begriff des Hermaphroditismus als einer Vermischung von männlichen und weiblichen Geschlechts- zellen, Geschlechtsdrüsen oder Geschlechtsorganen im engeren Sinne entspricht also keineswegs dem, was man ursprünglich darunter ver- standen hat. Wenn wir gleichwohl dafür sind, den Ausdruck in seiner gegenwärtigen wissenschaftlichen Bedeutung beizubehalten, so geschieht es in erster Linie, weil die Bezeichnung sich seit mehreren Jahrhunderten so fest in die medizinische Nomenklatur eingebürgert hat, daß ihr gewissermaßen ein historischer Charakter innewohnt. Von einigen Fachschriftstellern, wie Krafft-Ebing und Halban, ist freilich diesem Ausdruck neuerdings wieder ein viel weiterer Umfang gegeben, als er bis vor wenigen Jahrzehnten besaß. Diese Autoren sprechen nämlich auch von psychischem und psychosexuellem Hermaphroditismus und verstehen darunter männliche Seelen- und Geschlechtsregungen beim weib- lichen und weibliche beim männlichen Geschlecht. In seinem Ursmn, mangelnder Übereinstimmung zwischen den äußeren Körperformen und den externen Geschlechtsteilen, und zwar weniger im Sinne eines Minus als eines körperlichen Plus, mehr einer Diskon- gruenz als einer Disharmonie, in dieser zweifellos den bildenden Künstlern von Hellas vorschwebenden Auffassung wird der Name in der gegenwärtigen Fachliteratur jedoch kaum noch gebraucht. Allerdings hatten die Alten noch einen anderen Ausdruck, den sie fast gleichbedeutend mit Hermaphroditismus anwandten: An- d r o g y n i e. Wie sich Hermaphroditismus aus Hermes als männlichem und Aphrodite als weiblichem Götternamen zusammensetzt, so ist „An- drogynie" und die seltenere Umstellung „Gynandrie" aus der mensch- lichen Mannes- und Weibesbezeichnung, äi'fa und yvvrj, gebildet. II. Kapitel: Androgynie 95 Mit dieser Doppelbezeichnung wollten die Alten im Gegen- satz zum Vollmann und Vollweib etwas Gemischtes, nämlich die weibliche Körperbeschaffenheit bei einer männlichen und die männ- liche bei einer weiblichen Person kennzeichnen. Es empfiehlt sich daher und ist durchaus berechtigt, diesen Terminus in seiner ur- sprünglichen Bedeutung beizubehalten und ihn im Unterschied von dem auf das genitale Zwittertum beschränkten Begriff Hermaphro- ditismus anzuwenden. Daß allerdings auch die Androgynie, wie jede körperliche xrnd seelische Mischform, letzten Endes in einer zwittrig gemischten Beschaffenheit der Geschlechtsdrüsen, also im genitalen Hermaphroditismus wurzelt, wußten die Alten nicht. Diese Er- kenntnis ist erst eine Errungenschaft unserer Tage. Die reine Erfahrungstatsache der Androgynie, das Bestehen männlicher Sornacharaktere bei weiblichem Genitalapparat und um- gekehrt, beweist, daß die formative Ursache, welche die primären Geschlechtsorgane differenziert, und diejenige, welche den sekundären Geschlechtsmerkmalen, wie Bart, Brust, Kehlkopf, ihre Entwicklung vorschreibt, nicht in eins zusammenfällt. Ziehen wir aber in Betracht, daß häufig primäre und sekundäre Ab- weichungen vergesellschaftet vorkommen, beispielsweise eine tiefe Frauenstimme zusammen mit einer großen Klitoris, eine hohe Männerstimme bei Hypospadie, so gelangen wir dennoch dazu, eine gewisse Wechselwirkung zwischen den Sexualhormonen, die an der genitalen und somatischen Geschlechtsentfaltung beteiligt sind, anzunehmen. Dieser Zusammenhang im endokrinen Walten erhellt auch schon daraus, daß in der übergroßen Mehrzahl der Fälle tatsächlich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den geni- talen und somatischen Geschlechtscharakteren vorliegt. Über die hier herrschenden Abhängigkeiten hat bereits vor über 50 Jahren Virch ow, trotzdem er über das Wesen der inneren Sekretion damals noch nichts wußte, sehr beachtenswerte Äußerungen gemacht. Er knüpfte an den Ausspruch von Helmont: „Propter solum uterum mulier id est, quod est" an; diesen Satz hatte nach Hegar („Korre- lationen der Keimdrüsen und Geschlechtsbestimmung", Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie, herausg. von A. Hegar, 7. Bd., 2. H.) der französische Arzt Chereau verändert in: „Propter solum ovarium mulier id est, quod est". Virchow nahm die Sentenz auf, er- gänzte und erläuterte sie (Gesammelte Abhandlungen zur wissen- schaftlichen Medizin, 1862, S. 47) wie folgt: „Das Weib ist eben Weib durch seine Generationsdrüse. Alle Eigentüm- lichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventätigkeit, die süße Zartheit der Kundung der Glieder bei der eigentümlichen Ausbildung des Beekens, die Entwicklung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen Flaum der übrigen Haut, 96 und dann wiederum die Tiefe des Gefühles, die Wahrheit der un- mittelbaren Anschauung, diese Sanftmut, Hingebung und Treue - kurz alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner haß- lichsten Halbheit, den groben Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem miß- günstigen, selbstsüchtigen Gemüt und dem scharfen Urteil steht vor uns " Daß es sich bei dieser Beeinflussung allerdings nicht um den ganzen Eierstock handelt, sondern nur um einen bestimmten Anteil, nämlich die interstitielle Pubertätsdrüse, war Virchow unbekannt. Jetzt können wir hinsichtlich der von ihm mit fast dichterischem Schwung geschilderten Eigenheiten der weiblichen Körper- und Seelenart schon wieder einen Schritt weitergehen und sagen: „propter internam celullarum secretionem pubertatis homo id est, quod est", oder: „propter gynaecinum mulier id est, quod est" und: „propter andrinum vir id est, quod est". Um in das Verständnis der für die Begriffe männlich, weiblich und mannweiblich ausschlaggebenden Kausalität einzudringen, ist es unumgänglich nötig, sich in die St ein ach sehen Versuche zu vertiefen. Sie erklären vieles, was lange dunkel lag, in überraschen- der Weise1). •' * '■ i Die von Professor Eugen Steinach in Wien seit dem Jahre 1904 in sehr methodischer und exakter Weise angestellten Versuche, welche dahin gehen, die durch Verpflanzungen der Geschlechtsdrüsen bei Tieren erzielten Wirkungen zu studieren, haben sich für das ganze Gebiet der sexuellen Physiologie als grundlegend erwiesen. Steinach knüpfte an die älteren Untersuchungen von Nußbaum an. Dieser schnitt Froschmännchen die Hoden aus und beobachtete, daß bei den so präpa- rierten Tieren die Entwicklung der für die Brunstzeit charakteristischen Daumen- schwielen a us b 1 i e b , mit denen die Männchen bei der geschlechtüchen Umklamme- rung die Weibchen festhalten. Brachte Nußbaum nun aber den kastrierten Frosch- männchen Hoden, die er andern Froschmännchen ausgeschnitten hatte, oder einen Brei von zerriebenen Hoden unter die Haut, so entwickelten sich alsbald Daumen- schwielen bei den kastrierten Männchen. Nußbaums Versuche lehren, daß die Ge- schlechtsdrüsen ihre Wirkung auf den Organismus durch Stoffe ausüben, die aus ihnen aufdemWegedesBlutes nach verschiedenen Organen gelangen. Diese werden dadurch in ihrer Gestaltung und ihrer Tätigkeit in ganz bestimmter Richtung beein- flußt. Steinach schloß sich nun an die Nußbaumschen Versuche zunächst insofern an, als er kastrierten Froschmännchen Hodensubstanz, die brünstigen Fröschen entnommen war, unter die Haut spritzte. Die kastrierten Froschmännchen, die keine Spur von Umklammerungs- oder Begattungstrieb zeigten, ließen diesen 12 bis 24 Stunden nach derlnjektionvon Hodensubstanz in deutlicher Weise erkennen, und zwar in 88 Proz. der Fälle. Dann und wann trifft man nun unter den Fröschen in der freien Natur Männchen, denen der Umklammerungstrieb i) Die folgenden Ausführungen sind einem Vortrage entnommen, den ich im November 1916 in Berlin gehalten habe. i II. Kapitel: Androgynie ?M,e8 PrStZef,gänr2liCh /ehlt St6inach fand Unter frisch gefangenen Fröschen tt , f i ? m f lDdf lduen- Spritzte er Tieren Hodensubstanz unter die Haut so stellte sich auch bei ihnen der Umklammerungstrieb ein Steinach legte sich darauf die Frage vor: W o greift das innere Sekret des Hodens an, wenn es die Froschmännchen brünstig macht, d. h. den Umklammerungstrieb n ihnen wachruft. Mein alter Lehrer Goltz in Straßburg u. a. haben nun schon früher gezeigt, daß der Umklammerungstrieb des Froschmännchens objektiv einen nervösen Reflex darstellt, der ausgelöst wird, wenn die B r u s t h a u t des Männchens mechanisch gereizt wird; sie umklammern dann auch Holzstücke und tote Gegen- stande die man ihnen vorhält. Steinach sagte sich nun, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die von den Geschlechtsdrüsen gebildeten Stoffe, die den Umklammerungsreflex herbeifuhren, am Zentralnervensystem angreifen werden. Um diese Vor- aussetzung zu prüfen, spritzte er kastrierten Fröschen einen Brei aus Gehirn und Kucken mark ein, die er brünstigen Froschmännchen entnommen hatte. Die kastrierten Froschmännchen umklammerten jetzt genau so den vor ihnen befindlichen Gegenstand, als ob ihnen Hodensubstanz eingespritzt worden wäre. Spritzte aber Steinach den kastrierten Froschmännchen zerriebene Leber - oder Muskel- Substanz von brünstigen Froschmännchen ein, so gewannen die Kastraten den Umklammerungstrieb nicht wieder. Ebensowenig trat er ein, wenn man ihnen einen Brei aus Gehirn und Rückenmark von n i c h t brünstigen Fröschen einspritzte. Namentlich erwies sich auch Hodensubstanz von Männchen, die schon a b g e 1 a i c ht hatten, deren Brunst also schon zu Ende war, als wirkungslos. Aus diesen Versuchen .T u."? Slcherheit der ScWuß gezogen werden, daß in der Brunst in den Ge- schlechtsdrüsen spezifische Stoffe erzeugt und an das Blut abgegeben werden die am Zentralnervensystem angreifen und es, wie Steinach sagt, „erotisieren". Noch wichtigere Resultate ergaben nun weitere Experimente, die der Wiener Physiologe an Ratten vornahm. Er kastrierte jugendliche Rattenmännchen im Alter von 6 bis 6 Wochen. Bei diesen kastrierten Tieren blieben alle körperlichen und psychischen Geschlechtsmerkmale auf kindlicher Stufe stehen. Wenn Steinach nun aber einem kastrierten jugendlichen Männchen die herausgeschnittenen Hoden an irgendeiner andern, gleichgültig welchen Stelle im Körper, z. B. auf den Bauchmuskeln wieder einnähte, so entwickelten sich die Tiere zur vollen Männ- lichkeit. Heilten die Hoden auf ihrer neuen Unterlage nicht an — wie das bei Organverpflanzungen ziemlich häufig vorkommt dann verhielten sich die Tiere wie Kastraten. Die Ergebnisse dieser Uberpflanzungsversuche bestätigen demnach, was auf Grund der Versuche an kastrierten Fröschen zu erwarten war, und zwar sowohl was die Ausgestaltung der Geschlechtsmerkmale, als was die Erotisierung des Zentralnervensystems durch das seiner r\ V°u mif "Andrin" genannte innere Sekret betrifft; sie zeitigten aber noch einen anderen bedeutsamen Befund. Als man nämüch die Hoden die auf der neuen Unterlage angewachsen waren, mikroskopisch untersuchte, stellte' es sich heraus, daß in ihnen die samenbildenden Kanälchen völlig verkümmert waren wahrend die Z w i s c h e n s u b s t a n z in den verpflanzten Hoden stark zur Ausbildung gelangt war. Es hatten sich also bei den operierten Tieren die männ- lichen Eigenschaften voll entfaltet, ohne daß sich in den Hoden auch nur eine einzige Samenzelle entwickelt hatte. Aus dieser Tatsache folgerte Steinach, daß die Er- zeugung der chemischen Stoffe für die innere Absonderung und die Er- zeugung von Samenzellen zwei voneinander unabhängige Aul gaben der Geschlechtsdrüse sind, daß die Hoden sozusagen eine doppelte JJruse sind, in der die samenliefernden und die innersekretorischen Zellen sich nur topographisch örtlich eng berühren. Der eine Anteil der Geschlechtsdrüse liefert die Samenzellen für die äußere Sekretion, der andere die chemischen Stoffe, die auf dem Wege der inneren Sekretion zur Entwicklung der körperlichen und psychi- schen Geschlechtsmerkmale bestimmt sind, welche wir zur Zeit der Geschlechtsreife Hirschfeld, Se.xualpathologie. II. ^ 98 (Pubertät) auftreten sehen. Steinach bezeichnete demzufolge den innersekretorischen Anteil der Geschlechtsdrüse durchaus entsprechend als Pubertätsdrüsc. Beachtenswert ist ferner folgende Beobachtung : Steinach sah, daß sich bei einigen der überpflanzten Tiere der Geschlechtstrieb in übernormaler Weise geltend machte; sie erzwangen die Begattung bei nichtbrünstigen Weibchen, was normale Männchen nicht tun. Bei diesen Tieren konnte man nun deutlich wahrnehmen, daß der innersekretorische Anteil, die Zwischensubstanz, sich auf der neuen Unterlage ganz besonders stark entwickelt hatte. Die nächste Frage, die nun auftauchte, war die nach der Geschlechts- spezifität der Keimdrüsen. Liefert die männliche und weibliche Pubertätsdrüse ein inneres Sekret, dessen Wirkung hinsichtlich- der Entwicklung der Geschlechts- merkmale gleich ist, oder liefert sie ein geschlechtsspezifisches Sekret, das im Falle einer männlichen Pubertätsdrüse eine Entwicklung männlicher Ge- schlechtsmerkmale und im Falle einer weiblichen Pubertätsdrüse die Bildung weiblicher Merkmale aus der einheitlichen Anlage des Körpers heraus anbahnt? Steinach stellte folgende Erwägungen an: Ist die Wirkung der männlichen und weiblichen Pubertätsdrüse gleich, dann muß es auch gleichgültig sein, ob man einem kastrierten Männchen Hoden oder Eierstöcke unter die Haut einsetzt. In beiden Fällen müßte sich der Körper des männlichen Kastraten zur Männlichkeit entwickeln. Sind aber die Wirkungen verschieden, also geschlechtsspezifisch, dann müßten bei der Verpflanzung eines Eierstocks in ein kastriertes Männchen nicht die männlichen, sondern die weiblichen, und bei der Verpflanzung eines Hodens in ein kastriertes Weibchen nicht die weiblichen, sondern die männlichen Geschlechtsmerkmale zur Entwicklung kommen. Es müßte also, falls die Wirkung der Pubertätsdrüse ge- schlechtsspezifisch ist, gelingen, die Geschlechtsmerkmale eines kastrierten Tieres durch die Keimdrüse willkürlich zu bestimmen, welche man in seinen Körper verpflanzt. Es müßte, wie Steinach sich ausdrückte, möglich sein, ein Männchen durch Kastration und Überpflanzung von Eier- stöcken zu v er w e i b Ii c h en und ebenso ein kastriertes Weib- chen durch Einsetzung von Hoden zu vermännlichen. Diese Experimente sind, wie ich mich selbst in Wien durch Augenschein an zahlreichen Tieren überzeugte, glänzend gelungen. Es wurden jungen Batten und Meerschweinchen die Hoden bzw. Eierstöcke herausgeschnitten und dann den kastrierten Männchen Eierstöcke, den kastrierten Weibchen Hoden unter die Haut des Bauches genäht, und zwar wurden zu diesem Austausch gleichaltrige, meist Geschwistertiere aus einem Wurf genommen. Bei den kastrierten Männchen, denen Eierstöcke eingesetzt waren, war in 14 Tagen alles verheilt. In 50 Proz. der Fälle heilten die ausgewechselten Keimstöcke gut an. Es ergab sich nun folgendes: Der Geschlechtsapparat der Eierstock- männchen kam nicht zur Entwicklung, sondern blieb auf kindlicher Stufe stehen. Das besagt, daß das innere Sekret, welches den Geschlechtsapparat zum männlichen Wachstum anregt, im Sekret der weiblichen Pubertätsdrüse nicht enthalten ist. Die hier wirksame Drüse (vielleicht die Thymus) konnte bisher noch nicht mit Sicher- heit festgestellt werden. Es zeigt sich sogar, daß der Geschlechtsapparat der Eierstockmännchen in seiner Entwicklung hinter der beim einfachen Kastraten zurückbleibt. Demnach dürften im Sekret der weiblichen Pubertätsdrüse Stoffe vorhanden sein, welche die Entwicklung der männlichen Geschlechtsmerkmale unterdrücken, hemmen. Die hemmende Wirkung der weiblichen Pubertätsdrüse auf die Entwicklung der männ- lichen Geschlechtsmerkmale zeigt sich auch deutlich in dem Einfluß, den die weib- liche Pubertätsdrüse auf das Wachstum der Eierstockmännchen ausübt. Das stärkere Wachstum, die robuste Figur, die kräftige Entwicklung des Skeletts sind bei diesen Tieren, ähnlich wie beim Menschen, typisch männliche Merk- male. So wiegt durchschnittlich im Alter von 12 Monaten ein normales Ratten- : Ü- Kapitel: Androgynie gg W g,"lehr,fls fn ^haltriges Weibchen. Es zeigt sich nun, daß das mannliche Wachstum bei den Eierstockmännchen unterdrückt und in weibliche na«™6,11 8 SteiDach ^«Pielsweise von vier männliche,, Ratten aus einem Wurf drei mit Eierstöcken versah, so wog schon nach 8 Monaten der normale Bruder 70 bis 100 g mehr als die Eierstockmännchen. Die Differenz war also noch großer als zwischen Männchen und Weibchen. Daß nicht etwa die Kastra- tion oder die Operation als solche daran schuld war, geht daraus hervor, daß der Kastrat aus demselben Wurf bedeutend schneller wächst als das Eieislock- mannchen. Die Eierstockmännchen nehmen auch die Kopfform von Weibchen an Sie bekommen einen kleineren und schlankeren Kopf, ähnlich wie die Weib- chen; ihr Brustumfang ist geringer als beim Männchen oder Kastraten; ihre Körner- ange entspricht der eines normalen Weibchens. Das ganze Skelett und jeder einzelne Knochen weist, wie die Röntgenuntersuchung lehrt, beim Eierstockmännchen die weiblichen Durchschnittsmaße auf. Die Eierstockmännchen bekommen einen Fettansatz; das lange, derbe, struppige Haar der Männchen macht dem kurzen, feinen, weichen, geschmeidigen Haar der wemcnen Platz, so daß man das Eierstockmännchen schon allein durch Streicheln mit der Hand von seinem normalen Bruder unterscheiden kann. Besonders inter- essant ist das Verhalten der B r u s t d r ü s e beim femininen Männchen. Sie ent- wickelt sich nach Einpflanzung des Eierstocks in Form und Größe wie beim normalen ST*6""!, ! mikroskopische Untersuchung ergibt, daß es sich um die wc-hlaus- gebildete Brustdrüse eines reifen Weibchens handelt. Zuweilen entwickelt sich die Brustdruse beim Eierstockmännchen noch weiter als beim jungfräu- lichen Weibchen. Sie fangen an, normale fettreiche Milch abzusondern „wenn man zu so feminierten Meerschweinchenmännchen/' schreibt Steinach Junge setzt so werden sie von diesen sofort als Milchtiere erkannt und verfolgt. Sie 'nehmen die Jungen an, sie säugen und zeigen bei diesem komplizierten physiologischen Akt ein Wohlgefallen, eine Geduld, Haltung und Aufmerksamkeit, wie solches sonst nur bei normalen säugenden Weibchen zu beobachten ist. Die umstimmende Kraft der weiblichen Pubertätsdrüsen hat aus dem ursprünglichen Männchen im Äußern und im Wesen ein Weibchen, eine säugende, liebreiche, sorgende Mutter gemacht." Auch der Geschlechtstrieb der E i e r s t o c k m ä n nc h e n ist leminiert, d. h. weiblich geworden. Sie haben keine Spur von männ- lichem Aggressionsdrang und verfolgen das brünstige Weibchen in keiner Weise Da- gegen üben sie ihrerseits auf die normalen Männchen eine Anziehung aus werden von diesen verfolgt, besprungen und wehren sich gegen den Aufsprung ganz nach Art der Weibchen; sie sind — um es kurz mit Steinach auszudrücken — „w e i b I i c h erotisiert"* Untersucht man die angeheilten Eierstöcke mikroskopisch, so überzeugt man sich daß gewöhnliche Eizellen in ihnen kaum vorhanden sind. Dagegen ist wiederum (wie bei den überpflanzten Hoden) die Zwischensubstanz stark entwickelt. Es kommt demnach bei der Entstehung der körperlichen und psychischen Geschlechtszeichen nicht auf das Keimgewebe an, sondern analog den männ- lichen Pubertätsdrüsen auf spezielle Zellgruppen. Demnach sind auch im Eierstock zwei Drüsen örtlich verbunden: diejenige, welche die Eizellen liefert und dieweiblichePubertätsdrüse, welche einen spezifischen Stoff das „Gynazin", nach innen absondert. In Parallele zu den Verweiblichungsversuchen an Männchen hat Steinach Ver- suchsreihen ausgeführt zur Vermännlichung von Weibchen, und zwar mit gleich günstigem Erfolg. Die überpflanzten Hoden wachsen meist nur bei bluts- verwandten Tieren, d. h. Weibchen desselben Wurfs, an. Auch hier kommt fast nur der als Pubertätsdrüse bezeichnete Anteil zur Entwicklung; lebendige Samenzellen sind in den verpflanzten Hoden nicht vorhanden. Die männliche Pubertäts drüse modelt nun den Organismus des kastrierten Weibchens in männlicher Richtung um. Die weiblichen Geschlechtsmerkmale wie 100 II. Kapitel: Androgynie Brustdrüsen, Gebärmutter und Begattungsapparat, stehen beim vermännhchten Weib- chen in ihrer Entwicklung still oder erfahren sogar eine Rückbildung. Die Körperformen werden ausgesprochen männlich; das weiche, geschmeidige Haarkleid des Weibchens schwindet und macht dem groben, struppigen Haar des Männchens Platz. „Das ganze Aussehen gleicht dem des ausgewachsenen normalen Männchens; in bezug auf Robustheit und die Größe des Kopfes wird dieses sogar übertroffen." Ähnlich ist es mit der Wandlung der Psyche: „Die maskulierten Weibchen erhalten ausgeprägt männlichen Sexualtrieb; sie unterscheiden sofort ein nichtbrünstiges von einem brünstigen Weibchen. Sobald sie ein solches aufspüren, verfolgen sie es unaufhörlich, umwerben es leidenschaftlich und springen auf. Normalen Männchen gegenüber benehmen sie sich mit männlicher Eigenart." Das Zentralnervensystem ist also bei den vermännhchten Weibchen „männlich erotisiert". Prof. Brandes, Direktor des Zoologischen Gartens in Dresden und Dozent an der Tierärztlichen Hochschule daselbst, hat entsprechende Geschlechtsumwand- lungen bei höheren Säugern, und zwar bei Damhirschen, vorgenommen. Er schreibt mir darüber: „Wir haben vor etwa einem Vierteljahr den Hoden eines Damhirsches in die Weiche eines weiblichen Damtieres eingepflanzt und dessen Ovarien herausgenommen und diese dann dem Hirsch eingepflanzt. Beide Tiere waren selbstverständlich noch ganz jung. Jetzt zeigt sich bereits bei beiden die Umwandlung. Das frühere Weib- chen zeigt deutliche Ansätze zu einem Geweih, es zeigt den sonst nur dem männ- lichen Tier eigenen Adamsapfel, und vor allem fängt es auch an zu springen, wie sonst nur die Hirsche tun. Umgekehrt läßt der frühere Hirsch jeden Geweihansatz vermissen, ebenso ist von dem Adamsapfel keine Spur zu sehen. Dafür sind aber sonderbarerweise ' schon die Milchdrüsen vorhanden, die bei den Weibchen erst entstehen, wenn Junge da sind." % Steinach nimmt nach seinen Befunden an, daß die gesamte Anlage des Organis- mus indifferent, asexuell aufzufassen ist. Erst wenn sich die zuänchst in- differente Geschlechtsdrüse zu differenzieren beginnt, entscheidet sich das Geschlecht des Embryo. Entwickelt sich im indifferenten Embryo eine männliche Pubertäts- drüse, so entseht ein männliches Individuum. Entwickelt sich eine weibliche Puber- tälsdrüse, so entsteht ein weibliches Individuum. Ist die Differenzierung nicht so scharf durchgeführt, indem nebeneinander männ- liche und weibliche P u b e r t ä t s z e 1 1 e n vorhanden und wirk- sam sind, so entstehen sexuelle. Z wi s c h e n s tu f e n , Vermischungen der männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmale. Soweit waren die Steinachschen Forschungen gediehen, bei deren chronologischer Wiedergabe ich mich zum Teil auf eine übersichtliche Arbeit des Berner Physiologen Dr. AlexanderLipschützin der „Umschau" gestützt habe, als der Krieg aus- brach. Wie alle wissenschaftlichen Arbeiten, erlitten auch die hier vorliegenden zu- nächst eine jähe Unterbrechung. Im Verlauf des Jahres 1916 hat aber Prof. Steinach zwei weitere Arbeiten veröffentlicht, aus denen hervorgeht, daß er seine Studien auch im Kriege keineswegs völlig ruhen ließ, sie vielmehr noch weiter gefördert und in beachtenswerter Weise bereichert hat. Als ich Steinach im Winter vor dem Kriege in seinem Wiener Forschungsinstitut im Prater aufsuchte und mir von ihm seine Versuchstiere und Präparate zeigen ließ, bemerkte ich, daß es von hohem Wert sein würde, wenn er kastrierten Tieren einmal gleichzeitig Hoden und Eierstockgewebe einpflanzen und dann das Verhalten der in solcher Weise hermaphrodisierten Lebewesen beobachten würde! Damals teilte mir Steinach mit, daß er sich selbst schon mit diesem Gedanken beschäftigt hätte und ihn bald zu verwirklichen gedenke. Das Ergebnis dieser neuen Versuchsreihen legte der verdienstvolle Wiener Gelehrte am 11. Mai 1916 in der Sitzung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Kaiserlichen Akademie II. Kapitel: Androgynie 101 der Wissenschaften vor. Der Titel seiner Mitteilungen lautet: „Experimentell erzeugte Zwitterbildungen beim Säugetie r". S t e i n a c h führt aus, daß seine früheren Arbeiten gezeigt hätten, daß der Austausch der Gonaden (Geschlechtsdrüsen) nur dann eine Verweiblichung oder Ver- männlichung des infantilen Tieres herbeiführen könne, wenn es vorher kastriert sei. Beließe man $e ursprüngliche Geschlechtsdrüse im Tier, so verfalle die eingepflanzte heterologe Drüse der Entartung und gehe in kurzer Zeit zugrunde. Diese Erscheinung beruhe auf einem scharfen Antagonismus der männlichen und weiblichen inneren Sekretion, den spezifischen Sexualhormonen. Steinach wollte nun ermitteln, in welchem Grade dieser Antagonismus beeinflußt, abgeschwächt oder gar aufgehoben werden könne. Zu diesem Behufe setzte er in- fantilen männlichen Meerschweinchen, die vorher durch Kastrieren neutralisiert waren, gleichzeitig einen Eierstock und einen Hoden ein. Er ließ so die homologe mit der heterologen Gonade unter gleichen Bedingungen um ihre Existenz kämpfen. In der Tat faßten beide Geschlechtsdrüsen Wurzel, heilten an, wandelten sich zu mächtig wuchernden Pubertätsdrüsen um und entfalteten nun nach beiden Geschlechts richtungen ihren Einfluß. Hatten die früheren Versuchsreihen gelehrt, daß bei eingeschlechtlicher Ein- pflanzung auf der einen Seite die homologen Geschlechtsmerkmale eine Förderung er- fuhren, während auf der andern Seite die nichtentsprechenden Geschlechtsmerkmale zweiter Ordnung eine Einbuße erlitten, so stellte es sich heraus, daß bei zweigeschlecht- licher Einpflanzung diese Doppelfunktion leidet. Es gelangen zwar die entsprechenden Merkmale zur Entwicklung, aber die nichtentsprechenden werden nicht unterdrückt. Indem keine antagonistische Aufhebung der Sexualhormone stattfindet, entfalten beide ihre Wirkung nebeneinander und lassen Zwitterbildungen entstehen. Wir sehen dementsprechend bei den zweigeschlechtlich beeinflußten Tieren die männlichen Sexuszeichen gut ausgebildet, und zwar sowohl die präpubischen geni- talen, als die postpubischen allgemeinen, aber auch die charakteristischen weiblichen Geschlechtsmerkmale haben sich aus der sonst verkümmerten Anlage zu „strotzenden weiblichen Organen" umgeformt. In erster Linie gilt dies von den Milchdrüsen, deren Warzenhöfe sich groß vorwölben, während die Warzen zu langen, säugebereiten Zitzen auswachsen. Manchmal kommt es auch zu periodisch wiederkehrender Milch- absonderung. Stein ach fährt dann wörtlich fort: „Aßer nicht allein die soma- tischen Merkmale, sondern auch die psychischen Geschlechtsmerkmale stehen unter dem Zeichen der Zwittrigkeit. Je nach der stärkeren, mikroskopisch nachweisbaren Wucherung der einen oder anderen Pubertätsdrüse folgen einander Perioden von aus- geprägt männlichem und ausgeprägt weiblichem Sexualtrieb. Durch diese Experimente ist die für die Physiologie neue Tatsache erhoben, daß das zentrale Nervensystem auf Schwankungen im Zufluß der Sexualhormone so scharf reagiert, daß es wieder- holt im individuellen Leben je nach der Speicherung des spezifischen Hormons bald in männlicher, bald in weiblicher Richtung erotisiert werden kann. Damit ist auch die den ärztlichen Sexualforschern geläufige Erscheinung des .psychischen Herma- phroditismus' in ihrem Ursprung und Wesen aufgeklärt." Zweifellos bedeuten die Steinachschen Befunde eine Bestätigung der von mir in den Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen und andern Schriften seit 20 Jahren vertretenen Auffassung der Homosexualität und verwandter Erscheinungen als kon- stitutionell bedingter Zustände doppelgeschlechtlichen Cha- rakters. Auch mit B 1 o c h s Annahme 2), daß die Homosexualität „mit embryonalen Störungen des Sexualchemismus" zusammenhänge, stimmen diese Untersuchungen überein. Gleichwohl möchte ich der Ansicht, daß „Ursprung und Wesen des Herma- phroditismus" durch die eben geschilderten Experimente gänzlich aufgeklärt seien, nicht völlig beipflichten. So zeigen die zweigeschlechtlich beeinflußten Tiere einen 2) Bloch, Sexualleben unserer Zeit, 1908, S. 589. 102 periodischen Wechsel heterosexuellen und homosexuellen Empfindens, während bei den von Krafft-Ebing nicht gerade glücklich als „psychische Hermaphroditen" bezeichneten Bisexuellen die Neigung zu beiden Geschlechtern nur ganz ausnahms- weise nacheinander, sondern fast stets nebeneinander vorkommt. In den meisten Fällen, wenn auch keineswegs immer, ist es ein bei beiden Geschlechtern vorhandener sexueller Mischtypus (feminine Männer, virile Frauen), der solche psychische Hermaphroditen anzieht. Vollends findet die Hauptgruppe der echten, ausschließlichen Homosexuellen in diesen Experimenten nur teilweise eine Erklärung. S t e i n a c h hat dies wohl selbst herausgefühlt und deshalb in seiner letzten (;itn 24.. Okiober 1916) erschienenen Arbeit3) auch für die völlige Homosexualität eine einleuchtende Deutung gegeben. Er schreibt: „Auch die dauernde oder im individuellen Leben auftretende Homosexualität läßt sich auf das Vorhandensein einer zwittrigen Puberlätsdrüse zurückführen, also wie es Hirschfeld richtig vermutet hat, wenn er von der angeborenen Disposition der Homosexualität spricht. Innerhalb einer solchen zwittrigen Pubertätsdrüse — nehmen wir den Fall eines männlichen Indi- viduums mit scheinbar normalen Testikeln — hemmen die an Masse überwiegenden männlichen Pubertätsdrüsenzellen die Wirksamkeit der weiblichen Pubertätsdrüsen- zcllen, und es entwickelt sich zunächst der durchaus männliche Geschlechtscharakter mit all seinen körperlichen Merkmalen. Wenn nun früher oder später aus irgendeiner Ursache die männlichen Zellen in ihrer Vitalität zurückgehen und ihre innersekre- torische Funktion einstellen, so werden die vorhandenen weiblichen Zellen durch das Nachlassen der Hemmung ,aktiviert'. Ebenso wie dadurch der eine oder andere somatische weibliche Geschlechtscharakter hervorgerufen werden kann, und etwa eine Mamma entsteht, kann sich der Einfluß auch auf das zentrale Nervensystem allein erstrecken und nun tritt die urnische Neigung in die Erscheinun g." Auf Grund der Steinachschen und früherer Forschungen können wir jetzt drei Prä missen als über jeden Zweifel sicher festgestellt ansehen. Erstens: Man kann durch Einpflanzung von männlichem Ge- schlechtsdrüsengewebe weiblich geborene Lebewesen in , körperlicher und seelischer Hinsicht ver männlichen und ebenso ursprünglich männ- liche Wesen experimentell durch Eierstocksgewebe verweiblichen. Zweitens: Es gibt männliche Lebewesen, die von Natur alle mög- lichen sekundären und tertiären Geschlechtsmerkmale des Weibes auf- weisen, und ebenso weibliche mit angeborenen männlichen Eigen- schaften des Körpers und der Seele. Drittens: Man hat bei Tieren und Menschen weibliche Geschlechtsdrüsen festgestellt, in denen sich männliches Keimgewebe, vor allem auch männliche Pubertätsdrüsenzellen eingesprengt fanden, und ebenso hat man gelegentlich Einsprengungen von Eierstocksgewebe in Hoden angetroffen. Halten wir diese drei Prämissen nebeneinander, so drängt sich mit zwingender Logik der Schluß auf, daß das, was der Mensch experimentell erzielt und bewirkt, auch die Natur gelegentlich von selbst vollzieht. Aus gleichen Ursachen entstehen gleiche Wirkungen. Das noch fehlende, leicht vorauszuberechnende letzte Glied in der Beweiskette ist, daß man bei Tieren und Menschen mit körperlichen und seelischen Eigenschaften des andern Geschlechts nun auch bei Lebzeiten oder nach dem Tode in den Geschlechstdrüsen die ent- sprechenden Einschläge auffindet. Dazu fehlte bisher die Gelegenheit. Aber auch ohne diesen Nachweis entspricht die aus den genannten Prämissen gezogene Conclusio allen Anforderungen und Gesetzen der Logik. Ein wichtiger Befund für die Lehre von der anatomischen Bedingtheit auch der anscheinend nur funktionellen Zwischenstufen, ist die von Steinach gemachte Wahrnehmung, „daß die Pubertätszellen 3)E. Steinach, Pubertätsdrüsen und Zwitterbildung. Sonderabdruck aus dem Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen. Bd. 4-2, H. 3. Leipzig 1916. 103 im Hoden Homosexueller in ihrer Struktur sehr beachtenswerte Unterschiede gegenüber normalen Leydigschen Zellen zeigen" 4). Man hat nun allerdings gegenüber dieser Angabe den Einwand erhoben, daß die Zwischenzellen an und für sich auch unter normalen Verhältnissen große Ver- schiedenheiten an Form, Größe und Menge aufweisen. Benda, der den Hoden eines Homosexuellen, an dem Mühsam eine Probeexzision vorgenommen hatte, mikroskopisch untersuchte, konnte seinerseits keine von der Norm abweichende Struktur wahrnehmen. Damit ist die Annahme, daß die intersexuelle Konstitution von dem Bau der Ge- schlechtsdrüsen und der Besonderheit ihrer inneren Sekretion abhängig ist, natürlich nicht widerlegt. Um zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen, wäre es erforderlich, daß nicht nur Hodenstückchen, sondern ein ganzer Hoden nebst den entwickelten und den für gewöhnlich rudimentären Anhangsgebilden einer mikroskopischen Untersuchung unter- zogen wird, besser noch beide Hoden. Erst dann wird man die Frage, ob Ein- sprengungen von Eierstocksgewebe im Hoden bei der intersexuellen Konstitution des Mannes vorliegen, und ebenso Einschüsse von Hodengewebe im Ovarium des virilen Weibes bejahend oder verneinend beantworten können. Ich habe diese Auffassung in meinen früheren Arbeiten vertreten, ausgehend von den Tatsachen, daß Ho den- geschwülste im Eierstock gefunden wurden, daß Verbindungen von männlichem und weiblichem Keimgewebe in einer Geschlechtsdrüse nicht nur bei Tieren, sondern auch beim Menschen mit Sicherheit nachgewiesen sind, und daß Zwittertum künstlich durch die gleichzeitige Einpflanzung von männlichem und weiblichem Keim- gewebe erzielt werden konnte. Außer den Geschlechtsdrüsen wären bei Obduktionen Intersexueller auch alle anderen Drüsen mit innerer Sekretion zu untersuchen, vor allem die Prostata und die Nebennieren, dann aber auch die Schilddrüse und der Hirnanhang. Vor einiger Zeit wohnte ich einmal der Sektion eines kryptorchen Hundes bei, bei dem sich gleichzeitig mit einer sehr großen Bauchgeschwulst starke Milchdrüsen von ganz weib- lichem Charakter entwickelt hatten. Die von Obertierarzt Kallmann und dem Spezial- arzt für Hundekrankheiten Dr. Heilborn unmittelbar nach Tötung des Tieres durch Blausäure ausgeführte Leichenschau ergab ein völlig leeres Skrotum, rechts an der Ovarialstelle einen verkümmerten Testikel mit vielen lebenden Spermatozoen, links ein kindskopfgroßes Fibrokarzinom an der Stelle einer nicht mehr diagnostizierbaren Geschlechtsdrüse. Enorm vergrößert war die Prostata, ebenfalls sehr groß die rechte Nebenniere, und auch die Schilddrüse war hypertrophisch. Der Fall zeigte recht anschaulich wieder, wie enge Korrelationen zwischen den einzelnen endokrinen Drüsen des polyglandulären Systems, die mehr oder weniger sämtlich mit den Geschlechts- funktionen zu tun haben, bestehen. Bei dem Hunde war gleichzeitig mit der femininen Verände- rung der Brüste eine heftige Steigerung seiner heterosexuel- len Libido beobachtet worden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß letztere mit der Vergrößerung der Prostata -zusammenhängt — man ziehe zum Vergleich die er- höhte Sexualerregung bei der Prostatahypertrophie im Beginn der Involution („Johannis- trieb") heran — , während die Mammaebildung von der Atrophie der Testikel her- rühren dürfte. Im übrigen ist es noch unaufgeklärt, weshalb bei der Androgynie bald diese, bald jene Organe andersgeschlechtlich variieren. Liegt es im einzelnen Falle an der besonderen Reaktionsfähigkeit der Brüste, des Kehlkopfs oder der anderen in Betracht kommenden Teile, oder liegt es, was ich für wahrscheinlicher halte, an der spezifischen Zusammensetzung der in ihrer chemischen Formel sicherlich recht kompliziert gearteten Sexualhormone. Aus der oben erwähnten zweiten von S t e i n a c h während des Krieges voll- endeten Arbeit in W i 1 h. R o u x ' „Archiv für Entwicklungsmechanik der Organis- *) Vgl. die Arbeit: „Ist die Homosexualität körperlich oder seelisch bedingt?" Erwiderung von Dr. Magnus Hirschfeld in Münch, med. "Woch. 191S, Nr. 11, S. 298—300. 104 II. Kapitel: Androgynie men", in der er in 6 Kapiteln eine sehr gute Übersicht seiner bisherigen Versuche und ihrer Resultate gibt, welche er auch durch instruktive Bildtafeln mikroskopischer Präparate erläutert, möchte ich noch zwei Punkte herausheben: einmal, daß die durch Überpflanzung der Geschlechtsdrüsen erzielten Veränderungen nicht etwa nur vorübergehende Erscheinungen sind, sondern daß verschiedentlich die eingepflanzte Pubertätsdrüse bereits über eine Reihe von Jahren fortgewirkt hat, welche für die betreffenden Tiere, sozusagen, das ganze Leben bedeutet. Der zweite Punkt ist mehr theoretischer Natur, aber auch sehr beachtenswert. Steinach wendet sich auf Grund seiner Untersuchungen gegen die bisherige Einteilung des Hermaphroditismus in den wahren und Pseudohermaphroditismus. Er sagt: „Es gibt für alle Zwittererscheinungen nur eine Ursache und diese beruht auf dem Entstehen einer zwittrigen Pubertätsdrüse als Folge einer unvollständigen Differenzie- rung der Keimstockanlage, während die normale eingeschlechtige Entwicklung durch die vollständig durchgreifende Differenzierung derselben zu einer männlichen oder weiblichen Pubertätsdrüse bedingt ist." Mit Recht schlägt er vor, dementsprechend die Einteilung der mannigfachen Formen und Ubergänge nach stichhaltigeren Prin- zipien vorzunehmen. Die Zwitterbildung kann vollkommener oder unvollkommener sein, kann mehr dem einen oder anderen Geschlechte zuneigen, kann mehr die somatischen oder mehr die psychischen Charaktere betreffen und kann auch in ihrem zeitlichen Auftreten verschieden sein. Wir können dieser Meinung, für die wir bereits im vorigen Kapitel eintraten, um so mehr Beifall zollen, als es der hier zum Ausdruck gebrachte Gesichtspunkt war, der uns vorschwebte, als wir die Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen ins Leben riefen, deren Begründung anfangs so befremdlich wirkte, und von denen nun bereits 20 Bände vorliegen. Hier faßten wir die mannigfachen Formen des männlichen Feminismus und der weiblichen Virilität einheitlich als entwick- lungsgeschichtliche Varianten zusammen und unterschieden als die vier bezeichnendsten Haupttypen, um die sich viele Abstufungen gruppieren, den Herm- aphroditismus, die Androgynie, die Homosexualität und den Transvestitismus, je nach- dem sich die Mischung der Geschlechtsmerkmale auf den Genitalapparat, die übrigen körperlichen Geschlechtsunterschiede, den Geschlechtstrieb und die sonstigen seelischen Geschlechtszeichen erstreckt. Aus den Steinachschen Versuchen geht mit Sicherheit hervor, daß es nicht etwa nur die ausgesprochenen Geschlechtsmerk- male sind, wie etwa die Milchdrüsen, welche von den Pubertäts- zellen den männlichen oder weiblichen Geschlechtsimpuls emp- fangen, sondern daß nahezu die Entwicklung aller Teile und Funk- tionen des Körpers von den spezifischen Sexualsekreten eine Beeinflussung erfährt; es ist sehr wahrscheinlich, daß dieser Ein- fluß sich bis auf den Geschlechtscharakter der einzelnen Körperzelle erstreckt. Man könnte nun bei oberflächlicher Betrachtung an- nehmen, daß es ziemlich einfach sein müßte, im Einzelfall zu sagen, was männlich und was weiblich ist, und daß man danach auch den Begriff androgyn und gynandrisch als den von weiblichen Ein- schlägen beim Mann und männlichen Eigenschaften beim Weibe leicht abgrenzen könnte. In Wirklichkeit trifft dies aber keines- wegs zu. Nehmen wir beispielsweise einmal die Haut des männ- lichen und weiblichen Menschen. Sie ist beim Weibe im allgemeinen viel zarter, feiner und durchsichtiger wie beim Manne. In manchen Familien, ja bei manchen Völkern und Bassen besitzen aber auch die Männer eine sehr zarte, dünne und helle Haut, so daß sie hierin cd o -9 fcß ca .§ 1 a c o P3 3 e o ö ccj T3 £ C CD ni .J3 H 0 ^ 1 s <u "c5 ß .ES ° 1 cd s 'S £ £ P 5 > cd £) 5 cd £ tu e e s 2 6 y <U O) ~> .a Ö < £ ü cd aj S £ £ ö 3 " TO cß CO O ü > o h B CD rj « ü Ol «s >-■ n, cd cd CD C Q !§ o & 'S S II. Kapitel: Androgynie -^05 sogar die Frauenhaut vieler anderer Familien und Stämme über- treffen. Oder der Gesichtsausdruck. Wie oft kommt es vor, daß jemand Schnitt und Ausdruck eines Gesichts weiblich findet wahrend ein anderer Beobachter gegenteiliger Ansicht ist, wie oft erscheint auch derselbe Gesichtsausdruck in Verbindung mit männ- licher Tracht weiblich und bei weiblicher Kleidung männlich. Es fehlt uns eben für diese Begriffe ein genauer Maßstab, die Über- gange sind fließend, oft genug ist auch das objektiv gewollte Urteil weniger abhängig von verstandesgemäßen Erwägungen, als von un- bewußt subjektiven Empfindungen adduktiver oder abduktiver Strebung, die in der eigenen Sexualbeschaffenheit wurzeln. Klinisch tritt die Androgynie in drei Hauptformen in Erschei- nung, für welche mein Mitarbeiter B. Grießmann die Bezeich- nungen: 1. hypoplastische, 2. metaplastische, 3. akti- vierte Form vorgeschlagen hat. Die hypoplastische Androgynie ist textlich und bildlich bereits in dem Kapitel: „Geschlechtsdrüsen- ausfair' (Bd. I, S. 1—29) geschildert: verkümmerte Testikel, ver- gesellschaftet mit winzigem Penis und vielen androgynen Merk- malen, wie breitem Becken, hoher Stimme, Bartlosigkeit und Gynä- komastie. Bei der metaplastischen Androgynie zeigen die Genitalien äußerlich keine wahrnehmbare Veränderung, höch- stens dann und wann eine gewisse Hyperplasie. Gleichwohl zeigt der Körper bald vereinzelt, bald in Gruppen auftretend, anders- geschlechtliche Einschläge mannigfacher Art. Mit einer akti- vierten Androgynie haben wir es dort zu tun, wo Veränderungen an den Geschlechtsdrüsen intra vitam die eigengeschlechtlichen Merkmale verwischen und die latente Andersgeschlechtlichkeit her- vortreten lassen. In höherem Grade kommt dies bei Hoden- und Eierstocksgeschwülsten, sowie Verletzungen der Geschlechtsdrüsen (z. B. nach Hodenschüssen und bei Kastraten) vor, in leichteren Graden nicht selten schon durch die Involutionsvorgänge im Klimak- terium und Puerperium. Zeigt uns der Eunuchoide auf Tafel II des ersten Bandes ein Beispiel der hypo plastischen Androgynie, der verstümmelte Soldat auf Tafel V anschaulieh ein Bild der a k t i - vierten Androgynie, so stellt der junge Gynäkomast auf Tafel IV dieses Bandes einen instruktiven Fall metaplastischer Andro- gynie dar. Ich will nun im folgenden eine tabellarische Gegen- überstellung der hauptsächlichsten Körpereigenschaften geben, wie wir sie beim Weibe (W.), beim Manne (M.), beim weiblich gearteten Mann (wM.) und beim männlich gearteten Weib (mW) finden. Die unter einer Ziffer stehenden Ausführungen sind quer als ein fortlaufendes Ganze zu lesen, da sich der zugehörige Text aus technischen Gründen nicht jedesmal streng auf die Längsrubrik beschränken ließ: 106 II. Kapitel: Androgynie W. 1. Die Körpergröße des erwachse- nen Weibes beträgt im Mittel 157 cm. Die Frau ist durchschnittlich ungefähr 10 cm kleiner wie der Mann. Schon das neugeborene Mädchen ist 1 cm- kürzer wie das männliche Iünd (48,3 cm W. : ■49,6 cm M. nach Landois). Bis zum 8. Lebensjahre haben Knaben und Mädchen ungefähr dieselbe Länge. Vom 9. bis 14. Lebensjahre sind die Mädchen höher als gleichaltrige Kna- ben; im 13. Lebensjahre durchschnitt- lich 147 cm weiblich : 142 cm männ- lich nach Fvicdentbal. M. 1. Der erwachsene Mann ist durch- schnittlich 167 cm lang. Er wächst bis zum 23. Jahre, während Mädchen nach dem 16. Jahre nur sehr langsam und nach dem 20. überhaupt nicht mehr wachsen. Vom 15. Jahre ab nehmen die Knaben viel schneller an Größe zu als die Mädchen; am meisten im 16. Lebensjahre, während die Mädchen am rasche- sten im 13. Jahre wachsen. Bereits zwischen dem 25. und 30. Le- bensjahre pflegt bei beiden Geschlech- tern zwar sehr langsam, aber doch stetig bis zum Lebensende die Körper- länge abzunehmen. 2. Die einzelnen Knochen sind beim Weibe zarter, in allen Dimen- sionen kleiner, die Muskelsätze treten schwächer hervor. 2. Die Männerknochen sind stärker, mas- siver als die des Weibes. Die Ansatz- stellen der Muskeln heben sich bei ihm mehr ab. 3. Der knöcherne Schädel ist beim Weibe absolut kleiner, im Verhältnis zu ihrer geringeren Körperlänge jedoch ein wenig größer wie beim Manne. Auch der weibliche Kopfumfang ist relativ größer. Die absolute Schädel- kapazität beträgt bei der Frau 1300 ccm (Ranke). Der weibliche Unterkiefer ist verhältnismäßig niedriger und kleiner, der Unterkieferwinkel ist etwa 7° stumpfer als der des Mannes. 4. Das Schlüsselbein des Weibes ist weniger stark gebogen und im Querschnitt kreisrund. 3. Die absolute Schädelkapazität beim Manne beträgt 1500 ccm. Das Ty- pischste am Männerschädel ist das viel stärkere Hervorspringen der Gla- bella und der Supraziliarbogen. Das Schädeldach ist meist gewölbter. Die Zähne zeigen kaum merkliche Ge- schlechlsunterschiede. Die Weisheits- zähne treten beim Weibe meist im Beginn, beim Manne Ende der 20 auf. Die oberen mittleren Schneidezähne sollen beim Weibe nicht nur relativ, sondern auch absolut größer sein als beim Manne. 4. Das männliche Schlüsselbein ist stärker gebogen und im Querschnitt abgeplattet. 5. Die Extremitäten sind beim Weibe im Verhältnis zum Rumpf kürzer wie beim Manne. Die Stel- lung der Beine ist beim Manne mehr säulen artig gerade, oder etwas zur X - Form geneigt, beim Weibe kommt wegen der größeren Breite des Beckens öfter eine leichte O-Stellung der Beine vor. 5. Hände und Füße sind beim Manne viel stärker und „knochiger" als beim Weibe. Die Frau hat einen längeren Zeigefinger, aber kürzeren Daumen, eine längere 5., aber kürzere 2. Zehe als der Mann. 10? wM. 1. Da die Körpergröße sowohl beim weiblichen als männlichen Menschen, und ebenso bei femininen Männern und virilen Frauen großen Schwan- kungen unterliegt, ist die von der Skeletthöhe abhängige Länge als an- drogynes Zeichen kaum verwertbar. Unter etwa 1000 Männern von mehr oder weniger femininer Beschaffenheit fand ich beiläufig 3/5 zwischen 160 und 180 cm hoch, Vs über 180 cm und Vs unter 160 cm. Unter Ehepaaren ist nicht selten der Mann kleiner als die Frau. Es hat den Anschein, als ob sehr kleine zierliche Männer sich be- sonders häufig von groß und stark ge- wachsenen Frauen angezogen fühlen. 2. Von den Anthropologen (Virchow u.a.) wird betont, wie schwierig es bei Knochenfunden ist, zu unterscheiden, ob ein Knochen von einem männ- lichen oder weiblichen Skelett stammt. 3. Mit Sicherheit aus dem Schädel das Geschlecht zu erkennen, erklären die ausgezeichnetsten Kraniologen für schwierig. Bei androgynen Männern finden sich ziemlich häufig Weiber- köpfe mit flacherem Schädeldach und stumpferem Unterkieferwinkcl als beim Durchschnitt der Männer. Die brei- teren Schneidezähne finden sich so häufig bei Männern, daß manche Forscher sie deshalb als weibliche Ge- schlechtsmerkmale überhaupt nicht anerkennen wollen. 4. Auch dieses Geschlechtsmerkmal ist nicht konstant. Die Schlüsselbeine androgyner Männer nähern sich dem femininen Typus. 5. Trotzdem H. Ellis sagt : „Daß ein Mann Mann ist bis auf seinen Daumen -und ein Weib Weib bis auf ihre kleine Zehe," sind dennoch auch hier „Aus- nahmen von der Regel" nichts Seltenes. Namentlich kommen auffallend kleine Hände und Füße bei femininen Männern vielfach vor. mW. 1. Das gynandrische Weib ist oft auf- fallend groß. Man findet Viragines, die die durchschnittliche Frauengröße weit übertreffen. Doch gibt es unter sehr männlich gearteten Frauen auch viele kleine, die etwas ausgesprochen Knaben- und Jünglinghaftes an sich haben. fn wie hohem Grade die Körpergröße von der inneren Sekre- tion der Pubertätsdrüse beeinflußt wird, lehren die Steinachschen Ver- suche. Beispielsweise bleiben Eier- stocksmännchen im Wachstum weit hinter normalen und kastrierten Männchen zurück. Weibchen, in die Hoden übergepflanzt sind, erreichen und übertreffen dagegen die Größe der Männchen. 2. Weibliche Knochen von männlichem und männliche von weiblichem Durch- schnittstypus gehören keineswegs zu den Seltenheiten. 3. Nach Mantegazza kommt es häufiger vor, „daß ein Weiberschädel einem Männerschädel ähnlich ist als umge- kehrt". Jedenfalls beobachtet man Frauen mit Männerköpfen. Steinach hebt hervor, daß männliche Tiere mit transplantierten Eierstöcken eine weib- liche Kopfform, weibliche Tiere mit überpflanzten Hoden eine männliche Kopfform bekommen. i. Die Schlüsselbeine gynandrischer Frauen sind denen der Männer ähn- lich. 5. Frauen, die männliche Schuh- und Handschuhnummern brauchen, sind zahlreich. Welche Rolle auch hin- sichtlich der Extremitäten die innere Sekretion der Pubertätsdruse spielt, lehren die Beobachtungen an Eu- nuchen und Eunuchoiden, bei denen das Verhältnis zwischen Rumpf und Gliedern sich wesentlich vom Normal- zustand unterscheidet (vgl. Bd. I) 108 II. Kapitel: Androgynie W. 6. Das Becken ist unter den Ge- schlechtsunterschieden des Skeletts das markanteste. Es ist aus •4 Knochenpaaren zusammengesetzt: den ausgehöhlten Darmbeinen als oberen Teil, dem verschmolzenen Stück der Wirbelsäule (Kreuz- und Steißbein) als hinteren Teil, den Schambeinen vorne und den beiden Sitzknochen unten. Der wesentliche Geschlechtsunterschied ist, daß beim Weibe das Becken weiter, breiter, flacher und zarter, beim Manne enger, länger und starkknochiger ist. Beim Weibe ist die Becken- neigung größer (lumbosakrale Lor- dose) als beim Manne. Die Scham- beine stoßen beim Weibe in einem Bogen zusammen : Arcus pubis (90 bis 100°), beim Manne in einem Winkel: Angulus pubis (70 bis 95°). Die Gynäkologen meinen, daß Breite und Weite des weiblichen Beckens von dem Druck stamme, den die umfangreichen Sexualorgane von innen nach außen ausüben. Damit würde übereinstimmen, daß man bei Verkümmerung von Uterus und Ova- rien auch meist ein enges Becken findet. Es hat aber die Annahme mehr für sich, daß beides auf einer gemeinsamen Ursache beruht, näm- lich durch Mängel in der inneren Sekretion verursacht wird, als daß oines das andere bedingt. Bf. 6. Nach Waldeyer unterscheiden sich die wichtigsten Beckenmaße wie folgt : W. M. Beckeneingang v. rechts — links : 13V2 cm 12^2 cm Beckeneingang v. vorn — hinten: 11 „ IOV2 Beckenweite von rechts — links: HV2 „ 11 Beckenweite von vorn — hinten: 123/4 „ 11 Beckenenge von rechts — links: IOV2 „ 8 Beckenenge von vorn — hinten: HV2 „ 91/2 Beckenausgang v. rechts — links: 11 „ 8 Beckenausgang v. vorn — hinten: 9 „ 7Va Distantia spina- rum: 26 „ 26 Distantia crista- rum: ,29 „ 26 Distantia trochan- terica: 311/« „ . 311/* Conjug. externa: 20 „ 18 Der Beckeneingang ist beim Weibe queroval bis kreisförmig, die Löcher des Beckens sind größer, sein Bandapparat ist stärker entwickelt. Die Sitzhöcker sind weiter voneinan- der entfernt. 7. Die Gelenke des Weibes sind relativ schwächer, die einzelnen Ge- lenkbänder kleiner und zarter. 8. Die Muskulatur und dement - sprechende Muskelleistung ist beim Weibe durchschnittlich viel weniger entwickelt als beim Manne. Das Gesamtgewicht der Muskeln ist bei gleichem Körpergewicht bei der Frau um 10 kg geringer. Nach Vierordt 7. Beim Manne ist die Gelenkkapsel größer, der elastische Bandapparat viel stärker als beim Weibe. 8. Die Muskulatur des Mannes ist kräftiger, die einzelnen Muskeln sind in der Faser zäher, fester, in der Konsistenz kompakter und gedrunge- ner. Der Mann kann ungefähr das Doppelte seines eigenen Gewichtes tragen, die Frau nur die Hälfte. II. Kapitel: Androgynie 109 wM. 6. Ein mehr weibliches Becken bei Männern — die Gynosphysie des Mannes — ist eine der verbrei- tetsten Formen der Androgynie. Schon dem Laien, namentlich dem Schneider beim Maßnehmen, fällt die Breit- hüftigkeit mancher Männer auf. Ein feminin veranlagter Soldat berichtete, bei der militärischen Einkleidung hätte der Kammerunteroffizier gemeint, „er habe wohl bei der Verteilung des Gesäßes zweimal ,hier' gerufen". Für den Zwischenstufentypus ist beson- ders das Verhältnis der Beckenlinie zur Schulterlinie — Trochan- t e r e n abstand zum Akromial- abstand — beachtenswert. Dieses Verhältnis ist beim Weibe posi- tiv: Beckenbreite größer als Schul- terbreite ; beim Manne negativ: Beckenbreite geringer als Schulter- breite, beim gynandrischen Typ fin- det sich oft nahezu gleiche Breite. Selbst ein umgekehrtes Verhältnis beider Durchmesser gehört nicht zu den Seltenheiten. Ziemlich häufig ist bei den androgynen Männern auch ein „hohles Kreuz", derart, daß eine vom 7. Halswirbel zum Steiß- bein gezogene Gerade 8 cm und mehr von der tiefsten Einsenkung der Len- denwirbelsäule entfernt bleibt. Es entsteht dadurch der Eindruck einer „schmalen Taille". mW. 6. Ebenso häufig wie Weibhüftigkeit beim Manne, ist bei der Frau die Andros- physie. Waldeyer5) schreibt in seiner klassischen Monographie : „Wir finden auch Weiberbecken vom Habi- tus der Männerbecken. Die Knochen sind massiver, die Darmbeine stehen steil, die Schambogen sind eng, die Beckenhöhle hat eine Trichterform. Meist haben die betreffenden Frauen auch in ihrem übrigen Körperhabitus etwas Männliches — Viragines — , doch braucht dies nicht immer der Fall zu sein." In einem Gutachten, das Krafft-Ebing über eine ungarische Äristokratin ausstellte, die in Männer- kleidern lebte, heißt es: „Ihr Rumpf entspricht durchaus nicht weiblicher Bauart. Es fehlt die Taille. Das Becken ist so schmal und so wenig prominierend, daß eine von der Achselhöhle zum entsprechenden Knie gezogene Linie der Richtung der Geraden entspricht und durch eine Taille nicht ein-, durch das Becken nicht auswärts gedrängt wird. Das Becken erscheint als ein aller- seits verengtes von entschieden männlichem Typus. Die Distanz der Darmbeinstachel betrug 22,5 cm statt 26, die der Darmbeinkämme 26,5 statt 29, die der Rollhügel 27 statt 31, die Conjugata extern. 17,2 statt 20. Wegen mangelhafter Breite des Bek- kens ist auch die Stellung der Ober- schenkel keine konvergente wie beim Weibe, sondern eine gerade." Ähn- liche Beckenmaße fand ich bei gynandrischen Weibern wiederholt. 7. Feminine Männer zeichnen sich meist durch feinere, oft auffallend zierliche Gelenke aus. 8. Der androgyne Mann hat in der Regel schwache Muskeln. Namentlich ist die Armmuskulatur gewöhn- lich gering, die Beinmuskeln sind verhältnismäßig besser entwickelt. Infolgedessen vermögen feminine Männer selten kräftige und häufige 7. Die virile Frau besitzt oft Gelenke von völlig männlichem Habitus. 8. Im Gegensatz zum androgynen Mann ist das gynandrische Weib meist muskulös. Besonders zeichnet sie sich durch ihre Armkraft aus. Wel- chen Einfluß die innere Sexual- sekretion auf das Muskelgewebe hat, lehren die Beobachtungen an Kastra- 6) Waldeyer, „Das Becken" in Lehrbuch der topographisch - chirurgischen Anatomie, Teil II, S. 393. Bonn 1899. t 110 II. Kapitel: Androgynie W. wiegen beim erwachsenen Manne die Muskeln 241l2 kg, beim Weibe l*1/, kg. M. Schon Knaben vermögen um ein Drittel größere Lasten zu bewältigen als Mädchen. 9. Die Händekraft des Weibes rechnet man um ein Drittel geringer als die des Mannes. Messungen er- geben, daß der Druck beider Hände beim Manne und ebenso der Zug das Doppelte beträgt. Das Weib neigt da- her auch zu leichteren Handarbei- ten, während dem Manne mehr ein Handwerk liegt, das größeren Kraftaufwand beansprucht. Auch beim Schreiben verwenden Weiber nur halb so starken Druck wie Männer; allerdings schreiben sie schneller. In der Handschrift tritt überhaupt neben der psychischen auch die manuelle Eigenart des Mannes und Weibes stark zu- tage. 10. Wie die Graphik tragen auch die anderen motorischen Ausdrucksfor- men: Mimik, Gestik und Gang ein männliches oder weibliches Ge- präge. Unter Mimik verstehen wir die Gesichtszüge, Miene und Physio- gnomie des Menschen, unter Gestik seine Armbewegungen. Die mimi- schen Bewegungen des Weibes sind biegsamer, schmiegsamer, unbestimm- ter, die des Mannes schärfer aus- gearbeitet und ausgeprägter, kürzer, freier, sicherer. An anderer Stelle führte ich aus: „In der geraden, auf- rechten Kopfhaltung beim Manne pflegt sich mehr Selbstbewußtsein, in der leicht schrägen der Frau mehr Selbstgefälligkeit zu dokumentieren ; man könnte vielleicht sagen, daß in der Mimik der Frau mehr eine Frage an das Leben liegt, während die des Mannes in ihrer Gesamtheit mehr eine Antwort gibt, eine Bejahung oder Verneinung des Lebens." 9. Prof. S c h n e i d e m ü h 1 (in „Hand- schrift und Charakter", Leipzig 1911) führt aus, daß die Handschriften der Weiber dünner und zarter, meist auch schräger zu sein pflegen als diejenigen der Männer; sie seien oft ausdruckslos und nicht so markig und sicher wie männliche Schrift- züge; unleserliche oder schwer zu entziffernde Handschriften findet man allerdings öfter bei Männern als bei Weibern. Schneidemühl will in den Schriftzügen der Männer mehr Wil- lensstärke und Ausdauer, in denen der Weiber mehr Empfindsamkeit und weniger Charakter finden. 10. Die männlichen Gesten stehen mit seiner Mimik in engem Zusammen- hang. Sie sind beim Manne eckiger, ruhiger, bestimmter, sei es mehr zu- stimmend oder abweisend. Die Arm- bewegungen des Weibes sind graziö- ser, abgerundeter, gezierter. Es ist darauf hingewiesen, daß beim Weibe mehr die Bewegungen zum Körper hin, die zentripetalen, also die Ad- duktion, die Pronation und Beugung, beim Manne dagegen die Bewegungen vom Körper fort, also Streckung, Ab- duktion, Supination überwiegen. H. Ellis meint mit Recht, daß es kein Zufall sei, wenn man in Pompeji und Herculanum, und 1908 in Mes- sina (nach dem großen Erdbeben) war es, wie ich selbst beobach- tete ebenso, die verschütteten Männer in der Haltung heftigen Widerstan- des, die Frauen aber ihre Kinder resignierend an sich drückend ge- funden hat. 11. In der Beinhaltung und den Bein- bewegungen eines Menschen drückt sich ebenfalls viel von seiner Indi- vidualität aus. Teils ist der Gang eines Menschen von somatischen 11. Der Mann pflegt bei straffer Rumpf- hallung feste, längere, die Frau bei drehenden und leicht wiegenden Rumpfbewegungen kürzere, oft zier- lich trippelnde Schritte zu machen. II. Kapitel: Androgynie 111 wM. Klimmzüge zu machen, während Tanzen und Wandern ihre Lieblings- bewegungen sind, in denen sie recht Gutes leisten. 9. In der Schrift „Memnon" von Ulrichs (S. 131) wird darauf hingewiesen, wie leicht den „Weibling" seine Handbewegungen verraten: „Nament- lich weiblich", meint der Verfasser, „ist die Art, wie er die Hand zum Gruß darreicht"; „der Weibling", heißt es weiter, „affektiert und kokettiert gern beim Sprechen mit den Hän- den." In der Tat gibt der Effemina- tus viel sanfter und leiser die Hand, wie der virile Mann. Wie sehr er oft weibliche Handfertigkeiten bevor- zugt, werden wir an späteren Stellen zu berichten haben. mW ten und Mikrorchisten (Eunuchoiden), deren Körperkräfte sehr mangel- haft sind. 9. Fast alle Graphologen betonen, daß es zwischen den typischen Frauen- und Männerhandschriften eine große Anzahl von Übergängen gibt. Oft findet man bei Männern direkt weib- liche, bei Frauen ausgesprochen männliche Schriftzüge. Vor allem schreiben virile Weiber oft sehr groß und weit, sie nehmen gern große, weiße Briefbogen und Umschläge, be- nutzen auch viel Siegel, während die femininen Männer ein viel kleineres Format und oft buntes Papier be- vorzugen. 10. Bei femininen Männern ist die weib- liche Mimik oft sehr augenfällig; bei weichen Gesichtszügen zeigen sie einen schmachtenden Ausdruck und Aufschlag der Augen, bewegliche Mund- winkel und bebende Nasenflügel, so- wie ein bezeichnendes Rückwärts- heben des Kinns und Seitwärtsneigen des Kopfes. Niesen und Räuspern geschieht ohne sonderliche Kraft und auch einen durchdringenden Pfiff herauszubringen, ist der weibliche Mann oft nicht imstande. Seine Gesten sind oft so charakteristisch weiblich, daß man geradezu von einem Transgesticismus im Sinne einer Umkehrung der männ- lichen oder weiblichen Bewegungs- modalität sprechen könnte. Beson- ders häufig findet man bei Weib- lingen ein Stemmen des im Ellbogen gekrümmten, nach vorn gehaltenen linken Arms in die Taille, sowie ein Anlegen der gebeugten Finger an die Wange. 11. Auch im Stehen, Gehen und Sitzen findet man nicht selten bei Männern den femininen, bei Weibern den viri- len Typ. Wer in Gesellschaften acht gibt, kann manchmal ein energisches 10. Mannweiber zeichnen sich vielfach durch scharfe Züge, einen festen, oft harten Bück, kurze, ruckweise Kopf- bewegungen und andere Zeichen viriler Mimik aus. Pfeifen können männliche Frauen oft ungewöhnlich gut. Ähnlich ist es mit den Gesten. Martial schildert, wie die männlich geartete Philaenis sich in der Fecht- und Ringschule benimmt: gravesque draucis halteras facili rotat lacerto, d. h., die für kräftige Burschen schweren Gewichte schwingt sie mit leichtem Arm. Genau so kann man noch jetzt beobachten, wie stolz die Virago auf ihre Armkraft ist, wie selbstgefällig sie ihren wulstigen Bizeps präsentiert. 11. Die stramme Haltung und Gehweise männlicher Frauen hat oft etwas Dezidiertes, Militärisches. Viele rei- ten gern im Herrensattel und können auch nur „als Herr" tanzen. In 112 II. Kapitel: Androgynie W. Verhältnissen abhängig, wie von der Breite der Hüften, der ^durch be- dingten Stellung der Oberschenkel, der stärkeren oder schwächeren Ent- wicklung der Beuge- und Streck- muskeln, teils rührt er von seelischen Einwirkungen her, die ihrerseits stark unter innersekretorischem Ein- fluß stehen. M Im Sitzen ist das ungezwungene Übereinanderschlagen der Beine oder das Kreuzen der Füße bei zusammen- gezogenen Unterschenkeln typischer für männliche, das Neben- und Aus- einanderhalten der Beine und Füße bezeichnender für weibliche Eigenart. 12. Im Anschluß hieran noch einiges über den weiblichen und männlichen Gruß. Für jugendliche Mädchen ist der Knix, für ältere Frauen ein leichtes Neigen des Hauptes die ihrem Wesen entsprechende Grußform. 13. Umgekehrt wie die Muskulatur ver- hält sich als Geschlechtseigentüm- lichkeit das Fett. Es überwiegt beim Weibe im Vergleich zum Manne und gibt ihm die weiche Rundung der Formen. Das Fett pflegt sich bei der Frau besonders üppig und schwellend um, über und zwischen den mehr ruhigen Muskeln zu formen, während deren gesteigerte Inanspruchnahme und konsistentere Beschaffenheit beim männlichen Geschlecht dem Fett- ansatz weniger günstig ist. 14. Das im wesentlichen von der Knochen-, Muskel- und Fettmenge und auch von der Lebensweise abhängige Körpergewicht kommt als Ge- schlechtscharakter kaum in Betracht. 15. Die Haut des Weibes ist schon in- folge ihres Fettgehaltes gespannter, dünner, zarter, weicher und durch- schimmernder. Sie ist im allgemeinen pigmentärmer als die männ- liche; nur an einigen Stellen sammelt es sich stärker an (z. B. um die Brust- warzen), an einigen Stellen ändert, steigt und sinkt die Pigmentierung gleichzeitig mit Vorgängen innerhalb der Geschlechtsdrüse, vor allem mit der Menstruation und Schwanger- schaft. 12. Der Mann pflegt mit einer mehr oder weniger tiefen Vorwärtskrümmung der Wirbelsäule zu grüßen. Auch das Strammstehen, das Zusammen- reißen der Hacken, das Fortheben der Kopfbedeckung, das Anlegen der rechten Hand an die Schläfengegend ist männlich. 13. Bischoff stellte beim Manne 41,8 Proz. Muskeln und 18,2 Proz. Fett, beim Weibe hingegen nur 35,8 Proz. Mus- kel- 28,2 Proz. Fettgewebe fest. Bei einem Mann und einem Weib, die beide ca. 55,5 kg wogen, fanden sich auf weiblicher Seite 19,85 kg Mus- keln und 15,67 kg Fett, auf männ- licher Seite 23,06 kg Muskeln und 6,16 kg Fett. Auch die Anlage zur Fettsucht ist beim Weibe größer. Unter 86 Fällen fand Bouchard 62 Weiber und 24 Männer. 14. Höchstens ist zu erwähnen, daß nach Quetelet infolge Fettansatz die Frau ihr Höchstgewicht durchschnittlich mit 50, der Mann mit 40 Jahren er- reicht. 15. Die Haut des Mannes ist derber, rauher, nicht so durchsichtig und leichter gebräunt. Dies kommt da- her, weil sich im allgemeinen in ihr mehr Pigment entwickelt als bei der Frau, nur verteilt es sich viel gleich- mäßiger, sowohl was die örtliche Verteilung, als was die Zeit betrifft. Eine unmittelbare Abhängigkeit von Generations Vorgängen ist nicht nachweisbar. Die bei der Addisonschen Krankheit auftretende Bronze-Färbung der Haut ist beim Manne häufiger. II. Kapitel: Androgyme 113 wM. Weib mit übereinandergeschlagenen Beinen sich mit einem Webling unterhalten sehen, der mit peinlich nebeneinandergestellten Beinen, die Fußgelenke zierlich nach außen ge- knickt, an ihrer Seite sitzt. Nament- lich kommen die feminin gra- ziösen Bewegungen andro- gyner Männer im Tanze zur Gel- tung, dem viele leidenschaftlich er- geben sind. 12. Feminine Männer haben in ihrer Jugend oft einen unwiderstehlichen Hang zum Knicksen; später „nicken" viele gern mit dem Kopf und unter- lassen oft unabsichtlich das Lüften des Hutes. mW. vielen unbewußten Bewegungsformen bricht die geschlechtliche Wesenheit durch, wie im Werfen, Fangen, sogar in der Art des Urinierens. Feminine Männer pflegen sich unwillkürlich in hockender Stellung, nach Frauenart, über das Nachtgeschirr zu setzen, während männliche Weiber dies fast nie tun, sondern das Geschirr empor- heben oder gar die Neigung haben, auf Aborten im Stehen wie Männer zu urinieren. 12. Maskuline Frauen berichten, daß ihnen das Knicksen schwer gefallen wäre. Ältere verbeugen sich oft wie Männer, wobei manche sogar die Hacken zusammenschlagen. 13. Bei femininen Männern kann man häufig ein ganz weibliches Fett- polster beobachten. Besonders lagert sich das Fett bei ihnen an den gleichen Prädilektionsstellen ab, an denen wir es beim Weibe wahr- nehmen; es sind dies die Hüften und Oberschenkel, sowie die Schultern und Oberarme. Auf ihr schönes „decolletG" sind nicht nur viele Damen, sondern auch zahlreiche Weiblinge stolz. 14. Feminine Männer setzen im Klimak- terium öfter Fett an. Im übrigen ist nicht allein für das Gewicht die sehr .variable Körperlänge der Männer und Weiber ausschlaggebend. 15. Der weibliche Mann zeichnet sich oft durch einen auffallend rosigen, trotz Wind und Wetter feinen, frischen „Teint" aus. Nicht selten sucht er dabei der Natur noch nachzuhelfen, wie es bereits der römische Ge- schichtsschreiber von dem effeminier- ten Kaiser Heliogabalus berichtet: „Vultum eodem, quo Venus pingitur, schemate figurabat", er bemalte sein Gesicht nach dem Vorbilde der Venus. 13. Gynandrische Frauen sind oft sehr hager, „überschlank" und zeigen eckige Konturen infolge Fettmangel. Die entscheidende Bedeutung, welche die innere Sekretion für die Fett- bildung hat, kann man deutlich an kastrierten Menschen und Tieren studieren. Fehlt ihnen der Hoden, werden sie fett, nimmt man ihnen den Eier- stock, mager. 14. Ein Ausgleich findet dadurch statt, daß beim Weibe und weiblichen Mann mehr das reichliche Fett- und Bindegewebe, beim Manne und männlichen Weib mehr die stärkere Muskelmasse das Gewicht beeinflußt. 15. Das männliche Weib ist in vielen Fällen von derberer und dunklerer Hautbeschaffenheit als das Vollweib. Welche Bolle die innere Sekretion der Sexualdrüsen hinsichtlich der Farbe und Konsistenz der Hauthülle spielt, lehrt ein Blick in die Gesichter der Lipowaner in Bukarest, der be- kannten Kastratensekte. Ihre Haut ist nicht nur glatt und glänzend, son- dern pergament- und elfenbeinfarbig. Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 8 114 w 16. Unter den Vertiefungen der Haut verdienen die Kreuzbeingrüb- chen eine kurze Bemerkung. Sie bilden sich dadurch, daß die Haut hier direkt dem von Muskeln un- bedeckten Knochen aufliegt. HL 16. Beim Manne liegen die Kreuzbein- grübchen, falls sie überhaupt vor- handen sind, was keineswegs immer der Fall ist, 2 bis 3 cm näher an- einander als beim Weibe, bei denen sie oft tief und breit die seitlichen Dellen einer Kreuzbeinraute bilden. 17. Die Hautausdünstung hängt von den Hautdrüsen, in erster Linie von den Schweißdrüsen ab. Sie ist bei beiden Geschlechtern von schwer- wiegender, aber undefinierbarer Eigen- art; am besten sieht man von Ver- gleichen (Veilchen. Kastanien) ab und sagt, daß das Weib weiblich, der Mann männlich riecht. 18. Das Haarkleid beansprucht unter den Anhangsgebilden der Haut als Geschlechtscharakter größte Beach- tung, und zwar nicht allein im Tier- reich, sondern auch beim Menschen. Das Einzelhaar ist beim mensch- lichen Weibe ebenso- wie die Haut, von der es abstammt, viel weicher und dünner als beim Manne; auch häufiger wie bei ihm gewellt und ge- lockt. Den neugeborenen weiblichen Körper bedeckt fast in seiner ganzen Ausdehnung eine feine Lanugo- behaarung, die bei männlichen Neu- geborenen nicht vorhanden ist. An seiner Stelle findet man bei Knaben oft kürzeres oder längeres, manch- mal sogar ziemlich reichliches Haar. Es verschwindet wieder, um beim er- wachsenen Manne an denselben Stellen wieder aufzutreten; nament- lich an Brust und Rücken, an den Streckseiten der Arme und Beine, am Hand-, seltener am Fußrücken. Beim Weibe taucht dagegen später öfter im Gesicht, am Hals und Körper der infantile Lanugoflaum wieder auf. Die Schamhaare schneiden beim Weibe in einer -ziemlich schar- fen Linie über den Möns veneris ab; nur in der Schwangerschaft bil- den sich auf der benachbarten 17. Einen besonders starken Geruch ver- breiten die Drüsen der Achselhöhle. Ihre Ausdünstung gilt als starkes erogenes Reizmittel. Beim Weibe sind die Schweißdrüsen, beim Manne die Talgdrüsen ausgebildeter. Daher kommen die von verstopften Talg- drüsen herrührenden Acnepusteln und Mitesser auch mehr bei Jüng- lingen als Jungfrauen vor. 18. Beim Manne ist das Einzelhaar härter, struppiger und kräftiger, nur das einzelne Schamhaar ist beim Weibe stärker und länger wie das einzelne männliche. Das Haupt- haar des Mannes reicht unver- schnitten fast nie weiter, als bis zum unteren Rande des Schulterblatts, während es sich bei Frauen nicht selten bis zum oberen Rande des Beckens erstreckt. Das männliche Kopfhaar unterliegt nach der Puber- tät einer gewissen Rückbildung die früher oder später zur „kahlen Platte" führt, beim Weibe entwickelt sich hingegen der Kopfhaarschmuck nach der Reife erst recht üppig. Wie die Glatze kommt auch die Alopecia areata beim Manne häufiger vor. Um so mehr entwickelt sich aber nach der Reifezeit beim Manne die Gesichtsbehaarung, der Bart. Beim Weibe verkümmern die An- lagen des Schnurrbarts und Backen- barts völüg, höchstens, daß nach dem Klimakterium mit der Involution der Ovarien dann und wann ein kleiner. Rest bemerklich -wird. Der täglich aufs neue sprossende Bart kann fast als Manometer für die innere Andrinabsonderung gelten. Verliert ein Mann seine Geschlechts- 115 wM. 16. Beim weiblichen Mann kann man nicht selten weibliche Kreuzbein- grübchen konstatieren, was mit der breiteren Beckenbildung dieser Män- ner zusammenhängt. Bei männ- lichen Weibern hingegen ist ihre Form und Entfernung oft mannähn- lich. 17. Ohne Frage gibt es Männer, deren Transpirationen weiblich duften. Prof. G. Jäger6) behauptet, daß er den Geruch normalsexueiler reifer Männer, den er „scharf, brenzlich, säuerlich und nicht angenehm" emp- funden habe, bei den femininen Homosexuellen, deren Haare zu be- riechen er in der Lage war, vermißt habe. 18. Gynotrichie (Weibhaarigkeit) beim Manne ist eine sehr häufige Erscheinung. Vor allem haben weib- liche Männer sehr oft ein zartes, „seidenes" Einzelhaar. Die übrigen Abweichungen vom Geschlechtstypus liegen mehr auf negativem Gebiet. Hier ist in erster Linie die völlig glatte Körperhaut mancher Männer und ein absoluter oder rela- tiver Bartmangel zu nennen. Ich habe eine ganze Reihe femininer Männer in mittleren und vorgerück- teren Jahren beobachtet, über deren glatte Gesichtshaut niemals oder nur ganz selten ein Rasiermesser ge- kommen ist. Im übrigen stimme ich mit B u - curra (1. c. 8) überein, „daß eine Umkehrung des für das betreffende Geschlecht charakteristischen Typus am seltensten am Backenbart, etwas häufiger beim Schnurrbart, nicht so selten an der Körperbehaarung, am häufigsten bei der Schambehaarung vorkommt". Eine gute Schilderung des andro- gynen Haartypus findet sich im Tal- mud (Jebamoth I): „Der Saris ist ein Mensch, der mit seinem zwanzigsten Jahre noch keine zwei Haare auf seinem Körper hat, und bekömmt er mW. 16. Stratz und einige andere Autoren halten die Kreuzbeingrübchen für wichtige sekundäre Geschlechts- charaktere; sie vergleichen sie mit den Wangengrübchen und zählen sie zu den anziehendsten weiblichen Reizen. 17. Maskuline Weiber haben vielfach eine männliche Ausdünstung und riechen, wie namentlich ihnen nahe- stehende normalsexuelle Frauen be- haupten, „nach Mann". Wie sehr die spezifischen Riechstoffe von den Geschlechtsdrüsen beeinflußt werden, zeigt das Auftreten des Körper- geruchs in der Brunstzeit der Tiere. 18. Die Androtrichie des Wei- bes ist ebenso häufig wie die Gynotrichie des Mannes. Viele Viragines haben männliche Schambehaarung. Rothe fand un- ter 1000 Frauen 188mal eine teilweise männliche Behaarung der Scham- gegend vor, und zwar 42mal einen männlichen Übergang der Scham- haare auf den behaarten Unterleib, 146mal ein Ubergehen der Scham- haare auf Oberschenkel und Anus. Ziemlich oft sind auch beim Weibe Arme und Beine, seltener Brust und Rücken behaart. Kürzlich sah ich bei einer 32jährigen Ehefrau starke Brustbehaarung auftreten, die vorher einen Vollbart trug. Nachdem sie diesen mit Elektrolyse, Röntgenstrah- len und allen möglichen Depilatorien, von denen es in Anzeigen heißt, daß sie „diskret, dauernd, sicher und ohne Hinterlassung von Narben- spuren den Frauenbart beseitigen", vergeblich zu entfernen versucht hatte, war sie auf den alten Bimsstein verfallen. Schon Martial berichtet von einem Weibling, er sei glatt durch täglichen Bimssteingebrauch ge- wesen : „laevis pumice tu quotidiano". Nachdem sie mit diesem einfachen Mittel täglich den Bart im Keime er- ;) Jahrb. f. sex. Zwischenstufen, Bd. 2, S. 119. 8* 116 w Bauchhaut öfter Haare, was auf die innere Sekretion der Plazenta zurück- geführt wurde. Das männliche Schamhaar setzt sich rautenförmig nach oben fort, um vielfach in einem Haarstrich auszulaufen, der sich bis zum Nabel zieht. Der Damm ist beim Weibe nicht behaart, während sich beim Manne die Behaarung vom Skrotum über das Mittelfleisch bis in die Analfalte fortzusetzen pflegt. Später wie beim Manne behaart sich beim Weibe die Achsel- höhle, auch ist der weibliche Haarbüschel hier meist kleiner und dünner wie der männliche. 19. Wir kommen nun zu dem funktionell wichtigsten Geschlechtsunterschied im Bereich der Oberhaut: zu den Milchdrüsen. Wie die Haare kommen auch sie erst im Beifealter zur Entwicklung. Beim Weibe schwellen sie in dieser Zeit sehr an, was aber in der Hauptsache nur von reichlicherer Fetteinlagerung her- rührt. Die Drüsenschläuche, die an und für sich spärlich sind, wachsen und verästeln sich vorerst nur in ge- ringem Maßstabe. Erst beim Ein- tritt einer Schwangerschaft ver- längern und verzweigen sich die Drüsenschläuche, ein Vorgang, der sich in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft noch sehr ver- stärkt, um erst im Wochenbett zum Abschluß zu kommen. M drüsen, so fällt, wie wir es in diesem Kriege wiederholt beobachten konn- ten, der Bart ziemlich schnell aus; auch die übrigen Haare, außer dem Kopfhaar, zeigen, wie wir dies im Kapitel „Geschlechtsdrüsenausfall" (Bd. I, S. 19) beschrieben, einen sehr merklichen Bückgang. Nach Im- plantation von Hodenstückchen wachsen jedoch die Haare allmählich wieder. 19. Beim Manne verharrt die Brustdrüse auf kindlicher Entwicklungsstufe. Bis zur Geschlechtsreife findet sich überhaupt an ihr weder im Bau, noch in der Funktion ein Unterschied. Das gelegentliche Einschießen von sog. Hexenmilch bei Neugeborenen kommt sowohl bei Knaben wie bei Mädchen vor. Nicht selten findet sich auch bei männlichen Personen ein geringes Anschwellen der Brust- drüse, verschwindet aber fast stets wieder. Bei starken, namentlich alten Leuten, lagert sich öfter viel Fett in den Drüsen ab, wodurch Gynäko- mastie vorgetäuscht werden kann; die Drüsenschläuche selbst sind in solchen Fällen jedoch meist unver- ändert rudimentär. 20. Wie mehrfach in sexueller Hinsicht besteht auch ein Antagonismus zwischen der Pubertätsentwicklung des Kehlkopfes und der Brüste. Während beim Weibe die Brustdrüse wächst und der Kehlkopf nahezu kindlich bleibt, ist es beim Manne genau umgekehrt.- Bis zur Ge- schlechtsreife ist ein Unterschied zwischen männlichem und weiblichem 20. Der Stimmbruch oder Stimm- wechsel ist eines der deutlichsten Zeichen erwachender Männ- lichkeit. Der geschlechtliche Stimmunterschied sichert die gegen- seitige Anziehung der Geschlechter in hohem Grade. Auch bei den meisten Tieren, wie bei der Stute, Hündin, Henne, hat das Weib eine schrillere und schwächere Stimme 117 wM. diese später, so ist er doch ein Saris. Er hat keinen Bart, seine Haare sind fein und sanft, seine Haut ist glatt. Sein Wasser" — heißt es dann wei- ter — „bekommt keinen Schaum. Er uriniert nicht mit den andern. Sein Samen ist nicht gebunden, er ist klar wie Wasser, seine Stimme ist wie die einer Frau." mW stickte, wuchsen ihr allmählich Haare auf der Brust, ob post, oder was ich für wahrscheinlicher halte, propter, ist mit Sicherheit schwer zu ent- scheiden. Wiederholt hat man männ- liche Behaarung beim Weibe mit der Bildung von Ovarialgeschwülsten wahrgenommen, die nach Exzision der Tumoren wieder verschwand. 19. Die echte Gynäkomastie des Mannes ist verhältnismäßig selten, wenigstens bei weitem nicht so häufig, wie man nach der Vorliebe der Griechen gerade in ihren Herma- phroditen Weibbrüstigkeit in Verbin- dung mit männlichen Genitalien dar- zustellen, vermuten könnte. Daß sie aber bis zur Milchabsonderung tat- sächlich vorkommt, kann ich nicht nur durch Angaben von Humboldt, Krafft-Ebing u. a., sondern auch durch eigene Beobachtungen belegen. Sehr viel häufiger wie totale Gynäko- mastie sehen wir bei weiblichen Männern Annäherungen an den weiblichen Typus in einem unge- wöhnlich großen Warzenhof, deut- licher Ausbildung der Montgomery- schen Drüsen, Polymastie. Wir kön- nen die Gynäkomastie des Mannes, ebenso wie die Andromastie des Weibes einteilen in einseitige und doppelseitige, vorübergehende und dauernde, partielle und totale. x 20. G y n o g 1 o 1 1 i e , d. h. weibliche Stimmbildung bei Männern, ist auch bei Nichtkastraten ziemlich häufig. Die Gesangsstimmen femininer Män- ner und maskuliner Frauen scheinen am häufigsten zwischen Alt und Tenor, Mezzosopran und Kontraalt zu liegen, doch kommen auch Sopran- sänger und baßsingende Weiber vor. Sehr verbreitet ist bei femininen 19. Eine Art Seitenstück zu den männ- lichen Hermaphroditen bilden die weiblichen Amazonen (amazon = ohne Brust), ebenso wie die Ailoith ein Pendant zu den vorher genann- ten Sairis sind („sie haben keine Brüste, der Beischlaf ist ihnen widrig, sie haben keinen weiblichen Möns veneris, sie haben eine Männer- stimme"). In Wirklichkeit ist ein gänzlicher Mangel der weiblichen Brustdrüse selten, ziemlich häufig jedoch ist angeborene Mikromastie und Stillungsunfähigkeit. Die meisten Fälle von „platten" und „flachen" Brüsten sind freilich beim Weibe eine erworbene Krankheits- erscheinung (Fettschwund), ebenso wie es die „vollen" der Männer sind (Fettsucht). Aus den geschilderten Versuchen Steinachs geht hervor, wie unmittelbar Bau und Tätigkeit der Milchdrüse von den Geschlechts- drüsen abhängen. Schießt doch, wenn man einem kastrierten Männ- chen einen Eierstock einsetzt, alsbald Milch in die schwellende Brust. 20. Androglottie — männliche Kehl- kopfbildung beim Weibe — ist eben- so häufig wie Gynoglottie beim Manne. Masini, welcher in Genua ausgedehnte Untersuchungen an pro- stituierten Mädchen anstellte, fand nur bei 12 Proz. weiblichen Kehl- kopftypus, während er bei anderen Frauen bei 10 Proz. „den geräu- migen männlichen - Kehlkopf fand". 118 IL Kapitel: Androgynie W. Kehlkopf überhaupt nicht wahrnehm- bar. Dann aber wächst im Verlaufe eines Jahres der männliche Kehlkopf derart, daß die Stimmritze noch ein- mal so lang wird. Nimmt sie beim Manne nach Langer im Verhältnis von 10 : 5 zu, so vergrößert sie sich beim Weibe in der Pubertät nur wie 7 :5. Der weibliche Kehlkopf ist in allen Richtungen etwa ein Viertel kleiner als der des Mannes. Die wahren Stimmbänder der Frau messen 13 mm, die des Mannes 18 mm. Die weibliche Stimme liegt eine Oktave höher als die männliche. Die geringere Länge und Dicke der Stimmbänder bewir- ken dies. Nicht unwesentlich wird der Kehlkopf durch die Vorgänge be- einflußt, die sich während der Men- struation, Schwangerschaft und im Wochenbett in den Geschlechtsdrüsen abspielen. Bucurra sagt darüber: „Hauptsächlich während der Gravi- dität und Menstruation sind nicht nur leichte Ermüdbarkeit der Stimme, Erschwerung hoher Lagen und Rauhigkeit zu bemerken, sondern es läßt sich dafür auch das anatomische Substrat, Rötung und Schwellung, sowohl am Kehlkopf, als auch in den für die Phonation wichtigen Par- tien der Nebenhöhlen (Nase) nach- weisen. M. als das Männchen. Beim Manne wölbt sich mit der Verlängerung und Erweiterung der Stimmritze der Schildknorpel am Halse vor. So ent- steht die Protuberantia laryngea, der Adamsapfel (Pomüm Adami). Dabei treffen sich die beiden Platten des Knorpels beim Manne in einem schärferen Winkel, während sie bei dem Weibe sanft- bogenförmig in- einander übergehen, dasselbe Verhält- nis zwischen Arcus und A n g u - 1 u s , wie wir es schon bei den Schambeinen kennen lernten. Das Stimmtimbre, das von der Form und Größe aller zum Stimmorgan ge- hörigen Hohlräume und Nebenhöhlen abhängt, ist gleichfalls bei beiden Geschlechtern sehr verschieden. Alle diese Veränderungen des Kehlkopfes und der Stimme bleiben aus, wenn die männlichen Geschlechtsdrüsen fehlen, sei es, daß sie nicht zur Ent- wicklung gelangt sind, sei es, daß sie vor der Geschlechtsreife entfernt wurden, was sogar in früheren Zeiten, bevor Weiber die Bühne betreten durften, vielfach geschah, um weib- liche Stimmen zu erhalten. Nichts beweist wohl schlagender als diese Sitte den Einfluß der Pubertätsdrüse auf Kehlkopf, Stimme und Sprache. 21. Die Atmung zeigt einige bemerkens- werte Geschlechtsunterschiede. Die Zahl der Atemzüge ist bei der Frau größer als beim Manne. Die vitale Lungenkapazität des Weibes zu der des Mannes verhält sich wie 8 : 10. Vor allem aber atmet bei den zivili- sierten Völkern das Weib mit den Brustmuskeln, also kostal, der Mann vorwiegend mit Zwerchfell und Bauchmuskeln, also abdominal. 21. Es ist eine viel erörterte, bisher aber immer noch nicht völlig geklärte Streitfrage, ob dieser Unterschied von vornherein in der Natur des Man- nes und des Weibes gegeben ist, oder sich erst durch die Frauenkleidung, Korsetts, Gürtel, entwickelt hat. Für erstere Auffassung spricht, daß der kostale Typus vom Weibe auch im Schlaf beibehalten wird, auch, daß Mädchen, die stets lose gekleidet gingen, kostal atmen. II. Kapitel: Androgynie 119 wM. Männern ein Drang „durch die Fistel", d. h. in Kopistimme, zu singen, dem entspricht bei männ- lichen Weibern eine nicht seltene Neigung, die Stimmen zu vertiefen. Ganz ungemein charakteristisch ist bei weiblichen Männern die Organ - färbung; bald ist es mehr der weiche melodische Klang der Sprache, bald die gezierte hohe Stimme, bald ein etwas mattes, säuselndes Organ, das auffällt. Für beides ein Beispiel. Über Walt Whitmans Stimme 7), von der de Wyzewa 8) schreibt : „Le ton feminin de sa voix", sagt der eng- lische Arzt Dr. Johnson: „Seine • Stimme hat eine hohe Lage und ist musikalisch", während Howells ihren „gewinnenden, einschmeichelnden" Charakter rühmt, und Dr. Bücke mitteilt, ein Musikverständiger habe ihm gesagt: „Es ist seine wunder- bare Stimme, die es so angenehm macht, mit ihm zu sein." Anders klingen die Worte, die Martial in einem Epigramm dem Weibling Car- menion zuruft: „Dein Mund säuselt und deine Sprache ist matt, ich rede kräftiger, wenn ich flüstere" („os blaesum tibi, debilisque lingua: nobis sibila fortius loquuntur"). mW. Th. S. Flatau in Berlin fand bei homosexuellen Frauen wiederholt „zweifellos Andeutungen eines männ- lichen Kehlkopfes", teils sogar „ent- schieden männliche Formen ihres Kehlkopfes". Ein gutes Beispiel für weibliche Androglottie bietet die große Künstlerin Felicitas v. Vest- phali (1829 bis 1880). Über sie heißt es in meinen „Geschlechtsübergän- gen" : „Die Vestphali spielte nicht nur Männerrollen, wie Hamlet und Petrucchio, sondern besaß auch einen Kontraalt von so phänomenaler Tiefe, daß sie mit Leichtigkeit und größtem Erfolge Tenorpartien, wie Romeo, Tancred, ja sogar den Figaro im Bar- bier von Sevilla sang; ihr Romeo an den Großen Oper in Paris begeisterte Napoleon III. derart, daß er ihr eine Rüstung von gediegenem Silber ver- ehrte." Die gewöhnliche Sprache männlicher Weiber klingt oft ziem- lich rauh, auch haben sie oft etwas von einer „Kommandostimme" an sich. Sehr markant tritt das Eigen- tümliche der androgynen Stimmlage zutage, wenn Laute reflexartig etwa durch einen Schreck ausgelöst wer- den. Auch das Lachen klingt bei weiblichen Männern oft verhältnis- mäßig hoch, bei männlichen Weibern ungewöhnlich tief. Todds kam zu der Ansicht, daß bei der Brustatmung eine Anpassung an die Funktionen der Mutterschaft vor- liege, die sich durch Vererbung be-K festigt habe. Doch neigt die Mehr- zahl der Autoren neuerdings wieder dazu, mit H. Ellis anzunehmen, daß es sich hier „um das Resultat einer künstlichen Einschnürung durch die gewöhnliche Frauentracht handelt". 21. Wäre dies der Fall, dann müßten transvestitische Männer, die ständig Frauentracht tragen, auch kostal atmen, und als Männer lebende weibliche Transvestiten abdominal. Dies trifft- aber nicht zu. Auch ist zu erinnern, daß weibliche Männer im allgemeinen wie Männer, männ- liche Weiber wie Frauen atmen, auch daß bisher keine Beeinflussung der Atmung von sehen der Ge- schlechtsdrüsen hat festgestellt wer- den können. Das spräche wieder mehr für ein Kunstprodukt. 7) B e r t z , Walt Whitman. Leipzig 1905. s) Theodore de Wyzewa, Ecrivains-6trangers, p. 114 Paris 1896. 120 II. Kapitel: Androgynie Mit den hier gegenübergestellten Eigenschaften ist das "Wesen der Gynandromorphie bereits insofern erschöpft, als es ja in erster Linie die äußere Erscheinung ist, auf die es bei dem andro- gynen Typus ankommt. Die Unterschiede zwischen Mann und Weib als solche gehen natürlich weiter. Sie umfassen nicht nur die sicht- bare Oberfläche, sondern auch die ganze innere Organisation des Menschen bis zur letzten Körperzelle. Man geht indes sicherlich nicht fehl, wenn man aus dem, was wir wissen, den Schluß zieht, daß sich von jeder Eigenschaft ausnahmslos die weibliche Form ge- legentlich auf einem männlichen und die männliche auf einem weib- lichen Körper findet. Nur steht uns in dieser Hinsicht von allen Einzelheiten noch kein exakt durchgearbeitetes Beobachtungsmate- rial zur Verfügung. Wollen wir ergründen, wie sehr auch für den Geschlechts- cbarakter innerer Organe die Geschlechtsdrüsen als causae mo- ventes in Frage kommen, so müßten wir genaue vergleichende Untersuchungen auch dieser Teile bei Tieren und Menschen an- stellen, und zwar zwischen solchen Individuen, die männliche oder weibliche Keimstöcke besitzen und solchen, welchen man die Gonaden entfernt und wieder eingesetzt hat, sowie solchen, die sie von vorn- herein nicht oder nur mangelhaft besitzen (Kastraten, Eunuchen, Eunuchoiden, Kryptorchisten, Anorchisten, Mikrorchisten, Trans- plantaten usw.) ; endlich müßten auch Tiere und Menschen zum Ver- gleich herangezogen werden, die männliches und weibliches Keim- gewebe haben, sei es von Natur, sei es artifiziell. Diese Unter- suchungen stehen in der Hauptsache noch aus. Sie sind auch da- durch erschwert, daß uns in vieler Beziehung der oft nur sehr ge- ringfügige Unterschied zwischen der rein männlichen und rein "weib- lichen Bildung innerer Organe noch gar nicht bekannt ist. Es wird zwar und gewiß nicht ohne Berechtigung behauptet, daß beim Manne die Organe der Brusthöhle, beim Weibe die der Bauchhöhle ein gewisses Übergewicht haben, wie jedoch beispiels- weise Magen und Darm im einzelnen bei Mann und Weib von- einander differieren, wissen wir nicht zu sagen. Vierordt gibt an, daß die Milz, Schultze, daß die Leber, Helm, daß die Nieren beim Weibe verhältnismäßig massiger sind wie beim Manne. Sicher ist auch, daß die Blase bei der Frau geräumiger und ausdehnungsfähiger ist als beim Manne; die männliche faßt unter mäßigem Druck 238, die weibliche 337 g. Daher kann sich auch die Frau viel länger den Urin verhalten als der Mann. Doch gibt es auch in dieser Hinsicht Männer, die wie Weiber, und Weiber, die wie Männer beschaffen sind. Die Harnmenge soll beim Weibe größer, die Harnstoffmenge geringer sein als beim Manne. Es liegt nahe, daß diesen Verschiedenheiten auch Unter- schiede im Blut und den Blutgefäßen entsprechen. Das spezi- 121 fische Gewicht des Blutes ist beim Weibe 1050 bis 1056, beim Manne 1055 bis 1060. Von roten Blutkörperchen besitzen die Frauen in 1 cmm Blut 4-/* Millionen, während Männer durchschnittlich 5 Millionen haben. Der Hämoglobingehalt des weiblichen Bluts beträgt 89 Proz., nach anderen 92 Proz. des normalen Hämoglobin- gehalts des Männerbluts. Frauenblut soll um ein weniges wasser- reicher sein als Männerblut. Der Blutdruck ist bei der Frau ge- ringer, die Erregbarkeit der Vasomotoren stärker. Bei dem er- wachsenen Manne rechnet man 72, beim Weibe 80 Pulsschläge in der Minute als Norm. Die Körpertemperatur des Weibes ist um wenige Zehntelgrade höher. Die Wandungen der Blutgefäße sind bei der Frau dünner, ebenso die Wände der einzelnen Herzabschnitte. Daher wiegt das Frauenherz weniger als das Männerherz, und zwar sowohl relativ als absolut. Jeder erfahrene praktische Arzt kennt nun aber Männer, bei denen die Erregbarkeit der Vasomotoren und die regelmäßige Zahl der Pulse größer ist, als man sie im Durchschnitt beim Weibe findet, und ebenso häufig begegnen wir Frauen mit Pulsen unter 72 und spezifischem Blutgewicht über 1060. In wie hohem Grade auch die Herztätigkeit unter inner- sekretorischem Einfluß steht, erkennen wir an der Leichtig- keit, mit der nervöse Herzbeschwerden, wie Herzbeklemmungen, so- genannte „Herzkrämpfe" („Angina pectoris"), Tachykardie bei ver- haltener Libido, entstehen. Fast noch mehr wie die Geschlechts- drüse kommt allerdings von den Drüsen mit innerer Sekretion für das Herz die Schilddrüse in Frage, wobei jedoch zu berücksich- tigen ist, daß der Zusammenhang dieser beiden Drüsen im poly- glandulären System unseres Körpers ein ganz besonders inniger ist. Eecht bemerkenswert ist nun, daß die Schilddrüse bei der Frau eine wesentlich größere Kolle spielt als beim Mann. Zunächst ist sie überhaupt von vornherein beim Weib stärker entwickelt. Dann aber beobachten wir an der weiblichen Schilddrüse viel mehr Verände- rungen physiologischer und pathologischer Natur als an der männ- lichen: ein periodisches Anschwellen während der Menstruation, eine vorübergehende Vergrößerung in der Schwangerschaft, ein Größer- bleiben nach mehreren Schwangerschaften, eine Zunahme ihres Volumens im Klimakterium. Auch der erste Geschlechtsverkehr soll bei der Frau eine Halsanschwellung bewirken, so daß nach Eilig noch heute im südlichen Frankreich die alte Sitte bestehen soll, die Unberührtheit junger Mädchen durch Halsmessungen zu ermitteln. Ebenso ist sichergestellt, daß sich bei vielen Tieren in der Brunst die Schilddrüse vergrößert. Nach allem ist es wohl verständlich, daß der alte Meckel den Ausspruch tun konnte, die Schilddrüse sei eine Wiederholung der Gebärmutter am Halse. Hinsichtlich patho- logischer Schilddrüsenveränderungen ist zu bemerken, daß der Kropf / in der Pubertät häufiger bei Mädchen als bei Knaben auftritt, und daß auch die Basedowsche Krankheit mit ihrem typischen Sym- ptomenkomplex: Kropf, Herzbeschleunigung, starren, hervortreten- den Augäpfeln und Gemütsalterationen, sich bei Frauen zweimal so häufig findet wie bei Männern. Außer bei Frauen fand ich sie am häufigsten bei femininen Männern, viel seltener ist sie bei Voll- männern und männlichen Frauen. In ähnlicher Weise wie die 'Schilddrüse, ist auch die Hypo- physe in hohem Grade an den Vorgängen im weiblichen Genera- tionsapparat beteiligt. Daraus ergeben sich auch hier gewichtige Unterschiede zwischen diesem Organ beim Manne und Weibe. Beim Mann und bei der Frau, die noch nicht schwanger war, wiegt die Hypophyse ungefähr gleich viel, durchschnittlich nämlich 61 cg. In der Schwangerschaft aber erlangt die Hypophyse, indem sich die Hauptzellen des Vorderlappens in Schwangerschaftszellen um- wandeln, ein Gewicht von 106 bis 165 cg, das durch Kückwandlung der Zellen im Wochenbett zwar erheblich wieder zurückgeht, ohne jedoch jemals wieder das ursprüngliche Anfangsgewicht zu er- reichen. Demzufolge ist bei Frauen, die geboren haben, die Hypo- physe durchschnittlich um 10 cg schwerer als beim Manne. Es wird auch angegeben, daß im weiblichen Klimakterium vielfach noch eine weitere Vergrößerung der Hypophyse stattfindet, die beim Weibe zu leichten akromegalen Veränderungen, sowie heterotypischer Bart- und Körperhaarentwicklung führt, doch liegt hier vieles noch sehr im Dunkeln. Im antagonistischen Gegensatz zur Hypophyse steht die Z i r b e 1 d r ü s e. Sie sondert Stoffe in das Blut ab, welche einer vorzeitigen Geschlechtsentwicklung entgegenwirken. Ist die Pro- duktion und Sekretion dieser Substanzen durch zerstörende Erkran- kungen der Zirbeldrüse aufgehoben, so kommt es zu vorzeitiger - Genitalentwicklung, abnormem Längenwachstum, Haarbildung im Kindesalter, auch zu den Zuständen von Frühreife, wie wir sie im dritten Kapitel dieses Lehrbuches schilderten. Ein grundsätzlicher Geschlechtsunterschied ist dabei im Verhalten der Zirbel nicht nach- weisbar, als wesentlich ist aber zu registrieren, daß sich die Früh- reife nicht selten mit Hermaphroditismus vergesellschaftet. Daß bei diesem aber noch ein anderes endokrines Organ mit im Spiele zu sein scheint, erwähnte ich bereits im vorigen Kapitel, als ich auf das häufige Vorkommen von' Nebennierentumoren bei Zwittern hinwies. Im übrigen ist über Geschlechtsunterschiede bei den Nebennieren noch wenig bekannt; daß man die nach Addison benannte Nebennierenerkrankung (Bronzekrankheit) im Gegensatz zu Basedow viel häufiger bei Männern als bei Frauen beobachtet, wu nie bereits kurz berührt. Ebenso wissen wir auch noch kaum 123 näheres über eine Verschiedenheit der Thymusdrüse und der Pankreas beim Manne und Weibe, trotzdem auch hier Zusammen- hänge mit den Geschlechtsdrüsen — man denke nur an die starke Rückbildung der Thymusdrüse im vorpubischen Alter — mehr als wahrscheinlich sind. Was endlich die letzte Gruppe endokriner Drüsen, die Glandulae parathyreoideae oder Epithelkörperchen an- langt, so ist auch hier ein Geschlechtsunterschied insofern zu ver- muten, als eine fast ausschließlich beim weiblichen Geschlecht vor- kommende Erkrankung die Osteomalazie mit einer Hyper- trophie dieser Drüse verbunden ist. Auch hier ist es noch ungeklärt, ob man in dieser Vergrößerung der Epithelkörperchen eine über- geordnete ursächliche oder eine nebengeordnete Erscheinung zu er- blicken hat. Zweierlei steht nach allem angeführten außer Zweifel: einmal, daß zwischen den Geschlechtsdrüsen und dem ganzen übrigen polyglandulären System Wechselwirkungen von einschneidendster Bedeutung vorhanden sind und zweitens, daß, wie die Geschlechts- drüsen, auch die anderen Drüsen mit innerer Sekretion nicht bei beiden Geschlechtern in Bau und Tätigkeit gleich, sondern daß sie geschlechtsspezifisch sind, und zwar kann man aus ihren Wirkungen schließen, daß sie nicht nur immer einen rein männ- lichen oder weiblichen, sondern, wie die sonstigen Körper- organe), auch oft einen androgynen Typus haben. Wir kommen nun noch zu demjenigen Organ, über dessen Ge- schleehtseigentümliehkeiten mehr geschrieben ist, als über irgendein anderes Organ des menschlichen Körpers, zum Gehirn. Freilich entspricht das Ergebnis dieser Arbeiten auch nicht im entferntesten der aufgewandten Mühe, namentlich ist es in keiner Weise gelungen, das zu beweisen, was Möbius und andere schon aus der bloßen Ge- wichtsverschiedenheit des männlichen und weiblichen Gehirns fol- gern zu können meinten, daß eine anatomisch bedingte Minderwertig- keit oder gar ein „physiologischer Schwachsinn" des Weibes besteht. Erwägt man, was ich vorher über das Mehrgewicht der weiblichen Hypophyse sagte, so geht schon aus dieser einen Tatsache hervor, daß es bei der Hirnmasse, in der sich so mannigfach und wundersam die verschiedenen Eigenschaften der Geschlechter widerspiegeln, keineswegs auf das Gesamtgewicht als Maßstab geistiger Leistungsfähigkeit ankommen kann, als auf die innere Struktur einzelner Partien dieses so überaus fein und kompliziert gebauten Zentralorgans. Gehörte doch das schwerste Gehirn, das bisher gewogen wurde, mit 2850 g, einem epileptischen Idioten, das zweitschwerste mit 2222 g, einem „ganz gewöhnlichen Individuum" und erst das drittschwerste mit 2012 g, dem russischen Dichter Turgenieff an. Ein fast ebenso schweres viertes aber stammte schon wieder von einem Imbezillen, der in einer englischen Irrenanstalt verstarb. Umgekehrt hatten 124 II. Kapitel: Androgynie einige sehr große Genies auffallend kleine, wenngleich sehr w i n - dnngsreiche Gehirne. Entsprechend der geringeren Kapazität des weiblichen Schädels ist absolut genommen das weibliche Hirn etwa um 150 g leichter als das männliche. Letzteres wiegt im Durchschnitt 1400, das der Frau dagegen 1250 g (Topinard); vergleichen wir aber das Hirngewicht mit dem Körpergewicht, so ist das Frauenhirn relativ sogar ge- wichtiger als das Männerhirn. auf 50 kg Mann entfallen durchschnittlich 1112,5 g Gehirn „ „ ,, Frau „ „ 1138,5 „ „ Aber auch dies will wenig besagen. Vor allem ist zu berücksichtigen, -daß diejenigen Hirnteile eine stärkere Ausbildung aufweisen, welche Körperteile innervieren oder von ihnen innerviert werden, die bei dem einen oder anderen Geschlecht anatomisch oder funktionell höher entwickelt sind, so ist der Sitz der willkürlichen Muskel- bewegungen, die Zentralgegend des Gehirns beim Manne, das Sprachzentrum beim Weibe relativ umfangreicher. Eine nicht zu übersehende Feststellung rührt von dem schwedischen Forscher Gustav Eetzius her; in seiner sehr sorgsamen Arbeit über „das Menschenhirn" (Teil I, S. 166, Stockholm 1896) gibt er an, daß er zwar „keine spezifischen oder charakteristischen Geschlechtsunter- schiede" am Gehirn wahrgenommen habe, daß aber im ganzen ge- nommen, doch „die weiblichen Gehirne etwas weniger Abweichungen vom Typus und eine größere Einfachheit und Eegelmäßigkeit zeigen". Hinsichtlich des Rückenmarks hat Mies gefunden, daß ent- sprechend der relativ größeren Nervenmasse des Weibes dieses Organ bei der Frau größer und länger ist als beim Manne. Diese größere Nervenmasse dürfte im wesentlichen wohl von den Haut- nerven herrühren, in deren Menge die Frau dem Mann erheblich überlegen ist. Dementsprechend ist auch der Tast- und Drucksinn bei ihr feiner wie beim männlichen Geschlecht. Allerdings ist beim Manne wiederum die Schmerzempfindlichkeit größer, die Frau ist abgestumpfter, ob von Natur oder durch ererbte oder erworbene An- passung bleibe dahingestellt, auch gegen Kälte soll sie weniger emp- findlich sein. Im allgemeinen sind wir über die Verschiedenheit der Sinnes Wahrnehmungen bei beiden Geschlechtern noch sehr wenig unterrichtet, trotzdem bereits mancherlei exakte Unter- suchungen dieses Gegenstandes vorliegen, über die Ellis in seinem klassischen Werke: „Mann und Weib" eine gute Übersicht gibt. N ur einiges sei hervorgehoben, was auf mehr als bloßen Vermutungen beruht. Der Geruchssinn soll im allgemeinen beim Manne, der Ge- schmackssinn beim Weibe schärfer sein. Hinsichtlich des Gehör- sinns ist zu erwähnen, daß beim Manne die obere und untere Gehör- 125 grenze weiter auseinanderliegen als beim Weibe; was die Schärfe des Gesichtssinns anlangt, so ist ein ausgeprägter Geschlechtsunter- schied bisher nicht festgestellt, es sei denn der, daß die Farben- blindheit beim Manne zehnmal häufiger vorkommt als beim Weibe (beim männlichen Geschlecht ein Farbenblinder auf 25 bis 30, beim weiblichen eine auf 250 bis 1000 Personen). Daß mit diesen im wesentlichen quantitativen Verschiedenheiten die Be- sonderheiten männlicher und weiblicher Sinnesempfindung<en nicht erschöpft sind, liegt auf der Hand. Die Hauptsache ist, daß das, was der Mann und was das Weib lust- und unlu st betont wahr- nimmt, verschieden ist, daß beide, um mich allgemeinverständlicher auszudrücken, eine verschiedene Geschmacksrichtung haben, was in der Verschiedenheit von Dingen, die sie gern sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, Ausdruck findet. Hier aber sind wir schon über die androgyne Körperbeschaffenheit heraus an der Grenze des rein Psychologischen und müssen vorläufig abbrechen, um in den nächsten Kapiteln, wo wir die Abweichungen vom seelischen Geschlechtstypus schildern, darauf zurückzukommen. An dieser Stelle sei nur noch eines bemerkt, nämlich, daß die Art und Weise, wie die Frau auf Sinneswahrnehmungen reagiert, von der männlichen Art insofern abweicht, als die äußeren Eindrücke bei ihr viel leichter innere Bewegungen, sogenannte Gemütsbewegungen, verursachen, die sich dann in äußeren Bewegungen, namentlich in ihrem Mienenspiel, wider- spiegeln. Weinen und Lachen, Furcht und Freude, Schreck und Mit- leid, Erröten und Erblassen), Entzückung und Entrüstung werden im Weibe ungleich rascher ausgelöst als beim Manne, dessen Nerven bei weitem nicht so „empfindsam", so labil und affizierbar sind. Und doch fehlen auch hier nicht die Umkehrungen, denn wie viele Männer gibt es, die leichter zu Tränen gerührt, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, die viel „weicher" sind wie das femininste Weib, und wie viele, Frauen, die viel „härter" und stabiler sind wie der virilste Mann, solche, denen, wie etwa der Louise Michel, „die weib- lichen Schrecknerven" gänzlich zu fehlen scheinen. So drückt sich in bezeichnender Weise über sie ihr Biograph v. Levetzow aus, als er schildert, wie diese Frau auf einer dem feindlichen Feuer aus- gesetzten Stelle der Straßenbarrikade seelenvergnügt und ruhig den Nachmittagskaffee schlürfte und mit einem russischen Studenten über Baudelaire diskutiert, während rechts und links von ihr die Sprenggeschosse einschlagen. Im Augenblick, in dem sie sich end- - lieh auf die wiederholten dringenden Zurufe der Kameraden in eine gedeckte Stellung zurückzieht, fällt eine Bombe in die stehengeblie- benen Kaffeetassen. Ein Verhalten dieser Art ist für ein männliches Weib überaus charakteristisch. Der größeren „Dickfelligkeit" der virilen Frau und des virilen Mannes steht die stärkere Emotivität II. Kapitel: Androgynie und leichtere psychische Reizbarkeit des Weibes und femininen Mannes gegenüber. Vor einiger Zeit hatte ich einen 25jährigen Sol- daten vor dem Oberkriegsgericht zu begutachten. Er hatte sieh zu einer Beleidigung eines Vorgesetzten vor versammelter Mannschaft fortreißen lassen, als dieser ihn wegen einer geringfügigen Unordent- lichkeit an seiner Uniform mit einem der üblichen Schimpfnamen aus dem Tierreich belegt hatte. Der Angeklagte gab an, daß er in- folge seines weiblichen Wesens in ganz anderer Weise unter dem Kasernenton litte, wie die robusteren Kameraden, die sich bald an die derbere Umgangssprache gewöhnten; der Unteroffizier selbst, so meinte der Angeklagte, habe seine Weiblichkeit „anerkannt", denn er habe ihm bereits am ersten Exerziertage zugerufen: „Sie machen ja Schritte wie ein Freudenmädchen in der Friedrichstraße." Unter den zahlreichen femininen Körpereinschlägen des Angeklagten fiel besonders auf, daß ihm jede Spur von Bartwuchs fehlte, er hatte sich mit 25 Jahren noch niemals rasieren lassen. Ich legte in meinem Gutachten ausführlich dar, daß bei dem Beschuldig- ten auf der Grundlage einer femininen Konstitution eine hochgradige Hysteroneurasthenie entstanden sei, die ihn in Erregungszuständen hemmungslos zu impulsiven Affekt- handlungen führe. Er wurde vom Oberkriegsgericht freigesprochen, nachdem das Kriegsgericht auf 1 Jahr Gefängnis erkannt hatte. Die zahlreichen Abweichungen vom Geschlechtstypus auf an- drogynem Gebiet treten teils einzeln für sich, teils zu kleineren oder größeren Gruppen miteinander verbunden in die Erscheinung. Man spricht in diesem Sinne mit Fug und Recht auch von femininen Einschlägen beim Manne und virilen beim Weibe, eine Aus drucksform, die nicht nur nach Form, son- dern auch dem Inhalt nach an Einsprengungen von weiblichem Keimgewebe in die männliche und männ- lichem in die weibliche Geschlechtsdrüse erinnert; inhaltlich deshalb, weil ein Parallelismus zwischen den soma- tischen Einschlägen und genitalen Einsprengungen angenommen werden muß. / Graduell kann jeder andersgeschlechtliche Einschlag nur ein ge- ringfügiger sein, er kann aber auch eine beträchtliche Höhe er- reichen; so werden wir in einem kleinen Schnurrbärtchen auf der weib- lichen Oberlippe wohl kaum ein nennenswert viriles Zeichen erblicken, aber von hier bis zu dem Weib mit stattlichem Vollbart führt ein Weg mit vielen allmählichen Steigerungen. Und genau so wie hier nach der exzessiven verhält es sich auch nach der defektiven Seite beispielsweise mit dem androgynen Kehlkopf des Mannes, der in manchen Fällen nicht die volle virile Ausbildung erreicht, in anderen auf völlig weiblicher Stufe stehengeblieben ist. Ziehen wir diese ungemein verschiedenen Stärkegerade der einzelnen androgyni- 127 sehen Zeichen in Betracht und berücksichtigen wir weiter, daß oft nur ein, oft zwei und mehr, oft fast alle Geschlechtsmerkmale vom geschlechtlichen Typus abweichen, so ergibt sich daraus eine höchst mannigfache E r s c h e i n u n gs w e 1 1 der androgynen Va-" rianten. Immerhin gibt es gewisse Abweichungen, die mit Vorliebe ver- gesellschaftet vorkommen. Diesen häufig wiederkehrenden Kom- binationen nachzuforschen wäre schon deshalb von hohem Werte, weil sie vermutlich Rückschlüsse zulassen auf uns bisher noch nicht bekannte Zusammenhänge und Gegenwirkungen in dem polyglandu- lären System des Körpers. Um nur einige Beispiele herauszugreifen, so sehen wir eine stärker entwickelte Gynäkomastie oft ganz isoliert bei einem sonst ganz vollmännlichen und eine ausgebildete Andro- trichie häufig ganz vereinzelt bei einem ganz vollweiblichen Indi- viduum auftreten, dagegen kommt beim Weibe ein leichterer Bart- anflug oft mit tiefer Stimme und großer Klitoris, und hohe Stimme beim Manne oft in Verknüpfung mit femininer Beckenbildung und Hypospadie vor. Ebenso wie die einzelnen androgynen Stigmata sich untereinan- der in mannigfaltigen Variationen verbinden, sind sie häufig aber auch mit anderen Abweichungen vom Geschlechtstypus assoziiert, die teils auf dem Gebiet der Genitalorgane, teils dem der seelischen und psychosexuellen Geschlechtscharaktere liegen. Schon die in den eben erwähnten Kombinationen vorkommende Klitorishypertrophie bei Frauen mit tiefer Stimme, und Hypospadie bei Männern mit hoher Stimme greift ja auf den Geschlechtsapparat im engeren Sinne über. Aber nicht nur diese, sondern auch andere Organstörungen an den Genitalien, beispielsweise der Kryptorchis- mus, die Hypertrophie der kleinen Labien, kommen so häufig im Verein mit sekundären Geschlechtsabweichungen vor, daß man an eine gemeinsame Ursache denken muß, die nur auf inner- sekretorischem Gebiet liegen kann. Andererseits zeigen aber die Steinachschen Verpflanzungen, daß die Genitalorgane im Gegensatz zu allen anderen körperlichen und seelischen Geschlechtsunterschie- den von der Einwirkung der Pubertätsdrüse nahezu unbeeinflußt bleiben. Also muß hier ein Sekret eine Wirksamkeit entfalten, das von den Geschlechtsdrüsen nur relativ abhängig ist, wie etwa die Hypophyse. Bereits im vorigen Kapitel über den genitalen Hermaphroditis- mus wies ich darauf hin, daß es für die Diagnose männlicher oder weiblicher Hermaphroditismus sehr ins Gewicht fällt, ob die sekun- dären Geschlechtsmerkmale überwiegend männlich oder weiblich geartet sind. Wenn sich also bei einem als Weib lebenden Scheinzwitter alle sekundären Geschlechtsmerkmale männlich gestalten, Bartwuchs, tiefe Stimme und auch männliche 128 II. Kapitel: Androgynie Regungen und Neigungen auftreten — ein, wie wir sahen, keineswegs seltener Vorgang — so unterstützt dies die Entscheidung sehr wesentlich, aher völlig beweisend ist es doch nicht, denn wir kennen Fälle, wie wir sie im vorigen Kapitel beschrieben, in denen eine mit einer Frau verheiratete und mit einem Vollbart versehene Person ihr Leben lang völlig den Eindruck eines Mannes machte, und sich dennoch bei der Autopsie als ein Weib mit Uterus und Ovarien herausstellte, so daß unmöglich von ihr angenommen werden konnte, daß sie der Vater ihrer drei Kinder war. Umgekehrt sahen wir, wie aus Körpern mit überwiegend weiblichen Geschlechts- charakteren, auch gut entwickelten Brüsten, gleichwohl lebendes Sperma 'ejakuliert wurde, so daß an der Anwesenheit einer männ- lichen Geschlechtsdrüse nicht zu zweifeln war. Vollends bei den neutralen und dualen Hermaphroditen. Hier sind die sekundären Geschlechtszeichen, gleichviel ob bei der Person rudimentäre Ge- schlechtsdrüsen ohne sichtlichen Geschlechtscharakter vorhanden sind oder ovostestes, in denen beide Geschlechtlich keiten aufs innigstevereinigt sind, oft so vermischt und verwischt, daß es sehr schwer zu sagen ist, welches Geschlecht das Übergewicht hat, und selbst wenn, was öfter vorkommt, im Körperbau das eine oder andere Geschlecht stark im Vordergrund steht, ist eine sichere Diagnose gleichwohl noch nicht gewährleistet, so daß, vor die prak- tische Frage der Geschlechtszugehörigkeit gestellt, in solchen Fällen letzten Endes doch das Geschlechtsgefühl und der Ge- schleehtswille den Ausschlag gibt. Nicht ganz so schwankend wie die Beziehungen zwischen Herm- aphroditismus und Androgynie sind die zwischen der Androgynie und den seelischen Abweichungen vom Geschlechtstypus. Gibt es doch eine Reihe androgyner Zeichen, von denen ohne weiteres ein- leuchtet, daß sie zwar körperlich imponieren, in ihrer Entstehung aber doch in hohem Maße von psychischen Momenten abhängig sind. Dazu gehört vor allen Dingen die Gestik und Mimik des Menschen, ebenso die Handschrift und der Gang. Auch im Gebiete des Emotio- n e 1 1 e n , in der Af fektivität der Sinne berührt sich Physisches und Psychisches aufs innigste. Sicherlich findet sich im Fühlen, Denken und Wollen des Mannes und des Weibes vieles, was einen Geschlechtsstempel trägt, indem es sich überwiegend bald bei dem einen, bald bei dem anderen Geschlecht findet. Die Erfahrung lehrt indes, daß virile Körpereinschläge beim Weibe und feminine beim Manne, häufigaber k e ineswegsstets mit entsprechen- den seelischen einhergehen. Es gibt Viragines mit Androtrichie, Androglottie, Andromastie und Androsphysie, die geistig und seelisch gleichwohl völlig weiblich geartet sind, und Weiblinge mit Gynoglottie, Gynotrichie, Gynomastie und Gynosphysie, die in in- tellektueller und affektiver Hinsicht ganz männlich sind. Anderer- seits findet man aber auch seelisch ganz weibliche Männer, beispiels- weise unter den metatropischen Transvestiten ohne Anzeichen weib- licher Körperbeschaffenheit und ebenso psychisch männlich geartete Frauen ohne virile Somacharaktere. Auch hier bezieht sich, wie überhaupt auf sexuellem Gebiet die Regel, immer nur auf die größere Häufigkeit, sie hat stets nur eine relative, nie eine absolute Gültigkeit. Das Verhältnis dürfte etwa so sein, daß, während soma- tische Vollmänner und Vollfrauen zu 10 Proz. seelische Geschlechts- abweichungen darbieten, bei androgynen Männern und Frauen dieser Prozentsatz auf 50 und mehr steigt. Damit ist aber schon ein Zu- sammenhang erwiesen. Ganz ähnlich wie zu den psychischen verhält sich die Andro- gynie auch zu den psychosexuellen Atypien; mit anderen Worten: der feminine Mann und die virile Frau zeigen zwar nicht immer ein von der Norm abweichendes Sexualempfinden, aber doch verhältnismäßig sehr viel öfter als der virile Mann und die feminine Frau. Allerdings ist das Geschlechtsgefühl in solchen Fällen nicht etwa nur im rein konträrsexuellen Sinne zu verstehen, nach dem Weibmänner wie Weiber männerliebend, und Mannweiber wie Manner weiberliebend sein würden; vielmehr erstreckt sich ebenso häufig die Neigung auf das entgegengesetzte Geschlecht, meist frei- lich dann so, daß der feminine Mann virile Frauen sucht oder passiv von ihnen begehrt sein möchte, oder daß die Frau mit dem männ- lichen Einschlag aktiv und aggressiv auf Männer mit weiblichem Einschlag fahndet. Jedenfalls findet man die Aggressionsinversion besonders häufig bei gynandrischen Personen, beispielsweise haben inkubistische und sadistische Frauen oft in Gestalt und Auftreten etwas unverkennbar Männliches, dagegen masochistische und sukku- bistische Männer in Aussehen und Gebaren weibliche Züge. Krafft- -Ebing bezeichnet sogar die Androgynie und Gynandrie „klinisch und anthropologisch als eine besondere, und zwar als die vierte, weit- gehendste Entwicklungsstufe oder Erscheinungsform der eingebore- nen konträren Sexualempfindung"; er sagt: „die Körperform nähert sich auf dieser Stufe derjenigen, welcher die abnorme Geschlechts- empfindung entspricht; nie aber.— fügt er hinzu — finden sich wirkliche Übergänge zum Hermaphroditen, im Gegenteil, voll- kommen differenzierte Zeugungsorgane, so daß also gleichwohl bei allen krankhaften Perversionen des Sexuallebens die Ursache im Gehirn gesucht werden muß." Hinsichtlich der ätiologischen Auffassung ist dieser Ausspruch dahin zu berichtigen, daß nach dem jetzigen Stand der Erkenntnis nicht im Gehirn, sondern in den Ge- schlechtsdrüsen die letzten Ursachen körperlicher Mannweiblichkeit liegen, sachlich ist gegen die Krafft-Ebingsche These einzuwenden, daß die andrögyne Körperbildung durchaus nicht immer mit Homo- sexualität einhergeht. Dieser Irrtum in der Einteilung ist praktisch Hirschfeld, Sexualpathologie. II. q 130 nicht ohne üble Folgen gehliehen, indem Männer und Frauen mit deutlichen Anklängen an den andersgeschlechtliehen Typus oft ohne weiteres für homosexualitätsverdächtig angesehen wurden, was ihnen oft genug erhebliche Unannehmlichkeiten bereitet hat. Auch darin können wir Krafft-Ebing nicht beipflichten, daß er die Effemination und Viraginität von der Gynandrie und Androgynie abtrennt und sie als dritte Stufe der konträren Sexual- empfindung dahin definiert, daß „auch das ganze psychische Sein der abnormen Geschlechtsempfindung entsprechend geartet sei". Nach unserer Auffassung ist der Effeminierte und die Virago gleich- falls in erster Linie eine körperlich abzuwertende Abart der Gattung Mensch; sie stellen Erscheinungen dar, die wohl mit der konträren Sexualempfindung zusammenfallen können, aber keineswegs m ü s s e n. Androgener Drang und Walin. Es ist nun noch einiges über androgyne Drang- und Wahn- vorstellungen zu sagen, die oft neben wirklicher körperlicher Mannweiblichkeit bestehen, nicht selten aber auch ohne diese bei psychisch Intersexuellen vorkommen. Die Psyche empfindet die nicht entsprechende Physis instinktiv lästig und sucht sie nach Möglichkeit auf Grund dieser Empfindungen zu korri- gieren. Von diesem Gesichtspunkt aus stellt der androgyne Drang, ebenso wie das oft als bloße Willkürlichkeit angesehene und daher von- Angehörigen und anderen meist stark getadelte weib- liche Wesen männlicher oder das männliche Gehaben weiblicher Per- sonen, die Projektion eines endokrin bedingten Femi- nismus dar. Feminine Männer dieser Art sind oft auf das eifrigste bemüht, jedes Haar, das nicht dem weiblichen Typus zukommt, zu entfernen; schon Seneca, Martial und Juvenal berichten, wie die antiken Weiblinge mit Harz, Pech und anderen Mitteln sich ent- haarten oder mit Bimsstein glätteten. Martial nennt die Weib- männer deshalb „glabri", Persius „leves", Seneca „depilati", J uve- nal „resinati". Dem Bartschmuck stehen die Femininen im allgemeinen ablehnend gegenüber; die meisten ziehen es, wenn sie nicht fürchten aufzufallen, bei weitem vor, glattrasiert zu gehen. Sehr vielen ist auch schon das Basieren sehr unsympathisch. Vor einigen Jahren tauchte in Berlin ein ausländischer Arzt auf, der sich erbot, mittels Röntgenbehandlung alle Haarwurzeln so radikal zu zerstören, daß die Haut dauernd glatt und hell bliebe. Er hatte etwa ein Jahr lang einen sehr starken Zulauf von femininen Männern, bis man nämlich erkannte, daß die angepriesene Kur nicht nur unzuverlässig, sondern auch keineswegs ungefährlich war. Sehr schwer wird es femininen Männern dagegen oft, sich das Haupthaar scheren zu lassen. Ich \ II. Kapitel: Androgynie kannte mehr als einen Femininen, dem es eine wahre Qual bereitete, sieh dieser „Operation", wie er es nannte, zu unterziehen; einer meiner Klienten brach bei dieser Prozedur stets in Tränen aus. In dem Referat Frankels über den weiblichen Selbstmörder Blank, den er als „honio mollis"9) beschrieben hat, heißt es: „er legte sein Haar in Locken, zerstörte seinen Bart und stopfte sich Busen und Hüften aus." Wie ganz anders verhalten sich hinsichtlich des Haarschmucks die männlichen Weiber. Die komplizierte Damenfrisur verursacht ihnen oft nicht geringe Schwierigkeiten; am liebsten tragen sie daher das Haupthaar glatt gescheitelt, ganz schlicht oder ungeordnet. Noch lieber würden manche „einen Tituskopf" tragen. Ich habe mehr als eine virile Frau zu beobachten Gelegenheit gehabt, die von früher Jugend an einen förmlichen Haß gegen das eigene langeHaar empfand. Manche männliche Frauen gehen in ihrem androgynen Drang sogar so weit, allerlei Mittel anzuwenden, um Bartwuchs zu erzielen. Krafft-Ebing berichtet von der in Männer- kleidern verhafteten Sarolta Vay, daß sie, um einen Bart zu be- kommen, „allerlei Rasierexperimente" in Anwendung zog. Andere derartige Weiber lieben es, sich einen künstlichen Schnurrbart auf- zusetzen oder wenigstens anzumalen. In meiner Photographiensamm- lung besitze ich eine stattliche Anzahl Bilder von Frauen „mit schneidigem Schnurrbart", den sie sich sehr naturgetreu angeklebt haben. Um ihren Teint feiner und weiblicher zu gestalten, wenden feminine Männer vielerlei Toilettenkünste an: Schminke, Puder und Färbemittel aller Art; die männlichen Frauen dagegen verabscheuen nicht nur dergleichen im Gegensatz zu vielen ihrer normalen Schwestern, sondern sind froh, wenn etwa durch viel Sportübungen im Freien ihre Farbe gebräunter und ihre Haut derber wird. Einen förmlichen Haß haben viele feminine Männer auch gegen den „Adamsapfel", dem von virilen Personen doch nur sehr selten Beach- tung geschenkt wird. Ich bin von mehr als einen angefragt worden, ob es denn kein Mittel gäbe, den häßlichen „Knubbel" am Halse fort- zubringen. Ein Hauptgegenstand androgyner Wunschvorstellungen sind die Brüste. Bei diesem markanten Geschlechtsmerkmal tritt die see- lische Tendenz, etwas körperlich nicht als adäquat Empfundenes abzuändern, oft ungemein heftig auf. Der üppige Busen, den die virile Frau an sich haßt, ist die Sehnsucht der femininen Männer, -und die flache Brust, deren Anblick ihn verdrießt, ist ihr Verlangen. In einem früheren Buche habe ich über einen Fall berichtet, in dem ein weiblicher Mann von dem Wunsche verfolgt wurde, sich „durch Paraffininjektionen einen weiblichen Busen herstellen zu lassen". ü) Med. Zeitung vom Verein für Heilkunde in Preußen, Bd. 22, S. 101, 1853. 1) II. Kapitel: Androgynie Andere wenden allerlei Saugapparate an oder geben viel Geld für kosmetische Kuren zur Erlangung einer schönen Büste aus. Gegen- wärtig habe ich einen Kaufmann in meiner Behandlung, der selbst darauf verfallen war, sich Einspritzungen von Thelygan in die Brüste verabreichen zu lassen, um so vielleicht eine Vergrößerung seiner Brüste herbeizuführen. Zu meinem Erstaunen ist dieser Ver- such tatsächlich von einem gewissen Erfolg begleitet gewesen. Zu- nächst hat sich die tiefe Verstimmung des Patienten sehr erheblich gebessert. Außerdem konnte aber auch objektiv nach einiger Zeit eine partielle Gynäkomastie festgestellt werden. Vorher ebenfalls mit Hilfe von Organpräparaten in Anwendung gebrachte Ver- männlichungskuren verschlimmerten die psychische De- pression. Bei virilen Frauen geht umgekehrt manchmal der Drang so weit, sich die Brüste amputieren zu lassen. Ich kannte ein Mädchen von 25 Jahren, das es schließlich durchsetzte, daß die Ärzte, ein Chirurg in Verbindung mit einem Psychiater, ihr diesen Willen taten. Im Zusammenhang mit dem Busen spielt überhaupt die Figur unter den androgynen Zwangsvorstellungen eine große Rolle. Femi- nine Männer legen großen Wert auf eine schlanke Taille und schnüren sich aus diesem Grunde in erheblichem Gerade, während virile Frauen ganz im Gegenteil hiervon oft gar nichts wissen wollen und das Korsett stark verpönen; oft liegt in solchen Fällen der scheinbaren Objektivität eine unbewußte sexuelle Subjektivität zu- grunde. Auch in der artefiziellen Stimmbeeinflussung dokumentiert sich hie und da die androgyne Psyche. Während der feminine Mann dazu neigt, seine Stimme künstlich zu erhöhen, namentlich im Ge- sang, tut sich die virile Frau wieder viel darauf zugute, wenn sie ihre Stimme vertiefen kann und sei es auch nur durch einen Stimm- bandkatarrh infolge vielen Rauchens und Trinkens. Sogar bis auf den Genitalapparat erstreckt sich dieser seltsame Drang. Kastrationswünsche femininer Männer sind mir oft be- gegnet. Stark virile Frauen binden sich, namentlich wenn sie Bein- kleider tragen, Nachbildungen männlicher Glieder um, nicht etwa nur cohabitandi causa, sondern oft lediglich, um sich der ihnen so angenehmen Illusion hinzugeben. Man ist zunächst geneigt, in vielen dieser androgynen Wünsche und Handlungen eine Zügellosigkeit zu erblicken, etwas Läppisches, Kindliches, beispielsweise im künstlichen Hoch- und Tiefsingen, oder etwas Extravagantes wie im Tituskopf des Weibes, oder im Schmin- ken und Lockenbrennen des Mannes. Offenbar neigten auch die alten Komödienschreiber zu dieser Auffassung und übergössen diese Gepflogenheiten mit Spott und Hohn. Später ging man mit ihnen noch weniger glimpflich um. Sicherlich ist auch dieser Drang, der meist schamhaft verborgen wird, bis zu einem gewissen Grade der Willens- II. Kapitel: Androgynie 133 hemmraig unterworfen, aber oft ist er doch auch so stark, daß er alle Sehranken durchbricht, namentlich wenn die nervösen Wider- standskräfte an und für sich geringfügig sind. So sehen wir, dafö manche androgyne Züge im Alleinsein oder in ähnlich veranlagter Gesellschaft, in der ein äußerer Zwang nahezu fortfällt, sich elementar Ausdruck verschaffen. Totale dauernde Mimikry in dieser Hinsicht, bestehend in fortgesetzter gewaltsamer Unter- drückung jeder femininen Äußerung der femininen Psyche, ist aber kaum ohne schließliche Beeinträchtigung des Nervensystems möglich. Noch eine Stufe weiter wie der Geschlechtsverwandlungsdrang geht der androgyne Wahn. Die mit ihm behafteten Personen glauben, daß ihr Körperbau tatsächlich bereits einen weiblichen oder männlichen Typus aufweist, während dies in Wirklichkeit keines- wegs zutrifft. Oft handelt es sich auch nur um spontane Phantasie-' Vorstellungen, in denen zu leben den Betreffenden ein großes Wohl- behagen bereitet, oder auch um wahnhafte Überzeugungen und Organgefühle, die etwa den Charakter hypochondrischer Wahn- ideen haben, nur mit dem Unterschiede, daß diese sexuellen Wahn- vorstellungen lustbetont empfunden werden. Da ist beispiels- weise jemand, der eine kamn den Durchschnitt überragende Fett- ansammlung in der Brustgegend hat, fest davon durchdrungen, er besitze weibliche Brüste; unter den Musculus pectoralis fassend, sucht er sie zu demonstrieren und läßt sich nicht ausreden, daß seine Annahme auf einem Irrtum beruht, oder er findet sein Gesicht oder seine Figur „ausgesprochen weiblich", ohne daß diese Annahme im mindesten zutrifft. Frauen mit analogen Störungen sagen, ihre Mus- kulatur oder ihre Hüften seien doch völlig männlich und sind nicht vom Gegenteil zu überzeugen. Auch das Gefühl, welches viele Vira- gines während der Kohabitation haben, das Membrum des Partners sei ein Gebilde ihres eigenen Körpers, gehört in dieses Gebiet. Ich will zur Erläuterung dieser Vorstellungskomplexe, die oft sehr intensiv sind, Briefstellen eines Korrespondenten bringen, der mir seit vielen Jahren schriftlich sein Herz ausschüttet. Wie viel hier auf das Konto wirklicher androgyner Beschaffenheit, wie viel auf Phantasievorstellungen fällt, inwieweit ein androgyner Drang oder Wahn vorliegt, entzieht sich meiner Beurteilung, da der auswärts lebende Patient bisher eine persönliche Untersuchung aus Scham ablehnte. Gleichwohl sind seine Mitteilungen aber von hohem psychologischen Wert, weil aus ihnen die starke Fixierung an den ihn völlig beherrschenden Gedanken der Gynäko- mastie als Ausdruck seiner Weiblichkeit mit Deutlichkeit her- vorgeht. Die Eltern waren bei der Geburt des Patienten beide 29 Jahre alt, der Vater 4 Monate älter als die Mutter. Die Mutter hatte yor der Geburt den lebhaften Wunsch, ein Mädchen zu bekommen, da das erste Kind ein Knabe gewesen war. Man hatte 134 für ihn schon einen Mädchennamen bestimmt. Nach ihm wurden noch Zwei Mädchen geboren, zwei und fünf Jahre jünger wie er. Diese beiden Schwestern sind unver- heiratet und haben wenig Neigung zur Ehe. Alle Geschwister haben verhältnismäßig sehr jugendliches Aussehen, so daß jedermann sie jünger taxiert als sie sind. Die Eltern leben in glücklicher Ehe. Der Vater war. streng, die Mutter nachsichtig, er hat für die Mutter mehr Sympathie und ist ihr körperlich ähnlich, während er geistig mehr dem Vater gleicht. Als Kind sprach er viel im Schlaf. Er spielte lieber mit Mädchen, wie er auch Mädchenkleidung lieber getragen hätte, da er sie schöner fand. Diese Vorliebe fiel auch seiner Umgebung auf. Er lernte sehr leicht, besonders hatte er Interesse für Musik und Geographie. Er wurde in einer klösterlichen, doch für weltliche Berufe bestimmten Anstalt erzogen. Geschlechtliche Verführung fand nicht statt. Er hatte von Jugend auf einen Widerwillen gegen männliche Personen, be- sonders gegen geschlechtsreife. Bis zum 7. Jahre kamen öfter onanistische Versuche durch Reiben an den Genitalien vor, angeblich im Schlaf, sie wurden ihm von den Eltern abgewöhnt. Er schlief als Kind mit seinem Bruder, der zwei Jahre älter war, zusammen. Etwa im 13. Jahre erlitt er einen heftigen Stoß gegen die Hoden und bekam danach eine Entzündung und Eiterung der Hoden. Die Hoden blieben in der Folgezeit bis heute kaum aprikosenkerngroß. Als er etwa 17 Jahre zählte, fühlte er in der Gegend der Brustwarzen ein heftiges Brennen und Jucken, allmählich traten die charakte- ristischen Wölbungen der weiblichen Brüste hervor. Bei seiner damaligen Unerfahren- heit hielt er diese Entwicklung für ganz natürlich, erst nach und nach dämmerte ihm die richtige Erkenntnis und er verbarg sein Geheimnis vor jedermann. Zitternd sah er der Militärmusterung entgegen; seine Schilderung dieser Untersuchung läßt er- kennen, daß sie ein schweres psychisches Trauma für ihn bedeutet. Er denkt noch heute mit Ingrimm an die anzüglichen Reden einiger Herren und ihre spöttischen Blicke. Er wurde nicht ausgehoben. Seine Abneigung gegen ärztliche Untersuchungen ist seitdem so groß, daß er heute noch, trotz seiner ausführlichen schriftlichen Be- kenntnisse, sich nicht zu einer Untersuchung verstehen kann. Bis Ende der zwanziger Jahre hatte er keinen Bartwuchs, auch jetzt, im etwa 40. Jahre, beschränkt sich der Bartwuchs auf einen sehr schwachen Schnurrbart. Wann er zum ersten Male von geschlechtlichen Dingen hörte, erinnert er sich nicht, ebenso nicht, wann er die erste Pollution hatte. Geschlechtlichen Verkehr hatte er nie, er gibt als Grund an, er hätte es unritterlich gefunden, ein Mädchen zu «ntehren, zumal bei seiner „schwesterlichen" Zuneigung für alle weiblichen Personen. Er ist mittelgroß, gut genährt, seine Hautfarbe ist etwas blaß, das Haupthaar ist dicht und braun, er trägt es in der Milte gescheitelt. Im 40. Jahre ist das Haupthaar schon durch weiße Silberfäden meliert. Seine Schritte sind klein, schnell, Haltung aufrecht. Das Auge ist graubraun, Blick schwärmerisch. Hände und Füße sind zier- lich gebildet. Die Schultern sind sanft gerundet. Köipermuskulatur ist mittelkräftig, das Fleisch mittelfest. Seinen Gesichtsausdruck schildert er als sehr „jugendlich", er errötet leicht. Der Kehlkopf ist wenig hervortretend, hohe Baritonstimme. Seine Brüste seien völlig weiblich, er schildert sie als voll, prächtig geformt, schön gerundet, straff; sie heben sich auch bei männlicher Kleidung deutlich ab. Zu einer Photographie hat er sich nicht entschließen können, nach einer von ihm her- gestellten genauen Maßzeichnung hat er in der Tat voll entwickelte Mammae. Sekretion aus den Brustdrüsen hat er nie bemerkt, zu seinem Leidwesen auch durch Stillversuche nicht erzielen können. Hüitenweite und Schulterbreite hat er nicht gemessen, gibt sie als etwa gleich an. Die Taillenweite beträgt 74 cm „durch langes Korsetttragen". Seine Hoden „funktionieren schwach". Bei lebenslanger Abstinenz von Koitus und Masturbation hat er nur in roonate- langen Intervallen nächtliche Samenergießungen. Über Qualität und Quantität des Ejakulates hat er keine Angaben gemacht. Seinen geistigen Eigenschaften nach sei er sentimental, launenhaft, nachtragend, leicht erregbar, dabei aber gutmütig, gesellig, teilnehmend, bescheiden, schüchtern, 135 heiteren Gemüts, sparsam, ordentlich; er unterhält sich gern, ist aber nicht geschwätzig. In religiöser Hinsicht ist er strenggläubig katholisch. Seine geistige Veranlagung ist rezeptiv, er übt einen wissenschaftlichen Beruf aus, über den er näheres nicht angibt; seine Gesinnung ist konservativ gerichtet. Er ist sehr musikalisch und ein guter Sänger. Im Alkohol ist er äußerst mäßig. Geschlechtliche Neigung ist nur „in verringertem Maße" vorhanden, im Falle der Betätigung würde er sich dem weiblichen Geschlecht zuwenden. Es bedarf aber „außerordentlich starker Beize, um ihn sexuell zu erregen". Eine Änderung seiner Tiiebrichtung hat nie stattgefunden. Es fesseln ihn nur unverheiratete weibliche Personen bis zu den Wechseljahren von heiterem Sinn und guter Erziehung. Not- wendige Bedingung ist aber ein voller und schöngeformter Busen. Seine Neigung ist nur auf echt weibliche Erscheinungen gerichtet, männliche Personen interessieren ihn nicht, auch nicht in. bildlicher oder plastischer Darstellung. In seiner Zuneigung ist er beständig, flirten liebt er nicht. Er ist unverheiratet und lebt mit einem jungen Mädchen zusammen, mit der ihn eine Art erotischer Freundschaft verbindet. Sie war die einzige, die ihm im Orte an Üppigkeit der Büste gleichkam, gerade wegen dieser Eigenschaft liebt er sie, und zwar wie er sich ausdrückt, mit keuscher Zuneigung. Er wacht sorgfältig über ihre Unschuld. Er wird nicht müde, ihr echt weibliches Wesen hervorzuheben und besonders ihren Busen zu schildern. Die Pflege und gegen- seitige Bewunderung des Busens nimmt in dieser erotischen Freundschaft den Hauptplatz ein. Sexuelle Empfindungen im engeren Sinne sind ihm diesem Mädchen gegenüber fremd. Erfühlt sich als ihre schützende Schwester. Als sie schließlich sich verheiratet, angeblich nur eine Versorgungsehe, ist er zunächst völlig gebrochen, malt sich aus, wie schrecklich es sein' muß, wenn „ihr reiner Leib und prächtiger Busen womöglich täglich zur Befriedigung der männlichen Begierden dienen muß". Endlich fügt er sich mit einer Art Galgenhumor darein. Er hält das Mädchen für homosexuell, sie habe sein eigentlich weibliches Wesen erkannt und geliebt, ihn auch in der Betätigung seiner weiblichen Natur bestärkt. Für die weib- liche Homosexualität hat er volles Verständnis, die männliche erklärt er für krankhaft. Dieses Vorurteil ist bedingt durch seine ausgesprochene Antipathie gegen alles Männliche. Schon als Kind beneidete er die Mädchen um ihre schmucke Kleidung, aber er wagte es nicht, die ersehnte weibliche Kleidung anzulegen. Erst als ihm seine Freundin dazu Mut machte, tat er es insofern, als er zu Hause Damenunterkleidung trägt. Korsett und Busenhalter gebraucht er schon jahrelang. Er selbst äußert sich hierüber: „Gerade der Anblick meines schönen weiblichen Busens ruft immer und immer wieder in mir das Verlangen nach hübscher weiblicher Außen- und Innenkleidung wach." Er möchte eben in jeder Hinsicht Frau sein. Über seinen Busen ist er ganz glücklich, verwünscht seine männlichen Genitalien und „möchte gerne dem Leibe nach ganz ein Mädchen sein". Über seine Entmannungsversuche, sowie den Drang zum Stillen verweise ich auf die folgenden Briefstellen. Sexuellen Orgasmus hat er nur dreimal überhaupt verspürt, und zwar während der Stillversuche im 44. Jahre; dabei Ejakulation. Einmal träumte er, ein Kind zu stillen und erwachte beglückt, doch ohne Pollution. Er selbst erklärt seine Gynäkomastie mit dem Wunsche seiner Mutter während der Gravidität, ein Mädchen zu bekommen. Ich lasse nun einige Briefstellen folgen: „Obwohl das Bekenntnis kaum aus der Feder will und ich mich hierüber tief 1 schäme, muß ich es doch der'WolIständigkeit halber eingestehen, daß ich in diesem Jahre schon einmal am Werke war, die Entmannung vorzunehmen. Schon hatte ich Verbandzeug und Lysol bereit, und die Schere zum scharfen energischen Schnitt an- gesetzt. Der erste Schnitt in den Hodensack und das rieselnde Blut ließen mich er- zittern und aufhören aus Furcht, die Blutung nicht stillen zu können. Wird mein Wille auch in Zukunft stark genug sein, diesem 'unheimlichen iiinern 136 II. Kapitel: Androgynie Drange Herr zu werden, der wohl meiner anscheinend angeborenen und tief ein- gewurzelten Abneigung gegen meine männlichen Geschlechtsorgane entspringt? Gibt es denn gar kein unblutiges Mittel, um dieses unschöne, mir bis in die Seele verhaßte und so ganz und gar nicht zu meinem Seelenleben passende Anhängsel insgeheim zu zerstören? Ich glaube Ihnen diese Schilderung schuldig zu sein, um Ihnen einen Ein- blick zu geben in mein Doppelleben, in dem das Weib die erste Rolle spielt und die Mannesnatur nur mit Widerwillen ertragen wird, und in meine Gefühle, die auch der stärkste Wille bisweilen nicht niederzwingen kann, weil sie mir in Fleisch und Blut stecken und immer wieder neue Nahrung erhalten durch den Anblick meiner weiblichen Busenbildung. Vielleicht sind meine weiblichen Brüste, die mir durch den Gedanken, den schönsten Reiz des Weibes zu besitzen, schon viele selige Stunden bereitet haben, andererseits ein Unglück für mich! Ich erlaube Ihnen unter Wahrung der Diskretion meines Namens und Wohnortes, von meinen sämtlichen Aufzeichnungen beliebigen Gebrauch zu machen, damit die Menschheit nicht so rasch ein abfälliges Urteil spricht über solche, die anders geartet sind als normale Menschen. Ich würde mich freuen, diese Aufzeichnungen zugleich mit Ihrem Urteile einmal irgendwo lesen zu können. Mögen sie andern zur Belehrung und Aufklärung dienen!" „Ich muß mich selbst häufig beim Erwachen, wenn meine suchenden Hände über die schwellenden Hügel des Busens tasten, besinnen, ob es Traum oder Wirklich- keit ist und ich komme mir selbst komisch vor, wenn ich bei meinen täglichen kalten Ganzwaschungen meinen nackten, seltsam geformten Körper mit der Frauenbrust be- trachte. Weil Sie sich hierfür auch interessieren dürften, will ich ganz aufrichtig aus meinem intimen Leben ausplaudern, daß mir das Waschen und Massieren meiner Brüste großes Vergnügen macht, ohne mich indes geschlechtlich anzureizen." Er hat seinen Brüsten Namen gegeben; die rechte heißt Frieda, die linke Elvira. In einer seinen zahlreichen Zuschriften sagt er: „Meine weiblichen Brüste, die gekosten Liebsten Frieda und Elvira, führen das Regiment, während er — damit meint er sich selbst — das Aschenbrödel bleibt. Frieda und Elvira sind temperamentvoll und ich wußte bis vor mehr als einem Jahre nicht, warum meine Brustwarzen so häufig anschwellen und sich so steif aufrichten, daß es mir fast wehe tut, bis mich die Marie (dies ist der Name seiner Freundin) auf- klärte, daß dies die weibliche sinnliche Erregung sei. Als bei mir im 16." oder 17. Jahre die Brustschwellung einsetzte und Frühlings Erwachen losging, wurde ich an der Brust von so heftigem Juckreiz gequält, daß ich mir die Haut hätte wegkratzen können." Ein anderes Mal schreibt er: „Meine Bemühungen, meinen Brüsten die frühere, sich selbst .tragende Form wiederzugeben, sind bisher gescheitert. Anscheinend habe ich die Blütezeit meines Busens hinter mir, und wohl oder übel muß ich" mich mit dem Gedanken vertraut machen, daß ich das Schicksal aller Damen teilen muß, die mit zunehmendem Alter ihre hübschen Formen verlieren, sei es durch Abmagerung oder Verfettung der Brust- drüsen. Ich habe nach dem bisherigen Gange der Dinge wohl das letztere zu erwarten, weil meine Brüste zwar langsam und fast unmerklich, aber doch stetig zunehmen, und infolge der zunehmenden Schwere nach abwärts sich senken. Wenn dieselben jetzt zu wachsen aufhören würden, wäre ich schon herzlich froh. Ich habe mich einige Male schon recht geärgert über den dummen Spott eines Mädchens, das mich durch Spottnamen, wie z. B. Gschwollbusen oder Dickbusen lächer- lich zu machen sucht." Von anderen Beschimpfungen, die Dorfgenossen ihm nach- gerufen hätten, führt er an : „Bastard, Hosenweibl, Hosenmädi, unser Busenbubi, Kor- seti Bubi, Schönbusen, Der mit seinen Eutern,'' In einem anderen Briefe heißt es : „Nachdem Sie nun wissen, wie es in meinein Innern stürmt und tobt, wie in mir Mann und Weib miteinander ringen, und schließ- lich das Weib als der stärkere Partner und unversöhnliche Gegner den Mann nieder- ringt, wie das Weib in mir mich förmlich drängt und zwingt, mich nach Weiberart zu betätigen und sogar dem Säuglinge dienstbar zu sein, kann ich ein Gefühl der Schani vor Ihnen nicht verwinden. II. Kapitel: Androgynie y^-j Nur ein einziges Mal, wenn ich die weibliche Geschlechtslust ganz durchkosten konnte, um zu wissen, was dabei vorgeht! Nur ein einziges Mal, wenn ich die Monat«- regel mit allen ihren Empfindungen von Anfang bis zu Ende durchmachen könnte um besser zu verstehen, wovon ich bis heutigen Tags nur eine unbeholfene Ahnung habe! Nur ein einziges Mal, wenn ich die Mutterfreuden von der Schwangerschaft bis zur Geburt und dem Wochenbett durchleben könnte, um zu wissen, was man dabei fühlt ! Jene Nacht, in der meine männlichen Geschlechtsorgane sich ihres Überflusses entledigen, macht mir einen eingenommenen Kopf, Mißstimmung, brennende Au»en und Unlust am ganzen Körper. Mich widert das männliche Sekret an, es reut mich immer die Wäsche. Wenn unsereiner in der glücklichen Lage wäre, den Abgang vorauszuwissen, wie die Damen, so hätte ich mir schon von meinen Freundinnen mit einer Monatsbinde aushelfen lassen. Wie froh wäre ich, wenn ich meinen lieben Freundinnen gleich wäre in der weiblichen Scham, wenn selbe auch nicht so hübsch und ansprechend ist, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie ist doch netter und an- sprechender als unsere Schamgegend. Was sagen Sie zu der Ansicht meiner Freundin, daß ich außer meinem Busen noch im Unterleib andere, allerdings nicht zur Ausbildung gekommene weibliche Ge- heimnisse habe und daß daher mein weibliches Wesen stamme? Und darum behauptet sie auch immer, du wirst sehen, du mußt die Wechseljahre durchmachen wie die andern Weiber, und deine immer wieder aufsteigenden Hitzewellen sind der Anfang davon. Der Körperentwicklung nach eine Mischung von Mann und Weib ist mir meine Zwitterstellung nicht erwünscht. Was mir an ihr lästig fällt, ist das Überwiegen und überhaupt das Vorhandensein der männlichen Geschlechtsmerkmale, die mir wie ein Fremdkörper in meiner Natur vorkommen. Der von jeher solange ich denken kann andauernde Widerwille gegen alles Männliche beschränkt sich nicht nur auf meine eigene Person, sondern erstreckt sich auch auf alle Personen männlichen Geschlechts, besonders geschlechtsreife Personen. Menstruationserscheinungen und Beschwerden! die ich dem Samenabgange vorziehen würde, um noch mehr körperlich dem Weibe zu gleichen, habe ich noch nicht wahrgenommerf. Die seit einiger Zeit unregelmäßig aufsteigenden Hitzewellen haben hierauf wohl keinen Bezug. Mein seelisches Empfin- den ist vollständig das des Weibes, wie es in einem Weibe nicht vollkommener aus- gebildet sein könnte, wie auch stets in mir der Wunsch rege gewesen ist, dem Leibe nach ganz Weib zu sein, damit Leib und Seele harmonieren." Die größte Sehnsucht, die ihn beherrscht, ist ein Kind zu stillen. Einmal äußert er sich: „Beim An- und Auskleiden und wenn ich zufällig nicht schlafen kann, spielen meine Hände liebkosend mit den Brüsten und meinen großen Saugwarzen, wobei ich sehr bedaure, daß ich hierfür durch Kindermund keine Verwendung habe. Amm(e zu sein, wäre ja einer meiner Herzenswünsche und ich beneide jede stillende Mutter." Endlich wird sein v Herzenswunsch erfüllt. In einem überschwenglichen Briefe teilt er mit, daß durch Vermittelung seiner Freundin eine Frau ihm ihr neugeborenes Kind zur Aufzucht überlassen habe. „Wir sind aufs höchste gespannt," schreibt er, „ob Milch kommen wird." Er gibt mir nun regelmäßig Nachrichten, doch lauten diese hinsichtlich des Stillens recht unbefriedigend. Schließlich bemerkt er: „Milch war nicht gekommen, die größte Freude, die ich ersehnt hätte. Was ich dabei alles dachte und fühlte, kann ich nicht beschreiben; das müßten Sie selber erlebt haben. Ich hätte mich den ganzen Tag vor das Kind hinsetzen können. Es waren dies für mich 27 Tage des seligsten Frauenglücks, von denen ich mir wünschte, sie möchten nie ein Ende nehmen. \ Samenabgang hatte ich während des Stillens im wachen Zustande am 2., 12. und 25. Stilltage. Der Lustreiz im wachen Zustande war überwältigend stark, besonders am 2. und 25. Stilltage, wo er sich fast bis zum unerträglichen Wonne- und Kitzelgefühl steigerte, so daß ich das Kind währenddessen von der Brust nehmen mußte. Ich glaube eine oftmalige solche Freudenqual wäre für mich die Totengräberei meiner Gesundheit und Jugendlichkeit. 138 II. Kapitel: Androgynie Habe als Amme vollständig versagt — keinen Tropfen Milch 1 Nun habe ich mich 5 Wochen lang abgemüht, um zum Ziele zu kommen, habe sogar noch fortgetan, als mir das Kind die Brustwarzen durch das kräftige Saugen stellenweise wund geschnullt hatte. Vielleicht ist doch der Mißerfolg veranlaßt durch mein Alter, da ich schon dem 41. Jahre entgegengehe, oder durch die zunehmende Verfettung meiner Brüste, oder vielleicht auch durch die Tätigkeit meines Hodens, die anderweitige geschlechtliche Tätigkeit zurückhält. Das Stillen hat mich gesundheitlich doch mehr mitgenommen, als ich meinte (Kopfweh, unangenehme Gefühle im Rücken); der starke, unbefriedigt gebliebene Saugreiz wird wohl auf die Nerven eingewirkt haben. Gleichwohl zahle ich diese Tage zu den interessantesten meines Lebens; wenn die Milch gekommen wäre, hätte ich mich gern dem kleinen Mädchen auf ein Vierteljahr als Nähramme her- gegeben. Seit der zweiten Woche hat die Mutter mir, wenn ich da war, das Kind vollständig zur Pflege und Reinigung überlassen, sie hat mir zuvor alles gezeigt, wie ich es machen muß, so daß sie dann bei meiner Anwesenheit aller Arbeit mit dem Kinde überhoben war: Sie glauben nicht, wie ich von dem Triebe, stillen zu können, geplagt und gemartert werde, besonders nachts, oder wenn ich höre, daß eine Mutter entbunden hat. Die Triebfeder dieses übermächtigen Dranges wird vielleicht das Verlangen meiner Natur nach weiblicher Lustempfindung sein. Wenn alle gebärenden Mütter an dem Stillen eine solche Freude hätten wie ich, brauchte man keine Still- prämien. Meine männlichen Geschlechtsorgane kommen mir wie Fremdkörper an' meiner Natur vor. Ich habe gegen sie, weil ich sie wie bei jedem Manne unschön finde, und sie in ihrw Aufdringlichkeit meinen Schönheitssinn beleidigen, einen un- besiegbaren Widerwillen, der fast an Haß grenzt." Bei anderer Gelegenheit fährt er fort: „Besonders stoßen mich ab der widerliche Geruch des Samens und die roh- sinnliche Art des Geschlechtsverkehrs, weshalb ich auch gesteigerte Antipathie gegen Männer fühle, die viele Kinder in die Welt setzen. Und eigentümlich, je lieber und sympathischer mir eine weibliche Person ist, desto weniger empfinde ich Verlangen nach einem intimen Verkehr mit ihr.'* Er hofft auf ein weibliches Klimakterium, wie folgende Stelle beweist: „Vom 12. November 1914 bis 25. Februar 1915 keinen nächtlichen Samenabgang mehr bemerkt, konnte am Nachthemd keine Spuren finden. So lang war die Zwischen- zeit noch gar nie. Sollte dieses am Ende ein Zeichen sein, daß meine männliche Geschlechtstätigkeit dem Erlöschen entgegengeht? Das wäre mir höchst erwünscht, vielleicht wird damit auch der mitunter auftretende Entmannungstrieb herabgesetzt, gegen den ich mich mit aller Willenskraft wehren muß und dem ich schon längst erlegen wäre, wenn die Sache sich einfach und ohne Gefahr machen ließe. Es hat mich schon zuweilen gereut, daß ich voriges Jahr, als ich bereits angefangen hatte, nicht rasch gehandelt habe, indem mich die Energie verlassen hat." Sehr bezeichnend für seinen Zustand sind auch folgende Sätze: „Wenn es von mir und meinen Freundinnen allein abhängen würde, so hätte ich schon längst alles Männliche möglichst abgestreift, und hätte mich im Äußeren der großen Schar des weiblichen Geschlechts angeschlossen, mich ganz als ihresgleichen betrachtend. Leider, daß dieses ein bloßer Wunsch bleiben muß und ich, durch die Verhältnisse gezwungen, auch in Zukunft nach außen männliches Wesen heucheln muß, während mein Inneres sich dagegen auflehnt und nach Erlösung von den Männer- fesseln schreit, und mein Körper Tag für Tag durch meinen weiblichen Busen mir andere verlockendere Wege weist." Betreffs seiner sehr ausführlichen brieflichen Schilderungen bemerkt er: „Es ist dies eine Art Entspannung der, weiblichen Elemente, die in meinem Innern angehäuft sind und zum Ausbruche drängen, eine Entlastung und Erleichterung der Seele, ein Rufen des bedrängten Herzens nach Personen, die das Weib auch an einem Manne achten und auch an einem Manne weibliche Merkmale schön finden möchten, ein Werben um Liebe für das Weib; es ist bei mir auch der Wunsch, in mir vor allem das Weib sehen zu wollen und den Mann nur soweit notwendig berücksichtigen zu wollen." III. KAPITEL Der Transvestitismus Definition des Transvestitismus — Der psychologische Kern dieser Erscheinung — V e r - oder U m kleidungstrieb — Geschlechtliche V e r hüllung oder E n t hüllung — Einfluß der Gewandung auf Stimmung und Leistungsfähigkeit der Trans- vestiten — Abgrenzung des Transvestitismus von der Homosexualität — M e t a - tropische Transvestiten — Zu beiden Geschlechtern neigende Transvestiten — Autcmonosexuelle Transvestiten — Gestellungspflichtige in Frauen- kleidern — Ein Oberingenieur mit 15 Korsetts — Oberlehrer Klara — B e k 1 e m - m u n g s - und Depressionszustände bei gewaltsamer Unterdrückung des trans- vestitischen Dranges — Femininer Mann, welcher seine Gattin um ihre Schwanger- schaft und Entbindung beneidet — Der Transvestitismus und die Bestimmungen über groben Unfug und Erregung öffentlichen Ärgernisses — Drang vieler Trans- vestiten in andersgeschlechtlicher Tracht spazieren zu gehen — Ein Damen- schneider, der seine „m ä n n 1 i c h e Existenz" als Verkleidung betrachtet — Ein anderer Damenschneider mit Menstruationsäquivalenten — Verhältnis des männ- lichen zum weiblichen „Ich" — Der Mann als Freundin seiner Frau — 1 Häufige Kombination von Androgynie, Transvestitismus, Homosexualität und Hystero- neurasthenie — Transvestitismus und Militärtauglichkeit — Ein transvesti- tischer Hauptmann — Ausführlicher Bericht einer Frau über den Transvestitismus ihres Mannes — Urlauber in Frauenkleidung — Frauen als Soldaten — Notwendigkeit der Befragung jedes Patienten nach seinem Geschlechtsleben — Neigung zu weiblichen Handarbeiten — Transvestitismus und Beruf — Der Trommler und der Pfeifer einer Kompagnie verheiraten sich — Ein Mädchen, die an Stelle ihres Bruders ins Feld will — Uniformliebe transvestitischer Frauen — > Sehnsucht der Transvestiten sich in der Tracht des andern Geschlechts photographieren zu lassen — Die Neigung, Zwischenstufen trachten zu zeichnen — Transvestiten, die Gravidität vortäuschen — transvestiten- träume — Übergang vom androgynen zum transvestitischen Drang — Namenstransvestitismus — Frauen mit männlichen und Männer mit weib- lichen Pseudonymen — Selbstmeldungen von Transvestiten bei der Polizei unter Beibringung! eines ärztlichen Zeugnisses — Transvestitismus und Spionage- verdacht — Partieller und kompletter Transvestitismus — Weibliche Unterkleidung unter männlicher Oberkleidung und umgekehrt — Einzelne Kleidungsstücke, die beim Manne einen femininen oder beim Weibe einen maskulinen Einschlag verraten — Männer, die sich in Frauentracht und Frauen, die sich in Männertracht töten — Behandlung des Transvestitismus — Organ- therapie — ' Soll der Arzt den Transvestiten die Umkleidung raten oder wider- raten? — Die Ehefrage — Vererbung des Transvestitismus. Der gegen Ende des vorigen Kapitels geschilderte androgyne Drang, dieses starke Verlangen, Merkmale des anderen Ge- schlechts am eigenen Körper zu besitzen, der Barthaß und der Brust- III. Kapitel: Der Transvestitismus wünsch femininer Männer, der Bartwunsch und Brusthaß viriler Frauen steht in naher Verwandtschaft mit einem anscheinend noch viel verhreiteteren Zwangstrieb, dem wir nunmehr unsere Aufmerk- samkeit zuwenden wollen. Es ist dies der Drang, in der äußeren Gewandung des Geschlechtes aufzutreten, der eine Person nach ihren sichtbaren Geschlechtsorganen nicht zugehört. Wir haben diesen Trieb als t r a n s y e st i t i s e h e n bezeichnet, von trans entgegengesetzt und vestitus gekleidet, wobei wir gern zugeben wollen, daß mit diesem Namen nur das Augenfälligste der Erschei- nung getroffen wird, weniger der innere rein psychologische Kern. Die Kleidung darf bei diesem oft überaus stark Betätigung er- heischenden Trieb nicht, um uns eines Wortes von Carlyle zu be- dienen, „als ein lebloses Ding" aufgefaßt werden, sondern muß „als lebensvolle Heimstatt unseres Daseins", „als Stück unseres eigensten Wesens", kurz, als Ausdrucksform der innersten Persönlichkeit an- gesehen werden. Deshalb geht auch der Ausdruck Verkleidungstrieb schon manchen Transvestiten gegen das Gefühl. Sie würden die Bezeich- nung „Um kl ei düngst rieb" vorziehen. Das Anlegen des weib- lichen Kostüms, meinen sie, entspräche doch ihrem wirklichen Wesen mehr als die männliche Tracht. Ein transvestitischer Regie- rungsrat sagte mir einmal, im Herrenanzuge sei es ihm, als ob er eine Uniform oder Amtsrobe trüge, in der weiblichen fühle er sich, als ob er „Zivil" anhätte. Ähnliches hörte ich oft. Ein Transvestit bezeichnet „die Sucht nach dem Frauengewand, nach dem absoluten Äußeren der Frau, als das Hineinwollen seines weiblichen Teils in entsprechende Formen" und fährt fort: „Wenn ich dann alles vom Manne von mir werfe und das weibliche Äußere anziehe, kann ich fast physisch wahrnehmen, wie das Falsche, Gewalttätige aus mir herausflüchtet und sich wie ein Nebel verteilt." Der Einfluß, den die männliche oder weibliche Gewandung auf das Seelenleben der Transvestiten hat, ist ungemein stark. In der Tracht ihres äußeren Geschlechts fühlen sie sich eingeengt, un- frei, gedrückt, sie empfinden sie als etwas Fremdes, ihnen nicht Ent- sprechendes und Zugehöriges; dagegen finden sie nicht Worte genug, um das Gefühl der Sicherheit, Ruhe und Erhebung, das Glück und Wohlbehagen zu schildern, das sie in der Gewandung des anderen Geschlechts überkommt. So führt ein Patient in sehr bezeichnenden Worten aus: „Ich fühle mich in männlicher Kleidung wie ver- g e wältigt, und irre gewissermaßen unstet in meinem Ich umher, erblicke ich mich aber in weiblichem Anzüge, werde ich vollständig ruhig; ich kann die Ruhe ganz deutlich wahrnehmen. Der ganze Organismus funktioniert gleichmäßiger, es ist wie ein Ausruhen nach großer Ermüdung, wie das Heimatgefühl der ganzen Indivi- dualität in der Rolle der Frau." Nicht minder beredt berichtet ein III. Kapitel: Der Transvestitismus anderer, wie ihn seit seinem 15. Jahre ein Verlangen nach Frauen- kleidern beherrscht, das „wie Hunger und' Durst Befriedigung er- heischte". Endlich mit 24 Jahren, als er krankheitshalber vom Lehr- amt beurlaubt im elterlichen Hanse weilte, bietet sich die ersehnte Gelegenheit. Er zieht sich ein vollständiges Ballkostüm seiner Schwester an. „Ein nie gekanntes Gefühl des Wohl- b e h a g en s durchrieselte mich", „in den 14 Tagen, wo ich meinem Verkleidungstrieb nachgab, wuchs meine Sehnsucht nach einem Weibe wie ich es mir wünschte, außerordentlich" und „das Wunder- barste war, daß ich mich jetzt rasch erholte, während ich vorher vergeblich ein Sanatorium besucht hatte". Ein weiterer schreibt: „Die Unterröcke sind mir ein Heiligtum", und weiter: „Am meisten freute ich mich auf den Sonntag, wo ich mit den Kindern im ge- stärkten Unterrock, weißer Schürze und Häubchen spazieren gehen konnte, dann fühlte ich mich wie im Himmelreich." In völlig analoger Weise hören wir von weiblichen Trans vesti- ten, daß sie sich in Männerkleidern oder wenigstens, wenn sie männ- liche Mützen, Kragen, Unterwäsche und Stiefel {ragen, leicht, wohl und leistungsfähig fühlen, dagegen in Frauenkleidern beengt und unfrei. Hat man oft Gelegenheit zu beobachten, wie ungemein heftig die Transvestiten von ihrer seltsamen Leidenschaft beherrscht wer- den, so nimmt es in hohem Maße Wunder, daß ein so ausgeprägtes Seelenphänomen wie dieses, der wissenschaftlichen Erkenntnis so lange verschlossen bleiben konnte. Selbst Krafft-Ebing, der in seiner umfangreichen Kasuistik gelegentlich Fälle erwähnt, in die der Ver- kleidungstrieb mit hineinspielt, war das eigentliche Wesen der Er- scheinung fremd geblieben. Er sah in ihr, wie die meisten Autoren vor und nach ihm, nur eine Abart der Homosexualität, während wir heute mit aller Gewißheit sagen können, daß es genau so wie es Homosexuelle gibt, die durchaus keine Transvesti- ten sind, auch Transvestiten vorkommen, die nichts weniger als gleichgeschlechtlich empfinden, sich vielmehr sexuell völlig zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen. Es handelt sich also um Zustandsbilder, die für sich isoliert vorkommen und deshalb auch gesondert zu betrachten sind. Ich kann in dieser Hinsicht zu meinem Bedauern nicht S t e k e 1 beipflichten, der meine Auffassung mit den Worten bekämpft: „Es heißt den Tatsachen geradezu Gewalt antun, wenn man die Trans- vestiten von den Homosexuellen trennen will." Es mag sein, daß man auch bei den Transvestiten, wie ja nach Freud und Stekel aus- nahmslos bei allen Menschen auf psychoanalytischem Wege letzten Endes im Unterbewußtsein verborgene oder verdrängte homosexuelle Triebkomponenten herausholen kann, aber für die klinische Be- III. Kapitel: Der Transveslitismus trachtung- kommt es hier nicht so sehr auf das Latente, als auf das Manifeste an, und da kann es keinem Zweifel unterliegen, daß vielen Transvestiten die Homosexualität subjektiv ganz genau so unsym- pathisch ist, wie der Mehrzahl der Heterosexuellen. Ich gebe einige bezeichnende Äußerungen wieder. Ein Damendarsteller, der trans- vestitische, aber nicht homosexuelle Neigungen hat, erzählt, wie er allmählich Klarheit über sich gewann; er habe ein Spezialitäten- theater besucht und dort zum ersten Male einen „Damenimitator" gesehen. Er berichtet: „Durch das Gespräch zweier Männer, die vor mir saßen, wurde ich erst darauf aufmerksam, daß die vortragende Dame männlichen Geschlechts sei. Einer der Herren ließ dabei eine Bemerkung über die Neigungen fallen, die derartige Individuen ihrem eigenen Geschlecht gegenüber haben sollten. Dem anderen schien das nicht recht glaubhaft, aber der erste versicherte, er wisse es ganz genau, jedes männliche Individuum, das sich weiblich kleide, gehöre zu jener Bässe von Menschen. Ich ging an diesem Abend sehr niedergeschlagen nach Hause und verbrachte eine schlaflose Nacht. Noch lange klangen mir diese Worte im Ohr. Wie kam hier jemand dazu, über seine Mitmenschen ohne weiteres den Stab zu brechen und etwas zu behaupten, was unmöglich wahr sein konnte. Denn ich fühlte doch trotz meiner Sehnsucht nach Weiberkleidern, nicht die Spur von einer Neigung zum Manne in mir." Andere Trans- vestiten schreiben: „Obwohl ich seit Jahren viel in homosexuellen Kreisen verkehre, ekelt mich der bloße Gedanke an gleichgeschlecht- lichen Verkehr direkt an." Ein anderer gibt an, daß ihm „die Idee der Komplettierung seines idealen Zustandes durch einen Mann nie gekommen sei", und ähnlich äußert jemand: „Der Trieb war stets nur auf den Coitus cum femina gerichtet, von Homosexualität ist keine Spur vorhanden." Ein süddeutscher Transvestit teilt mit: „Als Transvestit verab- scheue ich die Männerliebe; Homosexualität und Transvestismus sind zwei diametral entgegengesetzte Veranlagungen." Es geht sogar so weit, daß heterosexuelle Transvestiten nicht selten den Ver- kehr mit homosexuellen Transvestiten aufs peinlichste meiden, die letzteren beispielsweise grundsätzlich aus transvestitischen Ver- einigungen ausschließen; während umgekehrt homosexuelle Trans- vestiten heterosexuellen Männern, die in weiblicher Kleidung leben, nicht das geringste Verständnis entgegenbringen, sie für Menschen halten, die auf halbem Wege stehengeblieben sind oder an ihre Neigung zum anderen Geschlecht überhaupt nicht glauben. Aus vielen Zuschriften wie mündlichen Äußerungen habe ich ersehen, daß gerade durch den Beweis, welchen ich in meinem Buche: „Die Transvestiten" geführt habe, daß viele, die sich selbst als Frauen kleiden, gleichwohl weibliebend sein können, in nicht wenigen Ehen die Harmonie wieder hergestellt wurde, welche durch Mißtrauen 143 und mangelnde Kenntnis des seltsamen Triebes in höchstem Gerade gestört war. Nun ist mir zwar bekannt, daß nach der Freudschen Schule gerade die Abneigung und der Abscheu vor einer Empfindung für ihr Vorhandensein sprechen soll, daß also, wenn jemand ein Ding oder eine Person zu hassen scheint, er sie in Wirklichkeit liebt und seine Zuneigung nur verdrängt hat. Auf diese Lehre einzugehen, ist aber um so weniger nötig, als wir in diesem Lehrbuch nicht philo- sophische Deutungen geben wollen, sondern nur schlichte Schilde- rungen tatsächlich in Wirksamkeit tretender Gefühlskomplexe. Richtig ist, daß der andersgeschlechtliche Typus, zu dem heterosexuell empfindende Transvestiten sich hingezogen fühlen, in der Mehrzahl der Fälle kein ausgeprägter Typus des anderen Ge- schlechts ist; die meisten männlichen Transvestiten bevorzugen eine Frau mit männlichen, die meisten weiblichen einen Manu mit weib- lichen Einschlägen. Ein Transvestit gab eine Heiratsanzeige auf, nach der „ein effeminierter Mann eine männliche Frau" suchte; dieser schrieb mir: „Mein Liebesideal waren stets starke männliche Frauen, solchen gegenüber will ich mich als Weib fühlen;" er spricht sich dahin aus, daß er vom Weibe den Angriff erwarte; „doch muß es ein energisches Weib sein, die mir imponiert, geistig und körper- lich, auch ein ganz klein wenig Schnurrbart habe ich bei ihr gerne usw." Ein anderer wird von einem Frauentypus angezogen, der „zwar körperlich total Weib ist, mit blondem, sehr üppigem Haar, blaugrauen Augen, breitem Becken, von mittelschlanker, kräf- tiger Figur, in geistiger Hinsicht aber eine Intellektuelle" sein soll. Diese Vorliebe für körperlich robuste, oder geistig überlegene, oder auch bedeutend ältere Frauen, deutet, wie ich im Kapitel „Meta- tropismus" noch des näheren auseinandersetzen werde, auf einen femininen Einschlag in der Psyche des Mannes, ebenso wie bei den Frauen die Inklination für körperlich und seelisch zarte, sensi- tive oder sehr viel jüngere Männer zur Annahme einer virilen Bei- mischung berechtigt. Hierin aber eine larvierte Homosexualität zu erblicken, kann meines Eraehtens nur derjenige, welcher Homo- sexualität mit Feminismus gleichsetzt. In Wirklichkeit sind aber die Androgynie und der Transvestitismus, ebenso wie die noch zu beschreibende Homosexualität und Aggressionsinversion (sexueller Metatropismus) verschiedene Formen des Feminismus. Besonders häufig finden sich auch unter den Transvestiten Männer, die sich lieber umwerben lassen als werben, und Frauen, denen die aktive Rolle sympathischer ist als die passive. Sehr viele männ- liche Transvestiten lieben es, im Akte unten zu liegen, während die meisten weiblichen Transvestiten die obere Lage vorziehen. Außer rein heterosexuellen und homosexuellen Transvestiten gibt es auch bisexuelle, welche eine Neigung zu beiden Ge- ]44 HI- Kapitel: Der Transvestitismus schlechtem verspüren. Beispielsweise sah ich einen glücklich ver- heirateten Transvestiten, welcher seiner Frau zweimal mit einem Manne, dagegen nie mit einem Weibe untreu geworden ist. Er gab als Grund an, daß sich mit seinem Weibgefühl in ihm die Vorstel- lung verknüpft hätte, es möchte doch einmal jemand in seinen Körper eindringen. Da seine Frau dies nicht vermöge, hätte er sich unter großen Schmerzen vom Manne pädizieren lassen. Von einem transvestitischen Weibe erfuhr ich, daß sie einem juvenilen Typus zugetan sei, der ihr sowohl unter jungen Männern, als heran- wachsenden Mädchen häufig begegne; sie habe ihre Libido jedoch häufiger in gleichgeschlechtlicher, als heterosexueller Weise be- tätigt. Sicherlich kommen unter den bisexuellen Transvestiten alle möglichen Abstufungen vor, doch scheint mir alles in allem eine gleichmäßig auf beide Geschlechter gerichtete Triebrichtung nicht so häufig vorzuliegen, als die auf das eine oder andere Geschlecht ausschließlich oder ganz überwiegend gewandte. Nach dem mir zur Verfügung stehenden umfangreichen Beob- achtungsmaterial empfinden unter den Transvestiten etwa 35 Proz. heterosexuell, ebensoviel homosexuell, dazu kommen ca. 15 Proz. Bisexuelle, während von den übrigbleibenden 15 Proz. die meisten automonosexuell, einige vielleicht auch asexuell veranlagt sind. Einen Fall vom transvestitischen Automonosexualismus habe ich bereits eingehend im 6. Kapitel (Bd. I, S. 193) beschrieben. Hier verschafft die Umkleidung an und für sich bereits hinreichende Lustgefühle, wobei auch fast niemals als Begleiterin der Lust die Scham fehlt. Manche dieser Transvestiten leiden an nächtlichen Pollutionen, bei denen sie sich im Traum als Frau gekleidet erblicken. Einer bekennt, daß, als er sich bald nach der Konfirmation heimlich, in Abwesenheit der Eltern, das cremefarbene Damastkleid der Mutter anzog, zum ersten Male eine Erektion eintrat, wobei er „das naive Gefühl hatte, es sei eine Sünde". Ein Transvestit berichtet, daß er, wenn er sich verkleidet und dann im Zimmer nach Frauenart den Rock hoch rafft, oft, ohne daß er sich berühre, ejakuliert habe; ein anderer gibt an, es hätte ihn erotisch befriedigt, wenn er sich „in der Stille, angetan mit Korsett, feinen Unterröcken, entzückenden Kleidern, Hut, Schleier, Armbändern und Halsketten, vor dem Spiegel stehend, betrachtet hätte", und ein dritter, daß „seine Sinn- lichkeit in erster Linie auf Befriedigung der Kostümsehnsucht ge- richtet sei, daß demgegenüber alle anderen Wünsche zurücktreten". Von mehreren hörte ich, daß sie, wenn sie keine Frauenkleider an- hätten, nahezu impotent seien, daß sie dagegen, wenn sie eine neue Damentoilette anprobierten und fänden, daß sie gut sitze, sofort eine Erektion und häufig auch eine rasche Ejakulation bekämen. Bei manchen dieser Schilderungen ist man fast versucht, zu denken, daß hier eine Spaltung der Persönlichkeit dergestalt eintritt, daß der e El 1 ■H CA O) Im, mt. sond £ S be ze US tritt CO rH tism eton □ c o so Öl. Kapitel: Der Transvestitismuä 145 männliche Teil in der Psyche dieser Menschen sich an ihrem weib- lichen Teil sexuell errege, daß sie sich nicht zu dem Weibe außer sich, sondern zu dem Weibe in sich hingezogen fühlen. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß dieser automonosexuelle Zug ebensowenig wie der homosexuelle keineswegs allen Transvestiten eigen ist. Es gibt eine ganze Eeihe, bei denen die Umkleidung selbst noch keine erotischen Empfindungen auslöst, sie betrachten sie ledig- lich als eine Hervorkehrung ihres weiblichen Innenlebens. Ich kannte solche, die zufrieden waren, wenn sie von Zeit zu Zeit einen Spaziergang als Frau machen konnten. Dabei hatten sie weder Erektionen, noch Ejakulationen, noch das Bedürfnis zu irgendeinem sexuellen Verkehr weder mit weiblichen, noch männlichen Personen. Man dürfte sie daher wohl als asexuell bezeichnen. Ich will nun zunächst, um den Kollegen das Verständnis für das im Verhältnis zu seiner Verbreitung und Bedeutung bisher noch so wenig bekannte und gewürdigte Erscheinungsbild des Transvestis- mus zu erleichtern, einige wenige aus einer größeren Anzahl neuer- dings von mir beobachteter Fälle kurz schildern, und zwar will ich es in Anlehnung an eine Abhandlung über : Militärtauglich- keit undTransvestitismus tun, welche ich im zweiten Kriegs- jahr verfaßte, bisher aber noch nicht veröffentlicht habe. Es dürfte wenig bekannt sein, daß es bei den während des Krieges vorgenom- menen Musterungen wiederholt vorgekommen ist, daß Gestellungspflichtige in Frauenkleidern erschienen sind. Die beiden ersten, mir bekannt ge- wordenen Fälle ereigneten sich in Spj und Wi. In Sp. handelte es sich um einen jungen Mann, der sich als „Schlangentänzerin" auf der Varietebühne einen Namen gemacht hat, und auch außerhalb der Bühne meist in eleganter Damentoilette geht; der Fall in W. betraf einen aus einer bekannten Adelsfamilie stammenden Jüngling, dessen merkwürdige Lebensschicksale bereits öfter die Öffentlichkeit beschäftigten. Zur Rede gestellt, wie er dazu käme, sich bei dem Aushebungsgeschäft in Frauen- kleidern vorzustellen, erwiderte er, daß er überhaupt nicht im Besitze von Herren- sachen sei, er ginge stets in selbstgefertigter Damengarderobe, seine weibliche Frisur bestünde aus eigenem Haar; auch machte er geltend, daß er bei dem Königlichen Polizeipräsidium in Berlin die Genehmigung nachgesucht und erhalten hätte, als Frau zu gehen. Letzteres führte auch der andere zu seiner Rechtfertigung an. Beide wurden als dauernd garnison- und felddienstunfähig ausgemustert. Im weiteren Verlaufe des Krieges sind mir dann noch, abgesehen von mehreren Soldaten, die sich in Frauenkleidern herumtrieben oder in solchen von der Truppe entfernten, im ganzen gegen 60 Fälle bekannt geworden, in denen sich Personen ver- schiedenster Altersklassen der Militärbehörde als „Transvestiten" präsentierten; der größte Teil von ihnen begnügte sich mit Überreichung einer sie als Dame darstellenden Photographie. Von mehreren wurde ich ersucht, ein Gutachten über ihre Eigenart auszustellen. Ich entsprach diesem Ansuchen, ohne der militärärztlichen Entscheidung vorzugreifen, durch eine streng sachliche Schilderung des Zustandsbildes, wie ich es durch fachärztliche Beobachtung, Untersuchung und Exploration der Betreffenden ge- wonnen hatte. Zur näheren Veranschaulichung will ich aus einigen Begut- achtungen das Wesentlichere wiedergeben: A. „Der am 23. Juni 1877 zu ... in Posen geborene Oberingenieur A. B. steht seit längerer Zeit in meiner spezialärztlichen Beobachtung. Seit früher Kindheit besteht bei ihm ein heftiger, zeitweise ihm unbeherrschbar scheinender Zwangstrieb femininer Hirschfeld, Sexualpathologie. II. in III. Kapilel: Der Transvestitismus Außenprojektion. Solange er denken kann, war seine ganze Sehnsucht Frauen- kleider, weibliche Unterwäsche, Korsetts, Ohrringe usw. zu tragen. Auch im Traum sah er sich stets als Weib. . , . , . ^ „ , , 3 i Periodisch treten bei A. B. Depressionen auf, die sich, bis zu Selbstmordgedanken steigern. Dieser melancholische Zustand ist nur dadurch ™ be- seitigen, daß er Frauenkleider anlegt. Er fühlt sich dann sofort ent- spannt, wie von einem schweren Druck befreit. Bei der Untersuchung ist zu kon- statieren, daß bei dem Patienten die Ohrläppchen durchbohrt sind, die Schambehaarung, auch der Kehlkopfbau zeigen weibliche Anklänge. Um die Brüste zu vergrößern bedient er sich eines Brustvergrößerungsapparats, den er mit vorlegt. Aus seinen Aufzeichnungen gebe ich folgende Mitteilungen als Proben seines weiblichen Fühlens und Denkens. ,Von Kindheit her hatte ich eine Suctrt nach Mädchenkleidern. In späteren Jahren nahm der Hang nach weiblicher Kleidung immer mehr zu Vor allem schaffte ich mir K o r s e 1 1 s an. Ich besitze ungefähr 15 Stuck, von den einfachsten bis zu den elegantesten. Damenunterwäsche, Jupons, Strumpfe, Strumpfbänder, Kleider, Kostüme, Hüte, Mäntel, Schuhe, Schmuckgegenstände besitze ich in großer Anzahl. Schuhe trage ich Größe 38, was als sehr klein zu bezeichnen ist. Desgleichen auch Handschuhe. Ich habe auch Ohrlöcher, die ich mir selbst gestochen habe. Anfänglich heilten diese immer zu. Eine große Freude hatte ich, als' dies nicht mehr der Fall war. Ohrringe habe ich 8 Paar. Zu Bett gehe ich stets mit Damenwäsche bekleidet und mit Ohrringen. Zur Vergrößerung meiner Brüste habe ich mir einen Brustvergrößerungsapparat zugelegt, den ich nachts vor dem Schlafengehen anlege.' Sein ,Weibseinwollen' ist so hochgradig, daß die männliche Kleidung mehr als Verkleidung empfunden wird als die weibliche." B. „Der 39 Jahre alte Dr. phil. C. D. aus Berlin stand vor längerer Zeit und seit- dem bis zu seiner Einberufung zum Heeresdienst, wiederholt unter meiner! ärztlichen Behandlung und Beobachtung. Dr. D. hat mich ersucht, auf Grund der in vielen ein- gehenden Untersuchungen und Explorationen gewonnenen Ergebnisse ein Gutachten über seinen Geisteszustand abzugeben. Personen, die den Patienten seit langer Zeit kennen, wie seine Frau und einen langjährigen Freund, habe ich unabhängig von ihm gehört. Die vollkommen ineinandergreifenden und sich nirgends widersprechenden Unterlagen boten ein absolut eindeutiges Zustandsbild, das in Über- einstimmung mit den Besultaten wissenschaftlicher Forschung und Erfahrung an Zu- verlässigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Dr. D. stammt aus einer in psychopathischer Hinsicht belasteten Familie. Sein Vater starb in einer Irrenanstalt. Ein Bruder des Vaters, Oberlehrer, beging durch Ertränken Selbstmord. Von mütterlicher Seite ist zu bemerken, daß drei ältere Brüder der Mutter unverheiratet sind. Davon ist zum mindesten einer stark feminin. C. D. zeigte bereits als Kind unverkennbar neuropathische Züge. Schon mit 13 Jahren fürchtete er, er könne geisteskrank werden und drang in die Mutter, mit ihm zum Arzt zu gehen, ,da er für seinen Verstand fürchtete'. Dann wurde er sehr fromm — sein Vater war ursprünglich katholischer Theologe gewesen. Als auch dadurch seine Depressionen und Neigungen nicht wichen, suchte er sich durch Alkohol zu betäuben, schließlich machte er schon als Jüngling einen Selbstmordversuch, indem er es unternahm, sich an einem Haken auf dem Boden der elterlichen Behausung auf- zuhängen. Später stürzte er sich ungemein intensiv in die Arbeit, studierte als Auto- didakt, beschäftigte sich namentlich mit der Frauenerziehung in Rußland, verfaßte darüber auch eine Doktorarbeit, promovierte 1908, und bereitete sich dann privatim für das Staatsexamen vor, das er ebenfalls teils gut, teils sehr gut bestand. Nachdem Patient dies angegeben hat, fügt er wörtlich hinzu: ,Ich führe diese Tatsachen an, um zu zeigen, mit welcher Energie ich meinen Zustand zu überwinden versuchte. Und schließlich mußte ich mir sagen, daß ich am' Ende soweit als zuvor war. Immer nur ganz kurze Abschnitte der Jahre nach dem Abiturium gelang es mir, Herr des Triebes zu werden, und ich mußte feststellen, daß er mit III. Kapitel: Der Transvestismus den Jahren immer unüberwindlicher wurde. Das letzte Experiment war meine Heirat. Als ich sah, daß auch die Heirat mich nicht bewahrte, erwog ichden zweiten undletzten Selbstmord. In dieser Periode endlich wurde mir die Aufklärung. Ich faßte meine Energie zusammen und offenbarte mich meiner Frau und Mutter und setzte es durch, von beiden als Frau behandelt und auch m i t einem Frauennamen, ,Klara', bedacht zu werden. Während der Jahre meiner Selbständigkeit führte ich stets ein Doppelleben, teils hatte ich zwei Zimmer, teils, wenn das Geld nicht reichte, meine Kleider in der eigenen Wohnung versteckt Dr. D. war wiederholt in Frauenkleidern ausgegangen, ohne daß man ihn als Mann erkannte. Eines Tages aber, im Dezember 1914, wurde er unter Verdacht der Spionage angehalten. Aus seinen Papieren ergab sich bei der Feststellung sein wahres Geschlecht. Darauf suchte er meinen spezialärztlichen Rat. Er schreibt: ,Wäre ich im Dezember nicht verhaftet worden, so hätte ich mich wohl noch ein halbes Jahr in der alten Weise dahingeschleppt. Das aber wäre das Äußerste ge- wesen. Denn ich kann es genau verfolgen, wie trotz aller Gegenmaßregeln der Trieb immer stärker wurde, bis ich jetzt am Ende meines bisherigen Vegetierens an- gelangt bin.' Seine gegenwärtigen Garderobenstücke sind nach Angabe seiner Gattin folgende: ein blaues Kostüm, mehrere Röcke, ein schwarzes Jackett, vier Blusen, zwei Paar halbe Damenschuhe, ein Paar hohe Schnürschuhe, zwei Paar Handschuhe, zwei Gürtel, zwei Schleier, Ohrringe, Brosche, Armband, kleine Tändelschürze, eine große Wirt- schaftsschürze. An Unterwäsche: weiße Unterröcke, drei Hemden, sechs Beinkleider, sechs Nachtjacken. D. besuchte mich wiederholt in Damenkleidern. Er macht den Eindruck einer soliden Bürgersfrau, sieht durchaus nicht auffallend aus. Auch überzeugte ich mich, daß, wenn er auf der Straße ging, niemand, der an ihm vorbeikam, stutze. Offenbar hegte keiner einen Zweifel, daß es tatsächlich eine Frau sei, die an ihm vorüberschritt. Sehr auffallend ist es, wie D. in männlicher Kleidung ein stark depri- miertes, fast melancholisches Wesen zeigt, während er in weiblicher Toilette völlig umgewandelt erscheint: harmo- nisch, mitteilsam, rege und heiter. Auch in körperlicher Hinsicht zeigt D. Anklänge an den weiblichen Typus. Seine Formen sind rund, die Brüste stärker entwickelt als durchschnittlich beim normalen Mann, Bewegungen und Gesichtsausdruck erscheinen, namentlich wenn er Frauen- kleider an hat, recht weiblich, der Adamsapfel tritt wenig hervor; es besteht Neigung, in Fistelstimme zu sprechen und zu singen. Bartwuchs ist auffallend gering; bis zum 26. Jahre soll Rasieren überhaupt nicht erforderlich gewesen sein. Seitdem trat ein schwacher Bartflaum auf. D. trägt sich glatt rasiert. Er errötet leicht, seine Schmerz- empfindlichkeit ist recht groß; der Händedruck wenig kräftig." C. „Der am 18. April 1884 zu Berlin geborene Chemiker Dr. ing. G. IL steht seit einiger Zeit in meiner spezialärztlichen Behandlung und Beobachtung. Schon seit seiner frühesten Kindheit fiel sein mädchenhaftes Gebaren auf. Er selbst wurde beständig von dem Gedanken verfolgt, daß er in Wirklichkeit ein Mädchen sei. ,Ich betete', heißt es in seinen Aufzeichnungen, .allabendlich zu Gott, den an mir begangenen Irrtum wieder gutzumachen und mich in ein Mädchen zu ver- wandeln.' In Verbindung mit diesem Gefühl, eigentlich ein Weib zu sein, trat immer stärker der Drang in ihm auf, Frauen k leidung anzulegen, den er schließ- lich nicht mehr zu zügeln vermochte. H. verheiratete sich in der Hoffnung, das immer stärker werdende Weiblichkeits- gefühl werde im Verkehr mit dem Weibe nachlassen. Das war aber keineswegs der Fall, trotzdem der Verkehr möglich war und auch zu der Geburt eines Kindes führte. Sehr bezeichnend ist es, wie er sich zu diesem Ereignis verhielt. Er beneidete die Frau um ihre Schwangerschaft und Entbindung. ,Mit welcher Lust', schreibt er .hätte ich das Kind gesäugt, und wie war ich traurig, als ich einmal das schreiende Kind an meine Brust nahm und ich ihm nichts gewähren konnte.' .Trockenlegen, 10* ■j^g Iii. Kapitel: Der TransVestitismus waschen, pudern, wägen und späterhin die Flasche geben', heißt es an einer anderen Stelle machte ich mit größerem Geschick, als die a n d e r e n Frauen im Hause und empfand dabei ein inniges Behagen;' H. fügt hinzu: Jch lasse mich in Ausfuhrung meiner Mutterpflichten nicht stören'." D. „Der am 21. April 1895 geborene Student der Philosophie J. K. aus Darmsladt ist von mir seines psychosexuellen Zustandes halber spezialärztlich untersucht worden. K. stammt aus einer Verwandtenehe. Vater und Mutter sind Vetter und Cousine. Die Großmutter väterlicherseits litt in späteren Jahren an einer depressiven Psychose und starb in einer Anstalt für Geisteskranke. Auch der Vater selbst neigt nach dem 50 Lebensjahre zu depressiven Verstimmungen; eine Schwester von ihm hat in einem Anfalle krankhafter Schwermut Suizid begangen. Ein weiterer Bruder des Vaters ist ebenfalls in einer Nervenheilanstalt verstorben. Beachtenswert erscheint es ferner, daß in der Ehe der Eltern die Mutter der weit- aus, energischere — virilere — , Teil gewesen und der Vater, ebenso wie einer seiner Brüder, in der Jugend ausgesprochen mädchenhafte Züge gezeigt haben soll. Bei K. selbst traten bereits in der Kindheit charakteristische Züge einer neuro- pathischen Konstitution deutlich zutage. — Er litt bis gegen das 12. Lebensjahr hin an Bettnässen und zeigte — bei lebhaftem Wesen und vielseitiger Beanlagung — recht viele Gewohnheiten erblich belasteter nervöser Kinder, wie Nägelkauen, Daumen- lutschen, Naschen. Ungeduldig und unruhig ließ er es bei glänzender Auffassung an Ausdauer fehlen. Seine produktiven geistigen Anlagen betätigte er früh mit lite- rarischen Arbeiten, die er bereits im Alter von 15 Jahren in guten Zeitschriften er- scheinen lassen konnte. Auch seine geisüge Aufnahmefähigkeit überstieg weitaus das durch- schnittliche Maß und äußerte sich in übereifriger Lektüre, die bei vielseitigen und wechselnden Interessen die verschiedensten Gebiete menschlichen Geisteslebens um- faßte: naturwissenschaftliche, politische undl soziale Probleme, ebenso wie philo- sophische, religiöse und übersinnliche. Mit einem Hange zu romantischen Ideen und abenteuerlicher Lebensführung verbindet sich bei K. eine ebenso ausgesprochene Neigung zu schwärmerischem Mystizismus. In Verbindung mit dieser auffallend vielseitigen, dabei aber doch nicht recht zu innerer Harmonie und Reife gelangten geistigen Persönlichkeit, steht die überaus eigenartige psychosexuelle Individualität und deren charakteristische Entwicklung. Die ersten bewußten Regungen! derselben lagen auf zwei scheinbar ver- schiedenen und doch in engstem inneren Zusammenhange stehenden Gebieten, dem masochistischen und dem transvestitischen Drange. Bereits in den Kinderjahren traten geschlechtliche Erregungen ein, wenn die Schulgenossen ihn quälten und hänselten. In ähnlicher Richtung wirkten weiterhin auch Züchtigungen seitens der Lehrer sexuell erregend. Auf der anderen Seite bestand — ebenfalls schon in früher Kindheit — ein un- bezwingbarer Drang, weibliche Kleidung, insbesondere Unterwäsche und Korsett, an- zulegen, den K. dadurch zu befriedigen wußte, daß er sich die betreffenden Kleidungs- stücken zunächst aus dem Toilettenvorrat seiner Mutter verschaffte. Eine Verbindung der transvestitischen und masochistischen Komponente trat in dem besonderen Genüsse hervor, den ihm das qualvoll feste Schnüren bereitete. See- lisch entsprach dieser Kombination das lustbetonte Gefühl der Erniedrigung, welches K., als Frau verkleidet und sich als Frau fühlend, empfindet. Von rein nervösen Erscheinungen sind besonders Schreckhaftigkeit, zeitweise auf- tretende Schwindelgefühle, Unruhe und Sprunghaftigkeit zu erwähnen. — Die persön- liche Untersuchung und Exploration K.s bestätigt und ergänzt das aus diesen Schil- derungen sich ergebende Zustandsbild, so bietet der körperliche Befund als er- wähnenswerte Merkmale gewisse Anklänge an das weibliche Geschlecht (feminine Stigmata), weiche, abgerundete Körperformen, zarte Haut, stark entwickelte Brust- warzen, feminine Beckenform, ferner bekundet sich der weibliche Typ in Gesten und Mimik und in einer zwischen Alt und Bariton schwankenden sehr weichen Stimmlage. III. Kapitel: Der Transvestitismus 149 Von nervösen Symptomen fallen objektiv die lebhafte Steigerung der Reflex- und Ge- fäßerregbarkeit, sowie Störungen der Sensibilität auf. K. verkörpert den Typus eines hoch beanlagten, aber degenerierten Menschen, bei dem Wechsel und Vielseitigkeit der Anlagen eine ungewöhnliche Labilität des psychischen Gesamtbildes bedingen. Dasselbe ist auf das engste verknüpft mit der Eigenart der psychosexuellen Individualität. Diese stellt einen ausgesprochenen Fall von seelischem Zwittertum dar, welches sich vor allem in dem Drange be- kundet, zeitweise völlig als Weib zu erscheinen." E. „Der 31 Jahre alte Eisenbahnpraktikant Richard T. aus Str. befindet sich seit längerer Zeit in meiner spezialärztlichen Beobachtung und Behandlung. — Ich will aus den von T. erhaltenen Zuschriften wenigstens einige Stellen wiedergeben, weil diese für das eigenartige Seelenleben dieser Personen, in denen wir weniger Kranke im gewöhnlichen Sinne, als vielmehr mannweibliche Spielarten (Varianten, Zwischenstufen) zu erblicken haben, höchst bezeichnend sind. So schreibt^ er: ,Mein Verlangen, Weib sein zu wollen, fällt in die früheste Kindheit, noch vor dem Schulbesuch. Oftmals zog ich heimlich Röcke meiner Mutter, sogar unseres Dienstmädchens an. Ich suchte ihr Mieder hervor, das eine so göttliche Figur machte, und verbrachte in aller Einsamkeit Stunden, die zu den glücklichsten meines Lebens zählten. Weibliche Modezeitschriften sammelte ich schon damals eifrig. In später Nacht, bei flammendem Kerzenschein, holte ich sie dann hervor und studierte be- gierig, was Mädchen und Frauen tragen. Fand dann die. Blätter meine Mutter, so traf mich ein strafender Blick, wohl gar ein Hieb und meine Kostbarkeiten wanderten zu meinem Herzeleid in den Ofen. Als ich dann größer wurde, kaufte ich mir durch Vermittlung eines Dienstmädchens das erste Mieder. Die Seligkeit, die ich empfand, als ich es anlegte und in Spitzenhöschen vor dem Spiegel stand, vergesse ich mein Lebtag nicht. Unser Mädel herzte und küßte mich wie ihren Schatz. Sie hat mir oft zu genußfrohen Stunden verholfen, wenn die Eltern nicht daheim waren. — Mein Verlangen, weibliche Formen zu besitzen, war unbezwinglich. Ich habe ungezählte Mittel bis auf den heutigen Tag angewandt, um weibliche Brüste, Becken und Waden zu be- kommen. Oft habe ich des Nachts geträumt, daß ich einen strotzenden Busen besäße ; ja sogar das Verlangen, Mutter zu werden, fehlte nicht. — Weil keiner meiner Wünsche sich verwirklichte, wurde ich unruhig, aufgebracht. Namentlich in letzter Zeit nimmt dieser Zustand Formen an, die an Wahnsinn grenzen. Selbst eisernster Wille bleibt ohnmächtig gegen solche Naturgewalt. Oft habe ich mir den Tod als einzige Erlösung gewünscht. — All dieses unsägliche Elend weicht wie mit Zauberschlag, wenn weibliche Kleider mich umrauschen. Im Mieder schlägt mein Herz nochmal so kräftig. Ich vertrage es mit Wohlbehagen eng, 52 cm ist meine Taillenweite. — Als ich gestern mich in Frauenkleidern meiner Mutter und unserer Haushälterin vorstellte, da war ich ausgelassen wie ein Backfisch. Immer wieder versicherten mir beide: Nein, dieser Gang, diese Anmut, ganz wie ein richtiges Mädel. Ungewollt drängte sich mir jene noch heute taufrische Romanze: ,Kennst du das Land' aus Mignon auf die Lippen. Andachtsvoll lauschten beide und als ich im verhauchenden Piano geendet, sagten sie unter Tränen: Ja, aus diesem Sang spricht eines Weibes Seele. Die wundertätige Wirkung der Frauenkleider zitterte noch am nächsten Tage im Dienste in mir nach. Klar, ruhig, heiter erschien mir die Welt. Glückstrunken leiteten mich die allmählich verblassenden Sterne zur freudig begrüßten Arbeitsstätte. Ich habe mit halber Kraft geschafft für drei. — Wenn ich ein nütz- liches Mitglied der Menschheit werden soll, so muß ich außerberuflich Weib sein dürfen. Nur dann kann ich dem Staat so selbstlos treu dienen, wie ich es so heiß begehre, nur so werden Talente frei, die jetzt in starrem Winterschlafe liegen. Meine unsagbar gute, oft verkannte Mutter verdient einen heiteren Lebensabend. Der kann ihr nur werden, wenn ich ihr Sohn und Tochter in eins sein darf." Die Dauer, Spontaneität und Stärke des Triebes machen es, abgesehen von der Analogie vieler ähnlicher Fälle, zur Gewißheit, daß es sich bei T. um eine konstitu- 150 III. Kapitel: Der Transvestitismus tionelle, mit der ganzen Persönlichkeit untrennbar verknüpfte, in sie sozusagen hineingeborene Erscheinung handelt. Nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft dürfen wir annehmen, daß im Organismus von Richard T. weibliches, nach innen sezernierendes Pubertätsgewebe eingesprengt ist. Man hat nämlich experimentell Lebe- wesen dadurch verweiblichen können, daß man ihnen Stücke der weiblichen Pubertäts- drüse in den Körper einfügte, und andererseits auch beim Menschen Einsprengungen von weiblichem im männlichen Keimgewebe nachweisen können, ebenso wie umgekehrt männliches im weiblichen Keimgewebe. Unerklärlich ist es bisher nur, weshalb dieses Zwittertum im weiteren Sinne das eine Mal mehr den Körperbau, ein anderes Mal mehr das Seelenleben betrifft. Sehr bemerkenswert ist, wie verschieden sich uns die Psyche von T. in der erzwungenen männlichen und der ihm adäquaten weiblichen Gewandung darstellt. In der fremden männlichen Hülle leidet er sichtlich, er ist bedrückt, be- fangen, eingeengt, geht nicht aus sich heraus, fühlt sich unlustig, in seiner Arbeits- fähigkeit behindert, nicht selten innerlich so zerquält, daß er am Leben zu ver- zweifeln droht. Ganz anders in weiblicher Hülle; da erscheint er frisch, belebt, be- weglich, das Auge leuchtet, er ist gut aufgelegt; kurz, ein vollkommen veränderter, lebensfroher Mensch. Ähnliches habe ich in fast täglichem Verkehr mit Transvestiten aller Stände, Schichten und Altersklassen hundertfach beobachten können. Ich komme zum Schluß: Wenn man Richard T. nicht die Möglichkeit geben würde, außerdienstlich seinen konstitutionell völlig unverschuldeten Trieb durch An- legen weiblicher Kleidung zu entspannen, so würde das für ihn nicht nur eine große Härte, sondern auch mit der Zeit eine schwere Schädigung seiner Ge- sundheit und Leistungsfähigkeit bedeuten. Um dies zu vermeiden, ist es erforderlich, daß Herrn T. behördlicherseits ge- stattet wird, zeitweise Frauenkleider zu tragen. Die Voraus- setzung dabei ist, daß er beim Ausgehen als Frau nicht öffentliches Ärgernis erregt, oder sich so benimmt, daß sein Auftreten unter den § 360 II des R.Str.G.B. (grober Unfugparagraph) fallen würde. Es bedarf wohl nach allem kaum noch des Hinweises, daß solide Transvestiten schon von selbst im Interesse ihrer Existenz besorgt sind, nicht aufzufallen oder gar einen Auflauf zu verursachen. In dem vorliegenden Falle bietet aber die ganze Persönlichkeit von T., seine ethische und intellektuelle Beschaffen- heit, sowie seine soziale Stellung genügende Garantie, daß dies nicht geschehen wird. Es sei noch bemerkt, daß durch die transvestitische Neigung und ihre Betätigung die berufliche Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt wird. Viele Transvestiten, die ich kenne, füllen schwierige Stellungen in ausgezeichneter Weise aus. Nur die Unter- drückung führt auf die Dauer zu so schweren nervösen und seelischen Veränderungen, daß der Arzt die Pflicht hat, zu einer zeitweisen Anlegung der entsprechenden Tracht direkt zu raten, weil er, wie die Erfahrung zeigt, sonst mit dem Selbstmord des Betreffenden rechnen muß. Da es sich bei der weiblichen Umkleidung an und für sich um etwas ganz Harmloses handelt, niemandem dabei ein Schaden zugefügt wird, auch bei Personen wie T. ein Übergang der transvestitischen Richtung in Homo- sexualität gänzlich ausgeschlossen ist, so ist der gewissenhafte Arzt zu der Verord- nung, daß dem Weiblichkeitsdrang zeitweise nachgegeben werden muß, nicht nur be- rechtigt, sondern verpflichtet." F. „Ich bescheinige, daß der 1877 zu T. geborene Zigarrenfabrikant N. vor drei Jahren meinen spezialärztlichen Rat in Anspruch nahm. Seine transvestitischen Neigungen traten schon in frühester Kindheit auf. Als er die ersten Knabensachen bekam, war er sehr unglücklich, sträubte sich dagegen und suchte immer wieder die Röckchen hervor, so daß seine Mutter sich veranlaßt sah, diese deshalb zu zerschneiden. Darauf suchte er die Kleider seiner Schwester zu tragen, von denen die eine ihm übrigens auffallend ähnlich sieht. Die Angaben, die er selbst über seine Neigungen macht, sind für Transvestiten so charakteristisch, daß ich einige seiner Mitteilungen hier wörtlich wiedergeben will: III. Kapitel: Der Transvestiüsmus 151 ,Beim Anlegen der weiblichen Kleidung fühle ich mich so beruhigt, so glücklich, daß ich sie gar nicht mehr ausziehen möchte. Es ist, als ob vorher ein Druck auf mit laste, welcher dann vollkommen verschwindet, ich spüre dann keine Schmerzen und Müdigkeit, ich bin ein anderer Mensch." Ein anderes Mal sagt er: „Vor Schau- fenstern mit Damenartikcln kann ich immer wieder stehen bleiben und möchte ich mir die schönsten Sachen am liebsten gleich kaufen, hingegen widern mich sämtliche Herrenartikel an. Ich kaufe mir darum nur die notwendigsten Herrensachen. Ebenso ist es auch, wenn ich mir einen Anzug fertigen lasse, dann ist es mir ganz einerlei, wenn ich ihn bekomme, habe ich mir aber eine Bluse usw. bestellt, so kann ich nicht schnell genug in den Besitz derselben gelangen, fieberhaft er- warte ich dann die Sendung und ist es für mich ein Fest, ein neues Stück zu pro- bieren.' ... ,Vor meiner Verheiratung im Jahre 1906 vernichtete ich sämtliche Blusen usw. und meinte, nun hört dieses auf. Es kam aber leider anders. Ich fühlte trotz der innigsten Liebe zu meiner Frau und trotz aller Vorbedingungen zum ungetrübten Glück, daß der Wurm in mir nagt. Ich sah mich in der Annahme, daß durch das Eheleben der Trieb schwinden wird, getäuscht. In den ersten Jahren meiner Ehe versuchte ich mich durch allerhand Zerstreuung, besonders durch Musik, zu beruhigen, jedoch mir erschien alles trübe und fade; es gab dann Zeiten, wo meine Frau verreist war, dann ging ich mit wahrer Gier an ihren Kleiderschrank und versuchte* mich zu kostümieren, jedoch bei dem damaligen Körperumfang, ich hatte ein Gewicht von über 2 Ztr., wollte es nichts werden. Ich begann nun eine radikale Entfettungskur, welche mich binnen einem Jahre auf 161 Pfd. brachte.' ... ,Wenn ich tagsüber in meinem Berufe stark in Anspruch genommen bin und dann erschöpft nach Hause komme, so kann ich die Zeit nicht erwarten, wo ich in meine so geliebten Kleider schlüpfen kann, ich bin nur eben befriedigt, wenn alles vom Manne ausgezogen ist und ich mich als Weib fühle. Sehr gerne hätte ich, daß mich meine Frau mit einem Mädchennamen rufen würde, aber ich glaube, sie würde es nicht machen. Den Abend suche ich immer so viel wie möglich zu verlängern, ohne daß ich irgendein Unbehagen oder Müdigkeit verspüre. Sehr ungern entkleide ich mich dann, lege mich aber immer in Damenhemd, Armbändern, Halskette, sowie Ohrringen zu Bett. Sehr wirkt es auch beim Koitus, daß ich diese Sachen anhabe, ohne die ich kaum potent sein würde. Beim Koitus muß ich mich immer in die Lage denken, daß ich Frau bin. Sehr unglücklich macht mich mein Zustand im Hinblick auf meine Frau, welche hierunter mehr oder weniger leidet.' . . . ,Für Bernstein habe ich besondere Vorliebe. Wasche muß mit reicher Spitzen- garnitur versehen sein. Mich reizt nur die elegante Frauenkleidung, ebenso Schuhwerk und Strümpfe. Unter meiner Kleidung trage ich immer Korsetts, Damenhemd, Strümpfe, durchbrochen, meistens noch Halsketten. Wenn es Abend wird, überfällt mich ein Zittern vor Er- wartung. Diesem Triebe gegenüber bin ich machtlos; trotz heißester Gegenkämpfe und tränenvollen Nächten kann ich nicht anders. Es ist wie eine geheimnisvolle Macht. Der ganze Tag hält mich im Kampfe dagegen fest und stürze ich mich bis zur äußersten Grenze in meine Arbeiten, denn bloß nicht nachdenken. Während der sieben Wochen, die ich während des Krieges in Posen eingezogen war, war meine Spannkraft aufs äußerste angestrengt. Ich dachte nicht anders, als ich müßte wahn- sinnig werden.' . . . ,Während ich nun tagsüber sehr stark rauche, und zwar Zigarren, so habe ich des Abends als Frau gar kein Bedürfnis hierzu und rauche dann sehr selten. Ebenso empfinde ich. wenn ich Besuch habe, wobei mir das Umkleiden nicht gestattet ist, trotz bester Unterhaltung die größte Langeweile, jedoch im Kostüm verfliegt die Zeit mit Windeseile, ich möchte dann am liebsten die Zeiger der Uhr festhalten, um einen recht langen Abend zu genießen, denn es gibt für mich keinen höheren Genuß. Das Wort .Frauenkleidung' klingt mir förmlich wie Musik in den Ohren. Ich weiß 152 III. Kapitel: Der Transvestismus mit Bestimmtheit, daß ich mir mein Leben, ohne meinem Triebe frönen zu können, ohne Bedenken nehmen würde. Ich würde es für gleichbedeutend er- achten, wie wenn ich mein Augenlicht verlieren müßte. Der Gedanke schon allein, daß ich nicht dauernd in Frauenkleidung erscheinen darf, maclit mich unsagbar unglücklich und kommt mir mein Dasein wie auf der Bühne vor, nur mit dem Unterschiede, daß ein Schauspieler des Abends die Maske anzieht und ich die Maske des Abends leider erst fallen lassen kann. Immer macht es mich auch mißgestimmt, wenn ich den Bartwuchs nicht beeinflussen kann, ich habe schon viele Mittel versucht, ich rasiere mich selbst, aber immer erst des Abends, denn wie ich am Tage aussehe, ist mir gleichgültig. Ich scheue auch die Schmerzen nicht, mir die Haare mittels Pinzette herauszuziehen, aber sie wachsen immer wieder. Ich würde mich jedem Opfer unterziehen, wenn dieser lästige Übelstand entfernt werden köiuile. Hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fern, wo uns ein freieres, begehrteres Dasein be- schieden sein wird.' Von weiblichen Toilettengegenständen besitzt Herr N. zur Zeit: ,ein violettes Tuchkleid, anliegend mit Tunika, ein Tüllkleid mit Samtvolant und Unterkleid, ein gestreiftes, leichtes Hauskleid, ein blaues1 Straßenkostüm, einen schwarzen engen Tuch- rock, einen hellen faltigen Bock, einen weißen Cheviotrock, eine seidene dunkle Bluse, drei weiße Spitzenblusen mit reicher Stickerei, drei Untertaillen, zwei Unterröcke, weiß, mit Spitzen, drei Paar Spitzenunterhosen, fünf Taghemden (eins sehr reich und elegant), eine Frisur mit Kämmen usw., vier Bernsteinketten, drei Wachsperl- ketten, ein Paar echte Ohrringe mit Similisteinen, vier Armbänder und Hinge, ein silbernes Halskettchen, zwei Hüte (Samt), ein Schleier, zehn Paar durchbrochene Strümpfe, zwei Korsetts, Puder, Schminke usw., zwei Tändelschürzen und eine schwarze Halskrause mit Samtbändchen.' Wie bei fast allen Transvestiten ist auch bei N. das Nervensystem äußerst labil. Es befällt ihn zeitweise eine große Schwäche und Un- ruhe, dabei Zittern und ein Druck in der Herzgegend, der sich bis zu einem bohren- den Schmerz steigern kann. Der linke Arm ist ihm manchmal wie gelähmt; er ver- sagt ihm dann völlig den Dienst. Nachts leidet er vielfach an Zuckungen. Häufig befallen ihn hochgradige Angstzustände mit Herzklopfen. Dabei brennt ihm die Kehle, so daß er sich große Mengen von Flüssigkeit einschütten muß. Im Kopf fühlt er sich zeitweise sehr benommen. Es ist ihm dann so, als hätte er ein Brett vor dem Kopf." G. „Der Architekt, Herr F., ist von uns, seinem Wunsche entsprechend, ein- gehend beobachtet, körperlich untersucht und wiederholt exploriert worden, damit wir uns ein klares Urteil über die Eigenart seiner geschlechtlichen Veranlagung bilden und demgemäß ein Gutachten über ihn abgeben können. ... F. hat sich in körperlicher Hinsicht normal entwickelt und einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Beruf ergriffen, in dem er sich durchaus zufrieden fühlt und es zu einer geordneten Existenz und geachteten Stellung gebracht hat. Seine Erholung findet er in der Musik und in sportlicher Betätigung. Die Bichtung seines Geschlechtstriebs ist absolut normal, ausschließlich dem weiblichen Geschlechte zugewandt. Er lebt seit Jahren in glücklichster Ehe, die kinderlos geblieben ist. F. wäre seiner Konstitution und seinem Lebensgange nach als ein durchaus normaler Mensch zu bezeichnen, hätte sich in seiner Individualität nicht schon von frühester Jugend an eine Besonderheit geltend gemacht, ein unwiderstehlicher Drang, Mädchenkleider anzuziehen. Schon als Knabe fühlte er, wenn ihm dieses ermöglicht wurde, ein ganz eigenartig wohltuendes Gefühl seelischer Beruhigung und Entspannung. So benutzte er jede nur denkbare Gelegenheit, Garderobenstücke seiner Schwestern anzulegen. Während seines späteren Berufslebens nahm dieser Trieb trotz mannig- facher äußerer Schwierigkeiten und starken Ankämpfens unverändert eine beherr- schende Stellung im Seelenleben des Herrn F. ein. Seit 8 Jahren ist er glücklich ver- heiratet und hat, da seine Frau diesen Neigungen verständnisvoll gegenübersteht, Ge- legenheit, sie in der Häuslichkeit durch Anlegen weiblicher Kleidung bis zu einem III. Kapitel: Der Transvestismus 153 gewissen Grade zu befriedigen. Bis zu einem gewissen Grade nur — denn zur vollen Befriedigung und inneren Entspannung seines Triebes ist es für Herrn F. unbedingt erforderlich, wenigstens von Zeit zu Zeit als Frau sich auch im Freien be- wegen zu können. Ist ihm dieses längere Zeit hindurch unmöglich, dann stellen sich nervöse Erscheinungen' bei ihm ein, von denen er sonst frei ist: innere Unruhe, Grübelsucht, Schlaflosigkeit und ängstliche Träume. Während einer längeren Beobachtungszeit hatten wir Gelegenheit, Herrn F. sowohl in Männer- als Frauentracht in unserer Sprechstunde, wie auch in verschiedenen Situationen des täglichen Lebens, so u. a. bei Ausflügen in größerer Gesellschaft, zu sehen, und konnten uns danach ein zusammenhängendes und vollständiges Bild von seiner Persönlichkeit und ihrer Eigenart machen. In somatischer Hinsicht zeigt Herr F. weder krankhafte, noch irgendwie nennens- werte degenerative Erscheinungen. Eine gesteigerte nervöse Erregbarkeit bekundet sich in den lebhaften Äußerungen der Beflextätigkeit und in einer erhöhten Schmevz- empfindlichkeit. Im Körperbau machen sich Anklänge an feminine Bildung insofern bemerkbar, als die Körperformen mehr weich und abgerundet, die Hände und Füße klein und zierlich sind; ferner ist die Taillenweite — allerdings z. T. wohl infolge häufigen Korsettragens — sehr gering, 72 cm über dem Bock gemessen. Auch die spärliche Körperbehaarung reiht sich diesen Erscheinungen an, während die Geni- talien selbst durchaus normal männliche Bildung zeigen, und auch der Samen, wie die mikroskopische Untersuchung! ergab, lebendige Spermatozoen und Spermakristalle enthält. In der Haltung, dem Gang und den Bewegungen tritt deutlich eine natürliche Annäherung an den Typus des weiblichen Geschlechts zutage. So macht denn Herr F. auch in Damentracht einen so ungezwungenen, natürlichen Eindruck, daß nichts an ihm an den Mann erinnert, solange man seine tiefe Stimme nicht hört. Man kann sogar entschieden sagen, daß der Gesamteindruck des Herrn F. als Dame harmonischer ist wie als Mann. In der Hauptsache ist das dadurch be- dingt, daß seine Stimmung in Frauentracht offenbar eine ausgeglichenere ist als in Herrenkleidung. Herrn F.s Intelligenz, seine Kenntnisse und Interessen, seine geistige Urteils- und Leistungsfähigkeit entsprechen in jeder Hinsicht seinem recht hohen Bildungs- grade. Energie und Willenstätigkeit sind von gesunder Frische und zielbewußter Konsequenz. Die gelegentliche Befriedigung des transvestitischen Dranges ist eine Notwendig- keit für Herrn F., dem er ohne Bedenken nachgehen kann, da er in weiblicher Tracht in keiner Weise auffällt und irgendwelche sexuelle Nebenabsicht, wie aus unseren Schilderungen zur Genüge hervorgeht, bei F. absolut ausgeschlossen und undenk- bar ist. Unser Gutachten geht demnach dahin: Es besteht bei Herrn F. eine angeborene transvestitische Veranlagung, die eine zeitweise Befriedigung dadurch, daß Herr F. sich in Frauenkleidung im Freien bewegt, aus therapeutischen Gründen erforderlich macht, da er andernfalls schweren ge- sundheitlichen Schädigungen in nervöser Hinsicht ausgesetzt sein würd e." H. „Der Dirigent und Professor der Musik, Herr X., ist seit einigen Monaten von uns spezialärztlich beobachtet worden. Beide Eltern des Herrn X. sind hochbetagt an Altersschwäche gestorben. Von seinen 6 Brüdern litt ein) älterer, jetzt verstorben, an epileptischen Anfällen. Ein anderer Bruder ist an einer depressiven Psychose er- krankt — Zuckerkrankheit und geschäftliche Mißhelligkeiten sollen die Ursache ge- wesen sein — und in einer Irrenanstalt. Da alle älteren Schwestern gestorben waren, wünschten sich X.s Eltern vor seiner Geburt lebhaft ein Mädchen. X. selbst hat sich als Kind gesund und normal entwickelt; nur fiel er im Alter von 5 Jahren mit dem Kopf gegen eine Truhe, wobei er eine Verletzung' an der Stirn davontrug, die eine 154 große Narbe hinterlassen hat. Seither litt er in jugendlichen Jahren viel an Kopf- schmerzen. X. wurde streng erzogen, lernte in der Schule leicht und gut, saß fast immerder Erste in seinerKlasse und bezog mit 20 Jahren die musikalische Hochschule. Bis zu diesem Alter sah er auffallend mädchenhaft aus und zeigte, obwohl er ein couragierter, forscher Junge war, auch manche mädchenhafte Nei- gungen, namentlich Interesse für weibliche Garderobe, während ihm das Spielen mit Puppen u. dgl. zuwider war. Seine mit der Geschlechtsreife erwachende Sexualität richtete sich von vornherein und unverändert auf das weibliche Geschlecht. Doch trat auch hier die in X.s Individualität stark ausgeprägte feminine Komponente bereits insofern hervor, als ihn nur energische, männlich geartete Frauen anzogen, und in seiner Neigung zu diesen ein rezeptives Empfinden vorherrschte, das auch in der Art der Betätigung, bei der X. die Rolle des Succubus bevorzugte, zum Ausdruck kam. Irgendwelche Anomalien der Triebrichtung, besonders solche im Sinne homosexueller Inversion, bestanden niemals. — Mit einer Frau, die voller Verständnis für seine Eigenart durch volle seelische Harmonie mit ihm verbunden ist, verheiratet, hat X. zwei gesunde Kinder, eine 18jährige Tochter und einen 13jän- rigen Sohn. Die bereits erwähnte feminine Komponente trat indessen von Jugend an in der gesamten Persönlichkeit X.s und allen ihren psychischen Regungen mit zwingender Gewalt zutage. Er glaubt, daß er ihr zum Teile seine Erfolge als Künstler verdankt, indem sich männliche Energie und Schaffenskraft, stark ausgeprägtes rhythmisches Gefühl mit echt weiblicher Empfänglichkeit und lyrischer Zartheit auf das glücklichste in ihm vereinigt. So hat er es als schaffender Komponist, als ausübender Künstler und als feinfühliger Dirigent zu den höchsten musikalischen Leistungen gebracht. Bestimmender und fühlbarer für ihn aber war der Einfluß seines zweiten „weiblichen Ichs", wie er selbst ganz richtig es ausdrückt, auf seine persönliche Entwicklung. Schon als 13jähriger Knabe empfand er, als ein ebenfalls recht femininer Alters- genosse bei einer Kindergesellschaft als Mädchen maskiert wurde, ein starkes Gefühl von Neid und den lebhaften Wunsch, ebenfalls Mädchenkleidung anlegen zu können. Dieses Gefühl verstärkte sich mit der Zeit zu einem ausgesprochenen Bedürfnis. Als X. später durch die Vermittlung von Frauen, mit denen ihn freundschaftliche oder sexuelle Beziehungen verbanden, wiederholt die Gelegenheit hatte, weibliche Garderobe anzulegen, merkte er deutlich, daß in der Erfüllung dieses Wunsches für ihn nicht etwa eine Spielerei oder Laune, sondern ein tief in seiner Persönlichkeit wurzelnder Trieb, der neben seiner Männlichkeit gleichberechtigt sich geltend machte, Befrie- digung fand. So sehr X. an seinem Berufe hängt, so stolz er auf seine künstlerischen Erfolge ist, ebensosehr ist es ihm Bedürfnis, der femininen Komponente seines Wesens da- durch Rechnung zu tragen, daß er sich zeitweise in Frauenkleidung ganz als Frau fühlen kann. Namentlich nach großen künstlerischen Leistungen drängt dieses Gefühl gebieterisch nach Entspannung. i Neben seinen musikalischen Neigungen und seinem Interesse für — namentlich schöngeistige — Literatur, beschäftigt sich X. mit Mode- und Toilettefragen, liebt Schmuck und sehnt sich bisweilen nach echt weiblicher Tätigkeit, so daß er gern zeitweise als Dienerin oder Gesellschafterin einer Dame leben möchte. Seine Frau, der sich X. in der Eigenart seines Wesens voll und ganz anvertraut hat, hat sich weit in dieselbe eingelebt, daß sie ihm bei der Auswahl und Anprobe seiner Toilette behilf- lich ist und im häuslichen Zusammensein, wenn er seiner transvestitischen Neigung nachgehen kann, ihn völlig als die geschlechtsgleiche Freundin behandelt. Kann Herr X. dem Drange, als Weib gekleidet zu gehen und möglichst ganz als Weib zu leben, nicht wenigstens zeitweise folgen, dann stellen sich bei ihm nervöse Beschwerden, Unlust und Unrast ein; auch seine Tätigkeit leidet darunter. Die Mög- lichkeit, auf kurze Zeit in der Häuslichkeit sein weibliches Empfinden zu seinem Rechte kommen zu lassen, entlastet ihn zwar in etwas, genügt ihm aber nicht völlig, III. Kapitel: Der Transvestismus 155 da eine längere Entspannung, wie sie ihm nur das Tragen weiblicher Kleidung während einiger Tage oder Wochen gewähren könnte, periodisches Bedürfnis ist. — X. ist ein stattlicher Mann, an dem weibliche Körperbildung nach verschiedenen Richtungen hin auf den ersten Blick auffällt. Es besteht eine Inkongruenz zwischen den relativ kurzen Beinen und dem langen Rumpf, wie wir es häufiger bei Frauen als bei Männern finden. Der Schulter- und Beckengürtel sind nach androgynem Typ von annähernd gleicher Breite. — > Die Körperformen sind weich und abgerundet, die Haut ist zart, das Fettpolster in mehr weiblicher Art an der Körperoberfläche ver- teilt, so daß besonders seine Brüste und der Unterleib dadurch stark entwickelt er- scheinen. Hände und Füße sind im Verhältnis zur Körpergröße klein und zierlich. Es bestehen weder bemerkenswerte Degenerationszeichen, noch krankhafte Ver- änderungen des Organbefundes oder erhebliche Störungen der nervösen Funktionen, sieht man von einer etwas lebhafteren Gefäßerregbarkeit und gesteigerter Neigung zum Erröten und Erblassen ab. Die Stimme ist variabel und klingt gleich natürlich in männlich tieferer Lage, wie als Fistelstimme. Die Schrift hat zierliche, aber be- stimmte und gleichmäßig fließende Züge. In der Haltung, den Bewegungen, der ganzen Art, sich zu geben und benehmen, macht sich ein deutlicher Unterschied bemerkbar, je nachdem X. als Mann oder als Frau gekleidet ist. Im ersteren Falle tritt trotz einer gewissen Weichheit im Gesichtsausdruck und in einzelnen Gesten eine männliche Kürze und Bestimmtheit deutlich vor, während X. in Frauenkleidern bis in die kleinsten Einzelheiten der Mimik und Bewegungen einen absolut frauenhaften Eindruck macht, so daß er als eine wohl recht stattliche, aber in keiner Hinsicht irgendwie auffallende Frauengestalt erscheint. Wie bereits erwähnt, spielt im Seelenleben X.s die Gefühlstätigkeit eine über- wiegende Rolle. Seine starke Empfänglichkeit für Freude und Schmerz, das in seinen Äußerungen bis zur Überschwänglichkeit gesteigerte Empfinden, sein in dem Kolorit der Affekte leicht wechselndes, immer aber stark betontes Gefühlsleben, lassen ihn als ausgesprochenen Stimmungsmenschen mit vorwiegend rezeptiver und sensitiver psychischer Einstellung, wie wir sie im allgemeinen als charakteristisch für das weib- liche Geschlecht ansehen, erscheinen. Diese Eigenart ist auch von erheblichem Ein- flüsse auf X.s künstlerische Tätigkeit. So bezeichnet er selbst sein Empfinden beim Dirigieren von Isoldes Liebeslied als ein mit eigentümlicher Wonne verbundenes Ge- fühl weiblichen Aufnehmens und weiblicher Hingabe. Ganz entsprechend sind auch die intellektuellen Fähigkeiten X.s neben aktiv männlichen, die in seiner musikalisch und literarisch produktiven Tätigkeit zum Aus- druck kommen, vorwiegend rezeptive. Demzufolge ist ihm rasches Aufnahmevermögen und auffallend gutes Gedächtnis eigen. Neben einer logisch klaren, nüchternen Verstandestätigkeit verfügt X. über eine üppige und gestaltungskräftige Phantasie. Auch seine Willenstätigkeit vereinigt in ganz ähnlicher Weise männliche und weibliche Elemente, ausgesprochene Energie und Tatkraft mit Anpassungsfähigkeit und Nachgiebigkeit. In einem von abergläubischen Zügen und mystischen Einschlägen nicht freien religiösen Empfinden dokumentiert sich ebenso ein mehr weibliches Wesen, wie in einem stark ausgeprägten Sinn für Ordnung und Wirtschaftlichkeit. Sehr bezeichnend ist es, daß X. in männlioher Kleidung mehr zu geistiger, in weiblicher zu körperlicher Arbeit neigt, wie seine feminine Komponente überhaupt überwiegend nach physischem Ausdruck verlangt. Nach unseren ausführlichen, die psychologische Motivierung bereits berücksich- tigenden Schilderungen der Sachlage, können wir uns in unserem gutachtlichen Resümee kurz fassen. Wenn ein ernster Mann in reiferen Jahren, der eine weithin sichtbare Stellung bekleidet, mit Titeln und Orden ausgezeichnet ist, von einem derartigen Verkleidungs- triebe so stark beherrscht wird, daß seine Unterdrückung ihm nervöse Beschwerden ver- ursacht und ihn in seiner Berufstätigkeit beeinträchtigt, dann darf man wohl von V 156 vornherein annehmen, daß es sich dabei nicht um eine Laune oder Spielerei, sondern um ein tief innerliches Bedürfnis handelt. Erfahrungsgemäß bringt die dauernde Unterdrückung dieser als „Transvestis- mus" bekannten Neigung schwere nervöse Schädigungen mit sich, welche die Leistungs- fähigkeit und das allgemeine Wohlbefinden in erheblichem Maße beeinträchtigen- Dieser Gefahr ist Herr Professor X., bei dem die geschilderte Veranlagung in einwandfreiester Weise ausgesprochen, in seiner psychischen Individualität tief ver- ankert und mit allen ihren Regungen auf das innigste verknüpft ist, ganz besonders ausgesetzt. Wie wir bereits eingehend dargelegt haben, genügt das vorübergehende Anlegen weiblicher Kleidung, wie es ihm gegenwärtig allein möglich ist, nicht zu einer im Interesse seines Wohlbefindens und seiner Gesundung erforderlichen Entspannung. Es ist dazu unbedingt erforderlich, daß Herrn X. die Möglichkeit geboten wird, zeitweise für längere Zeit ganz als Frau leben und sich als solche auch ungeniert be- wegen zu können. Da Herr X. in keiner Weise in Frauentracht auffällt und die An- nahme, er könnte mit Anlegen derselben irgendwelche Nebenabsicht verbinden, oder auch nur den geringsten Mißbrauch treiben, absolut ausgeschlossen ist, stehen der Verwirklichung dieses Verlangens keinerlei Bedenken entgegen. Aus ärztlichen Gründen ist es daher unbedingt geboten, daß Herr Prof. X. aus Gründen seiner besonderen Veranlagung und im Interesse seiner Gesundheit die Erlaubnis erhält, Frauentracht an- legen und in derselben sich auch auf der Straße bewegen zu dürfen, unter der Voraussetzung, daß er in derselben kein Auf- sehen erreg t." Ich füge noch einige Stellen aus Gutachten bei, die sich auf Personen beziehen, in denen sich der Transvestitismus mit Andro- gynie und Homosexualität vergesellschaftet hat: I. Einer dieser androgynen Transvestiten schreibt: „Solange ich denken kann, habe ich mich immer als Mädchen oder Frau gefühlt und meine männliche Existenz nur als Verkleidung betrachtet. Schon als Kind und Jüngling sagte ich oft : Ich würde glücklich sein, wenn ich ein Mädchen wäre. Mit 13 Jahren machte ich mir heimlich aus alten Sachen der Mutter eine Toilette und ging am Arm eines 15jährigen Bräutigams auf die Straße. Ich habe von solchen Verkleidungen auch trotz aller Strafen nicht lassen können. Wurden mir die alten Kleider genommen, so machte ich mir neue. Ein großes Vergnügen machte es mir, kleine Kinder zu warten, den Kinderwagen zu schieben, sie an meine Brust zu legen. Gehe ich wirklich als Dame verkleidet, so falle ich niemand auf und wirke ästhetisch, während ich in meinen Herrenanzügen nur Unannehmlichkeiten habe. Das Schlimmste ist aber, daß ich wegen meines mädchenhaften Wesens schon auf der Schule nur Spott von meinen Kameraden zu ertragen hatte, und stets, wohin ich komme, bildet sich eine Partei, die gegen mein weibliches Äußere eingenommen ist, und ich habe furchtbar viel zu leiden." K. „Ich bescheinige, daß der Konfektionär T. I'.. geboren am 16. Juli 1870 zu Berlin, mir seit 18 Jahren spezialärztlich bekannt ist. Er stammt aus erblich belasteter Familie; der Vater war Alkoholiker, dessen Mutter geisteskrank, ein Halbbruder des Vaters war homosexuell. In seiner Kindheit litt T. viel an Kopfschmerzen, stotterte, lispelte, weinte viel und hielt sich zu den Mädchen, während er Knabenspiele mied. In der Pubertät blieb eine deutliche Differenzierung nach der männlichen Seite aus; er behielt ein mädchenhaftes Aussehen, so daß man ihn sehr häufig für ein in Männerkleidern steckendes Mädchen hielt. In der Zartheit der Haut, der Weichheit der Haare, im Bau des Kehlkopfes und Beckens, in den Bewegungen und im Gesichtsausdruck, vor allem aber in seinen Gewohnheiten zeigen sich unverkennbare weibliche Einschläge. Er kleidet sich vielfach als Frau und wirkt, wie aus mehreren dem Gutachten beigefügten Photographien ersichtlich, vollkommen feminin. 157 Seine ersten Pollutionsträume erstreckten sich auf männliche Personen. Der Geschlechtstrieb zum Weibe, mit dem er niemals in seinem Leben kohabitiert hat, blieb völlig aus. Sein Nervensystem blieb nach wie vor affiziert, vor allem wurde er von Migräne, Schlaflosigkeit, Mattigkeit und schweren periodischen Depressionszuständen behelligt. Dabei wandten sich seine sexuellen Neigungen immer deutlicher und stärker dem männlichen Geschlecht, und zwar besonders uni- formierten Personen zu. Charakteristisch sind folgende Äußerungen, die er über seinen Zustand machte: „Ich bin schon als kleinster Junge in Damenkleidung gegangen. Mein sehnlichster Wunsch und höchste Befriedigung lag in mir, wenn ich mich als Mädchen anziehen konnte. Im Alter von 15 Jahren an hielten mich die Leute ständig für ein Mädchen und sagten immer, auch wenn ich als Junge angezogen war, ich müsse ein Mädchen sein, an Aussehen, Haarfarbe und weiblichen Bewegungen. Oft ist es mir passiert, daß, wenn ich in Lokalen als Junge angezogen war, andere Leute wetteten, ich müßte ein Mädchen sein. Ich fiel immer auf und konnte mich als Mädchen angekleidet ungenierter auf der Straße und in Lokalen bewegen. Ich hätte das Schlimmste ertragen können, wenn ich noch ein Mädchen hätte werden können." Und an anderer Stelle heißt es: ,Mein sehnlichster Wunsch wäre ge- wesen, das durchzumachen, was eine Frau durchmacht, hätte gern Kinder geboren, selbst genährt und erzogen. Am liebsten wäre ich eine Hausfrau geworden, welche die große Wirtschaft selber führt. Nicht nur gleichgeschlechtlich Veranlagte, sondern auch ganz normale Männer haben mir sehr viel nachgestellt. Alle spürten, daß das Weibliche in mir stärker ist als das Männliche. Meine Hüften sind so breit und die Taille so eng, daß ich weder Hosenträger noch Gurt zu tragen brauche, um die Beinkleider fest- zuhalten. Man nannte mich Ottilie. Jeden Monat habe ich wie eine Periode, fühle mich dann ganz schwach, habe Migräne; meine Freunde wissen dann schon, ich habe .meine Regel'; ich gehe dann gar nicht fort. In dieser Zeit habe ich auch öfter Darm- blutungen, die bis 8 Tage dauern.' Nach allem kann es auch nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß es sich bei T. U. um einen sehr hochgradigen Fall von Feminismus handelt, eine Kombination von Androgynie, Homosexualität und Transvesti- smus. L. „Ich bescheinige, daß der am 24. Dezember 1871 geborene Damen- darsteller und frühere Sopransänge'r W. mir seit 15 Jahren spezialärztlich bekannt ist. Es liegt bei ihm ein sehr ausgesprochener Fall von angeborenem Feminismus vor, eine Kombination von Androgynie, Transvestitis- m/us und Homosexualität. Die Androgynie von W. zeigt sich besonders im weiblichen Bau seines Beckens und Kehlkopfs, in seinen weiblichen Bewegungen, im femininen Gesichtsausdruck usw. Sein Transvestitismus besteht in dem unwiderstehlichen Drang, sich zeitweise als Dame anzuziehen und vollkommen das Leben eines Weibes zu führen. Die Homosexualität von W. äußert sich bei vollkommener Impotenz dem Weibe gegenüber in spontaner, sexueller Neigung zu männlichen Personen, deren Betätigung W. nicht zu unterdrücken vermag. Die Mitteilungen, die er selbst über seinen Zustand macht, geben ein so anschauliches Bild seiner Persönlichkeit, daß wenigstens einige Stellen daraus wiedergegeben seien; W., der wohl als einer der bekanntesten Homosexuellen Berlins bezeichnet werden kann, sagt von sich: ,Aus einer mennonitischen Familie stammend, die aus Glaubensrücksichten und Geldinteressen fast ausschließlich Inzucht trieb, bin ich als jüngstes von sechs lebenden Geschwistern geboren worden. Meine Mutter starb bald nach meiner Geburt, und es ist niemand dagewesen, der meine femininen Neigungen, die, so- weit ich denken kann, zurückdatieren, eingedämmt hätte. Ich spielte nur mit Puppen, nie mit Soldaten oder Pferdchen, stickte und häkelte und war stolz, wenn 158 meine Handarbeiten stets besser als die meiner älteren Schwestern zensuriert wurden. In meinem 13. bis U. Lebensjahre etwa wurde diese selt- same Art eines Knaben, die man bis dahin als Kinderei hatte hingehen lassen, all- mählich unliebsam bemerkt — getadelt und schließlich — verhöhnt. Ich stickte und häkelte weiter, aber heimlich. Mit wachsendem Älter- und Verständigerwerden gab ich mir, aus Rücksicht auf meine angesehene Familie, viel Mühe, diese weiblichen Neigungen zu unterdrücken, aber es ging nicht. In den oberen Klassen des Gymnasiums bekam ich einen Mädchen- namen; mein Aussehen und meine Allüren verleiteten dazu. Die älteren Schüler poussierten und embrassierten mich wie ein Mädel. Es wurden Duelle ausgefochten, wer mich als ,Braut' erringen würde. Und ich gab mich, ganz als ob sich das von selbst verstünde, dem Stärksten hin. i Die Sache wurde schlimmer, als ich — sehr gegen den Willen meiner An- gehörigen — zum Theater ging. Ich war in Frack, Uniform oder Rütsung eine lächer- liche Figur, und die Kritik schrieb von ,der verkleideten Soubrette'. Und als ich einmal in der Operette einen stummen Pagen mimen mußte, kam von einem Herrn in der Loge eine Soupereinladung an ,die Dame in Pagentracht'. Die Zeit meiner Militärpflicht nahte. Ich nahm den letzten Anlauf und wollte mir in diesem Milieu, wo ich es doch mußte, Männlichkeit erwerben. Ich biß die Zähne zusammen und wollte Mann sein, — aber es ging nicht. Meine Be- wegungen, schlanke Taille und breiten Hüften wirkten lächerlich; ich konnte meinen Kameraden im Dienst nicht folgen, und wenn auch meine Vorgesetzten meine An- strengungen anerkannten, so konnten sie doch nicht fortgesetzt auf den negativen Erfolg derselben Rücksicht nehmen. Zudem steigerten sich meine Kopfschmerzen, an denen ich von jeher litt, unter dem Drucke des- Helms bis zur Unerträglichkeit. Dieser Zustand war natürlich auf die Dauer unhaltbar. Nach einigen Monaten, während meine Kameraden schon längst schössen und auf Wache zogen, steckte ich noch immer in den allerersten Anfangsgründen. Es war ein beklagenswerter Zustand für mich, denn trotzdem meine Vorgesetzten mein Unvermögen einsahen und mich glimpflich behandelten, so schämte ich mich doch entsetzlich und führte ein beklagenswertes Dasein. Endlich schickte man mich zu Professor G o 1 d s c h e i d e r, der meinen Zu- stand erkannte und meine sofortige Entlassung als ,d. u.' bewirkte. Bald darauf wurde ich Damen-Imitator. Was mir das Theater versagt hatte, erfüllte sich für mich beim Variete. Ich reiste von Stadt zu Stadt mit wachsendem Erfolg. Das Glück, das dem Manne den Rücken gekehrt hatte, verschwendete nun doppelt an die Frau. In einer glühendheißen Julinacht in Rußland, ich glaube es war in Jekaterinoslaw, verlor ich durch den Genuß von eiskaltem Champagner meine Sopranstimme. Ich ging mit meinen Ersparnissen nach Berlin und versuchte, mich schriftstellerisch zu betätigen; da dies nicht zu meinem Lebensunterhalt genügt, so vermiete ich möblierte Wohnungen und Zimmer. Hier mache ich alles allein, bessere die Wäsche aus und fertige neue an, häkele Gardinen und K ü c h e n s p i t z e n , sticke Mono- gramme, Decken, Kissen, und verstehe, meine Mieter mit so einem Hauch echt weiblichen Behagens zu umgeben, daß ich Preise erziele, die meine Konkurrenz in Staunen versetzen.' Gesamtzustände, wie wir sie bei W. finden, beruhen auf einer neuropathi- schenKonstitution, und sind gewöhnlich mit hochgradigen, nervösen Störungen verbunden. Dies ist auch bei W. der Fall. Er leidet an Angstzuständen, starken Kopfschmerzen, großer Mattigkeit und ausgesprochen hysterischen Zuständen. Wiederholt habe ich ihn außerdem an Gesichts-Neuralgien behandelt, die so unerträg- lich waren, daß der Gedanke eines chirurgischen Eingriffs erwogen werden mußte. Nach Monaten hörten diese Neuralgien (tix douloureux) dann wieder ganz plötzlich auf." Wie obige Zusammenstellung zeigt, ist nur in den letztangeführ- ten Fällen der transvestitische Trieb mit dem homosexuellen ver- gesellschaftet. Die Mehrzahl der angeführten Transvestiten fühlt 159 sich zu Frauen hingezogen ; allerdings bevorzugen sie nieist virile Frauentypen, wenn auch mehr geistig als körperlich männ- lich geartete ; im Akt mit dem Weibe wünschen fast alle suc- c u b i zu sein, für einige ist dies conditio, sine qua n o n potentia. Bei den homosexuellen Transvestiten überwiegt der transvestitische Trieb vielfach den homosexuellen, das heißt, sie vermögen eher auf gleichgeschlechtlichen Umgang, als auf die Umkleidung Verzicht zu leisten. Hinsichtlich ihrer Militärtauglicbkeit unterscheiden sich die nicht transvestitischen virileren Homosexuellen vorteilhaft von den transvestitischen und feminineren, bei denen hysterische Zu- stände jeder Art ungleich häufiger vorkommen. Wie die meisten Transvestiten rühmend hervorhoben, zeigte die Militärbehörde ihrer Eigenart gegenüber Verständnis und Entgegenkommen. Von den ca. 60 mir bekannten Personen, welche bei der Aushebung auf ihren Transvestismus hinwiesen, wurden 25 als dauernd untauglich aus- gemustert, und zwar zumeist mit dem Vermerk „U 18" (Nervenleiden ernsterer Art), „U 15" (überstaudene oder noch bestehende geistige Erkrankung, cf. Dienstanweisung zur Beurteilung der Militärdienst - fähigkeit, S. 143). Einige der Transvestiten wurden unter die in diesem Kriege aufgenommenen, sehr praktischen Eubriken a. v. und b.v., „arbeitsverwendungsfähig" und „berufsverwen- dungsfähig" gesetzt, und dementsprechend auf Kammer, Schreib- stube, als Ökonomiehandwerker, Köche oder anderweitig in ihrem Beruf verwandt. Die als felddienstfähig eingestellten Trans- vestiten erkrank tenoftschonnachganzkurzerDienst- zeit an hochgradigen hysterischen Erscheinungen, so daß sie fast sämtlich vom Militär entlassen wer- den mußten, i Sehr viel günstiger wie1 mit den Mannschaften steht es mit den Offizieren, bei denen vieles, was den femininen Soldaten besonders quält, das enge Zusammenleben in der Kaserne, der rauhe Kasernen- ton, der stete Uniformzwang, der „Drill" in Wegfall kommt. Auch hier ein Beispiel: Ein transvestitischer Offizier, der im Zivil- leben Beamter ist, steht seit Kriegsbeginn mit geringen Unter- brechungen draußen. Er zeigt die stärkste sexuelle Spaltung der Persönlichkeit, die mir in meiner Praxis vorgekommen ist: als Mann ganz Mann, als Weib vollkommen Weib. Als Offizier im Osten und Westen von hervorragender Tüchtigkeit, In- haber vieler Auszeichnungen, verbrachte er seinen Urlaub in Berlin größtenteils als Dame. Er hatte mich aus dem Felde gebeten, ihn während seines Hierseins in seiner Häuslichkeit aufzusuchen. Als ich dies eines Abends tat, empfingen mich in seiner Wohnung drei vornehm gekleidete Frauen: Der Offizier, von Kopf bis Fuß in eleganter, gediegener Damentoilette, seine Frau und ein ihnen be- freundeter Transvestit, der, früher gleichfalls dem Militärstande an- 160 gehörig, jetzt schon seit Jahren fast ausschließlich in Frauenkleidern leht und darin auch seinem Berufe) — er ist Detektiv — nachgeht. So eigenartig, vielleicht sogar einzigartig die Situation war, so hatte es für den unvoreingenommenen Sachkenner doch keines- wegs etwas Abstoßendes an sich, wenn „Frau Edith" von den Leistungen unserer Truppen berichtete, an denen er kurz zuvor als tapferer Offizier so lebhaften Anteil genommen hatte. Unwillkür- lich erinnerte ich mich des mutigen Chevalier d ' E o n , welcher, nach Gaillardets *) Worten, „an einem Novemberabend des Jahres 1777 als Chevalier verschwand, um am folgenden Tage mitten in dem er- staunten Paris als Chevaliere wieder zu erscheinen". Von seiner Dragoneruniform hatte d'Eon nur das große Ludwigskreuz behalten, welches zur Belohnung für seine kriegerische Tapferkeit auf seiner Frauenkleidung zu tragen König Ludwig XV. ihm verstattet hatte. Was unseren deutschen Hauptmann betrifft, so erfuhr ich ein halbes Jahr nach unserem Zusammensein von seiner Ehefrau, daß trotz, oder vielleicht richtiger gesagt, infolge der großen Energie, die er zur Unterdrückung seines Umkleidungstriebes angewandt hat, schließlich doch auch bei ihrem Gatten ein nervöser Zusammenbruch erfolgt sei. Die Angaben dieser ausgezeichneten Frau sind so an- schaulich, daß ich es mir nicht versagen kann, einiges davon wieder- zugeben. Sie schreibt: „Als ich meinen Mann kennen lernte, ahnte ich nichts von seiner Veranlagung. Erst als wir einige Monate verheiratet waren, fing mein Mann davon an, daß doch Frauenkleider viel reizvoller und bequemer seien als Männersachen. Er zog sich darauf einen Morgenrock von mir an, welcher aber nicht paßte. Darauf bestellten wir bei H e r t z o g einen rosa Morgenrock mit Spitzen, ein Spitzenhemd, Beinkleider und Unterrock. Dann besorgte ich noch Strümpfe und halbe Lackschuhe. Nun fehlte nur noch eine Perücke. Diese bestellten wir dann bei Anton. Noch immer hielt ich dies alles für eine Laune von meinem Mann; da er sich aber anscheinend sehr wohl in der Kleidung fühlte und sehr lieb zu mir war, hatte ich nichts dagegen. Er zog sich immer Mittwochs und Sonnabends um, wenn unser Mädchen aus war; wir empfingen dann keine Besuche. Eines Tages gab mir mein Mann das Buch von Dr. Hirschfeld „Die Transvestiten" zu lesen. Ich las dieses Buch und wußte nun, wie es um meinen Mann bestellt war. Da ich meinen Mann von ganzem Herzen liebe, versuchte ich, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen, und kaufte ihm alle Sachen, welche ein Frauenherz beglückt. Auch nannte ich ihn, wenn er sich umgekleidet hatte, auf seinen Wunsch bei dem Namen Edith. Er kann längere Zeit den Trieb, sich umzukleiden, unterdrücken, aber dann ist die Sehnsucht danach auch um so größer. Eines Tages gingen wir zum ersten Male auf die Straße. Wir hatten natürlich Angst, daß man erkennen würde, daß meine Freundin mein Mann wäre, aber keiner beachtete uns. Von da an war es das größte Vergnügen für meinen Mann, spazieren zu gehen, natürlich nur abends. Viele Herren sahen sich nach uns um, aber nicht mißtrauisch, man merkte, ihnen ') Memoiren des Chevalier von Eon. Aus dessen Familienpapieren und nach authentischen Quellen, welche in den Archiven des Ministeriums der auswärtigen An- gelegenheiten niedergelegt sind, zum ersten Male bearbeitet und herausgegeben von Frederic Gaillardet. Frei nach dem Französischen von Dr. E. B r i n c k - m e i e r. Braunschweig 1837. Verlag von C. E. Meyer sen. Öl. Kapitel: Der f ransvestitismus 161 imponierte die große, elegante Dame. Wenn uns einer verfolgte, zogen wir es vor, mit einem Auto nach Hause zu fahren. Einmal waren wir bei meiner Schwieger- mutter eingeladen. Ich machte meinem Manne nun den Vorschlag, als Frau hin- zugehen und tat er es auch mit Freuden. Als ich nun hinkam, sagte ich meiner Schwiegermutter und meinen Eltern, welche auch dort waren, daß mein Mann erst später kommen würde, ich aber eine Freundin mitgebracht hätte. Ich stellte sie vor und unterhielten wir uns eine ganze Weile, ohne daß einer etwas merkte. Dann mußten wir aber doch zu sehr lachen und alle waren sehr erstaunt, daß diese elegante Dame unser V.^war. Meine Eltern fanden den Scherz sehr gelungen, aber meiner Schwiegermutter war es nicht sehr angenehm. Sie meinte, sie hätte doch einen Sohn und keine Tochter. Ein andermal hatte ich Besuch von meiner Cousine. Mein Mann hatte sich wieder umgezogen und klingelte an der Vorplatztür. Unser Hausmädchen, welches eine sehr kluge Person war, freute sich immer, wenn Tante Edith, wie unser Junge immer sagte, zu Besuch kam. Sonst war mein Mann immer sehr streng, aber als Frau war er die Liebenswürdigkeit selbst. Unser Mädchen schneiderte nun mit vielem Fleiß für Edith. Das war nicht immer leicht, da sie einen sehr anspruchsvollen Geschmack hatte. Nichts war ihr elegant und modern genug. Aber groß war die Freude, wenn ein Stück gut gelungen war, und konnte man sich bei ihr dann wünschen, was man wollte. Unser Mädchen hat zwar nie erfahren, daß mein Mann Transvestit ist, sie hätte es vielleicht auch nicht verstanden, aber da mein Mann dann immer als Edith so reizend war, freute sie sich, wenn sie kam und sie ihr etwas schneidern konnte. Das Mädchen war 3 Jahre bei uns. Jetzt hat sie sich verheiratet, aber sie freut sich schon wieder auf die Zeit, wenn sie für Fräu- lein Edith schneidern kann. Ich bin sicher, daß sie zu keinem Menschen, selbst zu ihi 'ein Manne, davon gesprochen hat. Unser Junge, welcher jetzt 41/2 Jahre alt ist, liebt seine Tante Edith über alles. Er jammert jetzt immer, daß sie gar nicht mehr zu uns kommt. Für ihn sind natürlich mein Mann und Tante Edith zwei ganz verschiedene Personen. Während des Krieges schreibe ich meinem Manne fast täglich Briefe, aber von Zeit zu Zeit schreibe ich nur an Edith. Ich beschreibe ihr dann die neuesten Moden und was sich wohl für sie am besten eignen würde. Wenn ich einen Wunsch habe, wende ich mich immer an Edith. Ich weiß, bei ihr finde ich immer Verständnis. Oft ist Edith mit unserm Jungen und dem Mädchen abends einkaufen gegangen. In die Läden ging Edith zwar nicht mit hinein, da sie Angst hatte, bei dem hellen Lampenlicht könnte man das rasierte Kinn bemerken. Weihnachten und Geburtstag feierten wir immer zweimal. Einmal mit meinem Manne und unsern Verwandten, und einmal mit Tante Edith. Für ersteres hatte er kein großes Interesse, aber als Frau freute er sich schon Wochen vorher darauf. Seine größte Freude war immer schöne Spitzenwäsche. Puder und Parfüm mußten gleich- falls vom Besten sein. Seine Perücke muß ich sehr oft frisieren; sowie einige Härchen unordentlich sind, setzt er sie nicht auf. Er ist sehr ordnungsliebend. Nie wird er mit einem abgerissenen Knopf oder Band gehen, lieber zieht er sich gleich um. Als mein Mann im April d. J.. 8 Tage auf Urlaub hier war, wurden gleich mehrere Tage für Tante Edith reserviert. Und wie wohl fühlte er sich! Sonst faßt er nichts in der Wirtschaft an und kann nur kommandieren, aber als Weib nimmt er mir sehr viel Arbeit ab : Er kocht, wischt Staub und plättet. Sehr gemütlich waren immer die langen Winterabende, wenn wir zusammen Handarbeiten machten. Edith stickte für eine bekannte Dame, deren Mann auch Transvestit ist, einen Tischläufer, und für unser Mädchen zur Ausstattung ein Überhandtuch. Mein Mann ist leidenschaftlicher Baucher und kann kaum ein paar Minuten ohne Zigarre sein.- Als Edith hat er aber niemals Verlangen nach einer Zigarre, er raucht dann oft den ganzen Tag über nur 1 bis 2 Zigaretten. In weiblichen Dingen hat er einen sehr guten Geschmack. Ich kaufe mir nur meine Garderobe in seinem Beisein. Selbst der kleinste Fehler entgeht ihm nicht. Neulich schrieb mir Edith, daß sie von dem, was sie während des Krieges gespart hätte, sich gleich nach ihrer Bückkehr ein elegantes Spitzenkleid kaufen wolle. Hoffentlich ist der Krieg bald zu Hirsch leid, Sexualpathologie. II. Ii yfö III. Kapitel: Der Transvestismus Ende! Wie schwer muß es sein, für so lange Zeit diese starken Neigungen zu unter- drücken Oft schreibt er auch ganz verzweifelt und spricht die Sehnsucht nach seinen schönen Sachen aus. Er erzählte mir, daß er schon als ganz junger Mensch Sonntags nie mit seinen Eltern und Geschwistern ausgegangen wäre. Er hat immer seine vielen Schularbeiten als Hinderungsgrund vorgeschützt. Sowie er dann allein war, zog er rasch die Sachen von seiner Schwester und von einer Tante an, welche längere Zeit zu Besuch bei meinen Schwiegereltern war und immer sehr moderne Sachen trug. Er fühlte sich dann außerordentlich glücklich und zufrieden. Noch möchte ich bemerken, daß der Zustand meines Mannes ein sehr wechseln- der ist. Hat er sich längere Zeit umgezogen, so ist er auch wieder für einige Zeit in seelischem Gleichgewicht. Aber bald regt sich der Wunsch und das Verlangen, sich umzuziehen, aufs neue. Jetzt, während des Krieges, wo er seina Veranlagung auf so lange Zeit mit Gewalt unterdrücken muß, hat er innerlich sehr zu leiden und sind seine Nerven gewiß bald am Ende ihrer Kräfte. Groß ist die Liebe zu seinem Jungen. Er beobachtet ihn sehr viel, um fest- zustellen, ob er vielleicht auch etwas von der Veranlagung des Vaters geerbt habe. Gewiß würde er, wenn dies der Fall wäre, ihm später ein treuer Freund und Berater sein. Als Mann ist er mehr schroff wie zärtlich, aber als Frau ist er besonders zärtlich zu seinem Kinde. Er erfüllt ihm dann jeden Wunsch. Auch besorgt er ihn an diesen Tag immer selbst, zieht ihn an und aus, badet ihn und besorgt das Essen für ihn. Er fühlt sich dann sehr glücklich, wenn er die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes beobachten kann. Als Mann gibt er bei einem Streite nie nach, aber als Frau ist er um so versöhnlicher. Sowie er sich umgezogen hat, hat er auch allen Zank vergessen, und mag er dann keine traurigen Menschen sehen. Er tut dann alles, um Frieden zu stiften. Selbst unsern Jungen kann er dann nicht weinen sehen, auch wenn er ihn um eine Unart vorher hat strafen müssen. Natürlich hat das Kind das auch gemerkt. Er liebt seine Tante Edith über alles und meint, die wäre immer gut zu ihm und würde ihn nie schelten." Ein anderer Kriegsteilnehmer, welcher mich während seines Urlaubs als Dame aufsuchte, gehörte der Marine an und hatte kurz zuvor auf einem unserer großen Kreuzer einen der kühnen Vor- stöße gegen Englands Ostküste mitgemacht. Auch er litt ungemein stark darunter, ständig Uniform tragen zu müssen. Auf der Rück- kehr von seinem Urlaub hatte er ein Erlebnis, über das er mir in einem Feldpostbrief wie folgt berichtet: ' „Nordsee, den . . . Geehrter Herr Doktor 1 Es ist mir ein Bedürfnis, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß, nachdem ich in Berlin einige Tage auf Urlaub war, um meiner Veranlagung entsprechend als Weib zu leben, ich am . . . von dort an Bord abreiste. Es fiel mir unsäglich schwer, die verhaßte Männerkleidung wieder anzulegen. Ich zog mich an besagtem Tage erst kurz vor meiner Abfahrt um und nahm meine Damenkleidung mit nach hier in dem Gedanken, mich öfters, wenn ich auf Urlaub an Land sei, umziehen zu können, um so das Leben wenigstens für mich einigermaßen erträglich zu gestalten, denn ich fühle mich so totunglücklich. Aber es sollte leider anders kommen. In Hamburg hatte ich die Nacht über im Roten Kreuz logiert, und als ich morgens gegen 4 Uhr aufwachte, bekam ich ein so unwiderstehliches Verlangen, mir die Damenkleider anzuziehen und nach ... zu fahren, daß ich sofort aufstand und mich in der Damen-Toilette des Bahnhofs als Dame ankleidete. Nun ging ich an den Schalter und verlangte eine Fahrkarte nach . . ., welche ich aber, da ich keinen Ausweis zum Passieren der dortigen Bahnhofssperre besaß, nicht erhielt. Deshalb ging ich an den Nebenschalter und nahm eine Karte nach St.; diese bekam ich. Der erste Schalterbeamte hatte dieses beobachtet und einen Kriminalbeamten beauftragt, III. Kapitel: Der Transvestitismus 163 meine Personalien festzustellen. Der Beamte war sehr erstaunt, als ich ihm meinen Marine-Urlaubsschein vorwies und bezweifelte stark, daß ich ein Mann sei. Nun mußte ich mit zur Bahnhofskommandantur und nach mehrstündigem Warten mußte ich meine Marine-Uniform wieder anziehen. Ich habe sehr geweint, aber wer hat Verständnis für die qualvolle Lage, in der sich unsereins befindet? Kann man denn solche Menschen nicht anderweitig im Kriege verwenden, denn man ist doch schließlich nur ein halber Mann. Ich wurde in Hamburg bis Montag, den 17. d. M., festgehalten und fuhr dann nach hier. Ich bin vor einigen Tagen durch den Komman- danten zu 7 Tagen Arrest verurteilt, ohne daß ich um die Ursache meines Tuns be- fragt wurde. Ich kann nicht für meine Veranlagung und werde Berufung einlegen. Ein Vorgesetzter meinte, das beste wäre, wenn ich nach Flandern käme, dort würde mich schon eine Kugel treffen. Es ist mir nicht darum zu tun, frei zu kommen, aber man soll mir einen Posten geben, und wenn es als Krankenschwester in der vordersten Feuerlinie ist, denn das entspricht meiner Natur und würde ich so meinem Vaterlande mit tausend Freuden dienen. Hoffentlich wird man Mitleid haben und mir so meine Lage erleichtern. Nun seien Sie vielmals gegrüßt von Ihrer Luise Z " Ich drucke diesen Brief hier ganz ab, weil er nach Form und Inhalt für Transvestiten viel Charakteristisches an sich hat. Auch die weibliche Unterschrift „Luise Z." — der wirkliche Name des Schreibers ist Ludwig — findet man bei Transvestiten fast aus- nahmslos. Eine Analogie zu den „Soldaten als Frauen" bilden die „Frauen als Soldaten". Wie in allen früheren Kriegen sind auch im gegenwärtigen wieder in fast allen Armeen Soldaten auf- getaucht, die dem weiblichen Geschlecht angehören; am wenigsten wohl im deutschen Heere, vermutlich wegen der besonders sorgsam und streng durchgeführten Aushebung und regelmäßigen Genital- untersuchung. In den meisten Fällen täuschen diese Frauen ihre Umgebung über ihr Geschlecht, das dann gewöhnlich erst entdeckt wird, wenn sie ins Lazarett kommen oder fallen. In einigen Fällen aber gelingt es ihnen auch, durch Energie ihre Einstellung durch- zusetzen, wie dies namentlich in der österreichisch-ungarischen und russischen Armee verschiedentlich vorgekommen ist. Ich habe an anderer Stelle2) eine größere Anzahl Fälle zu- sammengestellt, von denen ich Kenntnis erhalten habe. Ich will aus der dortigen Publikation einen kleinen Abschnitt wiedergeben, der mir auch in diesem Zusamenhang erwähnenswert erscheint. Es heißt dort: „Aus vielen mündlichen Mitteilungen, die wir von viril veranlagten Frauen er- hielten, konnten wir ersehen, wie außerordentlich stark die Sehnsucht vieler Frauen ist, als aktive Soldaten am Kriege teilzunehmen. Manche fühlen sich ungemein zurückgesetzt, vergehen förmlich vor Neid, wenn sie die Männer hinausziehen sehen. Wir sind sicher, daß, wenn Regimenter aus weiblichen Kriegsfreiwilligen gebildet werden würden, die Zahl begeisterter und ernster Kriegerinnen, die sich meldeten, 2) Vierteljahrsberichte des wissenschaftlich-humanitären Komitees während der Kriegszeit. Fortsetzung des „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", 1914 u. ff. von Dr. med. Magnus Hirschfeld. Verlag von Spohr, Leipzig. 11 * III. Kapitel: Der Tran^stitrsrnuS bald in viele Tausende gehen würde. Gewiß würde eine ganze Anzahl Dienst- untauglicher darunter sein, eine recht beträchtliche Menge aber würde durchaus die zum Felddienst erforderlichen Eigenschaften besitzen. Der naheliegende Einwand, daß die periodischen Vorgänge im Leben des Weibes ihre Dienstfähigkeit beeinträch- tigen würden, wird durch die Berichte aus der Vergangenheit und Jetztzeit über Soldatinnen widerlegt, welche allen Kriegsstrapazen vollkommen gewachsen waren; es ist dies im Laufe der Zeit eine keineswegs geringe Anzahl gewesen. Sollte dieser Krieg nicht, wie wir hoffen, der letzte sein, dann wird man mit dem Ausbau der Lehre von den sexuellen Zwischenstufen nach und nach wohl auch dem Gedanken naher- treten ob und wie man den kriegerischen Instinkten Rechnung trägt, die jeder Feldzug in gewissen Frauen erweckt, deren Zentralnervensystem unter dem Einfluß von Andrin steht das dem in ihrem Körper enthaltenen männlichen Drüsengewebe entstammt; was' mancher Mann mit weiblichem, kann auch manche Frau mit männlichem Chemismus leisten." Ich schließe diese Ausführungen mit dem Satze : Das seelische Zwittertum ist ein von Fachleuten fast all- gemein sehr unterschätztes Moment. Wie der Arzt sich daran gewöhnt hat bei jedem Patienten die Frage nach überstandenen Geschlechtskrankheiten aufzuwerfen, so sollte er in Zukunft nie unterlassen zu fragen: „Wie war und ist es mit Ihren geschlechtlichen Bedürfnissen?" Der Arzt ist diese Frage der Wissenschaft als Forscher, in erster Linie aber demPatienten als Praktiker schuldig. Überblicken und vergleichen wir die Berichte der Transvestiten, so fällt zunäcbst ins Auge, daß sich ihr Feminismus in den meisten Fällen nicht in der andersgeschlechtlichen Umkleidung erschöpft. Sehr viele Transvestiten haben den Drang, auch über die Kleidung hinaus imweiblichenRahmenzu leben; sie richten sich, wenn angängig, ein Boudoir nach Frauenart ein, schmücken ihr Wohn- und Schlafzimmer mit weiblichen Zier- und Toilettenstücken und finden eine große Freude daran, weiblicheHandarbeiten an- zufertigen. Diese Neigung ist ebenso wie die zu weiblichen Spielen, namentlich Puppenspielen, schon im frühen Kindesalter wahrnehm- bar. „Manches Produkt meiner fleißigen Nadel ziert unser Heim", schreibt ein Transvestit, der als Junge von 13 Jahren und später zu Geburtstagen und zu Weihnachten seinen Verwandten selbstverfer- t.igte Handarbeiten schenkte. Ich besitze eine ganze Reihe viel be- wunderter Kissen und Decken und kostbarer Stickereien, die mir von dankbaren Transvestiten verehrt worden sind. Neben den weib- lichen Handarbeiten wird auch die wirtschaftliche Haus- arbeit nach Frauenart nicht vernachlässigt. „Meine ganzen Nebenneigungen sind weiblich" — bemerkt in. charakteristischer Weise ein als Schriftsteller tätiger Transvestit. — „Ich habe Lust zu allen Arbeiten, die zur Domäne der Frau gehören, und zwar steht mir diese Arbeit vollständig zu Gesicht; meine Frau bestätigt es mir täglich und kommt es auch in unserem Haushalt deutlich zum Ausdruck, indem ich mich in der Küche und Wirtschaft von meiner Berufmüdigkeit erhole und mich ablenke." E9 ist hiernach gewiß begreiflieb, daß viele Transvestiten am liebsten ganz in einem weiblichen Beruf wirken möchten, und man- III. Kapitel: Der Transvestismus 165 chem gelingt es auch tatsächlich, diesen Wunsch zu verwirklichen. Um hier einige Beispiele anzuführen, so kenne ich eine Transvestitin, die seit langem als Briefträger tätig ist, ohne daß jemand — auch nicht ihre vorgesetzte Behörde — ihr wahres Geschlecht ahnt, eine andere, die seit 10 Jahren in einer Fabrik als Packer arbeitet. Vor einigen Jahren wurde mir ein ausländisches Mädchen in Frauen- kleidern zugeführt, die an der deutsch-französischen Grenze durch Entlarvung ihres Geschlechts in Spionengefahr geraten war. Sie war jahrelang in England herrschaftlicher Chauffeur gewesen. Noch viele ähnliche Beispiele könnte ich aus eigener Erfahrung anführen. Von den Frauen, die aus transvestitischen Neigungen Uniform an- zogen, ist mir immer als einer der bemerkenswertesten Fälle jener erschienen, über den die Berlinische Zeitung von „Staats- und ge- lehrten Sachen" aus dem Jahre 1746 wie folgt berichtet: „Ein Pfeifer von dem hier in Garnison liegenden Gräflich Haakschen Regimente, der beide schlesische Feldzüge mitgemacht, ward unerwartet von einem Sohn entbunden. Natürlich war der Pfeifer ein Weibsbild, und der Vater des Kindes war ein Tambour von selbiger Kompagnie, wobei jener diente. Der Vater ward Regimentstambour, und bei der Taufe seines Sohnes befanden sich die vornehmsten Personen des Hofes und andere angesehene und bemittelte Leute, welche die Sechs- wöchnerin so reichlieh beschenkten, daß sie in den Besitz von mehreren Hundert Thalern kam." Der geschichtliche Schriftsteller König bestätigt u. a. „das wundersame Faktum" und fügt hinzu, „daß der Pfeifer nicht bloß von einem Sohne, sondern auch vom Dienst entbunden wurde, sowie daß Trommler und Pfeifer nachher eine gute Ehe geführet". Von den Fällen, die in diesem Weltkrieg zu meiner Kenntnis gelangten, hat sich mir besonders der folgende eingeprägt: Im Beginn des zweiten Kriegsjahres suchten mich zwei Geschwister auf, einfacher Leute Kind aus einer kleinen märkischen Stadt. Der Bruder, 21 Jahre alt,, war seit 9 Monaten Soldat. Er war bei Tannenberg durch einen Bauchschuß schwer verwundet und seither bis zu seiner Heilung nahezu ein halbes Jahr im Lazarett. Jetzt befand er sich auf Heimatsurlaub, um in wenigen Tagen zu seinem Ersatzbataillon zurückzukehren. Aus seinen Mitteilungen ergab sich, daß er ausgesprochener Transvestit war, der sich in der Uniform höchst beengt fühlte und vor der Kaserne — weniger vor dem Dienst im Felde — den größten Abscheu hatte. Die Schwaster, die mich mit ihm; zusammen aufsuchte, war ein Jahr jünger als er und sah ihm frappant ähnlich. Die Ähnlichkeit der Gesichter wurde noch dadurch erhöht, daß beide ein wenig schielten. In der Körper- größe und -breite glichen sie sich völlig. Während der Unterredung ergab sich alsbald, daß die Schwester eigentlich der Bruder und der Bruder die Schwester war, mit anderen Worten, daß die Person, welche in Frauenkleidcrn vor mir stand, 166 III. Kapitel: Der Transvesütismus in Wirklichkeit der verwundete und beurlaubte Soldat war, während in der Uniform die Schwester steckte. Sie hatten den Entschluß ge- faßt, daß an Stelle des Bruders sich die Schwester zum Truppenteil begeben und statt seiner Dienst tun sollte. Die Neigungen des Mäd- chens waren ebenso viril, wie die des Bruders feminin; wie sie sagte, wäre sie „für ihr Leben gern" Soldat geworden und fühle sich im Waffenrock heimischer wie in ihren Weiberröcken. Der Grund, der sie zu mir führte, war eine Aussprache darüber, ob ein Austausch, wie sie ihn beabsichtigten, wohl durchführbar sei. Meine Auskunft lautete, daß ich im deutschen Heere eine Geschlechtsverheim- liehung für ausgeschlossen halte, ich schlug daher vor, es mit einem offenen Bekenntnis zu versuchen, doch seien die Aussichten auf Erfolg nur sehr gering. Wie mir die Schwester bald darauf mit- teilte, nahmen sie im letzten Augenblick „aus Furcht vor der mili- tärischen Untersuchung" von ihrem Vorhaben Abstand. Den Urlaub hatten sie auf transvestitische Weise verlebt, und erst eine Stunde vor Abgang des Zuges in die Garnison „schweren Herzens" die Kleider wieder getauscht. Der Bruder fiel später an der Somme. , Einen anderen Fall von sehr intensiver Uniformliebe beob- achtete ich bei einer älteren adligen Dame, deren Sbhn schon selbst Major war. Sie hatte sich nach Kriegsausbruch eine feldgraue Uni- form anfertigen lassen, die sie fast jeden Abend in ihrer Häuslich- keit trug; sie setzte sich sogar in derselben auf die Veranda ihrer Villa, ohne ein Gefühl dafür zu haben, wie wenig es dem Geiste der Zeit entsprach, wenn ihr vorübergehende Soldaten, die sie für einen Offizier hielten, militärische Ehrenbezeugungen erwiesen. Erst als ich ihr darlegte, daß sie sich durch diese Täuschung, Hie sie für harmlos hielt, leicht eine Klage wegen groben Unfugs zuziehen könnte, ließ sie davon ab, sich öffentlich als Offizier zu zeigen, setzte aber zu Hause ihre Verwandlungskünste ganz regelmäßig fort und ließ sich, auch „in Feldgrau" photographieren. Die Neigung, sich in der ihrer Eigenart entsprechenden Tracht photographieren zu lassen, ist bei Transvestiten ungemein verbreitet. Offenbar strömen ihnen aus dem Bilde, daß ihr zweites oder eigent- liches Ich widerspiegelt, starke Lustgefühle entgegen. Ich habe eine Sammlung, die viele Hunderte transvestitischer Aufnahmen umfaßt, Frauen als Männer und Männer als Frauen. Manche Trans- vestiten lassen sich gern stickend, nähend oder beim Anfertigen von allerlei Handarbeiten photographieren, andere sehen sich im Bilde gern als Dienstmädchen, sogar mit einem Besen, Avieder andere im Ballkostüm oder Brautstaat oder auch in Unterkleidung. Be- merkenswert ist auch, daß viele Transvestiten, längst bevor sie über sich im klaren sind, vielfach einen Drang haben, Figuren zu zeichnen oder zu malen, die ihrer seltsamen Eigenart entsprechen; so ertappte sich einer schon als Kind immer wieder, wie er Frauen Schnurrbarte III. Kapitel: Der Transvestitismus J67 anmalte; ein anderer, wie er Männern Frauenhüte aufklebte; einer schreibt: „Auf dem Gymnasium vergnügte ich mich damit, den Büsten von Caesar und Cicero Ohrringe anzumalen, oder die Venus von Medici mi,t Stehkragen, Krawatte und Monokel auszustatten." Von einem Transvestiten besitze ich eine ganze Anzahl eigenartiger Bilder, die er während seiner Schul- und Universitätszeit entworfen hat. Er nennt sie „Zwischenstufen! in der Kleidung", alles Damen mit herrenmäßig, oder Herren mit damenmäßig geschnittenen Kleidern. - 1 Aus den Photographien der Transvestiten spricht das Verlangen, einen ganz bestimmten Beruf oder Typus des erstrebten Geschlechts darzustellen. Viele möchten am liebsten einer soliden Bürgersfrau gleichen, andere einer vornehmen Aristokratin, auffallend viele würden gern Dienstmädchen, Köchinnen, Gouvernanten, Kammer- mädchen einer feinen Herrin, „Damenfriseurinnen" sein, andere die hochelegante Weltdame oder Halbweltdame darstellen. Ganz ähn- lieh erstreben auch die Transvestitinnen alle möglichen männlichen Berufe. Im Weltkriege waren viele sehr beglückt., sich in Mannes- stiefeln, Dienstmütze, Uniformrock und Hose, als Schaffner, Kut- scher, Briefträger, Beamter ausleben zu können. Selbst bis zur Illusion des weiblichsten aller Berufe, des Mutterberufs, versteigt sich die kühne Phantasie dieser selt- samen Männer. Ein eigenes Kind zu empfangen, zu gebären, zu stillen, zu hegen und zu pflegen erscheint vielen als Inbegriff des Glückes. Da geht einer „heimlich am das unverschlossene Küchen- spind, nimmt mit dem Teelöffel etwas Milch aus dem Topf und träufelt sie auf seine Brustwarzen, um sich die Illusion einer stillen- den Mutter vorzugaukeln". Ein anderer sagt: „Sehe ich eine Mutter ihr Kind säugen, so seufze ich, hätte ich doch auch solche Brüste und könnte Milch abgeben", und mit rührender Innigkeit und Lebendig- keit schildert ein Dritter die glücklichen Stunden, in denen er das Kind seiner Wirtin abwartet, das „liebe kleine Wesen" säubert, an- und auskleidet, mit ihm auf dem Arm hin- und hergeht. Mehr aber noch wie im wachen Tagtraum gewinnt im Schlaf der Gedanke an Mutterglück, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt, Kindbett und Milch g'ebung Gestalt und Leben. Träume spielen bekanntlich bei allen sexuell Zwiespältigen eine große Bolle. Der Geschlechtssatte schlummert "meist tief und traumlos; nicht so der sexuell Unbefriedigte, sein Schlaf ist unruhig. Viele, deren Sehn- süchte an harten Lebenswirklichkeiten scheitern, erleben so wenig- stens im Land der Träume selige Zeiten der Erfüllung. „Eigent- lich glücklich fühle ich mich nur im Traume", schreibt ein Trans- vestit und schildert dann seine Traumerlebnisse, wie er guter Hoff- nung ist, wie die „Mutterwehen" kommen, das Kind geboren wird, wie beglückt er es dem Vater entgegenstreckt, es stillt und neben 168 III. Kapitel: Der Transvestismus sich legt, um dann beim Aufwachen den Platz leer zu finden, ent- täuscht, aber doch zufrieden, daß ihm die holden Traumgebilde das zarte Mysterium in so greifbare Nähe gerückt hatten. Es gibt sogar, wenn auch wohl sehr vereinzelte Transvestiten, die so sehr von dem Schwangerschaftsdrang beherrscht werden, daß sie sich den Leib so ausstaffieren, als ob sie in anderen Umständen wären. Ich besitze Aufzeichnungen eines 25jährigen Lehrers, der an dieser seltsamen Anomalie in hohem Grade litt. Ich gebe einige wenige Stellen aus seinen Bekenntnissen wieder: Ich bin äußerlich Mann! Innerlich, im Gedanken, in Empfindungen, in meinem ganzen Wesen bin ich Weib! Warum? — Ich weiß es nicht! Ich weiß nur: daß es immer so war! Da kam ein Tag, da fühlte ich: Ich will ein Kind habenl Das Gefühl war schön! Ich kann jetzt nicht weiter schreiben, ich weine zu sehr. Das Gefühl kam an einem Abend, als ich an Influenza im Bette lag. Die Empfindung begann an meinem männlichen Gliede und dann war es nur noch ein Gefühl im Herzen: Ich will ein Kind haben! Ich will ein Kind haben!! Ich habe an jenem Abende fürchterlich geweint — und meine Angehörigen glaubten, ich weine wegen meinem Kopfweh. . . . Damals war ich 11 oder 12 Jahre alt. Genau weiß ich's nicht mehr. Als ich dieses Gefühl zum ersten Male verspürte, kannte ich noch keine Onanie. Bald aber nachher lernte ich sie kennen, denn jedesmal, wenn wieder die Sehnsucht nach einem Kinde in mir aufstieg, reizte es mich, die Faust zwischen die Beine zu drücken, das Glied wurde dann erregt und die verschiedenartigen Manipulationen daran führten mich zur Onanie. Aber jahrelang, wohl bis zu meinem 18. Lebensjahre, wußte ich nicht, daß man das Onanie nannte. Die Sehnsucht nach einem Kinde stellte sich immer öfter ein, und so kam ich dann auch oft zum onanieren. In der ersten Zeit geschah das wöchentlich oder zwei- wöchentlich einmal, aber mit 13 Jahren oder wenig später, fast täglich oder jeden 3. bis 3. Tag. Dabei blieb es, mit wenig Unterbrechungen bis heute, da ich dies niederschreibe. Schon kurz nach dem ersten Verspüren meiner seltsamen Veranlagung, über die ich natürlich wenig nachdachte und gar nicht im klaren war, kam das Verlangen nach Schwangerschaft. Ich weiß nicht, wie, das Gefühl war plötzlich da. Noch weniger weiß ich, was mich auf folgenden Ge- danken brachte: Eines Mittags, als Eltern und Geschwister aus dem Hause waren, zog ich mich aus, band um meinen Leib Strümpfe, Lappen, Sofa- kissen, legte darüber den Sonntagsunterrock meiner Mutter, und so stellte ich mich vor den Spiegel, betrachtete mich als schwangere Frau (den Ausdruck „schwanger" kannte ich damals natürlich nicht) und empfand das wonnigste Gefühl. Dies habe ich seither viele hundertmal wiederholt. Von diesen meinen Handlungen wußte niemand, ich hütete mich auch, etwas zu sagen, denn ich hätte nichts als eine Tracht Prügel erreicht. Das wußle ich aus folgendem Vorfalle: im Alter von etwa 9 Jahren hatte ich meinen kleineren Geschwistern und anderen Kindern gesagt, daß Frauen mit dicken Bäuchen Kinder bekämen (diese Wahrheit hatte ich vorher aus anderer Knaben Mund ver- nommen). Das erzählten nachher meine Schwesterchen zu Hause sehr naiv, und ich erhielt für das „Lügen" mit einem Lederriemen Prügel. Also ich schwieg, und so fraß sich diese unglückliche Veranlagung, zu der niemand mich führte, in mich hinein, daß es kein Entweichen mehr gab, als ich spät, leider sehr spät, ach zu spät", über meinen Zustand aufgeklärt wurde. Dieser Fall von Schwangerschaf tstransvestitismns zeigt uns wiedor recht deutlich den Übergang vom androgynen zum III. Kapitel: Der Transvestitismus 169 transvestitischen Drang. Das Weibgefühl ist so stark, daß alle möglichen femininen Sensationen ins Unter- und Oberbewnßt- sein dringen, ob durch autosuggestive oder unmittelbare innersekre- torische Beeinflussung bleibe dahingestellt: alles, was im Körper- lichen an den Mann erinnert, wird unangenehm wahrgenommen; alles, aber auch alles, was an das Weib gemahnt, wird begehrt; wie oft habe ich von Transvestiten die Frage gehört: „Gibt es denn kein Mittel, womit ich den Bart wegbringen kann?" oder: „Was kann ich gegen meine tiefe Stimme tun?"; kommen Transvestiten zusammen, so bewundern sie untereinander ihre schmale Taille, die starken Hüften, das volle, lange und weiche Haupthaar, die kleinen Füße. Von einer transvestitischen Dame hörte ich erst dieser Tage: „Ist Ihnen nicht ein Bartwuchsmittel für Frauen bekannt?" Von den Brnstver große rungsapparaten war bereits oben die Bede. Eng verknüpft mit dem allgemeinen ist der Namenstrans- vestitismus. Es liegt ja nahe, daß eine Person, die sich ein weibliches Ansehen gibt und als Frau arbeitet, den Wunsch hat, statt ihres männlichen Geburtsnamens, der mit ihrem Äußeren in augenscheinlichstem Widerspruch steht, einen weiblichen Vornamen zu führen. Die Transvestiten suchen dieses Verlangen gewöhnlich auf praktische Gründe zurückzuführen; der Name auf ihren Aus- weispapieren enthülle ihr verhülltes Geschlecht und bringe sie fort- gesetzt in schwierige Lagen. In Wirklichkeit ist aber dieser Uni- stand nicht der hauptsächlich maßgebende, vielmehr tritt auch hier wieder der Drang zutage, dem inneren Weibgefühl Ausdruck zü geben. Fast alle Transvestiten, auch diejenigen, die ihre Neigungen nur in Vorstellungen, nicht durch tatsächliche Ausfüh- rungen bekunden, unterschreiben ihre Briefe mit weiblichen Vor- namen oder lassen sich mit solchen von Personen, die ihnen nahe- stehen, belegen. So nennt sich Otto Ottilie, Emil Emilie, Georg Georgette; ebenso verfahren die Transvestitinnen mit den männ- lichen Namen; aus Frida wird Fritz, aus Wally Willy, aus Louise Louis. Ein Doktor meiner Kasuistik, namens Carl P., beschwerte sich bitter, daß seine Frau ihn nicht Clara nennen will, während doch seine Mutter ihm seine Bitte erfülle und auch ihre Briefe an ihn so überschreibe. Auch an dem Vatersnamen nehmen manche Änderungen vor, die der Weiblichkeit an sich oder der Freude daran Ausdruck verleihen, so benennt sich ein Ernst Erna Parthen (von parthenos Jungfrau), ein anderer unterschreibt Martha Glücks (wohl abgekürzt von Glückskind), ein dritter hat das Pseudonym Frau- mann" gewählt; die polnischen und russischen Transvestiten ver- wandeln die mannlichen Schlußbuchstaben ihres Namens in weib- liche. Es entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung, wenn Otto Wei- ninger in „Geschlecht und Charakter" bemerkt: „Es hat einen ^ III. Kapitel: Der Transvestismus tieferen Grund als man glaubt, warum die schriftstellernden Frauen *o oft einen Männernamen annehmen; sie fühlen sieh eben beinah als Mann, und bei Personen wie George Sand entspricht dies völlig ihrer Neigung zu männlicher Kleidung und männlicher Beschal- tigung." Das Motiv zur Wahl eines männlichen Pseudonyms muß in dem Gefühl liegen, daß nur ein solches der eigenen Natur korrespon- diert. Unrichtig wäre es aber, wollte man annehmen, daß stets: der Namensverkleidung auch ein sonstiger Transvestismus entspräche, wennschon es gerade von George Sand bekannt ist, daß sie fast stets Männerkleidung, auch als sie längst nicht mehr die Freundin Mussets und Chopins war, sondern Madame Dudevant hieß und Mutter zweier Kinder war. Man kommt der Wahrheit am nächsten, wenn man sagt, daß fast alle Kleidungstransvestiten auch Namens- transvestiten sind, keineswegs aber alle Namenstransvestiten ;uieh Kleidungstransvestiten. Seltener als bei schriftstellernden Frauen männliche, findet man bei Männern weibliche Pseudonyme; doch kommen auch sie vor. Als Beispiel wären zu nennen der im Dezember 1905 verstorbene englische Schriftsteller William Sharp, der unter dem Pseudonym Fiona Macleod gedankenvolle Schöpfungen veröffentlicht hat. Erst nach seinem Tode wurde seine Identität mit der bekannten „kel- tischen Natursängerin" bekannt, bei Lebzeiten hütete er sein Ge- heimnis sorgsamst und betonte in Gesprächen häufig, daß die Werke der in ihrer Persönlichkeit unbekannten Fiona Macleod sicherlich nur von einer Frau geschrieben sein könnten. Im Beginn des 19. Jahrhunderts (letzte Ausgabe Paris 1834) erschienen in zehn Bänden die Erinnerungen einer Marquise von Crequy, die eine Fülle von rührenden, galanten und pikanten Anek- doten aus der Zeit des alten Kegime enthielten, so daß sie besonders von älteren Leuten in wehmütiger Erinnerung an ihre Jugend mit größten! Enthusiasmus verschlungen wurden. Die Marquise von Crequy, welche sich in diesen Erinnerungen in die Eolle einer Schloßherrin versetzte, der alles, was nach 1789 geschah, tiefste Antipathie einflößte, war niemand anders, als ein Herr von Cour- champs. Er hatte sich in Wirklichkeit vollkommen mit der Person der Marquise identifiziert. Als ihn einst sein Verleger besuchte, fand er ihn im Bett liegend, den Kopf von einem feinen Spitzentuch umhüllt, „Entschuldigen Sie mich," sagte Herr von Courchamps mit leidender Stimme, „ich habe heute meine Vapeurs!" (= Periode). Va- schrieb seine Memoiren in einer Art Boudoir mitten unter Spiegeln, Fächern, Schminkbüchsen, Nippes und angefangenen Stickereien. Nur eine kleine Probe seiner Schreibweise sei an- geführt. Die Marquise erzählt, wie sie vom Hochzeitsfeste des Dau- phin, das einen so tragischen Abschluß fand, heimkehrte; wie durch ein Wunder gerettet, war sie gezwungen, allein nach Hause zu gehen. CG bü — a 'S — m SS S CS a >• O ß ^ 6 > ^ ß _S 3 "K ß — •ß '3 0) c N ß > Co .2 "5 CD X> -ß Ph , o o> .tj — ß CD ß :aä H ? E 'ß _u qq .5 o cd -55 ß .s J3 rß ^ ß3 CD . ^ T3 .sj .s --j eu ß ß l-^ K «1 .2 ° "3 •- ß tD O tSC ß a 'g S 'ß Q 'ß CD ß tc ß ^ <u .2 ß ß .ß >. :aS 'S a ß r- ß CD S 'S cd -ö > » ß °s IT > ö ß T3 fi iß a o cä SC o eu ja III. Kapitel: Der Transvestitismus \~\ „Es war das erstemal, daß ich meine Hand auf den Klopfer meiner Hintertür legte, und ich wußte gar nicht, wie ich das anfangen sollte. Ach, mein Gott, was sind wir Damen, wenn wir ohne Lakaien gehn!" Wirtschaftlich und gesellschaftlich unabhängige Transvestiten finden meist Mittel und Wege, um über die Schwierigkeiten hinweg- zukommen, die ihnen aus dem Mißverhältnis zwischen Tracht und Namen erwachsen. Einige legen sieh auch wohl einen neutralen Namen bei, wie Toni (gleichzeitig eine Abkürzung von Anton und Antonie) oder Gert (Abkürzung von Gertrud und Gerhard); andere setzen es durch, daß auf ihren Ausweispapieren der Vorname nur mit dem Anfangsbuchstaben verzeichnet ist. Vielfach aber stoßen im Berufsleben stehende Transvestiten in dieser Hinsicht auf so große Schwierigkeiten, daß sie sich lediglich aus diesem Grunde gezwungen sehen, von der Umkleidung Abstand zu nehmen. So kannte ich in Berlin eine Hedwig W., die in Berlin zwei Jahre als Mann lebte, während welcher Zeit sie sieh Herbert W. nannte. Da aber auf ihren Papieren Hedwig stand, war es ihr unmöglich' neue Stellung zu finden; diejenigen, die einen Herren engagieren wollten, nahmen an ihrem Namen, die, welche eine Dame wünschten, an ihrer Kleidung Anstoß. Infolgedessen ließ sie sich nach zwei Jahren wieder die Haare lang Wachsen und legte weibliche Kleider an. Bei dieser Sachlage ist es wohl begreiflich, daß manche Transvestiten einen langen und erbitterten Kampf um ihren Namen führen. Viele Transvestiten allerdings geben sich nicht erst die Mühe, sich einen ihrer äußeren Erscheinung und inneren Empfindung ent- sprechenden Namen zu erkämpfen, sondern legen sich diesen nach eigenem Ermessen bei. Bei manchen, keineswegs bei allen, kommt es dann wohl vor, daß eines Tages das meist ängstlich behütete Ge- heimnis offenbar wird und eine Strafverfolgung wegen Führung eines falschen Namens oder Falschmeldung eintritt. Daß es aber vielen männlichen und weiblichen Transvestiten gelingt, ihre angenommene Bolle zeitlebens unbehelligt durchzu- führen, beweisen die nicht vereinzelten Fälle, in denen zum Teil unter höchst eigenartigen Umständen 3) die Geschlechtsentdeckung erst nach dem Tode erfolgte. Die zutreffendste Lösung der, wie ich in meinen „Transvestiten" zeigte, in den verschiedensten Ländern sehr verschieden behandelten Frage, ob die Geschlechtsvortäuschung an und für sich etwas Straf- bares ist, scheint mir die zu sein, daß man die Erlaubnis, die Tracht des anderen Geschlechts öffentlich anlegen zu dürfen, von einem Gesuch abhängig macht, das die Personen, welche dies wünschen, 3) Vgl. das Kapitel ..Geschlechtsentdeckung nach dem fode" in den Trans- ' vestiten, S. 401 u. ff. 172 III. Kapitel: Der Transvesütismus der Polizei einzureichen haben, ähnlich wie es eine Polizeiverordnung aus der Zeit der französischen Revolution vorschreibt. Das An- suchen müßte die Gründe enthalten, auf die sich die Forderung stützt; in den meisten Fällen wird sich die Beifügung eines ärzt- lichen Attestes und einer Photographie in männlicher und weiblicher Kleidung empfehlen. Im Prinzip müßte die Erlaub- nis erteilt werden, mit dem Vorbehalt, daß sie zurückgezogen wird, wenn die betreffenden Personen durch die Verkleidung die öffent- liche Ordnung stören oder in ihr strafbare Handlungen begehen sollten. Für den Notfall dürfte, namentlich auf Reisen, die polizei- lich beglaubigte Bescheinigung eines Arztes genügen, daß bei dem Betreffenden ein Fall von seelischem Zwittertum vorliegt, der im Interesse seiner Gesundheit erfordert, daß er eine seinem Geschlecht nicht entsprechende Kleidung trägt. Es ist jedenfalls sehr ratsam, Ausweispapiere dieser Art bei sich zu führen, weil .ein Transvestit bei der mangelnden Kenntnis dieser Erscheinung sonst leicht in Ver- dacht unlauterer Absichten, namentlich in Spionageverdacht kommen kann. Diese Fälle sind besonders im Kriege nicht selten vorgekommen; so wurde in Österreich ein Mann in Frauenkleidern erschossen, weil er auf Anruf eines Postens1 fortlief, aus Angst, es könnte sein Geschlechtsgeheimnis offenbar werden. Nicht sowohl die Furcht vor der gesetzlichen Bestrafung, als vor gesellschaftlicher Ächtung und Mißkennung ihrer Neigung, ver- anlaßt viele Transvestiten, sich hinsichtlich ihrer Triebbetätigung die größte Zurückhaltung aufzuerlegen. Viele kleiden sich nur ganz heimlich hinter verschlossenen Türen um oder gehen nur in finsteren Nächten ein wenig in Frauenkleidern spazieren oder be- nutzen nur den Sonntag, daheim das Leben eines Weibes zu führen. Andere begnügen sich mit Surrogaten, unter denen wohl das Tragen weiblicher Unterkleidung unter der männlichen Tracht das ver- breitetste ist. So schreibt ein Transvestit: „Obwohl tagsüber ge- zwungen als Mann zu erscheinen, trage ich doch unter dieser Klei- dung vollständige Damenunterwäsche, Korsett, durchbrochene Strümpfe und was sonst noch einer Frau zukommt, selbst ein Arm- band und Frauen lackstief eletten mit zierlichen, hohen Hacken. Wenn es Abend wird, atme ich erleichtert auf, denn dann fällt die lästige Maske und ich fühle mich ganz Weib. Eingehüllt in ein schmiegsames Hauskleid von eleganter Ausstattung und rauschenden Seidenunter- röcken bin ich befähigt, erst recht meinen Liebhabereien, darunter die Erforschung der Prähistorie, meinem ernsten Studium oder mit Routine Geschäften nachzugehen. Ein Gefühl der Ruhe umfängt mich, das mir bei Tag in männlicher Kleidung unmöglich ist." Ganz besonders befremdlich wirkt es immer, wenn ein Soldat in schnei- . diger Uniform sich beim Spezialarzt entkleidet und plötzlich in Korsott, Spitzenhemde, nöseben und langen, weiblichen Strümpfen Iii. Kapitel: Der Transvestitismuä 173 dasteht, nicht minder eigenartig, wenn eine elegante Dame die Hüllen fallen läßt und sich in männlichen Unterbeinkleidern, mit Hosenträgern, in Socken und grobem Männerhemde präsentiert. Auch hier handelt es sich um Transvestiten, und zwar um eine Form, die man als partiellen Transvestitismus bezeichnen kann. Sie ist noch häufiger wie der komplette Transvestitismus, wobei zu bemerken ist, daß es sich nicht etwa immer nur um einen Not- behelf handelt, vielmehr gibt es eine ganze Anzahl, für die die „pars pro toto ausreicht", um dem inneren Weibgefühl Ausdruck zu geben. Daß es sich hier nicht etwa nur um Fetischismus handelt, geht daraus hervor, daß nicht von anderen Personen getragene Kleidungsstücke als geschlechtsreizend bevorzugt werden, sondern neu angeschaffte, frische, die mit der Vorstellung eigener Weiblichkeit den starken Reiz ausüben. Für den Sachkenner sind die Kleider eben kein zufälliges Äußer- liches, kein lebloses, stummes Gewebe, sondern ein Symbol, sie führen eine beredte Sprache, aus der man mindestens ebensogut, wie aus der Handschrift, Rückschlüsse auf die Denk- und Gefühlsweise, den Charakter und die Lebensrichtung einer Person ziehen kann (Esthetognomik von griech. hoöyQ-yzog = Kleidung). Ein geistvoller Transvestit schrieb mir einmal: „Bei uns ist das Wort ,Verkleidung' nicht recht am Platze. Denn wenn ich meiner innerlichen Empfindung Ausdruck gebe, verkleide ich mich nicht, sondern ich entkleide mich eher, weil ich mich so zeige, wie ich bin. Wir hören doch von allen Transvestiten, welche Sehnsucht sie danach haben, sich so zu kleiden, wie sie wirklich fühlen; auf der Bühne und auf Karnevalsfesten können sie sich wenigstens offen zeigen und haben ,Zweck';" weiter äußert er sich: „Es kommt beim Transvestitismus nicht nur auf die Anlegung der vollständigen Kleidung des entgegengesetzten Geschlechts an: er kommt auch partiell vor. Z. B. bei Frauen, die kurze Haare tragen oder auch bei Frauen mit Spazierstöcken; der Stock ist männlich, versinnbild- licht den Phallus, Stock und Szepter sind Zeichen der Gerichtsbar- keit, der Herrschaft und Potenz. „In das Gebiet des partiellen Trans- vestitismus," fährt dieser Sachkenner fort, „rechne ich auch Frauen und Männer mit Stiefeln, die an die Form der des entgegengesetzten Geschlechts erinnern; bei Männern Armbänder, Parfüms und schlanke, durch Korsetts eingeengte Taillen, breite und bequeme Taillen bei Frauen; Herrenfassons und -Stoffe bei Damenkleidern und -Paletots und vieles andere mehr." Die Angaben dieses Transvestiten decken sich durchaus mit meinen eigenen Beobachtungen. Allerdings kann man mit seinen Schlüssen auf Virilismus und Feminismus nicht vorsichtig genug sein; ein einzelner Gegenstand, wie ein Stock, kann beispielsweise sehr wohl von einer Dame aus rein1 praktischen Gründen getragen 174 werden; auch ein vereinzeltes Kleidungsstück, etwa eine lose Künstlerschleife oder eine Samtjoppe bei einem Herrn, wird nicht viel (wenn auch immerhin etwas) zu besagen haben; erst wenn die Bestandteile der entgegengesetzten Geschlechtstracht sich häufen und es feststeht, daß die Wahl ausschließlich durch innere Neigung bestimmt ist, dürften Rückschlüsse zulässig sein. Ich will die wesentlichsten Kleidungsstücke aufzählen, die in dieser Richtung verwertbar sind. Bei Frauen verraten eine männlichere Geschlechtsentwicklung unter andern: steife Hüte in glatten Formen mit schlichter Bandgarnitur, kurzgeschnittene, glattanliegende Haare (Tituskopf, Pagenkopf), männliche Gesichtspflege, Vorliebe für nicht durch Sehstörungen bedingte Augengläser — in Berlin konnte man sogar gelegentlich „energische" Frauen mit Monokel sehen — , Steh- kragen, Stehumlegekragen, Herrenkrawatte, Selbstbinder, Hemd- bluse mit Manschetten und Manschettenknöpfen, unverzierte Unter- wäsche, Pyjamas statt Morgenröcke, kurze, derbe Strümpfe in ein- fachen Farben, feste Stiefel, Sportschuhe mit breiten, niedrigen Ab- sätzen, Oberkleidung in glatter, gediegener (englischer) Form, Kittelkleider, Reformkleider ohne Korsetts, weite, lange Mäntel mit bequemen Taschen aus schweren Stoffen in solider Machart, Ab- neigung gegen Handschuhe, wenig Schmuck und diesen in mehr männlichen Formen, wie männliche Armbanduhren mit Lederband, feste, leinene Gebrauchstaschentücher; in der Tasche viriler Frauen finden sich meist Taschenmesser, Feuerzeug, Visitenkarten, großes Portemonnaie. Der genaue Gegensatz von jedem dieser Stücke läßt bei einem Manne einen gewissen Schluß auf feminine Einschläge zu. Es sind dies in ungefähr derselben Reihenfolge: weiche breitrandige Hüte mit breiten, farbigen Bändern, darunter gewelltes, gebranntes Haar oder lose Frisur, künstliche Gesichtspflege, Vorliebe für weiche Um- legekragen (Schillerkragen), überhaupt für freien Hals, leicht ge- bundene Schleifen, farbige, womöglich seidene Unterwäsche, lange, bunte, durchbrochene Damenstrümpfe (Florstrümpfe), bunte Strumpfbänder, halbe oder Einsatzschuhe mit Schleifen und hohen Absätzen, oder modernste Lüxusstiefel, elegante Handschuhe, auf Taillen gearbeitete Röcke mit „Quetschfalten", weite, wollene Pale- tots mit Fältchen und Verzierungen, schleppende Morgenröcke (ein partieller Transvestit meiner Kasuistik begnügte sich damit, eine lange Courschleppe um seine Hüften zu legen), auffallender Schmuck an den Fingern, um den Arm, im Schlips (broschenartig) oder an exzentrischen Stellen, zierliche Spitzentaschentüeher aus Battist und Seide; in der Tasche: ein Puderdöschen, Parfümfläschchen und Taschenspiegel. - Geht man auch schwerlich fehl, wenn man bei solcher Tracht bei Frauen eine virile, bei Männern eine feminine Komponente in i III. Kapitel: Der Transvestismus 175 mehr oder minder erheblichem Grade annimmt, die den Trägern selbst freilich oft nicht bewußt ist, so lehrt allerdings die Erfahrung, daß ein echter, kompletter Transvestit von solchen „Halbheiten" nichts wissen will. Erscheint der männliche oder weibliche Trans- vestit in der Tracht seines eigenen Geschlechts, so macht er gewöhn- lich einen vernachlässigten, fast liederlichen Eindruck, während er in transvestitischem Gewand höchst sorgsam zurechtgemacht daher- kommt. Wer sich tiefer mit dem Problem des Transvestitismus be- schäftigt und viele Transvestiten persönlich kennen zu lernen Ge- legenheit hat, erstaunt immer wieder über die große Extensität und Intensität dieser zunächst so seltsam anmutenden Erschei- nung. Es liegt hier ganz ähnlich wie bei der Homosexualität, wo man anfangs auch glaubte, eine verhältnismäßig seltene und ober- flächliche Anomalie vor sich zu haben, bis man mit wachsender Ver- wunderung ihre außerordentlich große Verbreitung und Stärke ge- wahr wurde. \ Bei manchen Transvestiten ist zwar der Umkleidungstrieb nur schwach und besteht mehr in der Phantasie, bei anderen aber ist er ganz ungemein heftig. Von der Stärke des Drangs hängt zum guten Teil seine Beherrschbarkeit ab. Ganz sicher wird von vielen die dauernde oder sehr lange Unterdrückung des weiblichen Pro- jektionstriebs schwer vertragen, sie wirkt bedrückend und schließ- lich lähmend auf die Schaffensfreudigkeit und Leistungsfähigkeit, erzeugt oft eine große, innere Unruhe mit Unlustempfindungen, unter denen Angstzustände und eine tiefe seelische Depression obenan stehen. Beide Affekte können sich bis zu Selbstmordgedanken steigern. „Ein solches Scheinleben hat doch keinen Wert", oder „man ist der ewigen Verstellung überdrüssig", solche und ähnliche Äußerungen bekommt man dann oft zu hören. Tatsächlich hat mancher Transvestit auch selbst in solcher Stimmung sein Leben von sich geworfen oder es wenigstens versucht. So wurde vor einigen Jahren in Berlin aus dem Landwehrkanal ein Mann in Frauenkleidern herausgezogen, dessen Identität niemals festgestellt werden konnte. Der Tote, ein kräftiger Mann mit kleinem blonden Schnurrbart, der anscheinend in der Mitte der Dreißiger stand, war vollständig wie eine Dame gekleidet. In Dortmund verübte im Jahre 1903 ein junger Mann in einem Hotel Selbstmord, der am Tage zuvor zugereist war. Es war ein 32jähriger Arbeiter aus der Gegend von Köslin in Pommern. Als man sein Zimmer gewaltsam öffnete, fand man ihn auf seinem Bette hingestreckt mit weißem Braut- kleid und Schleier angetan, auf dem Haupte einen Myrten- kranz. Er hatte sich in das Herz geschossen. Neben der Leiche lag- ern Zettel, in dem der Lebensmüde bat, ihn im Brautstaat beerdigen zu lassen. Auch von dem Seitenstück zu 'diesen Fällen, Selbstmorde- 176 rinnen in Männerkleidern, seien Beispiele angeführt: im Jahre 1904 wurde im Seemannsheim in Staten Island ein erkrankter Kapitän Tweed aufgenommen, der auf seinem stattlichen Schiff lange Jahre den Atlantischen Ozean gekreuzt hatte. Als sein Leiden zunahm, fand man ihn eines Morgens mit durchschnittener Kehle. Der Arzt, der die Leichenschau vornahm, entdeckte, daß Tweed eine Frau war. Zu seinen Lebzeiten hatte niemand an dem männlichen Geschlecht des Kapitäns gezweifelt. Unter ähnlichen Umständen ver- übte im Jahre 1909 in Czernowitz eine als Zahlkellner lebende Frau Selbstmord. Als Oberkellner in einem der ersten Kestaurants der Stadt, war Michael Semeniuk allgemein bekannt und beliebt, keinem war jemals der Gedanke gekommen, daß der bartlose, liebenswürdige Mann ein Weib sein könnte. Da erkrankte er eines Tages unter hohem Fieber. Die besorgte Umgebung holte einen Arzt. Als dieser nun aber den Patienten untersuchen wollte, stieß er auf so starken Widerstand, daß er, ohne eine Diagnose stellen zu können, den Schwerkranken verließ. Am nächsten Morgen teilte man dem Arzte mit, daß Semeniuk in der Nacht verstorben sei. Bei der Leichen- besichtigung ergab sich nun „mit zweifelloser Bestimmtheit, daß der Kellner ein Weib gewesen war, das Männerkleider trug". Er hatte sich in der Nacht, um die Entdeckung seines Geschlechts nicht zu überleben, vergiftet. Die Tatsache, daß die Kleidung auf das körperliche und seelische Wohlbefinden der Transvestiten von lebenswichtigster Bedeutung ist, führt zu der Frage, ob der Arzt nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet ist, die Umkleidung zu gestatten, ja anzu- ordnen. Er wäre es nicht, wenn er ein untrügliches Mittel be- säße, die transvestitische Neigung selbst zum. Verschwinden zu bringen. Ein solches Heilmittel steht ihm aber nicht zur Verfügung. Gerade der Umstand, daß alle psychischen Methoden, einschließlich der Hypnose und Psychoanalyse, versagen, ist ein Beweis mehr, daß der Transvestismus und wie wir gleich hinzufügen wollen der Metatropismus und die Homosexualität, ebenso fest in der körper- lichen Konstitution verankert sind wie die Androgynie und der Herrn aphroditismus. Wohl hat der Transvestit Perioden, in denen sein Drang mehr zurücktritt, diese Perioden können monatelang, ausnahmsweise, beispielsweise in schweren Kriegszeiten wohl auch ein Jahr oder länger anhalten, schließlich aber bricht die Neigung doch immer wieder elementar hervor und erhält sich bis in das höchste Lebensalter, bei Frauen weit über die Wechseljahre hinaus. Am ehesten könnte man noch denken, diesem Vermännlichungs- und Verweiblichungsdrang beizukommen, indem man die innere Sekretion durch andrin- oder gynäzinhaltige Stoffe zu beeinflussen sucht. Es gibt verschiedene Mittel, die in dieser Hinsicht in Betracht III. Kapitel: Der TransvestitismuS 17? kommen, unter denen ich die von Bloch in die Praxis eingeführten Präparate Testogan und Thelygan in erster Reihe nennen möchte; sie werden teils per os, teils per anum als Zäpfchen, am besten jedoch subkutan verabreicht. Auch an operative Transplantationen von männlichem Keimdrüsengewebe bei transvestitischen Männern und von Ovarialgewebe bei transvestitischen Frauen könnte man denken, jedoch zeigt die praktische Erfahrung, daß das Verlangen der Trans- vestiten gerade nach der entgegengesetzten Seite geht; die Männer wollen Eierstocksgewebe, die Frauen Hodengewebe injiziert oder im- plantiert haben. Sie empfinden eben ihren Körper, nicht ihren Geist als ihnen nicht adäquat. Auf dringendes Ersuchen von Transvestiten habe ich mich in einigen Fällen auch entschlossen, ihnen weibliche Organpräparate einzuspritzen und habe zu meinem Erstaunen wahrgenommen, daß dadurch in der Tat bei ihnen die weiblichen Geschlechtscharaktere, wie die Mammae, bis zu einem gewissen Grade positiv, die männ- lichen, wie Bart, negativ beeinflußt wurden, Während die Behand- lung mit männlichen Präparaten sich als ergebnislos erwies. Ein abschließendes Urteil möchte ich aber in dieser Frage nicht abgeben, dazu sind die Erfahrungen nicht ausreichend, doch ermutigen die bisherigen. Erfolge sicherlich zu weiteren Versuchen. Von der Röntgentherapie — bekanntlich zerstören die Röntgenstrahlen teil- weise das Geschlechtsdrüsengewebe — habe ich dagegen Dauer- wirkungen bisher nicht wahrgenommen. Die wichtigste Frage bleibt jedenfalls, soll der Arzt einem Transvestiten die zeitweise Umkleidung raten oder widerraten und letzterenfalls, soll er der Umgebung, vor allem der Ehefrau oder anderen Angehörigen, die nötigen Erklärungen geben, damit sie dem Transvestiten Verständnis entgegenbringen oder wenigstens keine Schwierigkeiten bereiten. Ich stehe nicht an, vom ärztlichen Stand- punkt zu empfehlen, dem Trieb zeitweise nachzugeben, zumal es sich ja um eine im Grunde genommene harmlose Neigung handelt, da durch die Umkleidung an und für sich niemandem ein Schaden zugefügt wird. Das schließt nicht aus, daß durch geeignete Maßnahmen eine Kräftigung des Zentralnervensystems herbei- geführt wird, um die Widerstands- und Beherrschungsfähigkeit des Transvestiten zu fördern. Darüber hinaus ist eine Regelung der ganzen Lebensführung, der Wahl und Ausübung des Berufs, der Erholung, unter Berücksichtigung des Transvestismus ins Auge zu fassen. Schwieriger wie die Berufs- ist die Ehefrage. Die Mehrzahl der mir bekannten heterosexuellen Transvestiten sind verheiratet. Es muß aber unbedingt gefordert werden, däß ein Transvestit, bevor er eine Ehe eingeht, seine Frau über sich auf- klärt; es kann einem Weibe nicht zugemutet werden, daß sie un- vorbereitet eines Tages der in ihren Augen höchst bizarren Eigen- Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 12 178 III. Kapitel: Der fransvestitismus' art ihres Mannes gegenübersteht. Ich habe mich gewundert, daß sich manche Frauen allerdings verhältnismäßig leicht darein ge- funden haben, mit ihren weiblich gekleideten Ehemännern sogar zu verreisen, oder mit ihnen abends am Familientisch zu sitzen, beide Ehegatten in Frauentracht. Viele Frauen aber nehmen großen An- stoß an der Umkleidung des Mannes und können sich beim besten Willen nicht daran gewöhnen. Erst kürzlich habe ich mich wieder- um als Sachverständiger in einem Ehescheidungsprozeß von dieser unüberwindlichen Abneigung überzeugen können. Viele fürchten auch, daß der Transvestitismus auf die Nachkommenschaft von ver- derblichem Einfluß sei, sich vererben könne. Eine direkte Ver- erbung dürfte kaum wahrscheinlich sein, mir ist auch bisher kein Fall bekannt geworden, in dem von den Eltern eines Transvestiten Vater oder Mutter den gleichen Drang hatten, doch halte ich es wohl für möglich, daß eine so hochgradige Abweichung vom Geschlechts- typus auf die Kinder in degenerativem Sinne wirkt. Einen Beweis für diese mehr theoretischen Erwägungen entspringende Vermutung kann ich allerdings nicht beibringen, im Gegenteil, die Kinder der Transvestiten, welche ich sah, machten auf mich einen guten und gesunden Eindruck. Doch ist das bisher zur Verfügung stehende Material nicht genügend, die geäußerten Befürchtungen zu zerstreuen. Zum mindesten erfordert die Züchtungshygiene, daß Transvestiten, die sich an der Hervorbringung neuer Menschen be- teiligen, im übrigen körperlich gesunde, kräftige und auch geistig gut entwickelte Personen sind, die in noch höherem Maße, wie die Rücksicht auf die Nachkommenschaft dies ohnehin nötig macht, auf die Gesundheit der Ehehälften bei der Gattenwahl achtgeben. Bei den transvestitischen Frauen spricht übrigens noch gegen die Ehe, daß sie meist sehr unruhigen Geistes, zu Abenteuern geneigt und an die Häuslichkeit schwer zu fesseln sind. Am besten paßt wohl in der Tat, wie dies ja auch den Wünschen dieser Personen ent- spricht, ein Transvestit zu einer mehr männlich gearteten Frau, die natürlich keine Transvestitin zu sein braucht, eine Transvestitin zu einem weiblichen Mann, damit, um mit Schopenhauer4) zu reden, „der bestimmte Grad seiner Mannheit dem bestimmten Grade ihrer Weiblichkeit entspricht"; richtiger wäre es allerdings, in unserem Falle zu sagen: der bestimmte Grad ihrer Männlichkeit dem be- stimmten Grad seiner Weiblichkeit. *) A. Schopenhauer in „Die Welt als Wille und Vorstellung" (Metaphysik der Geschlechtsliebe), Bd. 2, Kap. 4A, S. 623, herausgegeben von Frauenstädt. IV. KAPITEL Die Homosexualität Ableitung der konträren Sexualität vom männlichen Feminismus und weib- lichen Virilismus — Ursprung und Bedeutung des Wortes „homosexual" — P 1 a t o n als Quelle des Begriffes Uranismus — Das konstitutionell Wurzelhafte und charakterologisch Triebhafte als Kennzeichen echter Homosexualität — Pseudo homosexuelle Akte (aus Not, Gefälligkeit und Eigennutz) — Das Wesen der B i s e x u a 1 i t ä t — Die p u b i s c h e Bisexualitätsperiode — Differential- diagnoäe zwischen Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualität bei Jugend- lichen — Liebe zu Geschwisterpaaren — Erscheinungsformen männlicher und weiblicher Bisexualität — Tardive und periodische Homosexualität — Die negative Seite der Homosexualität — Das Ausbleiben der heterosexuellen Affinität — Die s e e 1 i s c h e "Fesselung an das gleiche Geschlecht — Die inter- sexuelle Konstitution — Das Bewußtwerden der Triebinversion — Nervenstörungen durch erzwungene heterosexuelle Betätigung — Homo- sexuelle Ehefrauen — Heiratsgründe homosexueller Männer und Frauen — Brautstandsleiden urnischer Personen — Mysogynie und Andro- phobie — Das urnische Kind — Die Anhänglichkeit urnischer Söhne an die Mutter und urnischer Töchter an den Vater — Die gleichgeschlechtliche Ge- bundenheit— Homosexuelle Schüler als Sexualziel heterosexueller Kameraden — Die Einstellung des Sexualzentrums auf das adäquate Geschlechtsziel — Die Eifersucht der Homosexuellen — Wesensänderung Homosexueller in Gesellschaft ihrer Typen — Ästhetische Objektivierung homoerotischer Strömungen — Das Traumleben der Homosexuellen — Diagnostische Verwertung des Schamgefühls — Der sexuelle Treppenreflex — Fehlerhafte Einteilung der Homosexuellen in Aktive und Passive — Die vier Hauptformen homo- sexueller Betätigung — Die manuelle, orale und femorale Verkehrsform — Die Analogie zwischen weiblichem Instrumental- und männlichem Anal- verkehr — Die Anilinctio — Stereotypie der Verkehrsweise — Unterdrück- bark ei t des konlrärsexuellen Triebes — Die Erziehung urnischer Kinder — Bedeutung der Kinderspiele — Die Reifezeit homosexueller Knaben und Mädchen — Die Einteilung homosexueller Männer und Frauen in die zwei Haupt- gruppen der Feminineren und Virileren — Die relative Konstanz des an- ziehenden Typus — Einteilung der Homosexuellen in Ephebophile und An- drop h i 1 e — Nebengruppen derPädophilen und Gerontophilen — Homo- sexueller Fetischismus — Homosexuelle mit stabilerem und labilerem Nervensystem — Verhältnis der psychopathischen zur intersexuellen Konstitution — Die Homosexualität als Vorbeugungsmittel der Degene- ration — Die erbliche Belastung zum Uranismus — Die urnische Familie — 12* 1SÖ IV. Kapitel: Die Homosexualität Urnische Geschwister - Pathologische Anatomie der Geschlechts- drüsen Homosexueller - Die Unmöglichkeit, die Homosexualität auf psychischem We«e zu beseitigen — Dürfen Homosexuelle heiraten — Aussichten einer ope- rativ e n Behandlung — Ob) ekt e Heilungsb e dürf t i gk ei t und subjektives Heilungs b e d ü r f n i s. Die im vorigen Kapitel behandelte transvestitische Form des Feminismus beansprucht nicht nur als Erscheinung für sich, sondern auch infolge ihrer Beziehungen zu den übrigen inter- sexuellen Varianten größte Beachtung. Es liegt nahe, und die Erfahrung bestätigt es, daß ein Mann, der sich als Weib fühlt und kleidet, auch hinsichtlich seiner geschlechtlichen Geschmacksrichtung und Neigung nicht dem Manne von vollmännlichem Typus gleichen wird. Wir sahen, daß ein beträchtlicher Teil der Transvestiten weibliebend ist, aber sie lieben ein Weib, dem eine gewisse Über- legenheit, sei es geistig oder körperlich, innewohnt. Der Mann mit weiblichen liebt ein Weib mit männlichen Einschlägen, und zwar gefällt er sich im allgemeinen mehr in der passiv umworbenen, als in der aktiv werbenden Kolle, Damit erhält diese Gruppe den Charakter der Aggressionsinversion, indem eines der wesentlichsten Merkmale im menschlichen Geschlechtsleben, die vom Manne ausgehende Aggression, in das Gegenteil umschlägt (Meta- hopimus). Eine zweite Gruppe von Transvestiten geht noch einen Schritt weiter, sie findet ihre Ergänzung nicht im männlich ge- arteten Weibe, sondern direkt im Manne von mehr oder weniger ausgeprägtem Geschlechtstypus. Hier ist der Übergang von der heterosexuellen zur gleichgeschlechtlichen Libido gegeben, allerdings nur ein Übergang, denn wir wissen, daß außer den femininen androphilen Homosexuellen eine beträchtliche Gruppe vorkommt, die, ohne selbst auffallend feminin zu sein, ihrerseits weiblich ge- artete Männer liebt. Außerdem gibt es dann noch Feminine, die zu Femininen, und Virile, die zu Virilen neigen. Die gleiche Stufen- leiter finden wir beim weiblichen Geschlecht: Das transvestitisch männliche Weib begehrt den femininen Mann, ist also noch hetero- sexuell (metatropisch); es folgt die Virago, welche nicht mehr den weiblichen Mann, sondern echte Frauen begehrt, mithin homosexuell ist. Es schließen sich Frauen an, die, obschon selbst überwiegend weiblich sind, mehr oder weniger männlichen Frauen vor Männern den Vorzug geben. Zwischen diesen Kategorien stehen Bisexuelle, die sieh Typen zuwenden, welche bei beiden Geschlechtern vor- kommen. So leiten sich aus dem Feminismus beim Manne und dem Viri- lismus beim Weibe zwei große Gruppen abweichender Geschlechts- neigung ab, mit denen wir uns in den beiden folgenden Kapiteln be- schäftigen müssen: das eine ist die konträre Sexualität, be- stehend in der sexuellen Fixierung an das gleiche Geschlecht, das IV. Kapitel : Die -Homosexualität 181 andere ist die Fixierung des femininen Mannes an das virile Weib und umgekehrt. Das Gebiet der konträren Geschlechtsneigung oder Homo- sexualität ist in den letzten vier Jahrzehnten mehr als irgendein anderes der Sexualwissenschaft durchforscht und erörtert worden. Weist doch die Bibliographie in dem einen Jahrzehnt von 1898 bis 1908 über tausend größere oder kleinere Arbeiten über diesen Gegen- stand auf. In diesem Zeiträume hat auch der aus dem griechischen ofjog — richtiger ofiotog = gleich — und dem lateinischen sexus == Ge- schlecht nicht gerade glücklich gebildete Ausdruck „Homosexualität" im Schrifttum so tiefe Wurzeln geschlagen, daß seine Ausmerzung und Ersetzung durch eine Bezeichnung, die sprachlich und inhaltlich mehr befriedigen und zu weniger Mißverständnissen Anlaß geben würden, kaum noch Erfolg verspricht. Zuerst findet sich das Wort „homosexual" in einer 1869 erschienenen Broschüre eines anonymen Verfassers „Kertbeny", des im Jahre 1820 geborenen ungarischen Arztes Benkert. Der Autor dieser Schrift, die ich, nachdem sie über 30 Jahre vergriffen und fast vergessen war, im Jahre 1905 neu herausgegeben habe, definiert das, was er mit dem Ausdruck „homo- sexuell" bezeichnet, in folgender, äußerst klaren Weise: „. . . Neben dem normalsexualen Triebe hat die Natur in ihrer souveränen Laune bei Mann wie Weib auch den homosexualen Trieb gewissen männlichen oder weiblichen Individuen bei der Geburt mitgegeben, und ihnen damit eine geschlechtliche Gebundenheit verliehen, welche sie sowohl physisch als geistig unfähig macht, auch bei bestem Willen, zur normalsexualen Erektion zu gelangen; dieser Trieb setzt einen direkten Horror vor dem Gegengeschleehtlichcn voraus und macht es den mit dieser Leidenschaft Behafteten unmöglich, sich dem Eindrucke zu entziehen, welchen einzelne Individuen des gleichen Geschlechts auf sie ausüben." In dieser Erklärung ist das Wesentlichste dieser Erscheinung wiedergegeben, Benkert hebt her- vor, daß die Homosexualität sowohl beim Manne wie beim Weibe vorkommt; er betont, daß der homosexuelle Trieb ein ange- borener ist und eine geschlechtliche Gebundenheit verleiht, welcher sich der von ihm Befallene nicht entziehen kann. Endlich betont er, daß diese Hinneigung zum gleichen Geschlecht mit einer Abneigung, einem Horror vor dem „Gegengeschlechtlichen" ver- bunden ist. In dem gleichen Jahre, in dem das Wort homosexuell an anfangs kaum beachteter Stelle zum erstenmal angewandt wurde, hatte der hervorragende Berliner Psychiater Professor Carl Westphal im Archiv für Psychiatrie unter der Überschrift „Konträre Sexual- empfindung" die eingehende Lebensgeschichte zweier von ihm selbst beobachteter Personen, einer homosexuellen Frau und eines Mannes, den wir heute als „Transvestiten" bezeichnen würden, ver- 182 IV. Kapitel: Die Homosexualität, 7 öffentlicht. Er nimmt in diesem Aufsatz wiederholt Bezug auf die „Anthropologischen Studien", die Karl Heinrich Ulrichs nicht lange zuvor unter dem Titel „Inclusa" publiziert hatte und gelangt zu folgendem Schlußsatz: „Immerhin mögen die geschilderten Se elenzustände häufiger sein als man weiß. Es ist Pflicht, die Aufmerksamkeit diesem Gegenstande zuzuwenden Tritt nicht mehr das Gespenst des Gefängnisses drohend vor das Bekenntnis der perversen Neigung, dann werden diese Fälle gewiß eher zur Ko- gnition der Ärzte gelangen, in deren Gebiet sie gehören." Mit der Bezeichnung konträre Sexual emp f indung wollte Westphal aus- drücken, daß es sich nicht „immer um den Geschlechtstrieb als solchen handle, sondern oft auch bloß um die Empfindung, dem ganzen inneren Wesen nach dem eigenen Geschlechte entfremdet zu sein." Trotzdem Krafft - Ebing *) und nach ihm Schrenck-Notzing *), Moll3), Havelock-Ellis 4) u. a. die Westphalsche Bezeichnung „kon- träre Sexualempfindung" auf das Titelblatt ihrer vielgelesenen Werke setzten, und auch das Eigenschaftswort „konträrsexuell", so- wie die Substantiva „Konträrsexueller" und „Konträrsexualismus" in der Fachliteratur Anwendung fanden, und längere Zeit fast aus- schließlich von den Psychiatern gebraucht wurden, konnte sich das ziemlich gutgebildete Wort gegenüber dem gleiches meinenden Aus- druck Homosexualität auf die Dauer nicht behaupten. Ebenso ver- drängte allmählich das Wort Homosexualität auch die Ulrichssche Bildung Uranismus. Die Stellen, auf Grund derer er die Aus- drücke Uranier, Uranismus, uranisch prägte, die er dann später unter Gebrauch deutscher Endungen mit Urning, Urningtum, urnisch vertauschte, befinden sich im 8. und 9. Kapitel von Piatons Symposion, jenem berühmten Dialog, in dem die Teilnehmer am Gastmahl die Liebe von den verschiedensten Gesichtspunkten er- örtern; hier heißt es, daß „die von dem Eros der Göttin Urania An- gewehten sich ausschließlich zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlten". i Ulrichs erlebte die Anerkennung seiner Anschauungen nicht mehr, er starb 1895 in selbstgewählter Verbannung in den Abrnzzen; J) „Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexual- empfindung". Eine medizinisch - gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen von Dr. R. v. K r a f f t - E b i n g , o. ö. Prof. der Psychiatrie und der Nervenkrankheiten in Graz. 1. Aufl. Stuttgart 1877. 2) „Die Suggestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes mit. besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung" von Dr. A. Freiherrn von Schrenck-Notzing in München. Stuttgart 1892. 3) „Die konträre Sexualempfindung" von Dr. med. Albert Moll in Berlin. Mit einem Vorwort von v. K r a f f t - E b i n g. 1. Aufl. Berlin 1891. 4) „Das konträre Geschlechtsgefühl" von Havelock-Ellis und I. A. Symonds. Leipzig 1S96. IV. Kapitel: Die Homosexualität 183 immerhin hatte er die Genugtuung, daß ein so erleuchteter Geist wie K' rafft- Ebing die von ihm vertretenen Ansichten in der Hauptsache zu den seinigen machte, obwohl es auch dieser großen Autorität nicht gelang, einer Welt von Vorurteilen gegenüber mit seinen Auffassungen durchzudringen. Vor allem blieb es der Mehr? zahl der Fachleute unbegreiflich, daß hier einer nicht unbeträcht- lichen Gruppe von Menschen ein Gesetz auf den Lebensweg mit- gegeben sein sollte, vor dem es kein Entrinnen gibt, und daß es sich hier nicht um rein geschlechtliche, sondern um seelische Vorgänge handelt, die jedoch ihrerseits wiederum körperlich bedingt sind. Für jemanden aber, der viele Tausende von Homosexuellen kennen ge- lernt hat, sind gerade diese beiden Momente, das k o n s t i t u t io n e 1 1 W u r z e 1 h a f t e und das eharakterologisc-h Triebhafte so sehr über jeden Zweifel feststehende Tatsachen, daß sie geradezu als entscheidend für das Vorhandensein echter Homosexuali- tät erachtet werden müssen. Nur wo die seelische Empfin- dung ein Ausdruck der körperlichen Beschaffenheit und die körperliche Handlung ein Ausfluß der see- lischen Eigenart ist, kann von echter Homosexualität die Kede sein, während für den konträren Sexualverkehr o h n e konträre Sexualempfindung der von Iwan Bloch gutgewählte x\usdruek Pse udohomosexualität paßt, der aber nur hierfür, nicht etwa auch für Transvestiten und andere Formen der Geschlechts- übergänge in Anwendung gezogen werden sollte. Wir verstehen demnach unter Pseudohoinosexualität (Uranismus falsus) die Vor- nahme homsexueller Handlungen ohne die angeborene psychische Einstellung hierfür, bedingt durch Absichten und Zwecke, die außer- halb der sexuellen Triebsphäre liegen. In solchen Fällen bleibt die Heterosexualität der unerschütterliche Bestand der individuellen Wesenheit, genau so wie auch die homosexuelle Wesensart und Triebrichtung durch p s e u d o h e t e r o s e x u el 1 e Akte unbeeinflußt bleibt. Denn alle Gruppen pseudohomosexueller Heterosexueller finden ihr Seitenstück in 'pseudöheterosexuellen Homosexuellen. Auch unter diesen gibt es solche, die aus E i g e nnut z heterosexuell verkehren — man denke nur an die homosexuellen weiblichen Prosti- tuierten — solche, die sich aus Mitleid oder Dankbarkeit bereit finden, heterosexuellen Wünschen nachzugeben und solche, die sich mangels gleichgeschlechtlicher Personen heterosexuell betätigen, gewöhnlich aber auch der von Phantasien begleiteten Ipsation den Vorzug geben. Für alle diese im Grunde homosexuellen Personen haben die heterosexuellen Erlebnisse ungefähr die Bedeutung onanistischer Manipulationen. Sie bilden für sie eine vorüber- gehende Phase und sobald sie können, stellen sie sich wieder auf das ihrer Sexualpersönlichkeit entsprechende Sexualziel ein. Krafft- Ebing erfaßt auch hier wieder den Kern der Sache, wenn er in dem / 184 IV. Kapitel: Die Homosexualität Aufsatz über „Weibliche Homosexualität" im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen5) schreibt: „Es kann nicht genug betont werden, daß geschlechtliche Akte an Personen desselben Geschlechts an und für sich durchaus nicht konträre Sexualität verbürgen. Von dieser kann nur die Eede sein, wenn die physischen und psychischen sekundären Geschlechtscharaktere einer Person des eigenen Geschlechts An- ziehungskraft für eine andere haben, und bei dieser den Impuls zu geschlechtlichen Akten an jener hervorrufen." Viele Pseudohomosexuelle werden von sich und anderen ohne weiteres für bisexuell gehalten. Hierzu sind wir aber nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen berechtigt. Legen wir mit Kraf f t- Ebing dem Begriff der Bisexualität — er nannte sie psychische Hermaphrodisie — die seelische Triebrichtung zugrunde, wobei „neben ausgesprochener seelischer Empfindung und Neigung zum eigenen Geschlecht solche zum anderen vorgefunden wird", so wer- den wir die Gruppe der tatsächlich Bisexuellen verhältnismäßig eng zu fassen haben. Theoretisch könnte man zwar zunächst annehmen, die bisexuelle Orientierung müsse recht verbreitet sein, wenn man nämlich davon ausgeht, daß die Doppelgeschlechtlichkeit der Menschen der physiologische Urzustand ist, aus dem sieh die einseitige Triebrichtung entwickelt. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß bei fast allen Homosexuellen eine heterosexuelle, und ebenso bei den Heterosexuellen eine homosexuelle Komponente, wenn man in der Tiefe ihrer Empfindungen und Vergangenheit schürft, als verdrängter Komplex nachweisbar ist. Gleich- wohl steht für den Empiriker die Erfahrungstatsache außer Zweifel, daß in der übergroßen Mehrzahl der Fälle die Liebe und der Ge- schlechtstrieb zielsicher und zielbewußt auf ein Geschlecht los- steuern. Auf welches, das hängt bei dem einzelnen ganz von „dem Gesetz" ab, nach dem er „angetreten". Daß. manche Autoren den Begriff der Bisexualität so weit fassen, hängt offenbar damit zu- sammen, daß sie in den Begriff der sexuellen Liebe Neigungen ein- beziehen, die wir als nicht erotische erachten. Mag das nun letzten Endes begründet sein oder nicht, klinisch und differentialdiagno- stisch müssen wir daran festhalten, daß auf der einen Seite scharf akzentuierte Heterosexuelle existieren, die einzig und allein das andere Geschlecht zu lieben imstande sind, wie auf der anderen Seite ebenso rein ausgesprochene Homosexuelle, denen diese Empfindung gänzlich verschlossen ist; außer diesen Gruppen gibt es dann aller- dings auch, und zwar ebenso präformiert und in ihrer eigenen Per- sönlichkeit verankert, Bisexuelle, die unter beiden Geschlechtern sexuell anziehende Personen finden; Pseudohomosexuelle mögen in Wirklichkeit nicht selten Bisexuelle sein, und auch das, was als '■") Jahrb. f. sex. Zwischenstufen, Bd. 3, S. 23. IV. Kapitel: Die Homosexualität jg5 periodische, tardive, vor allem auch als erworbene Homosexualität beschrieben ist, fällt meist in den Bereich der Bisexualität. * Ganz besondere Schwierigkeiten bietet die Differentialdiagnose, ob Heterosexualität, Homosexualität oder Bisexualität vorliegt, oft bei Jugendlichen, zwischen dem Erwachen des Geschlechtstriebes und dem Abschluß der sekundären Geschlechtscharaktere im Beginn der zwan- ziger Jahre. In vielen Fällen ist die Frühdiagnose zwar absolut sicher zu stellen. Man findet feminine Urninge und virile Urninden von 16 Jahren, an deren homosexueller Geschlechtsnatur auch nicht der mindeste Zweifel ist, genau so, wie bei manchen auch die Hetero- sexualität bereits in diesem Alter unverkennbar zutage tritt ; aber oft ist es fast unmöglich, ein sicheres Urteil abzugeben. Ähn- lich, wie man in vielen Fällen von Hermaphroditismus externus mit der Entscheidung, ob Mann oder Weib, warten muß, bis die sekun- dären Geschlechtsmerkmale differenziert sind, wird man bei vielen Jünglingen und Jungfrauen ein sicheres Urteil über die Frage: homosexuell oder heterosexuell? erst abgeben können, wenn die pubische Bisexualitätsperiode als völlig abgeschlossen angesehen werden kann. Man muß sich in solchen Fällen exspek- tativ verhalten, aus praktischen Gründen vorderhand Heterosexuali- tät annehmen und nach Möglichkeit fördern, ohne sich allerdings der Illusion hinzugeben, als ob durch irgendwelchen Einfluß von außen der Trieb nach der einen oder anderen Seite gedrängt werden könnte. Am verständlichsten sind unter den Bisexuellen diejenigen, die einen Typus lieben, welcher sich unter beiden Geschlechtern vor- findet; es sind teils mehr Heterosexuelle, die das sie am Mädchen Anziehende nicht nur unter diesen, sondern auch in gewissen Jüng- lingstypen empfinden, teils mehr Homosexuelle, die das Jünglings- hafte, was sie anzieht, nicht nur im Jüngling, sondern auch in man- chen Mädchengestalten wahrnehmen. Wiederholt sind Fälle zu meiner Kenntnis gelangt, in denen sich Homosexuelle mit jungen Mädchen verlobten, zu deren Brüdern sie sich sexuell hingezogen fühlten; einige auch, in denen homosexuelle Mädchen den Antrag von Männern annahmen, deren Schwestern sie liebten. Den bisexuel- len Männern, die das Virile im Mädchen, das Feminine im Jüngling lieben, sind analog die bisexuellen Frauen, die weiblich „ange- hauchte" Männer und männlich geartete Frauen lieben, den Männern gegenüber in gewissem Sinne homosexuell, den Frauen teilweise heterosexuell gegenüberstehen, in Wirklichkeit demnach auch bi- sexuell sind. Hier sind auch die zahlreichen mehr normalsexuellen Mädchen einzureihen, welche sich zwar wesentlich zu Männern, aber doch auch ziemlich stark zu dem Männlichen im homosexuellen und virilen Weibe hingezogen fühlen, sie entsprechen wiederum den jungen Leuten, welche zwar hauptsächlich weibliebend sind, zu- 186 IV. Kapitel: Die Homosexualität gleich aber doch auch eine Neigung zu homosexuellen Männern haben, die sie zum mindesten nicht so abstoßen, wie sie der stark virile normalgeschlechtliche Mann abstoßen würde. Es ist vorgekommen, daß jemand sich in einen als Mädchen ver- kleideten Jüngling, oder ein als Mann verkleidetes Weib verliebte. Bei bisexuellen Naturen pflegt diese Neigung bei der Enthüllung anzuhalten. Von Grillparze r wird erzählt, daß er nur ein ein- ziges Mal für ein weibliches Wesen Liebe empfand. Dieses Gefühl weckte in ihm eine junge Sängerin, die er in einer Hosenrolle als Cherubim in Mozarts „Figaro" gehört hatte. Das ist kein ver- einzelter Fall. Ich habe oft wahrgenommen, einen wie starken Ein- druck transvestitische Mädchen, gleichviel, ob homosexuell oder heterosexuell geartet, auf manche Urninge ausübten. Ein in der Berliner Urningswelt beliebter Kavallerieleutnant überraschte eines Tages seine Bekannten, mehr noch wie mit der Anzeige seiner Ver- lobung, mit der Nachricht, daß er völlig heterosexuell geworden sei. Die Mitteilung wurde vielfach bezweifelt, gewann allerdings dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß schon früher sein Fall in Frauenkleidern lebende Jünglinge geAvesen waren. Es gibt aber auch Bisexuelle, die nicht nur verwandte Typen, und unter diesen solche mit wenig stark ausgeprägten Sexualcharak- teren lieben, sondern die sich zu Männern und Frauen hingezogen fühlen, die untereinander ganz unähnlich erscheinen und zudem ausgesprochene Vertreter ihres Geschlechts sind. Geht man aber der Sache auf den Grund, so wird man meistens dann doch gewisse Eigentümlichkeiten herausfinden, die den fesselnden Einzelindi- viduen beider Geschlechter gemeinsam sind, beispielsweise eine gewisse Art, sich zu bewegen. Es scheint, als ob in solchen Fällen die partielle Attraktion stärker ist als die totale. Endlich kommt bei beiden Geschlechtern auch eine gewisse Art Bisexueller vor, deren femininer Komponente es wohltuend ist, sich von einem älteren Mann oder einer älteren Frau lieben zu lassen, denen sie sich passiv gern hingeben; gleichzeitig drängt sie aber eine in ihnen vorhandene virilere Komponente auch zu jüngeren männ- lichen oder weiblichen Individuen, die sie mehr aktiv lieben; ich beobachtete folgende vier Kombinationen. Ein bisexueller Mann oder eine ebenso veranlagte Frau neigt passiv zu älteren Frauen, aktiv zu .jungen Männern, oder passiv zu älteren Frauen, aktiv zu jungen Mädchen, oder passiv zu älteren, aktiv zu jüngeren Männern, oder passiv zu älteren Männern, aktiv zu Mädchen. Sind beide Triebrichtungen vorhanden, so sehen wir nicht selten, daß in späteren Jahren — oft ist dies schon nach dem dritten Lebens- jahrzehnt — die ursprünglich schwächere zurücktritt und schwindet, während die von Anfang stärkere Libido mehr in den Vordergrund tritt. Es hängt das oft mit dem allgemeinen Nachlassen der Sexuali- IV. Kapitel: Die Homosexualität 187 tät zusammen. Nehmen wir einmal an, um einen zahlenmäßigen Anhalt zu nahen, jemand wäre zu 75 Proz. homosexuell, zu 25 Proz. heterosexuell gewesen, und seine beiderseitige Libido und Potenz verringere sich um 20 bis 25 Proz., so kann die Folge davon sein, daß die heterosexuelle Komponente nahezu erlischt, während die homosexuelle in der absolut noch immer beträchtlichen Stärke von 50 Proz. erhalten bleibt. Viele haben nun naturgemäß aus äußeren Motiven zunächst die Heterosexualität betätigt, sind vielleicht auch, um sie besser zu pflegen, eine Ehe eingegangen, bis sie dann wahr- nehmen, daß die homosexuelle Neigung keineswegs erloschen ist. Geben sie dem lange verdrängten Triebe nach, so erwecken sie leicht den Anschein, als liege ein beabsichtigter Übergang von einem zum anderen Geschlecht, „tardive" oder erworbene Homosexualität vor, während es sich in Wirklichkeit nur um Erscheinungsformen der Bisexualität handelt. In seiner letzten Arbeit, in der Krafft-Ebing die Resultate jahrzehntelanger Erfahrung zusammenfaßt8), sagt er: „Niemals habe ich bei sog. erworbener, richtiger tardiver, konträrer Sexualempfindung Hinweise auf eine bisexuelle Veranlagung ver- mißt." Auch ich bin mit zunehmendem Umfang meines Beobach- tungsmaterials immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß das, was wir früher erworbene, gezüchtete, tardive Homosexualität nann- ten, aufgeteilt werden muß zwischen Bisexulität und Pseudohomo- sexualität. Dabei ist zu bemerken, daß auch die Bisexualität nicht willkürlich nach der einen oder anderen Seite dirigiert weiden kann — man hört gelegentlich den Einwand, wenn jemand mit beiden Geschlechtern verkehren könne, möge er sich auf das andere Geschlecht beschränken — , sondern daß hier in erster Linie endo- gen gegebene Schwankungen ausschlaggebend sind, bedingt durch den Eindruck begegnender Objekte und verschiedene andere Umstände, unter denen gewisse periodische Einflüsse besondere Be- achtung verdienen. Schon Krafft-Ebing hat Fälle von „erworbener, konträrer Sexualempfindung" beschrieben7), in denen „homosexuelle Ent- gleisungen stets mit Exazerbationen vorhandener Neurasthenie zu- sammengefallen waren". Wiederholt habe ich ähnliche Angaben von periodischen Neurasthenikern gehört und bestätigt gefunden, daß sie in gedrückter Stimmung mehr homosexuell, in gehobener hetero- sexuell fühlen. Der Einwand liegt nahe, daß die nervöse Depression vielleicht erst eine Folge der sexuellen Aberration sei, man kann aber meistens deutlich nachweisen, daß die Depression das zeitlich Frühere ist, und außerdem findet man auch das Umgekehrte: homo- sexuelle Neigungen in gehobener, heterosexuelle in gegenteiliger 6) Jahrb. f. sex. Zwischenstufen, Bd. 3, S. 8. T) Jahrb. f. sex. Zwischenstufen, Bd. 3, S. 10 ff. 188 IV. Kapitel: Die Homosexualität Stimmungslage. Bei vielen macht der Alkohol durch Herabsetzung der Hemmungen eine vielleicht nur ganz schwache -homosexuelle Komponente frei. Gehen wir nun von der Pseudohomosexualität und Bisexualität auf die echte Homosexualität über, so haben wir in jedem Fall eine Trias von Symptomen ins Auge zu fassen, erstens das Aus- bleiben der n o r m a 1 s e x u e 1 1 e n A f f i n i t ä t , der Zuneigung also zum anderen Geschlecht, die negative Seite der Erscheinung; zwei- tens die positive Seite, bestehend in einer allmählich immer deut- licher in das Bewußtsein dringenden und zur Betätigung drängen- den, unwillkürlichen, seelischen Fesselung an Personen des gleichen Geschlechts; und drittens ein Zustand, den ich als intersexuelle Konstitution bezeichnen möchte, fast stets verbunden mit einer gewissen Irritabilität des Zentralnervensystems („Hystero- neurasthenie"). Handelt es sich in einem konkreten Fall darum, festzustellen, ob bei einer Person, die unseres Kats oder Ur- teils bedarf. Homosexualität vorliegt, so empfiehlt es sich, die Er- kundung stets mit der Ermittlung des normalsexuellen Verhaltens zu beginnen; beim Manne also damit, ob Verkehr mit dem weiblichen Geschlechte stattgefunden hat, seit wann, in welchen Abständen, ob mit ausreichender Potenz; beim Weibe, ob eine seelische Zuneigung zum männlichen Geschlecht besteht; dem Patienten fällt es viel leichter, sieb über die negative Seite seines Zustandes auszusprechen, seine normalsexuelle Frigidität, als über die positive Seite, seine Inklination zum eigenen Geschlecht. Mir sind viele homosexuelle Frauen bekannt, die, bis sie eine Ehe eingingen und zum Verkehr mit dem Manne gelangten, überzeugt waren, daß die innige Zu- neigung, die sie zu einer Freundin hatten, nur ein bei ihnen über- mäßig stark entwickelter Freundschaftsenthusiasmus wäre. Erst aus dem Unbehagen bei der Umarmung des Mannes, als sie ver- spürten, daß diese so ganz das Gegenteil von dem in ihnen auslöste, was sie beim Kuß der Frau empfanden, merkten sie plötzlich oder allmählich, daß ihre sexuelle Triebrichtung sie vom Manne ab zum Weibe drängte. Auch der homosexuelle Mann gewinnt die volle Klarheit über sich oft erst im Verkehr mit dem Weibe. Hier tritt als ein häufiger und wichtiger, wennschon für die Diagnose der Homosexualität nicht ausschlaggebender Umstand, die körperliche Impotentia coeundi, hinzu. Manche Männer denken, wenn sie bis zu den Kohabitationsversuchen mit dem Weibe von einer ausge- sprochenen Inklination zu einer Person ihres Geschlechts noch nicht > rgriffen waren, zunächst, daß sie einfach impotent seien, und wer- den sich ihrer Homosexualität erst nach und nach bewußt, Vielfach allerdings stellen bereits vor den Koitusversuchen homosexuelle Er- lebnisse die Triebrichtung außer allen Zweifel. Wir werden uns auch hier über das Verhalten der Homosexuellen dein anderen Ge- IV. Kapitel : Öie Homosexualität 180 schlecht gegenüber am besten ein klares Bild machen können, wenn wir zuverlässige Personen, die gleichgeschlechtlich empfinden, selbst reden lassen. Ein 31 jähriger Landwirt schreibt: „Der Gedanke zu heiraten existiert für mich nicht, w,eil er mir schauererregend ist. Geschlechtsverkehr mit dem Weibe ist mir ganz unmöglich, ich fühle mich von Ekel erfüllt, wenn ich nur an die Möglichkeit denke. Ver- suche, den normalen Akt auszuüben, habe ich nie angestellt und werde es voraussichtlich, weil der Widerwille zu groß ist, niemals können. Weil mir junge Damen unheimlich waren, nahm ich schon keine Tanzstunde." Ein Franzose von 38 Jahren gibt an: „Ich habe nie mit einem Weibe zu tun gehabt und könnte es nicht um alles in der Welt. Hübsche Gesichtszüge bewundere ich so vorübergehend bei einem Weibe, wie man ein hübsches Bild betrachtet, sollte ich aber dasselbe Weib nackt vor mir sehen, o, mon dieu, ich würde die Flucht ergreifen." Diesen mehr oder weniger völlig impotenten Homosexuellen stehen solche gegenüber, denen es unter Unlust- gefühlen möglich ist, mit dem Weibe zu verkehren. Auch hier ein Beispiel: Ein Arbeiter, der Frau und Kinder hat, gibt folgende Schilderung: „Ich führe den Beischlaf aus, aber mit größtem Wider- willen, und fühle mich dabei zum Sterben unglücklich; am liebsten möchte ich unmittelbar danach den Akt mit einem Manne ausführen können." Mindestens ebensosehr wie homosexuelle Männer leiden homo- sexuelle Frauen unter dem heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Ich habe bei verheirateten Urninden wiederholt schwere hysterische Zu- stände beobachtet, namentlich Herzneurosen und hochgradige ner- vöse Dyspepsien, völlige Schlaflosigkeit und hochgradige Schwäche, die langen Sanatoriumskuren trotzten und erst wichen, wenn es zu einer Trennung der Eheleute, zum mindesten einer Trennung der Schlafräume kam. Eine Urninde gibt über ihre eheliche Gemein- schaft folgenden Bericht: „Mein Gatte ist ein Ehrenmann, ich schätze ihn um seiner vorzüglichen Charaktereigenschaften willen, aber lieben, nein, lieben kann ich ihn nicht. Er ist ein prächtiger Mann und hätte wahrlich ein besseres Los verdient, denn er liebt mich wirklich. Nun denn, ich ließ ihn wenigstens niemals merken, welche fürchterlichen Qualen mir seine Liebkosungen verursachten, wie namenlos elend ich mich fühlte, wenn ich ihn am Gipfel seiner Wünsche sah. Einmal schütze ich Migräne, ein andermal heftige Zahnschmerzen vor, um mich seinen glühenden Zärtlichkeiten ent- ziehen zu können." Von 500 Homosexuellen waren 417 = 84 Proz. unverheiratet, 83 == 16 Proz. verheiratet. Auf die Frage nach dem Grunde ihrer Verheiratung erhielt ich folgende Antworten: „In der Hoffnung, von der homosexuellen Leidenschaft loszukommen, in der Annahme, die Liebe zur Frau würde sich von selbst finden, andere sagten, sie 190 hätten sich „aus Unkenntnis" verehelicht, oder „auf Zureden", „auf Wunsch der Eltern", oder „um dem Gerede der Verwandten und Be- kannten ein Ende zu machen"; mehrere antworten, „um ein Heim zu haben", einige „wegen der Mitgift", viele schreiben: „auf den Kat des Arztes", ebenso viele „aus Geschäftsrücksichten". Aus deu 83 Ehen stammten 112 Kinder, über deren Beschaffenheit später noch einiges zu sagen sein wird. Homosexuelle Frauen heiraten aus „ähnlichen Beweggründen"; einige führen an, „um unabhängig zu sein"; eine schreibt, „um mein eigener Herr zu sein"; von mehreren weiß ich, daß sie Ehen eingingen, um in den Besitz eines Vermögens zu gelangen, das ihnen nur im Falle ihrer Verheiratung ausgezahlt werden sollte. Oft kommt es vor, daß homosexuelle Mäuner und Frauen Ver- lobungen eingehen, diese aber auf Grund psychischen Unbehagens bei näheren Berührungen zurückgehen lassen. Ein Homosexueller meiner Kasuistik hatte sich nicht weniger als viermal verlobt, um immer wieder unter allerlei Ausflüchten das Bündnis zu lösen. Das viertemal war er aber an eine sehr energische Braut geraten, die ihn fast gewaltsam zum Traualtar schleppte, trotzdem ich selbst ihr schließlich auf seinen Wunsch dringend abgeraten hatte. Vier Wochen nach der Hochzeit rief man mich. Er hatte sich im Keller erhängt. Auch homosexuelle Bräute fühlen sich durch die Liebkosungen ihres Bräutigams oft so angewidert, daß es zur Lösung des Ver- hältnisses kommt. Eine sehr schöne urnisch e Künstlerin erzählte mir, daß sie dreimal Werbungen von Männern angenommen hätte. Trotz größter Mühe, die Zärtlichkeiten zu ertragen, sei aber die Übelkeit, welche die männlichen Küsse und Umarmungen in ihr aus- lösten, so „unbeschreiblich" gewesen, daß sie in keinem Falle den Gang zum Standesamt riskieren konnte. Die Stärke des psychischen Horror feminae beim homosexuellen Manne ist ebenso wie der Grad des Horror viri bei der homosexuellen Frau nicht allein für die Ausführbarkeit des Aktes ausschlaggebend. 53 Proz. Urninge haben überhaupt niemals Versuche gemacht, mit dem Weibe Geschlechtsverkehr auszuüben, darunter befinden sich sogar, wenn auch vereinzelt, Verheiratete. Die Verhältniszahl homo- sexueller Frauen, die allen Versuchungen, mit dem Manne zu ver- kehren, dauernd Widerstand entgegensetzten, dürfte noch höher sein. Virgines intactae, die ich nach dem dreißigsten Jahre zu untersuchen Gelegenheit hatte, waren meist selbst homosexuell oder hatten homo- sexuelle Männer. Ist der Geschlechtsakt möglich, so tritt beim Urning sehr häufig als ein auf den ersten Blick ziemlich paradoxes Symptom, Eja- culatio praecox, ein, in der wir aber nur eine Abart der Inipo- teuz zu erblicken haben; paradox nenne ich diesen plötzlichen Erguß IV. Kapitel: Die Homosexualität mit Erschlaffimg deshalb, weil er von weniger Erfahrenen als Zeichen gesteigerter Libido aufgefaßt werden könnte. Selbst wenn dem homosexuellen Manne der Koitus mit dem Weibe oft genug erst mit Zuhilfenahme adäquater Phantasievorstellungen gelingt, ist sein Verlauf selten qualitativ so geartet und für die Frau so befriedigend, wie die Kohabitation des heterosexuellen Mannes. Sie fühlt das auch meist instinktiv. Übrigens hört man oft von Homosexuellen, daß es ihnen eher möglich sei, ein Weib zu koitieren, als es zu küssen, auch daß ihnen die manuelle Berührung der Genitalien eine größere Überwindung koste, als der eigentliche Akt. Ganz besonders wichtig für die Beurteilung, ob ein Geschlechts- akt seinen Ursprung in dem eigentlichen Geschlechtstrieb hatte, ist bei beiden Geschlechtern das Verhalten nach dem Verkehr. Ent- sprach derselbe der wirklichen Geschmacksrichtung nicht, so stellt sich danach Ekel, Abneigung, ja Haß ein. Ein Kaufmann aus Bayern berichtet: „Die Folgen des wiederholten Verkehrs mit dem Weibe waren schwere Nervenstörungen, starkes Unwohlsein mit Er- brechen und tagelange Migräne. Der Geruch, welchen das Weib ausströmt, verursacht mir das größte Unbehagen, ich bin jetzt un- fähig, ein Weib zu befriedigen, wogegen die Umarmung eines Sol- daten mir ein unaussprechliches Wonnegefühl verschafft und mich kräftigt und stärkt." Bis zu welcher Höhe sich solche Aversion steigern kann, zeigt der Fall des homosexuellen Herzogs von Praslin- Choiseul, der 1864 in Paris seine junge Gattin, die Tochter des Generals Sebastiani post coitum erdrosselte. Die dem Trieb nicbt entsprechende Handlung ist sehr häufig auch dadurch charakteri- siert, daß sie die sexuelle Begierde nicht stillt, sondern im Gegenteil erregt. Normalsexuelle männliche Prostituierte können nach dem Zusammensein mit ihren homosexuellen Geldgebern oft nicht eilends genug zu ihren Mädchen kommen. In ganz analoger Weise werden innerhalb der Ehe homosexuelle Männer und Frauen nicht selten durch den Verkehr mit ihren heterosexuellen Ehehälften zu gleich- geschlechtlichen Akten angestachelt. Wie anders, wenn der Akt aus dem Geschlechtstrieb entsprang. Es besteht dann ein Gefühl der Ruhe, Erleichterung und Freudigkeit. Alles dies fehlt, wenn das Objekt der geschlechtliehen Handlung nicht das Objekt des geschlechtlichen Triebes war. Namentlich homosexuelle Frauen werden mit der Zeit durch die ihnen wider ihren Willen auferlegte Erfüllung ehelicher Pflichten sehr nervös und leiden, abgesehen von Angstzuständen und Schlaf- losigkeit, an schweren Depressionen. Auch abgesehen von dem eigentlichen Geschlechtsverkehr bietet das Verhalten der Homosexuellen gegenüber dem anderen Ge- schlecht mancherlei Bemerkenswertes. Besteht bei einigen nur ein Mangel jeglicher Attraktion, so macht sich bei anderen eine aus- 192 gesprochene Misogynie und Androphobie bemerkbar. Homosexuelle Männer geben oft an, sie bemerkten auf der Straße, in Lokalen und anderen Sammelplätzen die Frauen überhaupt nicht. Ganz analog berichten homosexuelle Frauen; auf der Bühne lenkte sich ihre Auf- merksamkeit immer nur auf die Frauen, die Männer erschienen ihnen „als Staffage". Ein homosexueller Russe — noch dazu ein Maler — sagte mir einmal: „Ich kann die Gesichter der Frauen so- wenig wie die der Chinesen voneinander unterscheiden/ schön scheinen sie ja zu sein, aber sie sind alle so ähnlich, so ausdruckslos." In stricktem Gegensatz zu dem auf bewußter und unbewußter Sexualablehnung beruhenden Negativismus gegenüber dem anderen Geschlecht, steht das kameradschaftliche Gefühl der Zugehörig- keit und Zusammengehörigkeit, sobald das sexuelle Moment in Forl- fall kommt. Das tritt zunächst ganz deutlich und völlig instinktiv in der noch naiven Kindheit hervor, in der sich das urnische Mäd- chen unter gleichaltrigen Knaben, der urnische Junge unter Mäd- chen wohler und behaglicher fühlt, als unter den Kindern seines Geschlechts, unter denen ihn ein eigentümliches Fremdheits- gefühl beherrscht, das in seiner Erinnerung oft noch in späten Jahren fortlebt. Nicht für alle, aber für die meisten urnischen Kinder ist diese Erscheinung, die mit auffallender Übereinstimmung angegeben wird, typisch. Wie schon als Kind, so gibt sich auch als Erwachsene das homosexuelle Weib dem Manne viel unbefangener als das heterosexuelle; sie fühlt sich ihm gleichberechtigter und gleichgearteter: in seiner Gesellschaft, die sie aus geistigen Inter- essen sucht, bewegt sie sich viel freier und ungenierter; nur wenn sie merkt, daß der Mann in ihr das Geschlechtsobjekt wittert, hat sie eine peinliche Empfindung, wird kühl und reserviert. Auch homo- sexuelle Männer lieben vielfach das Zusammensein und die Unter- haltung mit Frauen, mit denen sie viele gemeinsame Beziehungen verbinden. Namentlich ältere Frauen sind homosexuellen Männern sehr sympathisch. Zu einem Weibe allerdings fühlt sich der Homosexuelle in einer ganz besonderen Liebe hingezogen; zu seiner Mutter, und auch hier fehlt nicht die Analogie, die uns oft ein besonders inniges Ver- hältnis zwischen der urnischen Tochter und ihrem Vater zeigt. Das Attachement des Homosexuellen an seine Mutter ist so typisch, daß die Freudsche Schule in diesem „Mutter komplex" eine Ursache der Homosexualität hat erblicken wollen. Ich halte diese Folgerung für einen Trugschluß. Der Homosexuelle entwickelt sich nicht zum Urning, weil er sich schon als Kind zu der Mutter so stark hinge- zogen fühlt, sondern früher ahnend als wissend lehnt er sich in dem unbestimmten Gefühl seiner Schwäche und Sonderart an die Mutter an, die ihrerseits, ebenfalls instinktiv, ihn oft zu ihrem Lieblings- kindc macht. I tV. Kapitel: Die Homosexualität Das negative Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht ist ein wichtiges, aber für sich allein kein beweisendes Zeichen der Homosexualität. Wer Körbers Studie über den „Antif eminismus", und Iwan Blochs Kapitel über den „Abfall vom Weibe" (18. Kapitel im Sexualleben) gelesen hat, weiß, daß die heftigsten Weiberhasser nicht unter den Homosexuellen zu suchen sind. Das Gefühl, das die große Mehrzahl homosexueller Männer und Frauen gegen das andere Geschlecht beherrscht, ist viel weniger Haß als Gleichgültigkeit. Die heterosexuellen Ausfallerscheinungen sind für die Diagnose der Homosexualität daher nur dann beweisend, wenn sie mit einem posi- tiven Verhalten gegenüber dem eigenen Geschlecht vergesellschaftet sind. Eine sorgsame Exploration zeigt, daß sich in allen Fällen echter Homosexualität die Betreffenden lange Zeit, bevor es zu einem homosexuellen Akt gekommen ist, seelisch heftig zu bestimm- ten Personen desselben Geschlechts hingezogen gefühlt haben. Diese unfreiwillige, lustbetonte Fixierung des Sensoriums und der Psyche ist viel früher vorhanden, als ihr sexueller Charakter als solcher ins Bewußtsein tritt. Man wird hier einwenden, daß gleichgeschlechtliche Schwär- mereien, auch bei Kindern, die später scharf heterosexuell werden, vor, innerhalb, oft sogar noch einige Jahre nach der Pubertät, nichts Ungewöhnliches, daß sie namentlich in Schulen, Pensionaten und Internaten ungemein häufig sind, so häufig, daß man ihr Vorkommen in der Indifferenzperiode des Geschlechtstriebes geradezu als einen physiologischen Zustand bezeichnet hat. Gleichwohl unterscheiden sich die urnischen von den nicht urnischen Kindern nicht nur in ihren Charaktereigenschaften, sondern auch in ihren erotisch gefärbten Freundschaften wesentlich. Einerseits sind sie in der unklaren Empfindung, daß den von ihnen vorgenommenen Zärtlichkeiten eine tiefere Bedeutung zukommt, befangener, zurückhaltender, wähle- rischer; andererseits inniger, beständiger als die heterosexuellen Kameraden. Häufig sind gerade die homosexuellen Kinder ein mit Vorliebe gesuchter Zielpunkt der sexuellen Anwandlungen ihrer Mit- schüler und Mitschülerinnen, weil diese instinktiv das Feminine im urnischen Knaben, den virilen Einschlag im urnischen Mädchen herausfühlen. Vor allem aber trägt die homosexuelle Betätigung der heterosexuellen Schüler einen mehr episodischen Charakter ; sie tritt bald nach der Reife gegenüber der immer stärker erwachen- den Liebe zum anderen Geschlecht ganz zurück, während sie um dieselbe Zeit sich bei den von Haus aus homosexuellen Kindern erst recht vertieft und sich dann ebenso sehnsuchtsvoll auf das eigene Geschlecht richtet, wie die der heterosexuellen Jünglinge und Jung- frauen auf das andere. Ganz ähnlich wie wir bei den Heterosexuellen zwischen 15 und 20 Jahren nicht selten homosexuelle Schwärmereien finden, die ganz Hirschfeld, Sexualpathologie. II. J3 ^ IV. Kapitel: Die Homosexualität den Eindruck machen könnten, als handle es sich um Affekte echter Homosexueller, kommen bei Homosexuellen in diesem pubischeu Alter heterosexuelle Episoden vor, die nicht allein auf der über- mächtigen Suggestion zu beruhen scheinen, die das Beispiel der Er- wachsenen und die Liebesliteratur, welche fast ausschließlich die Liebe zwischen Mann und Weib preisen, ausüben. Es ist eben die Zeit unabgeschlossener Entwicklung, in der, ebenso wie die scharfe körperliche Differenzierung noch nicht durchgeführt ist, auch der Geschlechtstrieb noch tastend, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite schwankt, suchend, pendelnd, bis er sich entweder aus dem Unklaren, Unbestimmten, Unbewußten heraus allmählich auf das adäquate Geschlechtsziel einstellt, oder sich durch eine große Liebesleidenschaft plötzlich fixiert. Es ist ungefähr das 18. Lebensjahr, bei manchen etwas eher, bei anderen etwas später, in dem bei homosexuellen Männern und Frauen genau so wie bei Heterosexuellen jener ideale Erotismus ausbricht, der sich in überschwenglichen Verehrungen, Fensterpromenaden, Dienstleistungen aller Art, Liebesbriefen und Liebesgedichten er- schöpft, mit dem einzigen Unterschiede, daß der Gegenstand dieser „Verhimmelung" nicht dem andern, sondern dem gleichen Geschlecht angehört. 1 ' Deutlich tritt in den Wiedergaben homosexueller Empfindungen frühzeitig eines der untrüglichsten Zeichen echter Liebe: die Eifer- sucht, zutage. Die männlichen und weiblichen Homosexuellen sind diesem unlustbetonten Affekte genau so wie die Heterosexuellen unterworfen. In vielen Fällen erstrecken sich die eifersüchtigen Regungen nur auf Mitbewerber, die demselben Geschlecht wie die Liebenden angehören, also auf andere Homosexuelle, in sehr vielen Fällen sind homosexuelle Frauen aber auf heterosexuelle Männer, homosexuelle Männer auf Frauen eifersüchtig. Es sind schon alle möglichen Affekthandlungen infolge unglücklicher Liebe bei Homo- sexuellen häufig vorgekommen und beobachtet worden: Morde, Selbstmorde, Doppelselbstmorde und Morde mit Selbstmorden. Diese Gewalttaten sprechen sehr viel für die Echtheit und Stärke des seelischen Affekts, denn wenn es sich nur um die Ausführung eines Geschlechtsaktes, um eine „Kaliberfrage" handeln würde, wie ein- mal ein Autor in einer durch Sachkenntnis ungetrübten Erörterung des Problems meinte, würden schwerlich von Homosexuellen aus un- glücklicher Liebe so furchtbare, folgenschwere Delikte begangen werden. Nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Gefühls- töne sind unabhängig von eigentlichen Geschlechtsakten sowohl an männlichen, als weiblichen Homosexuellen in großer Fülle nach- weisbar. Wie die unglückliche Liebe die Lebensfreudigkeit und Leistungsfähigkeit erheblich herabsetzt, so steigern sie lustbetonte IV. Kapitel: Die Homosexualität 1 \ 195 Eindrücke und Erlebnisse in hohem Maße. Ich habe oft beobachten können, wie sich das Benehmen und Aussehen vergrämter und ver- bitterter Homosexueller völlig veränderte, wenn sie in Gesellschaft ihnen sexuell sympathischer Personen weilten. Schweigsame wurden gesprächig, langsame beweglich, die düsteren Mienen hellten sich auf, das Auge strahlte, das ganze Gesicht verklärte sich. Eine homosexuelle Dame, die viel an Präkordialangst litt — ich kenne sie seit mehr als 10 Jahren — berichtet, daß es sich wie ein Alp von ihrer Brust löst, wenn sie die Stimme ihrer nicht mehr treuen, gleichwohl aber leidenschaftlich geliebten Freundin am Telephon hört. Schon Westphal8) hob bei der ersten von ihm 1864 in der Charite beobachteten Konträrsexuellen hervor, wie sich ihr Ge- sichtsausdruck veränderte, wenn sie von den Vorzügen des von ihr geliebten Mädchens sprach. Ein Homosexueller bemerkt: „Beim Anblick meines Falles gerät mein Blut in Wallung, das Herz schlägt rascher, und die innere Be- wegung würgt so an der Kehle, daß ich kaum sprechen kann, zuerst kann ich mich auf nichts besinnen von dem, was ich vorher sagen wollte, ich bin wie gelähmt und erst ganz allmählich löst sich dieser Bann und geht über in eine intensive Lebensfreude, die auch meine intellektuellen Fähigkeiten verstärkt, und mich über das ge- wöhnliehe Maß meines Lebens hinaushebt." Und eine Urninde9) schreibt über sich: „Bei der flüchtigsten Berührung von Frauen vibrierte mein ganzes Nervensystem." Solche Äußerungen einer im Grunde — und das ist das Beachtenswerte — spontanen vom Wollen unabhängigen Eeizbarkeit, könnte ich unendlich viele anführen. Bei sensitiven Homosexuellen genügen oft minime Reize für maxime Reaktionen. Diese Wesensänderung, welche Personen des- selben Geschlechts im Homosexuellen bewirken, geht nicht nur von der lebenden Person aus, sondern überträgt sich bis zu einem ge- wissen Grade auch auf künstliche, und zwar nicht etwa nur künst- lerische Nachbildungen und Darstellungen des menschlichen Kör- pers, oft so, daß die Betreffenden lange Zeit für ein rein ästhetisches Interesse halten, was in Wirklichkeit bereits ein erotisches ist. Wenn Goethe einmal zur Erklärung der Neigungen Winkelmanns ausführt, „daß die ästhetische Bewunderung bei ihm zur sinnlichen Leidenschaft geworden ist", so ist auch der große Weimaraner hier dem so häufigen Trugschlüsse unterlegen, in dem was Ursache ist, die Wirkung zu sehen. Es wird hier eben, wie so oft im Liebesleben, Subjektives unbewußt objektiviert. Eher darf man annehmen, daß s) „Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten". Herausgegeben von G u d - den, Leyden, Meyer und Westphal, Bd. 2, S. 80. Berlin 1870. „Die kon- träre Sexualempfindung, Symptom eines neuropathischen (psychopathischen) Zu- standes" von Prof. C. W e s t p h a 1. ») Jahrb. f. sex. Zwischenstufen, Bd. 3, S. 34. 13* i;h; IV. Kapitel: Die Homosexualität Winkelmanns urnisches Empfinden mitsprach, wenn er die antiken Jünglingsstatuen eines Antonius und Apollo soviel höher stellte, als die einer Arteniis und Aphrodite. Es gibt unter den homosexuellen Männern und Frauen sehr viele, die bildliche Darstellungen des von ihnen geliebten Typus bei sich führen, vor allem natürlich Bilder von Personen, deren Originale ihnen persönlich bekannt sind oder nahe stehen. Brieftaschen homosexueller Männer und Frauen, die keine Abbilder der ihnen anziehend erscheinenden Personen enthalten, gehören zu den Selten- heiten. Vor einiger Zeit hatte ich einen aus § 175 augeklagten Menschen zu begutachten, dessen strafbarer Verkehr von einem er- presserischen Wirt durch ein in die Tür gebohrtes Loch beobachtet war. Während der Verhandlung fielen mir seine Manschettenknöpfe auf. Als ich sie näher betrachtete, waren es auf kleinen Porzellan täf eichen angefertigte Photographien seines mitaugeklagten Freundes. Es liegt nahe, daß künstlerisch angelegte Homosexuelle sich nicht mit Photographien und Illustrationen begnügen, sondern selbstschöpferisch ihr Ideal zu malen oder zu formen geneigt sind. Bei vielen Kindern kann man lange vor dem Erwachen des Ge- schlechtstriebes beobachten, wie sie in meist unbeholfener Weise die ihnen sympathischen Figuren zu zeichnen versuchen. Die meisten geben dieses Bemühen bald wieder auf, wenn sie der Schwierigkeiten der Darstellung inne geworden sind; Befähigtere setzen sie fort und entwickeln es weiter, ohne daß ihnen die erotische Unterströmung ihrer Liebhaberei ins Oberbewußtsein dringt. Ganz ähnlich wie zu bildlichen Darstellungen verhalten sich die Homosexuellen auch zu dichterischen Beschreibungen der sie ero- tisch fesselnden Typen. Namentlich lyrische Gedichte homosexuellen Charakters werden mit großer Begeisterung empfunden, vorgetragen und, wenn möglich, selbst gedichtet. Es liegt durchaus in der menschlichen Natur, etwas, das den Ausgangspunkt und die Quelle starker Glücksempfindungen bildet, rühmend zu schildern. Damit soll nun allerdings nicht gesagt sein, daß aus den Typen, die ein Künstler mit Vorliebe schildert, ohne weiteres ein Schluß auf sein subjektives Empfinden gezogen werden kann. Gerade der Künstler, der, gleichviel ob homosexuell oder heterosexuell, meist das rezeptive und produktive, aktive und passive Element stärker vermischt in sich beherbergt, als der einseitig virile oder feminine Typ, besitzt die Gabe des Einfühlens in alle möglichen Gefühlsnuancen oft in besonders hohem Maße. Besonders augenfällig macht sich das unbewußte Wesen der bomosexuellen Psyche im Traumleben geltend. Bei der Diagnostik der echten Homosexualität legt Näcke mit vollem Rechte besonders Wert auf den Nachweis, daß das Traumleben des Homosexuellen von seiner Triebrichtung beherrscht wird. Wie eine sehr große Anzab] IV. Kapitel: Die Homosexualität 197 von Einzelermittelungen zeigt, ist dies tatsächlich auch fast durch- gängig der Fall. Dabei erscheint es beachtenswert, daß die au- genehmen Träume der Urninge auch schon vor Eintritt der Reife von geschlechtlichen Vorstellungen erfüllt sind, sowie daß Träume qualvoller Art durchaus nicht selten durch normale Kohabitations- versuche hervorgerufene Beängstigungen zum Inhalt haben. Ein Urning gibt an: „Ich träume oft, ich bin verlobt oder verheiratet. Dabei habe ich das Gefühl furchtbarer Beklommenheit und einer undefinierbaren Angst." Auch Kraf ft-Ebing 10) schreibt bereits: „Wie tief die angeborene konträre Sexualempfindung wurzelt, geht auch aus der Tatsache hervor, daß der wollüstige Traum des männlichen Urnings männ- liche, der des Weib liebenden Weibes weibliche Individuen, bzw. Situationen mit solchen zum Inhalt hat." Von 100 Homosexuellen, denen ich die Frage vorlegte: „Bezogen sich die Liebesträume auf Personen desselben oder andern Geschlechts 1" antworteten 87 Proz.: „Ausschließlich auf Personen männlichen Geschlechts." Von dem Rest hatten die meisten keine erotischen Träume oder konnten sich nicht an solche erinnern. Wie die Träume homosexueller Männer den Verkehr mit Männern, so haben die mit sexuellen Erregungen verknüpften Träume homosexueller Frauen den Verkehr mit Frauen zum Inhalt. Einige träumen, sie seien Männer, andere wiederum, sie schmiegten sich als Frauen an von ihnen geliebte Weiber. Einer der häufigsten Träume homosexueller Frauen ist, daß sie von einem geliebten Weibe ein Kind empfangen haben, eine Vor- stellung, die auch sonst in ihren Phantasien und Tagträumen eine Rolle spielt. Sehr Beachtenswertes über das Träumleben Homosexueller findet sich in der kleinen Schrift des Petersburger Arztes Tar- n o wsk y , die in Sachen der Homosexualität einige ganz ausgezeich- nete Beobachtungen neben vielem Phantastischen enthält11): „Stellt sich die Pubertät ein, so kommen in der Nacht Erregungen mit Samen- entleerung vor. Die Pollutionen sind von Träumen begleitet, zuerst von undeutlichen, leicht vergeßbaren; doch sie werden mit jedem Male deutlicher, bestimmter und frappieren häufig den Jüngling selbst durch ihre Sonderbarkeit. Im Traum erscheinen ihm nicht wieibliche Liebkosungen, nicht Begegnungen mit Frauen, sondern er reproduziert den tHändedruck, den Kuß erwachsener Männer, vor- züglich körperlich gut entwickelter. Die äußerste mit Samenerguß endende sexuelle Erregung wird im Traum nicht durch eine Frauen- 10) Psych, sex., 7. A,, S. 238. ") Tarnowsky: Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechts, S. 11 f. Berlin 1846. 198 gestalt herbeigeführt, sondern durch Umarmungen, Liebkosungen und Küsse von Männern. Die erste Äußerung des Schamgefühls findet nicht hinsichtlich Mädchen oder Frauen statt, sondern er- wachsenen Männern gegenüber. Der Knabe z. B. schämt sich mehr, sich vor einem fremden Manne zu entkleiden, als vor einem Weibe." Tarnowsky erwähnt hier auch mit Eecht die Besonderheit des homosexuellen Schamgefühls. In der Tat ist dieses ein weiteres wichtiges diagnostisches Merkmal. Gewöhnlich erstreckt sich die Scham eines Menschen auf das Geschlecht, zu dem er sich hingezogen fühlt. Im allgemeinen verhält sich der homosexuelle Mann in dieser Hinsicht ähnlich wie ein Weib, die homosexuelle Frau mehr wie ein Mann. Die Schamhaftigkeit mancher Urninge Männern gegenüber ist ungemein groß. Es gibt Homosexuelle, denen es blutsauer wird, sich zwecks Untersuchung vor dem Arzte zu entkleiden, die bei der militärischen Genitalvisitation wahre Höllenqualen ausstehen, viele, die in Anwesenheit anderer Männer außerstande sind, zu urinieren. Die homosexuelle Frau ist, von verdrängter Libido unbehindert, dem Manne gegenüber viel ungenierter, unbefangener und offener, als das heterosexuelle Weib. Ungeschlechtlich und kameradschaftlich fühlt sie sich oft zu ihm hingezogen; um so peinlicher berührt zieht sie sich aber in sich zurück, wenn sie sich von seiner Seite als Ge- schlechtsobjekt angesehen wähnt. Beispielsweise kostet es der homo- sexuellen Frau im Gegensatz zu der heterosexuellen meist keine Überwindung sich vor dem Arzte zu entkleiden. Besonders frei fühlt sie sich in Gesellschaft des homosexuellen Mannes, in der sie sich nicht nur vor sexueller Begehrlichkeit sicher weiß, sondern voraus- setzt, daß er ihrer Persönlichkeit Verständnis und wohlwollende Unparteilichkeit entgegenbringt . Viel verschämter wie dem Manne, verhält sich die homosexuelle Frau anderen homosexuellen Frauen gegenüber, namentlich geniert sich die femininere oft sehr vor den virileren Homosexuellen. Manche Urninge geben an, daß es ihnen schon ein eigentüm- liches Wohlbehagen bereitet, wenn sie Worte wie Jüngling, Bursche, Mann, Held oder gewisse männliche Vornamen lesen oder hören; Urninden berichten in ähnlicher Weise, daß ihnen Ausdrücke wie Maid, Mädchen, Weib, Freundin und ebenso Frauennamen besonders wohllautend erscheinen (Wortzauber). Beweist jeder gleichgeschlechtliche Akt auch nicht mit Sicher- heit konträre Sexualempfindung, so unterstützt er doch die Diagnose ungemein und stellt sie völlig sicher, wenn zugleich die psychische Grundlage nachgewiesen werden kann. Es liegt in der Natur jedes Triebes und des Geschlechtstriebes im besonderen, daß es den von einer Zuneigung Erfaßten treibt, sich der Lustquelle zu nähern. Um seinen Sinnesorganen eine wohltuende Empfindung zu verschaffen, in erster Linie seinem Auge und Ohr, sucht er so oft wie möglich die IV. Kapitel: Die Homosexualität 199 Gesellschaft der Objekte, von denen dieser Reiz ausströmt. Das /.weite Stadium der Betätigung entspringt dem Bedürfnis, den ge- liebten Gegenstand zu fassen und zu fühlen. Bei dieser Kontakt- her Stellung kommen vor allem die Teile des Körpers in Betracht, welche mit besonders feinen Tastkörpereben ausgestattet sind: die Hand, der Mund und die Geschlechtsorgane. Wie im normalsexuellen Verkehr, tragen auch im homosexuellen die wechselseitigen Berüh- rungen und Betastungen dieser Teile den Charakter eines Treppen- ret'lexes infolge des durch den lustbetonten Reiz sich immer höher steigernden S p a nnungs- und Entspann ungs- d rang s. Es ist eine alte Tradition, die heute noch nicht nur bei Laien, sondern auch unter Ärzten und Juristen eine große Rolle spielt, in dem Verkehr homosexueller Männer und Frauen einen aktiven und p a s s i v e n Partner sowohl in bezug auf die Anbahnung als die Ausführung anzunehmen. Es gab sogar und gibt auch gegenwärtig noch Völker, die in der Beurteilung homosexueller Akte einen wesentlichen Unterschied zwischen aktiven und passiven Betätigungsformen statuieren, nur die passiven sind ihnen Gegenstand der Verachtung und des Spottes, während die aktiven als etwas Gleichgültigeres hingenommen wer- den. Diese Überlieferung aus der Antike hat sich namentlich im ganzen Orient, aber auch in vielen Gegenden Südeuropas und Süd- amerikas bis auf den heutigen Tag erhalten. Es scheint hier der Gedanke mitzuwirken, daß diejenigen, die sich zu passiven Akten hergeben, fast immer Eff emittierte und wirkliche Homosexuelle sind, während die aktiven Handlungen nicht selten auch von Bisexuellen oder von Heterosexuellen als Surrogatakte vorgenommen werden. Gegen die alte Einteilung der Homosexuellen in aktive und passive läßt sich mancherlei geltend machen. Wir wissen heute, daß der Akt der analen Immission und Suszeption, von der diese Ein- teilung ihren Ausgang genommen hat, keineswegs die gewöhnliche homosexuelle Betätigungsform ist; im Gegenteil, diese Verkehrsform wird an Häufigkeit von anderen Betätigungsarten weit übertroffen. 'Wie will man aber beispielsweise bei der verbreitetsten Verkehrs- weise, der mutuellen Masturbation, die Aktiven und Passiven unter- scheiden? Gewöhnlich wird derjenige, der den anderen berührt, als der Aktive angesehen. Denken wir uns aber die Hohlhand als Sub- stitut der Vagina, eine Vorstellung, die ich gelegentlich von Staats- anwälten in ihren Plädoyers habe aussprechen hören, so erscheint in der Tat derjenige, der sich der Hand des anderen zur Erzielung seines Orgasmus bedient, als der Aktivere; nicht anders ist es im oralen Verkehr. Hier wird meist derjenige, qui membrum alterius in os suum suseipit, als passiver Teil erachtet, in Wirklichkeit ist er aber vielfach der Aktivere gegenüber demjenigen, der, oft voll- 200 IV. Kapitel: Die Homosexualität i kommen passiv daliegend, den Akt an sich vornehmen läßt. Es ist deshalb auch sprachlich vollkommen richtig, wenn in Gerichts- verhandlungen dem Angeklagten zur Last gelegt wird, er habe als Täter membrum in os „genommen", nicht etwa empfangen. Selbst bei dem analen Verkehr kann der Immitierende passiv sein, bei- spielsweise wenn, wie ich ebenfalls vor Gericht wiederholt habe nachweisen hören, der eine Angeklagte sich nackt auf den nackten Schoß des anderen setzte. Streng genommen ist überhaupt jeder sexuelle Verkehr ein mutueller, kein ausschließlich aktiver und passiver; die Partner verkehren eben „miteinander", wenngleich zugegeben werden kann, daß vielfach bei dem einen die Aktivität, bei dem anderen die Passi- vität vorherrscht; meist findet sich aber bei beiden beides, und diese Einteilung ist deshalb nur in einem verhältnismäßig geringen Bruch- teil der Fälle durchführbar. In höherem Maße gilt dies noch für die seelische Aktivität und Passivität. Ebenso wie sich in jedes Men- schen Wesenheit untrennbar der virile und feminine Anteil mischt, sind auch in seinem Tun stets die aktive und passive Komponente verbunden, wennschon verschieden stark. Urninge, deren Neigung es ist, im Sexualverkehr sehr hingebend zu seih, sind oft in der Anknüpfung von Liebesbeziehungen nichts weniger als passiv, im Gegenteil, wenn auch meist mehr lockend, recht aggressiv. Hinsichtlich der eigentlichen Sexualakte besteht zwischen den männlichen und weiblichen Homosexuellen eine vollkommene Ana- logie. Bei beiden können vier Hauptformen unterschieden werden: die manuelle, orale, femorale und anale Betätigung; letzterer ent- spricht beim Weibe die membrale. Die manuelle Verkehrsform wird vielfach auch als mutuelle oder wechselseitige Onanie bezeichnet. Dieser Ausdruck ist aber irreführend, da der Begriff der Onanie als Selbstbefriedigung mit dem der Wechselseitigkeit im Widerspruch steht. Es fehlt hier ein der fellatio, cunnilinctio oder pedicatio entsprechendes Wort, für das ich die Bildung d i g i t a t i o vorgeschlagen habe. Das Wesentliche, dieses Aktes besteht in der Vereinigung von Hand und Genitalien, in Betastungen, Berührungen und schließlich Friktionen des männlichen oder weiblichen Geschlechtsteils. Wie beim Manne das Membrum, so ist bei der Frau Klitoris und Vulva, seltener die Vaginalschleimhaut Zielpunkt der Hand. Nach den von mir in der forensischen und konsultativen Praxis gesammelten Erfahrungen dürfte die Digitatio in etwa 40Proz. der Fälle die von homosexuel- len Männern und Frauen ausschließlich geübte Verkehrsform sein. Ebenfalls in etwa 40 Proz. der Fälle findet im männlichen und weiblichen Homosexualverkehr die ja auch im heterosexuellen weit- verbreitete Vereinigung der feinen Tastkörperchen der Mucosa labialis und lingualis mit denen der Genitalorgane die orale Ver- IV. Kapitel: Die Homosexualität 201 kehrsforcn statt. Auch hier ist der Verkehr entweder ümtuell, oder aber die Verkehrsart, und zwar scheint mir dies häufiger zu sein, ist eine einseitige, dergestalt, daß der eine Teil nur lambit, der andere nur lambitur. Dabei konnte ich mich in vielen Fällen nicht des Eindrucks erwehren, daß der Lambitus den Oharakter einer der freien Entschließung entzogenen Reflexbewe- gung trug. Im Verhältnis zum mutuellen und oralen Verkehr ist der f e m o - rale bei homosexuellen Männern und Frauen wesentlich seltener, was um so bemerkenswerter ist, als diese Form, in welcher der aktive Teil nach Art des Mannes incubus, der passive nach Art der Frau succubus ist, noch am ehesten als eine Imitatio coitus normalis an- gesehen werden könnte. Beim Manne findet dabei eine Appressio miembri ad partem aliquam corporis alterius statt. Oft dringt dabei der Geschlechtsteil des einen Partners in die von den Schenkeln unterhalb des Skrotums gebildete Vertiefung (inter femora), in die er dann ejakuliert. Vielfach wird auch durch den Druck des mem- brum auf die Hodensackraphe eine Pseudovagina hergestellt, oder es werden sogar aus pflanzlichem oder tierischem Gewebe Scheiden- imitationen verfertigt und umgebunden. In einem solchen Fall, der zu einer Verhandlung in foro führte, sprachen die "Richter frei, weil, wie es in der Begründung hieß, das Reichsgericht nur die immissio in corpus alterius bestraft wissen will, ein umgeschnallter Ge- schlechtsteil aber nicht als ein Teil des Körpers erachtet werden könne. Bei der Frau findet in analoger Weise eine Appressio vulvae ad vulvam aut alteram partem corporis feminae, oder auch der Versuch einer immissio clitoridis in vaginam statt. Die An- gabe, daß im homosexuellen Frauenverkehr Weiber mit großer Klitoris bevorzugt werden, die dann gleichsam die Stelle des Penis vertritt, findet in den Tatsachen keine Bestätigung. Der femorale Verkehr wurde unter 100 von mir beobachteten Fällen männlicher und weiblicher Homosexualität in ca. 12 zur Herbei- führung des Orgasmus ausschließlich geübt oder sehr stark be- vorzugt. Verhältnismäßig am seltensten, nämlich etwa nur in den noch restierenden 8 Proz. der Fälle, findet bei männlichen Homosexuellen die Einführung des Gliedes in anum, die sog. Pe.dikation, bei homosexuellen Frauen die analoge Einführung eines künstlichen, meist umgeschnallten Phallus in die Vagina statt. Das Gemeinsame beider Akte ist die Bevorzugung eines dem männlichen Mernbrum und der weiblichen Vagina in ihrer Beschaffenheit möglichst nahe- kommenden Organs, wobei es psychologisch von nur untergeordneter Bedeutung ist, daß dieses im Falle des Mannes ein dem Körper selbst zugehöriges schlauchförmiges Gebilde, nämlich das Rekturn, ist. 202 In Deutschland habe ich mehrfach hei homosexuellen Flauen einen aus sehr einfachem und hilligem Material hergestellten Phallus angetroffen. Er besteht aus einem etwa fingerdicken Holzstab a.ls Kern, der in ziemlich viel Watte eingehüllt ist, Darum wird eine Leinen-, Mull- oder Kambrikbinde kunstgerecht gewickelt und das iranze mit einem Kondom überzogen. Der aktive Teil pflegt dieses Instrument beim Gebrauch an einer Menstrualbinde zu befestigen. Dem instrumentalen Homosexualverkehr des Weibes und dem analen des Mannes ist gemeinsam, daß hier schärfer als sonst der nktive imittierende Teil, gleichviel ob unter Frauen oder Männern, dem passiven, rezeptiven gegenübersteht, der bei beiden Geschlech- tern der femininere zu sein pflegt. Im allgemeinen ist es die Regel, daß der aktive Partner, der in anum oder cum membro artificiali verkehrt, sich nicht auch seinerseits zum passiven Teil dieser Posi- tion hingibt und umgekehrt, daß der passive sich nicht mit dem Phallus umgürtet, oder selbst immissio in anum aktiv vollzieht. Wiederholt berichteten mir Pygisten, daß sie beim Orgasmus des Partners die Empfindung hätten, als ob sich auch bei ihnen innerhalb des Rektums unter Wollustschauder ein Sekret absonderte. Solches wollen sie auch, ohne daß ein wirklicher Aüalverkehr statt- fand, im Traum wahrgenommen haben. Die relative Seltenheit des analen Verkehrs erklärt sich nicht aus den gesetzlichen Beschränkungen, auch nicht aus Gedauken- hemmungen, die in den Akt etwas besonders Unästhetisches hinein- legen, sondern dadurch, daß das instinktive Bedürfnis gerade diese Vereinigung zu vollziehen und dementsprechend die Befriedigung fehlt. Nicht selten stehen der Ausführung im passiven Verkehre auch mechanische Hindernisse, Engigkeit und Reizbarkeit der Sphinkteren und infolgedessen Schmerzhaftigkeit entgegen. Häu- figer, als angenommen wird, ist die rektale Gonorrhöe. Es kommt übrigens auch vor, wenngleich wohl sehr selten, daß Frauen sich von anderen Frauen cum phallo pedizieren lassen, ja sogar, daß Männer sich von Frauen in dieser Weise gebrauchen lassen. Vor einiger Zeit richtete eine Dame der besseren Gesell- sehafl an mich die Anfrage, ob dieser von ihrem Gemahl ge- forderte Akt — der natürlich weniger in das Gebiet der Homo- sexualität, als in das des Masochismus fällt — strafbar sei, was zu verneinen war; ferner, ob er als Ehescheidungsgrund gelten könne, was als wahrscheinlich bejaht werden mußte. Es ist zu bemerken, daß^ bei den meisten Männern und Frauen, und zwar nicht nur bei Homosexuellen, der Anus eine fast ebenso starke erogene Zone darstellt, wie Mund und Hand, vielfach sogar diese an erogener Reizbarkeit noch übertrifft. Daher gehören auch Vereinigungen der digitalen, labialen und lingualen Nerven- endigungen mit den analen Terminalkörperchen keineswegs zu den IV. Kapitel: Die Homosexualität 203 Raritäten, sei es in Form der Immissio digiti in anum viri aut mulieris, die sich dann häufig mit dem Tactus genitalis manus alte- rius kombiniert, sei es als Anilinctio des Mannes am Manne, des Weibes am Weibe (wie übrigens auch des Weibes am Manne und des Mannes am Weibe). Es gehört zu den vielen forensischen Seltsamkeiten, daß die Anilinctio ebenso wie die Cunuilinctäo im Gegensatz zu der Penilinctio straflos ist. Die homosexuellen Männer und Frauen empfinden sie aber selbst als obszöner, als die anderen Akte und schämen sich daher sehr, sie zuzugestehen. Ein Fall, der das eben Gesagte gut illustriert, trug sich vor einigen Jahren in einer rheinischen Groß- stadt zu. Dort wurde ein homosexueller Kaufmann infolge von Briefen, die seine Wirtschafterin gelesen und der Polizei übergeben hatte, in ein scharfes Verhör genommen. Schließlich gab er aiif eindringliche Vorstellungen zu, Membrum alterius in os genommen zu haben. Als dann gegen ihn Anklage erhoben werden sollte, kam er zu mir. Im Laufe der Unterredung gestand er, daß er „eigentlich noch etwas viel Schlimmeres" getan hätte, als er zugestanden, er hätte nämlich den Lambitus nicht am Penis, sondern am Anus des anderen vollzogen und ihn dabei masturbiert. Er war nicht wenig erstaunt, als ich ihm sagte: „Das ist ja straffrei." Als er dann dem Gericht mitteilte, daß er den strafbaren Akt angegeben hätte, weil er sich geschämt hätte, den straflosen zuzugeben, wollte man ihm anfangs nicht Glauben schenken, stellte dann aber auf ein ausführ- lich begründetes Gutachten das Verfahren dennoch ein. Im allgemeinen herrscht hinsichtlich der Vorliebe für einen bestimmten Akt eine sehr weitgehende Stereotypie vor, die sich oft sogar auf gauz detaillierte Begleitumstände erstreckt. Es hat daher eine gewisse Berechtigung, wenn Homosexuelle, die an- geschuldigt sind, Immissio in os oder anum vorgenommen zu haben, sich spontan erbieten, Zeugen beizubringen, die unter Eid bekunden würden, daß sie sich „immer nur" durch mutuelle Drgitation be- friedigt hätten. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß zwei Umstände Aus- nahmen von der Regel bewirken; einmal kommt es vor, daß homo- sexuelle Männer und Frauen eine ihnen bisher unbekannte Art, wie sie wohl sagen, „der Wissenschaft halber" ausprobieren, um aller- dings dann meist wieder rasch zu ihrer „Facon" zurückzukehren. Ferner aber, und das ist häxifiger, entscheidet nicht nur der eigene Wunsch, sondern der des Partners die Verkehrsform. So lassen sich vielfach Homosexuelle im Auslande pedizieren, die eigentlich gar keine Neigung dazu haben, nur weil der normalsexuelle Eingeborene, mit dem sie sich eingelassen haben, oft unter Ablehnung anderer Handlungen, darauf besteht. Auch Chanteure legen oft in raffi- nierter Weise Wert darauf, daß der homosexuelle Partner strafbare 204 Handlungen, wie aktive Pedikation, mit ihnen vornimmt, trotzdem dieser sie gar nicht hegehrt, weil sie glauben, ihn dann sicherer in ihrer Gewalt zu haben. Ich habe wiederholt vor Gericht auseinanderzusetzen mich be- müht, daß vom Standpunkte des Arztes zwischen dem „Coitus in anum oder manum" der Unterschied nur ein sehr geringer sei. Welche Handlung der einzelne Homosexuelle vornimmt, hängt größtenteils von dem Grad und der Art seiner erogenen Keizbarkeit ab. Je leichter jemand auf homosexuelle Reize reagiert, je homo- sexueller er also sozusagen ist, um so leichtere, wie man sich aus- drücken hört, „harmlosere" Berührungen genügen oft zur Ent- spannung. Es fragt sich nun, und diese Frage ist praktisch von hoher Be- deutung, ob der Geschlechtstrieb homosexueller Männer und Frauen dauernd beherrschbar ist, oder in gewissen Abständen Befriedi- gung erheischt. Halten wir uns zuvörderst an die gegebenen Tat- sachen, so ist zu sagen, daß wohl kaum 5 von hundert Homosexuellen ihren Trieb dauernd unterdrücken, oder durch Automasturbation er- setzen. 95 Proz. erklären ihren Trieb für unbeherrschbar und be- tätigen sich dementsprechend, allerdings mit sehr verschieden langen Zwischenräumen, einige ebensooft im Jahr wie andere im Monat, und wieder andere in der Woche. Danach würde es allerdings scheinen, daßKrafft-Ebing recht hatte, wenn er auf Grand seiner umfangreichen Beobachtungen sagte (in „der Konträrsexuelle vor dem Strafrichter") : „Die homosexuelle Empfindung kann sich zeitweise so heftig Befriedigung erzwingen, daß Beherrschung unmöglich wird. Es ist sogar geltend gemacht worden, daß die Aufregungen und Ge- fahren, welche das Verbot homosexueller Handlungen mit sich bringt, leicht die nervöse und auch sexuelle Erregbarkeit steigert," Es liegt schon etwas Wahres darin, wenn Carpenter bemerkt: „Indem man diese Menschen nötigt, jede Äußerung ihres Gefühles zurückzuhalten, gibt man schließlich nur Anlaß zu einer um so ge- waltsameren Entladung der dadurch erzeugten inneren Spannung; und man darf wohl annehmen, daß das britische Sittengesetz, das schon die geringsten Äußerungen einer Zuneigung zwischen Jünglingen und Männern verbietet, in Wahrheit seiner eigenen Absicht entgegenwirkt." (Carpenter, Das Mittelgeschlecht, S. 67.) In praxi stehen die meisten Richter und Sachverständigen heute auf dem Standpunkte, daß sie zwar eine homesexuelh' Anlage zugeben, jedoch meinen, dieser Trieb könne durch den Willen besiegt werden. Demgegenüber ist zu betonen, daß der Geschlechtstrieb nur in der Richtung, nicht in der Stärke von dem normalsexuellen Trieb verschieden ist, nur wer für diesen lebenslängliche Enthaltsamkeit für möglich hält, kann es auch für jenen tun. Ich bin der Meinung und habe diesen Standpunkt in / IV. Kapitel: Die Homosexualität 205 vielen hundert gerichtlichen Verhandlungen vertreten, daß der homosexuelle Trieb als solcher durch den Willen reguliert werden kann, und für sich allein die Voraussetzungen des § 51 Str.G.B. nicht erfüllt. Als mildernder Umstand ist die konträre Sexualität in allen Fällen zu erachten. Bei heftiger Triebstärke muß ein ge- wissenhafter Sachverständiger oft „begründete Zweifel" an der freien Willensbestimmung für vorliegend erachten, was nach dem Kechts- grundsatz „in dubio pro reo" und reichsgerichtlicher Entscheidung zum Freispruch ausreicht. In der großen Anzahl von Fällen aber, in denen die Homosexualität mit psychopathischen Momenten ver- knüpft ist — mögen sie primär auf einer geschwächten oder krank- haften psychischen Konstitution, oder sekundär auf nervösen Krank- heitszuständen, die als Folge der Veranlagung (z. B. Hystero- neurasthenie) anzusehen sind, beruhen, steigern sich vielfach die Zweifel an der Verantwortlichkeit des Täters zu unzweifel- hafter Gewißheit. Die Auffassung, daß die Homosexualität des Mannes durch Übersättigung am Weibe, die des Weibes durch Überdruß am Manne entstehen könnte, hat man längst fallen lassen müssen. Hingegen steht es fest, daß Männer und Frauen von ungewöhnlich starker Willens- und Geisteskraft trotz größter Mühe außerstande waren, die Eichtung ihres Geschlechtstriebes umzuändern. Es liegt in der konstitutionellen Natur der Homosexualität begründet, daß sie mit dem ganzen Wesen der Persönlichkeit auf das innigste verschmolzen ist. Der homosexuelle Mann und die homosexuelle Frau unter- scheiden sich nicht nur in der Eichtung des Geschlechstriebes von heterosexuellen Männern und Frauen, sondern durch die Sonder- a r t ihrer Individualität. Dies gilt nicht etwa nur für die femininen unter den männlichen, und die virilen unter den weiblichen Homo- sexuellen, sondern auch die anscheinend männlichen unter den homo- sexuellen Männern, und die weiblichen unter den homosexuellen Frauen unterscheiden sich von den markanter akzentuierten Typen ihres Geschlechtes. Würde die homosexuelle Konstitution auf einem Persönlich- keitsstatus erwachsen, wie man ihn genau so auch bei normalsexuel- lem Verhalten findet, so wäre dieses in der Tat eine höchst merk- würdige Inkonsequenz. Tatsächlich ist dem aber nicht so. Die homosexuelle Konstitution steht im engsten Zusammenhang mit einer spezifischen Konstitution der Gesamtpersönlichkeit, die man, da sie weder vollmännlich noch vollweiblich ist, als inter- sexuelle bezeichnen kann. Diese wiederum ist fast stets mit einer neuropathischen Konstitution verknüpft. Es ist ein Fehler vieler Forscher auf diesem Gebiete, daß sie das Geschlechtsleben vielfach als Erscheinung für sich, losgelöst von der Persönlichkeit, untersuchen, mit der es in Wirklichkeit ganz un- IV. Kapitel: Die Homosexualität trennbar verbunden ist. Scbon in einer meiner ersten Arbeiten über diesen Gegenstand, in dem Leitartikel der „Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen", schrieb ich: „Der homosexuelle Mensch darf nicht allein in seiner Sexualität, er muß in seiner gesamten Individualität aufgefaßt und erforscht werden. Seine geschlechtlichen Neigungen und Abneigungen sind nur Symptome, sekundäre Folge- erscheinungen, das Primäre ist seine Psyche und sein Habitus in ihrer Gesamtheit." Man hat demgegenüber geltend gemacht, daß den männlichen und weiblichen Einschlägen, auf die man bei der Beschreibung urnischer Individualitäten den Hauptwert gelegt hat, ein so hoher diagnostischer Wert nicht beigelegt werden könne, da sich die meisten dieser Merkmale gelegentlich auch bei Nichturningen finden, und anderseits Urninge sie nicht selten vermissen lassen. An der Tatsache an sieh, daß nämlich auch bei heterosexuellen Männern dann und wann feminine Stigmata, etwa hohe Stimme oder Bartlosigkeit, und ebenso bei heterosexuellen Frauen virile Zeichen, wie Bartwuchs oder Männerbecken, vorkommen, ist an sich nicht zu zweifeln, nur übersieht man, daß es bei sämtlichen Geschlechts- charakteren auch unter völlig normalsexuellen Verhältnissen stets nur auf das durchschnittliche Maß ankommt, daß der Begriff der Norm hier mehr wie sonst nur ein relativer, also mit dem Begriff der Mehrheit zusammenfallender ist. Das ist begründet in der sexuellen Variabilität überhaupt, die ihrerseits eine absolute ist, da es zwei gleiche Sexualindividualitäten überhaupt nicht gibt. Jedenfalls erleichtern gynandrischeZeichendie Diagnose der Homosexualität wesentlich. Daß meist nur einige Abweichungen vom Sexualtypus vorhanden sind, kann den Arzt um so weniger ver- wundern, als, wie wir wissen, niemals weder im Bereich des Patho- logischen, noch innerhalb der Breite des Psychologischen alle Sym- ptome einer Erscheinung vorhanden sind. Gehen diejenigen zu weit, die aus dem Schwanken alterosexueller Merkmale, dem gelegent- lichen Fehlen einzelner oder scheinbar aller bei Homosexuellen ihre diagnostische Bedeutungslosigkeit folgern, so gehen nach der anderen Seite auch diejenigen in ein Extrem, die diesen Zeichen eine allzu spezifische Bedeutung zuschreiben, etwa meinen, je ausschließlicher eine Frau homosexuelle sei, um so viriler müsse sie sein; mit der Homosexualität einer Frau, der man nichts anmerke, könne es „nicht weit her" sein, oder, die, wie Ulrichs, glauben, ein Homosexueller, der viele feminine Zeichen hat, fühle sich nicht zu bartlosen Leuten hin- gezogen, sondern nur zu reiferen, älteren Männern. Alle diese mehr theoretischen Konklusionen halten gegenüber einer ausgiebigeren praktischen Erfahrung nicht stand. Nur zeigt sich bei gewissenhaf- tester Prüfung und Untersuchung der Homosexuellen, bei längerer IV. Kapitel: Die Homosexualität Beschäf tigung mit ihrem Zustand, daß die homosexuelle Frau iu ihrem Gesamtstatus, namentich dem psychischen, niemals den vollweib- lichen Frauen gleicht, daß sie zwar wesentlich femininer als die viril homosexuelle Frau, aber nicht so feminin wie ein heterosexuelles Weib ist, und daß es ganz ähnlich mit den homosexuellen Männern ist. Auch hier gibt es viele, denen man äußerlich nichts anmerkt. Be- wußt und unbewußt erstreben die meisten dies auch; fast täglich richtet unter den Homosexuellen, die mich aufsuchen, der eine oder andere die Frage an mich, ob man ihm wohl „etwas ansehen" könne. Sehr oft ist dies zu verneinen, denn viele machen in der Tat zunächst einen ganz männlichen Eindruck. Stets wird aber auch bei ihnen der sorgsame Expert nach und nach zum mindesten psychische Zeichen finden, welche die Übergangsstufe charakterisieren. Ich kenne hier keine Ausnahme. Wie die seelischen In- und Deklinationen sich bereits in früher Jugend verraten — Westphal meinte, daß ihre ei*sten Anzeichen im achten Lebensjahre in die Erscheinung treten — , so ist auch der sexuelle Eigenstatus, namentlich in seinen psychischen Zügen, meist lange vor der Pubertät bemerkbar. Er ist für die Früh- diagnose sogar oft bezeichnender als die Zu- und Abneigungen. Ebenso scharfsinnig wie zutreffend bemerkte schon vor mehr als 20 Jahren von Schrenck-Notzing12): „Sehr wichtig für die originäre Anlage zur konträren Sexualempfindung ist der Nachweis, daß sicli der weibliche Typus im männlichen Kinde schon vor der Zeit der ersten sexuellen Kegungen (vor der Pubertät) charakterologiseh entwickelt hat, und daß aus diesem weiblichen Charakter, als eine folgerichtige Teilerscheinung, weibliches Geschlechtsgefühl entstand ohne einen Zwang der äußeren Verhältnisse." v. Schrenck-Notzing hielt, als er dies schrieb, diesen Nachweis nicht erbracht, heute scheint es mir sicherzustehen, daß der Uranier von vornherein den Stempel seiner körperlichen und geistigen Eigentümlichkeit trägt. Seine Be- sonderheit ist von frühester Jugend vorhanden, während sie bei anderen, trotz gleicher Erziehung und gleichem Milieu, fehlt. Jeder Homosexuelle erinnert sich, daß er anders geartet war als die ge- wöhnlichen Knaben. Sehr oft war ihm die Tatsache, wenn auch nicht die Ursache, schon während der Schulzeit klar. Weniger von ihm selbst, als von seinen Angehörigen und Fernstehenden wird in dieser Eigenart das Mädchenhafte erkannt. Mir haben die Mütter von Urningen wiederholt berichtet, wie unglücklich ihre Kleinen waren, als sie „die ersten Hosen" erhielten, wie so nichts von Stolz in ihnen war, mit dem diese Umkleidung echte Jungen erfüllt. Ulrichs13) erzählt von sich selbst: „Sehr 12) A. a. 0., S. 194. Aus dem Jahre 1892. Ulrichs: Memmon, S. 113/114, IV. Kapitel: Die Homosexualität schmerzte es mich, als ich zuerst „Jungenzeug" anziehen mußte. Oft habe ich in jener meiner ersten Kindheit, wie man mir später erzählt hat, klagend und protestierend gesagt: „Nein, ich will ein Mädchen sein." Von manchen Seiten, besonders von Tarnowsky, ist vorgeschla- gen, Knaben, welche zu weiblichen Beschäftigungen neigen, recht zu verspotten, um so der Entwicklung homosexueller Triebe vorzubeugen. Es heißt die Macht der Erziehung weit überschätzen, wenn man annimmt, daß dadurch eine so tief in der Persönlichkeit wurzelnde Triebkraft nennenswert beeinflußt werden könnte. Wir halten diese prophylaktischen Maßnahmen nicht nur für wirkungs- los, sondern auch für verhängnisvoll, weil sie geeignet sind, das ohnehin schüchterne, empfindsame, urnische Kind noch zaghafter und scheuer zu machen. Diese Kleinen verspüren es instinktiv, daß sie eigentlich weder zu den Knaben, noch zu den Mädchen gehören, ihr Selbstvertrauen leidet unter diesem Zwiespalte, sie nehmen alles tiefer und ernster als die gleichaltrigen Kameraden. Eine wohlbedachte Erziehung soll das psychologische Erfassen der Kindesseele zur Grundlage haben, sie sollte individualisieren, indem sie die vorhandenen guten Keime in die rechten Bahnen leitet, die schlechten Anlagen liebevoll hemmt. Statt dessen werden in völliger Unkenntnis der urnischen Kindesseele, welche sich schon deutlich von der Knabenseele durch eine größere Kezeptivität, von der Mädchenseele durch stärkere Produktivität unterscheidet, viele Keime, deren sorgsame Pflege sich außerordentlich verlohnen würde, mit einer das kindliche Zentralnervensystem oft schwer affizieren- den Gewalt unterdrückt. Die oft in hohem Grade vorhandene geistige Begabung bei urnischen Knaben wird durch eine gewisse Unsicherheit und Ver- träumtheit, oft auch durch Zerstreutheit infolge allzu reger Phan- tasie beeinträchtigt, doch kommen die meisten recht gut in der Schule mit; eine besondere Vorliebe besteht für schöngeistige Fächer, namentlich für Literatur, Geschichte und Geographie, auch für Musik und Zeichnen, etwas weniger für Sprachen, dagegen zeigen sich von 100 urnischen Kindern 90 ungewöhnlich schwach für Mathe- matik veranlagt. Die Kinderspiele, beharrliche Puppenspiele bei Knaben, Soldatenspiele bei Mädchen, halte ich für die Diagnostik sexueller Zwischenstufen von fast ebenso hohem Wert wie die Träume, wobei allerdings in Betracht gezogen werden muß, daß manche Kinder zu Spielen neigen, die weder ein männliches, noch weibliches Gepräge tragen, und daß es auch solche gibt, die überhaupt Spielen ab- hold sind. Hervorzuheben ist die mangelnde Eitelkeit urnischer Mädchen. J^icbt ohne Grund sagt ein feiner Kenner der urnischen Psyche: 20Ö „Auf ein junges Mädchen, welches bei einem Spiegel achtlos, ohne hineinzusehen, vorübergehen kann, wenn es sich ankleidet, auf einen Knaben, der mit großem Vergnügen immer wieder zu demselben zurückkehrt, muß man achthaben, denn beide verraten oft hierdurch frühzeitig ihre urnische Natur." In der Reifezeit zeigen sich bei urnischen Knaben und Mäd- chen allerlei von der Norm abweichende Erscheinungen. Der Stimm- wechsel tritt oft überhaupt nicht ein, manchmal erstreckt er sich über eine lange Zeit, nicht selten macht er sich verhältnismäßig spät, mit 19 oder 20 Jahren, bemerkbar; sehr viele haben nach der Mutation noch eine Neigung, Sopran oder Fistelstimme zu singen, andere, die nicht mutiert haben, sind imstande, durch methodische Übungen ihr Organ wesentlich zu . vertief en. Oft werden junge Urninge wegen ihrer hohen, hellen Stimme geneckt, so schreibt ein urnischer Arbeiter: „Meine Stimme ist nicht gebrochen, man nannte mich in Arbeiterkreisen mit 19 Jahren wegen meiner hellen Stimme ,Gretchen'." Bei vielen bleibt die Stimme ohne männliche Kraft. Urnische Mädchen bekommen zur Zeit der Pubertät oft eine tiefere Stimmlage. Ich kenne einen derartigen Fall, wo ein Spezial- arzt für Halskrankheiten, weil er einen Kehlkopfkatarrh annahm, mehrere Monate die Stimmbänder pinselte. Eine urnische, jetzt 25jährige Journalistin berichtet: „In der Reifezeit trat der Adams- apfel stärker bei mir hervor. Ich bekam eine Singstimme, die sich nur bis zum C zwischen der dritten und vierten Linie erstreckt, da- gegen das tiefe C des Basses umfaßt." Der Bartwuchs stellt sich bei urnischen Jünglingen oft sehr spät, oft auch recht spärlich und un- gleich ein. Dagegen ist hie und da bei urnischen Knaben ein mit Schmerzhaftigkeit verknüpftes Anschwellen der Brüste zur Reifezeit zu beobachtem Bei urnischen Knaben kommt nicht selten ein be- sonders üppiger, an das Weib erinnernder Wuchs des Haupthaares vor, hingegen weist die Körperbehaarung urnischer Mädchen oft virile Anklänge auf. Von pathologischen Störungen findet man bei urnischen Jünglingen verhältnismäßig häufig Migräne und Chlo- rose, zwei Krankheiten, von denen sonst mehr das weibliche Ge- schlecht heimgesucht wird. Bei urnischen Mädchen findet man im Gegensatz hierzu die Pubertätsanämie äußerst selten, jedoch tritt nicht selten die Menstruation bei ihnen verhältnismäßig spät ein, vor allem bei den virilen homosexuellen Frauen. Auf die Kindheit und Reifezeit urnischer Knaben und Mädchen baut sich ganz zwanglos und natürlich das spätere Leben homo- sexueller Männer und Frauen auf. Es ist bei den Urningen im wesentlichen gekennzeichnet durch ein Ausbleiben scharf ausgesprochener Männlichkeit. Das Umgekehrte ist bei Urninden der Fall. Hier kommt nicht die Weibnatur völlig zum Durchbruch, dafür gelangen mehr oder minder männliche Eigen- Hirschfeld, Sexualpathologie. II. 14 IV. Kapitel: Die Ilo^sexuatitä^ Schäften zur Entwicklung. Alles dies in sehr verschieden hohem Grade, so daß jemand, der Gelegenheit hat, viele Homosexuelle zu sehen, bald unschwer zwei Gruppen voneinander unterscheiden kann, die männlicheren Typen, denen man zunächst weder m der Er- scheinung, noch im Benehmen die urnische Natur anmerkt, und die weiblicheren, die in ihrem Wesen unverkennbar weibliche Eigenschaften aufweisen. Ein beträchtlicher Prozentsatz geht auch in Frauenkleidern, und auch die andern haben meist m ihrer 1 rächt weibliche Einschläge, sei es auch nur im Schmuck oder in Parfüms, in Bändern und Strümpfen, gebrannten Locken und glattrasiertein Gesicht Viele nähern sich auch in ihren Gesichtszügen, Teint und Haar in den runden Formen, den breiten Hüften, vor allem auch m ihrer Stimme und Sprache dem Geschlechte, welchem sie gern ganz angehören möchten. Würde man ihre Gespräche hören, ohne sie zu sehen so könnte man nach deren Inhalt manchmal geneigt sein an- zunehmen, daß zwei Damen in lebhafter Unterhaltung begriffen sind. Von den extremsten Fällen sagt Krafft-Ebing, daß es „Weiber in Männerkleidung mit männlichem Genitale" sind, ein Wort, das an den Vers erinnert, mit dem einst der Spötter Martial eineiig Urning charakterisierte: „Pars est una patris, cetera matris habet'' („nur ein Teilchen hat er vom Vater, alles übrige von seiner Mutter"). Zwei ganz analoge Gruppen können wir sehen, wenn wir eine größere Veranstaltung weiblicher Homosexueller besuchen. Auch hier findet sich ein Teil von Frauen, die in Tracht, Haarschmuck, Haltung und Bewegung, in der Art zu sprechen, zu trinken und zu rauchen, etwas Viriles aufweisen; viele haben auch eine rauhe, tiefe Stimme, derbe männliche Gesichtszüge, schmale Hüften, wie über- haupt einen an das „stärkere Geschlecht" erinnernden Knochenbau. Ihren Namen geben sie unter sieh häufig eine virile Form. Daneben aber existiert eine nicht minder große Gruppe homosexueller Frauen, die sich äußerlich von anderen Frauen ihrer gesellschaftlichen Sphäre kaum unterscheiden; sie tragen Toilette und Frisuren nach derselben Mode wie diese, perhorreszieren weder Korsetts noch hohe Absätze, und erscheinen in ihren Gefühls-, Geschmacks- und Ge- dankenäußerungen so durchaus weiblich, daß sie niemand für homo- sexuell halten würde. Und doch sind sie es in genau so fixierter Weise, wie ihre virilen Schicksalsgenossinnen. Die Gesamtsumme femininer Einschläge beim homosexuel- len Manne, und viriler bei der konträrsexuellen Frau variiert un- gemein, ebenso besteht die größte Mannigfaltigkeit in bezug auf die qualitative Mischung der vom Genitaltypus abweichenden Eigen- schaften. Es kommen alle nur erdenklichen Kombinationen, alle möglichen Nuancierungen und Verbindungen vor. Bereits im Jahre 1864 schrieb Ulrichs in seiner „anthropologischen Studie" „Forma- trix": „Unter den Urningen seheinen folgende zwei Klassen unter- 211 schieden werden zu können, zwischen welchen indes tausend Ab- stufungen zu konstatieren sind: a) Urninge, in denen das männ- liche Element, welches ihrem männlichen Körperbau entspricht, überhaupt in allen Stücken vorherrscht, indem es insonderheit ihrem weiblichen Liebestriebe eine gewisse männliche Färbung gibt: also Urninge mit vorwiegend männlichem Habitus, körperlich wie geistig, und zugleich mit vorwiegend aktivem Begehren. Diese scheinen vorwiegend Jünglinge zu lieben. Ich möchte sie nennen die ,Viri- liores' oder ,Mannlinge', die männlichen Urninge, b) Urninge, in denen das weibliche Element, welches ihrem weiblichen Liebestriebe entspricht, überhaupt in allen Stücken vorherrscht, indem es insonderheit ihrem männlichen Körperbau eine gewisse weibliche Färbung gibt: also Urninge mit vorwiegend weiblichem Habitus, körperlich wie geistig, und zugleich mit vorwiegend pas- sivem Begehren. Diese scheinen überwiegend Burschen; nicht Jüng- linge, zu lieben. Ich möchte sie die ,Muliebriores' nennen oder .Weiblinge', die weiblicheren." Ich halte die Einteilung, welche Ulrichs hier gibt, trotz der auch hier, wie so oft bei ihm, wenig glücklichen Wortbildung, und trotz- dem manche Einzelheiten in seiner Unterscheidung der Nachprüfung nicht standgehalten haben, auch heute noch für die prägnanteste und brauchbarste. Besonders großen Scharfsinn beweist Ulrichs in der Wahl der Komparative „viriliores" und „muliebriores" statt der entsprechenden Positive; offenbar wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß es sich hier nur um Gradunterschiede handelt, indem auch die Mannlinge weibliehe, die Weiblinge männliche Eigen- schaften, nur beide in schwächeren Graden, aufzuweisen haben. Was das Zahlenverhältnis der virilen und femininen Uranier anlangt, so dürfte Iwan Bloch ") recht haben, wenn er sagt, daß es nach seinen Beobachtungen ungefähr das gleiche ist. Auch die virilen und femi- ninen Uranierinnen scheinen an Menge einander etwa gleich zu sein. Mehr theoretisch als empirisch abgeleitet müssen die Schluß- folgerungen angesehen werden, welche viele Autoren bei der Ein- teilung der homosexuellen Männer und Frauen in die virileren und feminineren aus der persönlichen Beschaffenheit auf die Ge- schmacksrichtung, die Betätigungsweise oder gar auf die Entstehung und Heilbarkeit ziehen. Wir stoßen auf solche Angaben an vielen Stellen der Fachliteratur. Offenbar schwebte bei diesen Schluß- folgerungen den Fachleuten bewußt oder unbewußt die so weit ver- breitete, aber auch für den normalen Verkehr noch keineswegs er- wiesene Vorstellung von der Anziehung des Gegensätzlichen in der Liebe vor. In Wirklichkeit liegen aber die Anziehungsgesetze ') Bloch, Iwan: Das Sexualleben unserer Zeit, S. 551. 14* tV. Kapitel: t»ie Homosexualität viel komplizierte. Ich habe im Laufe der Zeit viele feminine Homo- sexuelle kennen gelernt, die, trotzdem sie selbst am liebsten n Frauenkleidern gingen, junge bartlose Leute liebten, ^«hrv^ Frauen, die ich zunächst für gute Freundinnen in unerotischem Sinn hielt, bis ich gewahr wurde, daß die äußerlich und anscheinend auch seelisch so verwandten Typen seit vielen Jahren ein regelrechtes sexuelles Verhältnis miteinander hatten. Ebenso kann man nicht selten vollmännlichen ürningstypen begegnen, von denen man - ehe man das Wundern auf sexuellem Gebiete verlernt hat — zu seinem Erstaunen hört, daß sie sich für Männer unter 50 Jahren sexuell überhaupt nicht interessieren können. Erst vor kurzem suchte mich ein etwa 25jähriger Homosexueller auf, der durchaus männlich erschien, dabei aber für Männer mit w e i ß e n Vollbarten, und zwar lediglich für diese, eine große Leidenschaft besaß. Auch die Meinung von Ulrichs, daß sich bei Urningen mit körperlich und geistig völlig männlichem Habitus aktives Begehren bei denen mit weiblichem Habitus passives Begehren findet, halt reichlicherer Erfahrung nicht stand. Sind wir zwar nicht imstande, aus der Zugehörigkeit zu der virileren oder feminineren Uranier- gruppe die Geschmacks- und Betätigungsart eines Homosexuellen abzuleiten, so ist damit keineswegs gesagt, daß diese nicht dennoch im wesentlichen von ihrer individuellen Eigenart abhangig ist. Für das Vorhandensein solcher Zusammenhänge spricht neben anderen Gründen vor allem die relative Konstanz des an- ziehenden Typus. Wir müssen annehmen, daß das, was die Sinnesorgane der Liebenden erotisch lustbetont als schön empfinden, in ihren Sexualzentren a priori determiniert ist, wobei zu beachten ist, daß der Gefühlskomplex, den ein Individuum in einem andern auslöst, durchaus nicht immer ein wechselseitiger ist. Unter den Homosexuellen selbst herrscht über die relative Festigkeit des Ge- schmackstypus kein Zweifel; in ihren Unterhaltungen über Gefühls- genossen spielt die Erörterung dieses Unterscheidungsmerkmals eine ziemliche Rolle, beispielsweise wenn sie die Frage auf werfen, ob jemand jüngere oder ältere Personen liebe. Planmäßig durchgeführt findet sich die Einteilung nach der Triebrichtung in meinem „Wesen der Liebe", woselbst ich die Homosexuellen nach zahlreichen dort veröffentlichten detaillierten Geschmacksschilderungen in drei Gruppen teile: die Ephebophilen, die es zu geschlechtsreif en Jünglingen von der Pubertät bis anfangs der Zwanzig zieht; die Androphilen, welche Personen von diesem Alter ab bis in die Fünfzig lieben, und die G e r o n t o p h i 1 e n , die von älteren Männern bis zu solchen, die sich bereits im Greisenalter befinden, gefesselt werden. Nach meiner gegenwärtigen Erfahrung möchte ich die frühere Dreiteilung nach Altersstufen insofern modifizieren, als es mir entsprechender erscheint, in dieser Hinsicht zwei größere 213 Hauptgruppen und zwei kleinere Nebengruppen zu unterscheiden. Die beiden Hauptgruppen, von denen jede etwa 45 Proz. der ge- samten Homosexuellen betragen dürfte, sind die Ephebophilcn, die Personen vom Beginn bis zum Abschluß der Reife, also im Jüng- lingsalter von etwa 14 bis 21 Jahren, lieben, und die Andro- philen, die zu Personen vom Beginn des Mannesalters bis zum Beginn des Greisenalters neigen. Es sei aber nochmals betont, daß sich die Ephebophilie keineswegs nur bei virilen, die Androphilie bei femininen Homosexuellen findet. Hierzu kommen dann noch zwei Nebengruppen, die Pädophilen und die Gerontophilen, von denen die einen — zweifellos die am unglücklichsten veranlagten — zu noch nicht geschlechtsreifen Personen inklinieren, während die anderen nur für Greise sexuelle Empfindungen verspüren. Die an 100 fehlenden 10 Proz. aller Uranier teilen sich, wie es scheint, in diese beiden Gruppen zu etwa gleichen Teilen. Für die Frauen gilt dieselbe Einteilung, zwei Hauptgruppen, die Parthenophilen und Gynäkophilen, und zwei Nebengruppen, die K o r o p h i 1 e n xmd Graophilen, je nachdem Jungfrauen, Vollreife Frauen, un- reife Mädchen oder Greisinnen begehrt werden. Mit der Vorliebe für eine bestimmte Altersstufe ist die G e - sc-hmacksdif ferenzierung keineswegs erschöpft. Es gibt inner- halb jedes AHersspielraums eine Menge bestimmter körperlicher und seelischer Eigenschaften, beispielsweise in bezug auf die Figur, die Farbe der Haare und Augen, auf Wesen, Charakter, Art sich zu bewegen, Bildung, Stand, die für die spontane Anziehung von größter Bedeutung sind. Hier scheitert jede Einteilung an der Fülle der Fälle, wenngleich sich gewisse Gruppen, wie etwa die der nur zu Soldaten neigenden homosexuellen Männer oder homosexueller Frauen, deren Spezialität elegante Weltdamen sind, ziemlich deut- lich aus der Menge herausheben. In allen diesen Fällen spielt offenbar der Fetischismus eine beträchtliche Rolle, von dem sich Anklänge übrigens auch bei allen anderen Homosexuellen meist unschwer nach- weisen lassen. Daß es sich hier tatsächlich um Fetischismus handelt, geht daraus hervor, daß, wenn der Fetisch fehlt, an die Stelle der sexuellen Attraktion oft völlige Indifferenz wenn nicht gar Aversion tritt; so erzählen Soldatenfreunde, wie völlig „abgekühlt" sie seien, wenn ihre früher geliebten Freunde sie als „Reservisten" aufsuchen. Diese wiederum, meist sehr erfreut über die schon längst ersehnte Zivil kleidung, sind oft nicht genug ver- wundert über das gänzlich veränderte Benehmen ihrer Gönner. Bedeutsam sind noch folgende Unterscheidungen: zunächst die, ob eine homosexuelle Frau oder ein homosexueller Mann ebenfalls nur homosexuell Empfindende lieben oder nur Heterosexuelle. Es ist zweifellos, daß, während viele Homosexuelle ebenfalls urnisch 214 Empfindenden bei weitem den Vorzug geben und manchen es in ihrer Neigung keinen Unterschied macht, ob die Betreffenden kon- trär fühlen oder nicht, eine ganze Anzahl von Urningen ausschließ- lich zu heterosexuellen Naturen neigen. Oft sind ihnen die Qleich- oder Älmlichfühlenden direkt antipathisch, sie sind ihnen zu ver- wandt. Wenn Forel meint: „Der Urning verliebt sich natürlich am ehesten in einen normalen Mann, dessen ,Frau' er sein möchte," so trifft dies nur für einen gewissen Prozentsatz, sicherlich nicht für die Mehrzahl der Urninge zu. Ein dritter Teil scheint der Veran- lagung der Partner überhaupt keine Bedeutung beizulegen; es können diese sowohl durch Homosexuelle als Heterosexuelle gereizt werden, wofern sie im übrigen bestimmte fetischistische ^ Vor- bedingungen erfüllen. Die einen würde man nach dieser Klassifizie- rung Homoiophile (Gleichliebende), die anderen als Alloiopbile (Ungleichliebende), die dritten etwa als Amphiphile (nach beiden Richtungen Liebende) bezeichnen können. Ferner gibt es homo- sexuelle Leute, die nur Personen ihres Standes lieben, und solche, die sich nur zu Niedergestellten oder ausschließlich zu Höhergestell- ten hingezogen fühlen. Zwanglos ergibt sich endlich aus der Praxis die Einteilung in eine einfache unkomplizierte und komplizierte Homo- sexualität, je nachdem diese für sich allein oder in Verbindung mit anderen Triebanomalien vorkommt. Im Zusammenhang hiermit sei noch einer Unterscheidung gedacht, die in der Fachliteratur bisher wenig hervorgehoben ist, um so häufiger aber in der forensischen und psychiatrischen Praxis zur Sprache kommt und sicherlich keine wringe Bedeutung beansprucht: die Einteilung der homosexuellen Männer und Frauen in gesunde und neuropathische, oder, besser aus- gedrückt, in solche mit stabilerem oder labilerem Nerven- system. Die stabilen Homosexuellen sind die geistig und körperlich Tntakten, die über ein in sich gefestigtes Nervensystem verfügen. Diesen stehen die Labilen gegenüber, bei denen eine stärkere Be- lastung bewirkt, daß sie nicht etwa nur infolge homosexueller Kon- flikte hochgradig nervös und sensitiv sind. Sie leiden nicht selten an ungewöhnlich starkem Stimmungswechsel, an Überspanntheiten verschiedenster Art, an Neigung zum Alkoholismus, Morphinismus. Kokainismus, an religiösen Wahnideen oder Verfolgungswahn, be- sonders häufig auch an stark hysterischen und hypochondrischen Zuständen, Störungen, die sich auch vielfach in ihrer Familie vor- finden und Grund genug sind, daß, wenn sie einmal als Homosexuelle aus ihrer glatten Bahn geschleudert werden, die Schwierigkeiten des Lebens für sie oft kaum überwindbar sind. Gerade die Homosexuellen, die mit den Behörden in Konflikt geraten, gehören oft vielfach zu der letztgenannten Gruppe, der auch die Mehrzahl derer angehören, die freiwillig und unfreiwillig zur 215 Kenntnis der Gerichts- und Irrenärzte gelangen. Dadurch erhalten diese oft ein einseitiges Bild. Es sind allerdings auch zwischen den stark, leicht, und anscheinend nichts weniger als nervösen Homo- sexuellen die Übergänge so fließend, daß man sich besser auch hier des Komparativs bedient und statt von stabilen und labilen, lieber von stabileren und labileren Homosexuellen spricht. Ich komme damit zu dem letzten wichtigen Punkt in der Be- frachtung der Homosexualität, der neuropathischen Dispo- sition. Können wir die Homosexuellen auch nicht als Degenerierte schlechthin ansehen, so geht doch aus ihrer Abstammung mit Sicher- heit hervor, daß hereditäre Momente bei ihrer Entstehung eine nicht zu unterschätzende Bolle spielen, was ja bei einer so ausgesprochen angeborenen Erscheinung, wie es die echte Homosexualität ist, von vornherein wahrscheinlich ist. Becht häufig ist bei den Angehörigen Homosexueller eine leichtere oder schwerere neuropathische Ver- fassung unverkennbar, oder es bestehen Momente, von denen wir wissen, daß sie im allgemeinen der stabilen Geschlossenheit des Zentralnervensystems in der Nachkommenschaft nicht günstig sind. Bei 6 Proz. der Homosexuellen waren in meinem Material die Eltern oder Großeltern blutsverwandt. Bemerkenswert ist, daß in 22,6 Proz. der Familien Homosexueller Selbstmorde vorkamen, darunter in 16,7 Proz. der Fälle wegen homosexueller Veranlagung, in 13,9 Proz. wegen unglücklicher homosexueller Liebe, in 11,1 Proz. aus allgemeiner Schwermut, in 8,3 Proz. im Delirium, in 16,7 Proz. aus pekuniären, und in 33,3 Proz. aus unbekannten Gründen. Es seheint, als ob bei neuropathischen Konstitutionen vielfach die männliche und weibliche Erbmasse unvollkommener balanciert ist, als bei Mensehen mit festverankerten Nervensystemen, bei denen sich das Schwergewicht inner dieser beiden Komponenten stabilierter nach der einen oder anderen Seite verschiebt. Deshalb findet man alle sexuellen Übergangsformen, und namentlich auch die Homo- sexualität, so häufig mit einer nervösen Labilität vergesellschaftet, wobei allerdings im Einzelfall nicht leicht zu entscheiden ist, was -an reizbarer Nervenschwäche von vornherein vorhanden, und was erst nach und nach infolge der Homosexualität entstanden ist. Die Annahme, daß sieh die Natur der Homosexuellen als eines Vorbeugungsmittels der Degeneration bedient, wird durch die Ehen und Nachkommenschaft der Homosexuellen bestätigt. Ein großer Teil dieser Ehen ist kinderlos. Gehen aber Kinder aus den Verbindungen Homosexueller hervor, so tragen diese vielfach den Stempel geistiger Minderwertigkeit, es sei denn, daß durch eine besonders gesunde Ehehälfte ein relativer Ausgleich geschaffen wird. Jedenfalls ist vom rassenhygienischen Standpunkt die Ehe eines oder einer Homosexuellen stets ein sehr gewagtes Unternehme n. 216 IV. Kapitel: Die Homosexualität Verhältnismäßig sehr häufig ist das Vorkommen homosexueller Geschwister. Der Schluß, zu dem Dr. v. K ö m e r in seiner wichtigen Arbeit: „Die urnische Familie" gelangt: „In mindestens 35 Proz. der Fälle tritt der Uranismus familiär auf", deckt sich mit dem gegenwärtigen Stand meiner Beobachtungen. Es ist höchst auf- fallend, wie häufig urnische Brüder sind; wiederholt suchten mich einige auf, die voneinander nicht Bescheid wußten, und fast noch öfter kommt es vor, daß Urninge homosexuelle Schwestern haben. Auch dies spricht dafür, daß die Homosexualität auf einer spezifischen angeborenen Konstitution beruht, eine Auffassung, über die bei jemandem, der viele Tausende von Homosexuellen ge- sehen hat, von denen er einen großen Teil 20 Jahre und länger beob- achtet hat, auch nicht der geringste Zweifel obwalten kann. Keiner der für eine äußere Entstehung der Homosexualität angeführten Gründe, weder die Onanie, noch die Impotenz, noch die Übersättigung am anderen Geschlecht, noch der Keizhunger, Verführung oder Lek- türe, weder B i n e t s „choc fortuit", noch Freuds „infantile Sexual- erlebnisse" können die unbeeinflußbare Zielstrebigkeit des homosexuellen Triebes, die vom ersten Erwachen der Geschlechts- neigung an, ja von den ersten Pollutionsträumen an auf ein ganz bestimmtes Sexualziel eingestellt ist, ausreichend erklären. Wenn aber noch irgendwo Bedenken hinsichtlich einer endo- genen Bedingtheit der Homosexualität vorhanden waren, so sind die durch die Steinachsche experimentale Erforschung der Geschlechts- drüsen gründlich beseitigt worden. Ich habe diese Versuche bereits im Androgyniekapitel dieses Bandes zusammenhängend geschildert. Daher seien au dieser Stelle nur drei Ergebnisse hervorgehoben, die für die Ätiologie der Homosexualität im besondern von Wichtigkeit sind: erstens die Steinach gelungene künstliehe Erzeugung homo- sexuellen Verhaltens bei Tieren durch die Einführung innersekre- torisch wirksamer Pubertätszellen bei derlei Geschlechts, zweitens die ümstim mu n g der homosexuellen Erotisierung durch Entfernung der urnisehen Geschlechtsdrüse und ihren Ersatz durch den Hoden eines Heterosexuellen, drittens und vornehmlich der Nachweis, daß der Hoden der Homosexuellen mikroskopisch sehr beachtenswerte Unterschiede aufweist gegenüber den Strukturverhältnissen, wie sie sich bei Normalen finden. Wer nach diesen Befunden noch an dem körperlichen Ursprung der Homo- sexualität zweifelt, dürfte logischen Überlegungen wohl überhaupt nicht zugänglich sein. Mit dieser originären Bedingtheit hängt auch die Unmög- lichkeit zusammen, die Homosexualität, wie es lange versucht wurde, durch psychische Mittel zu beseitigen. Wenn Kräpelin neuerdings UMuncbn. med. Woch., 1918, Nr. 5) von einem „verhältnismäßig guten Erfolge der hypnotischen Behandlung" bei der Homosexualität 217 spricht, so kann ich mich dieser Meinung nicht anschließen. Ich habe sehr viele Homosexuelle kennen gelernt, die sich hypnotischen Kuren unterzogen, aber nicht einen einzigen, der dadurch geheilt wurde. In ähnlicher Weise schreibt hinsichtlich der Freudschen Psychoanalyse einer ihrer erfahrensten Kenner, Wilhelm Stekel: „Ich habe n o c h n i e eine vollständige Heilung einer Homosexualität durch Psychoanalyse gesehen." Vollends die von Moll „Assoziations- Iherapie" genannte Methode ist unvereinbar mit der Natur- beschaffenheit sexualbiologischer und innersekretorischer Vor- gänge. Die Homosexualität, wie er will, durch den Anblick „weib- licher Personen in erotisch anregenden Kostümen" heilen zu wollen, bedeutet ungefähr dasselbe, als wenn man einem Farbenblinden da- durch ein gesundes Sehvermögen verschaffen zu können meint, daß man ihm die Farben vor Augen hält, für die seiner Netzhaut die Aufnahmefähigkeit fehlt. Der verhängnisvollste Eat, den ein Arzt einem Homosexuellen geben kann, ist jedoch die Ehe. Ich stimme hier auf Grund meiner großen Erfahrung völlig mit Forel überein, der über die Urningsehe schreibt: „Das ist der großartigste Unsinn und zugleich die schlimmste Tat, die sie begehen können, denn ihre Frauen führen ein Marterleben, indem sie sich sehr bald betrogen, verachtet und verlassen fühlen. . . . Solche Ehen endigen mit tiefster Zerrüttung oder Ehescheidung, und sie wissentlich zu 'fördern, ist geradezu ver- brecherisch. Dagegen und nicht durch Bestrafung urningischer Liebesverhältnisse zwischen erwachsenen Männern sollte das Gesetz Vorkehrungen treffen." Forel meint sogar, daß der Arzt die Pflicht habe, „dem Urning mit Anzeige an seine Braut zu drohen, falls er die Missetat w irklich vollbringen will, — ein Eat, den allerdings schwerlich ein Arzt befolgen wird, da er eine Verletzung seines Be- rufsgeheimnisses bedeuten würde. Sicher ist jedenfalls, daß für die Mindemng der Volks zahl und der Volks kraft die Ehen der Homosexuellen viel ungünstiger ins Gewicht fallen als ihre Ehe- losigkeit. Wenn ein homosexueller Mann heiratet, verurteilt er meist eine gesunde Frau, die mit Wahrscheinlichkeit an der Seite eines potenten Mannes mehrere Kinder geboren haben würde, zu relativer oder absoluter Unfruchtbarkeit. Gehen aber Kinder aus solchen Ehen hervor, so tragen sie oft genug den Stempel schwerer erblicher Belastung. Ich habe in meinem Sammelwerk „Die Homo- sexualität des Mannes und des Weibes" zahlreiche Beispiele dafür gegeben und beobachte fortlaufend neue. Ähnliche Bedenken gelten auch für die verheiratete homosexuelle Frau, die für das Glück und den Bestand einer Ehe und Familie ein ungemein zersetzendes Element darzustellen pflegt. Die Fernhaltung derart eheuntüch- tiger Individuen, die für das Volksganze anderweitig gut verwend- bar sind, von der Eheschließung ist daher ein nicht zu unterschätzen- IV. Kari(c,: Die Homosexualität des Moment, um die Volkskraft in quantitativer und quali- tative r Hinsicht zu fördern. Im Anschluß hieran noch einiges über die oben bereits erwähnte operative Behandlung: der Homosexualität. Hie Zahl der durch Austausch der Geschlechtsdrüsen beeinflußten Homosexuellen ist bisher zu gering, um über die Erfolge dieser Methode ein Urteil ab- geben zu können. Aber selbst wenn es möglich sein sollte, auf diesem Wege einem geborenen Urning die Liebe zum Weibe einzupflan- zen, ja ihn sogar fortpflanzungsfähig zu machen, erhebt sich noch die Frage, ob damit ihm und vor allem der Gesamtheit ein Gefallen geschieht. Stellen die Sexualvarianten und namentlich die Homo- sexualität, was viel für sich hat, Vorbeugungsmittel degenerativer Stammesentwicklung dar, sind sie womöglich gar für andere Natur- zwecke bestimmt, so würde dies das geringe Heilungsbedürfnis der Homosexuellen erklären und lehren, daß Heilungsmöglichkeit (so bewunderungswürdig solche Großtaten menschlichen Forschergeistes sind) nicht immer Heilungsbedürf tigkeit erweist. Die Homo- sexuellen selbst sagen oft, daß sie geheilt sein würden, wenn die anderen von den falschen Auffassungen geheilt wären, mit denen sie ihnen gegenüberstehen, ihre wahren Leiden lägen nicht in, sondern außer ihnen. Die W irksamkeit des Arztes für diese Personen ist! damit nicht ausgeschaltet. Kann er auch nicht die Homosexuali- tät, so kann er doch den Homosexuellen behandeln und ihn in den mannigfachen, nervösen, seelischen und körperlichen Störungen beraten, die mehr oder weniger mit seiner Anlage im Zusammenhang stehen. Hier eröffnet sich dem Arzte ein weites Feld, das ihm durch mangelndes Verständnis für Sexualbiologie und Sexualpathologie bisher fast völlig verschlossen geblieben ist. Da- mit soll denjenigen, die seelisch besonders schwer unter ihrer homo- sexuellen Anlage leiden und das Verlangen haben, heterosexuell um- gestimmt, zu werden, nicht die Hoffnung genommen werden, daß es der sexualwissenschaftlichen Forschung im Verein mit der ärzt- lichen Kunst doch noch einmal möglich sein wird, das Triebleben durch Kegulierung der inneren Sekretion völlig in die gewünschte Bahn zu lenken. Was die Anzahl homosexueller Männer und Frauen anlangt, so muß man durchschnittlich auf 50 Personen eine rechnen. Wer sich dafür interessiert, worauf diese Ziffer sich stützt, den muß ich auf mein großes Buch: „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (Berlin 1914) verweisen. Dort findet man auch das, was ich in diesem Kapitel zusammengefaßt habe, durch zahlreiche Beispiele be- legt, die zu vermehren ich aus Raumrücksichten hier tunlichst ver- mieden habe. Nur ein einziges Dokument möchte ich aus den vielen lausenden meines Materials herausgreifen, weil es die geschilderte Symptomentrias: das negative Verhalten zum Weibe, das positive i 219 zum Man rip, und die intersexuelle Konstitution besonders anschau- lich wiedergibt. Es handelt sich um einen Brief, den ein entflohener Sohn an seinen Vater, einen hohen Politiker, richtete. Zu allen Zeiten war es ein Verfahren, das selten seinen Zweck verfehlte, einen Gegner, dem man persönlich sonst nichts anhaben konnte, dadurch unschädlich zu machen, daß man sein Sexualleben, sei es sein eigenes oder das seiner Angehörigen „aufdeckte". Dieser alten Methode war der Sohn, ein junger Rechtsanwalt, zum Opfer gefallen. Als eine der Unterlagen zu dem von mir erforderten Gutachten, übergab mir der Vater den hier abgedruckteu Brief, den der Sohn etwa 10 Jahre vorher an ihn gerichtet hatte. Er war damals nach der Schweiz entwichen, weil die Mutter seines Freundes von ihm stammende Liebesbriefe aufgefangen hatte und mit Anzeige drohte. Der Sohn dieser Frau erschoß sich bald darauf. Unter meinen „Selbstmörder- briefen" befindet sich der Abschiedsbrief an seinen Freund, in dem er „30 Minuten bevor der vor ihm liegende Revolver ihn erlöst", in erschütternder Weise ausruft: „Ich kann ohne Dich nicht leben; es ist die wahre Liebe, die ich mit mir ins Grab nehme; bewahre Deinem Fredi ein gutes Andenken, vergiß Deinen Liebling nicht." Dieser Todesfall ereignete sich jedoch erst einige Monate später, nachdem der Empfänger, damals Student der Jurisprudenz, den fol- genden Brief an. seinen Vater schrieb: „ . . . Nun aber zum Wichtigsten, zu der innerlichen Seite der Sache. Du sprichst in Deinem Briefe von einer geplatzten Eiterbeule; ich hoffe Dir hier zu zeigen, daß man davon nicht wohl reden kann, daß vielmehr ein anderes Bild richtiger die Lage bezeichnet: Eine eiserne Maske, die ich nun schon, seit ich denken kann, tragen mußte vor jedem Menschen, und sei es der Nächststehende, ist jetzt gefallen, wenigstens einem Menschen gegenüber, der mir nahesteht : Jch stehe jetzt zum ersten Male Dir als das gegenüber, was ich wirklich bin und von Geburt an gewesen bin, ein homosexueller Mensch. Ich habe niemals für ein Weib Liebe empfunden, sondern immer nur für junge Männer, und zwar solche, die jünger und rarter waren als ich (aber natürlich erwachsen waren). Glaub' nicht, daß ich mich dadurch von Schuld freiwaschen will. Ich weiß ganz gut, daß ich gegen Dich und die Familie fehlte von dem Augenblick an, wo es mir nicht mehr gelang, diese mir angeborenen und natürlichen Triebe zu bezwingen. Das war eine Schuld, solange die jetzige gesetzliche, namentlich aber gesellschaftliche Ächtung der Homosexuellen besteht. Erklärlicher wird diese Schuld vielleicht auch einem „normal", d. h. mit der Mehrheit der Menschen Empfindenden, wenn er sich den inneren Zustand eines Menschen vorstellt, der seine eigene homosexuelle Ver- anlagung erkannt hat, der erfährt und merkt, daß es unzählige ihm Gleichgeartete gibt, daß Gesetz, Volks- und Gesellschaftsauffassung von falschen tatsächlichen Voraus- setzungen ausgehen, und offenbar aus einer Zeit stammen, in der sich die Wissen- schaft überhaupt noch nicht mit dem Wesen der Homosexualität befaßt hatte. — Auch bei mir, wie fast bei allen Homosexuellen, wurde die eigene Erkenntnis erst spät zur völligen Sicherheit. Du weißt, daß ich von klein auf ein scheuer und schüchterner Junge war, der fröhliche Knabenspiele und Turnen nicht liebte, sich immer von anderen abschloß, und in sich selbst zurücksog, dagegen früh über mancherlei nachdachte, früh Sinn für Landschafts- und Kunstschönheit entwickelte. Ich habe als Junge schon instinktiv gefühlt, daß ich etwas anderes sei, als die Mehrzahl der anderen Jungen. IV. Kapitel: Die Homosexualität Weißt Du, mit welchen Worten mich Fräulein K. im Kindergarten begrüßte als sie nur mein Gesicht, das aus dem Mäntelchen heraussah sehen konnte? „Bist du denn ein Mädchen oder ein Junge?" fragte sie mich. Tch habe das bis heute mcht vergessen. \ls die Zeit der Geschlechtsreife herankam, bei mir schon sehr früh, mit 13 Jahren ungefähr, fing ich an für hübsche jüngere Mitschüler zu schwärmen, ohne mir natürlich im geringsten bewußt zu sein, daß das etwas mit „Liebe oder der- gleichen zu tun haben könnte. Ich mochte sie einfach sehr gern leiden, freute mich, wenn ich bei ihnen sein konnte, und wurde doch rot und verlegen wenn sie kamen usw., also genau wie es anderen Jungen in dem Stadium mit Madchenidealen treht Nicht der geringste Gedanke an „Unzüchtiges" oder dergleichen ist mir in Ver- bindung mit diesen unschuldigen Schwärmereien gekommen, wohl aber konnte mich so ein angeschwärmter Junge glücklich machen, wenn er mich seinen besten Freund oder dergleichen nannte. Ich verbarg solche kleine Glücke und Unglücke - die kamen natürlich auch vor, zumal es sich manchmal um einen Jungen handelte, mit dem ich sonst gar nicht in kameradschaftlichem Verkehr stand, — vor jedem, aus Furcht vor Lächerlichkeit da ich mich mit meinen Gefühlen auch hier wieder vereinzelt wußte. Mit U oder 15 Jahren habe ich mich zum ersten Male ernstlich verhebt, der „Geliebte war ein Mitschüler von A., mit dem ich nur durch diesen Umstand, also nur unter Preisgabe der höheren „Klassenwürde", zusammenkommen konnte. Es war ein hübscher Junge, mit zartem Teint, wunderschönen blauen Augen, und von einer Grazie der Bewegungen, die ihn sofort aus der Menge der eckigen anderen heraushob. Ks war auch hier, wie vorher bei den anderen, nur alles viel gesteigerter. Ich war unglücklich, wenn ich ihn ein paar Tage nicht gesehen hatte, sehnte mich nach ihm, machte ihm regelrechte Fensterpromenaden usw. Mein sehnlichster Wunsch war, ihn einmal küssen zu können. Ich schlug sogar einmal ein Gesellschaftsspiel vor, m dem das vorkam, erregte aber damit natürlich nur Gelächter. Er kam dann nachher von H weg, und ich habe damals nächtelang geweint und mich lange von dem Schmerz um seinen Verlust nicht freimachen können, trotzdem er mir nie mehr als anderen sugetan war. und es nie zu besonderen Vertraulichkeiten unter uns gekommen war. — Nachher in der Tanzstunde habe, ich, wie Du Dich wohl auch erinnern wirst, unter den Mädchen nie einen besonderen „Schwärm" gehabt; ich habe mit allen gleich- mäßig und freundschaftlich verkehrt, und nur an der Musik und am Tanzen Freude gehabt. Wenn die anderen von ihren angebeteten Mädchen, und hie und da auch bereits von Erfolgen erzählten, habe ich immer gedacht, ich sei wohl noch zu jung, das würde bei mir später wohl auch noch kommen. Als ich dann älter und aller wurde, und doch nie ein derartiges Gefühl sich bei mir einstellte, geschweige denn ein Erlebnis von dieser Art, kam ich wohl zu der Einsicht, daß irgend etwas bei mir „nicht in Ordnung" sein müsse; der Erfolg war, daß ich selbst anfing, solche Ge- schichten zu erfinden und zu erzählen, um nicht allzusehr mißachtet zu werden. Die Schwärmereien für jüngere Mitschüler kamen hie und da wieder vor, ohne daß aber etwas Ernstlicheres dabei gewesen wäre. Der einzige Fall, wo ich mich mit einem Mädchen eingelassen habe war damals, als die kleine Pensionärin bei uns im Hause war. Sie war zunächst durchaus der aggressive Teil und brachte es dann duich Plötzliche Kälte und Abschwenken tatsächlich dahin, daß ich in einen Zustand zwischen gekränkter Eitelkeit und Verliebtheit geriet, bei dem aber andererseits wieder das heimliche Bewußtsein, in diesem Punkte bisher immer hinter allen Kameraden zurückzustehen, eine Hauptrolle spielte. Es ist auch der einzige derartige Fall ge- blieben, und man kann ihn als Pendant zu den immerhin vorkommenden Fällen hinstellen, daß junge Bengel, die nachher vollständig normal empfinden, durch Zwangslage oder Verführung vorübergehend in unreifem Alter homosexuelle Erleb- nisse haben. Auch auf der Universität blieb die Lage die gleiche, mit dem Unterschied, daß die Mädchen ziemlich zahlreich hinter mir her waren, und ich es infolgedessen ziem- lich leicht hatte, den Bundesbrüdern und sonstigen Bekannten ein durchaus normales IV. Kapitel: Die Homosexualität 221 Liebesleben vorzutäuschen, so daß ich sogar für einen ziemlichen Mädchenjäger galt. Das war natürlich in Wirklichkeit ganz unberechtigt; ich habe alle die Mädel, die mir Karten und glühende Liebesbriefe schrieben, nicht einmal geküßt, es sei denn, daß es gerade durch die Anwesenheit von Bekannten notwendig war, um die Maske aufrecht- zuerhalten. Ich habe zu dem Zwecke sogar fingierte Liebesbriefe geschrieben. Da- gegen habe ich gleich im ersten Semester zum ersten Male einen jungen Mann geküßt, es war auf einem Fastnachtsball, in einem flüchtigen, unbeobachteten Momente. Ich habe ihn sonst nie wieder gesehen und weiß nur, daß auch er entsprechend veranlagt gewesen sein muß, da er mir gleich entgegenkam und mich wieder küßte. Trotzdem das natürlich ein sehr seliger Moment für mich war, habe ich mir eigentlich nichts weiter dabei gedacht, jedenfalls war ich mir über meine Natur immer noch nicht klar. Später war es bei manchen Bundesbrüdern bekannt, daß „der F. die Füchse abküßt, wenn er betrunken ist", doch auch ich hielt das damals noch für Ausfluß von Be- trunkenheit, oder, wenn das einmal nicht so schlimm war, für „gesteigerten Schönheits- sinn" oder ähnliches. — Immerhin fing ich doch an, solche Erfahrungen mit manchem, was ich hörte und erfuhr, zusammenzuhalten, z. B. auch mit Erinnerungen an antike Erzählungen und Gedichte von der Schule her. Daß ich aber, wenn von „Päderasten" die Rede war, und die bekannten abscheulichen Witze und Redensarten über sie ge- macht wurden, mich in keiner Weise dazu rechnete, sondern sie als etwas ganz Schändliches betrachtete, ist wohl ohne weiteres klar. Ganz langsam erst und dann mit immer größerer Gewißheit trat die Klarheit ein, besonders nachdem ich bei homosexuellen Fällen, die an die Öffentlichkeit drangen, z. B. dem Falle Krupp, außer den üblichen verständnislosen und gemeinen Gesprächen, auch von medizinischer Seite Artikel über solche Dinge las, und mir eigentlich bei jedem Worte sagen mußte, „das ist ja bei dir alles gerade so". Zugleich mit der Sicherheit der Erkenntnis begann dann der innere Kampf gegen die Betätigung immer heftiger zu werden. Ich hatte zahlreiche erotische Erlebnisse mit gleich- gearteten jüngeren Freunden, und habe mich doch lange Zeit hindurch jedesmal be- zwungen und manchen Verkehr lediglich deswegen abgebrochen, weil ich mich nicht mehr anders zu retten wußte. Schließlich hat dann Natur — und nicht Unnatur — über Verstand und Gesellschaftszwang gesiegt. Ja, Vater, ich gestehe Dir auch ein, was Frau H. aus Briefen schwerlich jemals wird beweisen können: daß ich meine angeborene Veranlagung auch betätigt habe. Natürlich nicht in dem groben Sinne, in dem heute noch allgemein an homosexuelle Betätigung geglaubt wird — ich mag das gräßliche Wort kaum denken, geschweige denn schreiben — sondern — aber das läßt sich überhaupt nicht besprechen; wenn Du an besonders innige Umarmungen denkst, wird das Bild der Wirklichkeit nahe- kommen. Ich glaube z. B.. nicht, mich im Sinne des Strafgesetzbuches jemals strafbar gemacht zu haben; immerhin schwankt ja die Rechtsprechung ziemlich, um die sich immer wieder herausstellende große Kluft zwischen der der allgemeinen Vorstellung entsprechenden Grundlage des Paragraphen und dem Falle, wie er in Wirklichkeit zur Aburteilung zu stehen pflegt, zu überbrücken. Die Hauptsache ist ja auch nicht die Strafbarkeit des einzelnen Falles nach dem Gesetz, sondern die gesellschaftliche Ächtung, der bürgerliche Tod im schlimmsten Sinne, der über jeden verhängt wird, der als Homosexueller erkannt wird. Das ist es ja auch, was in 9/10 aller Fälle dem Erpressertum die Grundlage liefert. Wer nur einmal in einen solchen Prozeß ver- wickelt war, der ist so gut wie vernichtet, den darf nachher ungestraft jeder Bier- philister am Stammtisch einen Schweinehund nennen. Kannst Du Dir nun denken, Vater, wie die Maske drückt? Wenn in einem solchen Falle alles lodert und brennt in einem; wenn man so einem Kerl, der vielleicht auf sexuellem Gebiete der größte Liederjahn und Ekel ist, und einem das Heiligste, was der Mensch kennt, die Liebe, mit grinsendem Behagen in den Schmutz tritt, wenn man dem am liebsten an die Kehle springen möchte, dann muß man dasitzen und seinen Witz belächeln. — Daß es eine homosexuelle Liebe überhaupt gibt, daß sie, t,2<£ IV. Kapitel: Die Jlomosexualität wie jede andere Liebe, der höchsten Vergeistigung und Veredelung fähig ist, glauben einem heutzutage erst wenige normal empfindende Menschen. - Eine Szene will ich noch anführen, um zu zeigen, wie sehr der Wille der Natur hier auch im Körper- lichen zum Ausdruck kommen kann. Auf einer Pfingstreise badeten wir Bundes- brüder einmal zusammen in einem Schwarzwaldsee. Ich hatte mich schon aus- gezogen und wollte eben in das Wasser hineinlaufen, da rief einer der anderen hinter mir- Seht doch bloß mal den an, der ist ja gebaut wie ein Mädchen," worauf man mich festhielt und daraufhin trotz meiner brennenden Scham begutachtete. Ein Medi- ziner unter ihnen hatte denn auch bald das Wesentliche herausgefunden: „Hüften, Becken Schenkel wie beim Mädchen, dazu der ganze Körper glatt und haarlos, es stimmt alles usw. usw." Ich bin nie froher gewesen, im Wasser zu sein. — Ich habe mir auch schon seit langem meine philosophischen Gedanken über die Sache gemacht. Denke einmal an die geschlechtslosen Wesen bei Bienen. Ameisen usw. Wie wenn nun bei den Menschen die gütige Natur dieselbe Sache in ihre Hände genommen hätte? Und zwar so gut, daß sie den Menschen die sie von der Fortpflanzung wegen zu großer Uberfüllung ausschalten will, doch die Liebe als treibende Lebenskraft belassen hätte? Dieses oder ähnliches scheint mir Dr. Hirsch- feld ebenfalls im Auge gehabt zu haben, als er im Moltke-Prozesse erklärte, er halte die Homosexualität für „im Plane der Natur liegend". Daß bedeutende Männer aller Arten, Feldherrn, Künstler, oder was sonst, Homo- sexuelle waren, wird ja jetzt schon allgemeiner bekannt. Bei Friedrich dem Großen bin ich persönlich schon lange zu der unumstößlichen Gewißheit gekommen, seit ich seine französischen Gedichte zum Teil gelesen habe. Ich brauche die anderen ja nicht zu nennen, der Unglücklichsten und Begabtesten einer war m unserer Zeit Oskar Wilde. Du mußt nicht denken, daß ich zu den übergeschnappten Leuten gehöre, die einerseits jeden großen Mann als Homosexuellen, und andererseits jeden Homo- sexuellen als Genie in Anspruch nehmen, und dadurch uns so kolossal geschadet haben. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß die Homosexualität an sich keine Minder- wertigkeit bedeutet, daß die Frage, ob einer homosexuell oder heterosexuell empfindet, nichts mit der Frage zu tun hat, ob einer ein guter oder ein schlechter Mensch, ob er begabt oder unbegabt, anständig und ehrenhaft oder nicht, Idealist oder Materialist, oder sonst etwas ist. Und ich glaube, das läßt sich an der Hand der Beispiele von zweifellos homosexuellen Menschen heute schon beweisen. — Genug davon. Das alles soll erklären und mich als Menschen rehabilitieren. Meine Schuld, die ich oben auseinandergesetzt habe, bleibt bestehen, Dir und der Familie gegenüber. Und um Dir gleich praktisch zu beweisen, daß ich nicht zu den unanständigsten Menschen gehöre und jene Schuld wieder gutmachen will, verspreche ich Dir in die Hand, daß ich, wenn die Unterdrückung dieser Sache gelingt, und ich meine Stellung in der Gesellschaft und im Vaterlande behalten kann, mehr als je bisher alle Willenskräfte zusammennehmen will, um mich nie wieder in Betätigungen meiner angeborenen Neigung einzulassen. Du wirst begreifen, daß das für mich ein Keuschheitsgelübde darstellt. i Freie Wahl, ob er ein Homosexueller sein will oder nicht, hat kein Mensch. Ich kann nicht „umkehren" und mich der Frauenliebe zuwenden. Ich kann nur auf die Art von Liebesglück, die die Natur uns gelassen hat, verzichten aus Bücksicht auf allgemeinere menschliche Werte. Und das tue ich. Eins nur verlange ich von Dir als Gegengabe. Die Freundpsliebe im idealen Sinne wird mir mein Leben lang das Heiligste sein, was ich kenne. Ich werde das anderen Menschen nicht merken lassen, die Maske vor der Welt weiter tragen, aber Du, der Du mich jetzt kennst wie kein anderer Mensch, Du sollst auch mich als Menschen im vollen Sinne des Wortes anerkennen und nicht länger als einen lasterhaften Verbrecher, der nur gehalten wird, um die Ehre der Familie zu retten. Was ich Dir versprochen habe, versprach ich um Euretwillen, IV. Kapitel: Die Homosexualität .->.>• dieses soilst Du mir sagen um meinetwillen. Wenn Du das nicht kannst, so wiegt mir keine gesellschaftliche Stellung und nichts anderes genug. Nur eins könnte mich dann bewegen, so schimpflich mich halten zu lassen, die Rücksicht auf Mutter, die einzige Frau, die ich über alles in der Welt hebe. Aber wenn diese Rücksicht einmal nicht mehr nötig sein sollte, dann würde ich lieber mit meinen Händen in der Fremde mein Brot verdienen, als in gesellschaftlichen Ehren leben durch die Gnade meines Vaters, der mich für einen Verbrecher hält Ich müßte ja wirklich ein Lump sein, wenn ich anders könnte! Daß Du mich für so niedrig halten und mir doch verzeihen konntest, das hat mich so machtlos gemacht und mir alle Waffen aus der Hand genommen. Schreib mir bitte bald über die Sachlage und nicht weniger über das Innere. Dein hoffentlich bald wiedergewonnener Sohn .Unterschrift'. ' i V. KPAITEL Der Metatropismus Der Mann als der werbende, keim streuende, die Frau als der erwartende und empfangende Teil — Männliche Aggression und weibliche Anlockung — Wirkung des A n d r i n s auf das Muskel gewebe und der Einfluß des G y n ä z i n s auf die Fettbildung — Der normale Tropismus und der Metatropismus oder die Aggressionsinversion — Der Trieb zu leiten und zu leiden — Leidlust, Leidsucht und Leidenschaft — Der feminine Masochismus des Mannes und der virile Sadismus des Weibes — Beziehungen des Metatropismus zur kon- trären Sexualempfindung — Das masochistische Weib und der sadistische Mann als Trieb Steigerungen, der masochistische Mann und das sadistische Weib als Trieb umkehrungen — Ersatz persönlicher Termini (Sadismus und Masochismus) durch sachliche — Einwendungen gegen die Bezeichnung A 1 g o 1 a g n i e (Schmerzlüsternheit) — Einstellung aller Sinnesorgane des metatropischen Mannes auf massivere Irritamente — Passiophilie der Neurotiker — Kontrast zwischen sozialer Stellung und sexuellen Neigungen — Mitleid als Lustquelle — Freude der Ilyperaktivisten und Hyperpassivisten an grausamen Vorgängen aller Art — Eigenschaften, die den Metatropisten am Weibe objektiv anziehen — Vorliebe für starke Frauen — Neigung zum älteren Weibe — Metatropismus und Prosti- tution — Die Bolle der Masseurin — - Kleidungssymbole des Meta- tropisten — Schuhwerk und Pelzwerk — Was wünscht der Metatropist selber zu sein? — Erniedrigung im Stand (Servilismus) — Erniedrigung im Alter (infantiler Metatropismus) — Erniedrigung im Geschlecht (transvesti- t i s c h e r Metatropismus) — Erniedrigung zum Tier (zoomimischer Metatropis- mus) — Erniedrigung zur Sache (impersoneller Metatropismus) — Metatropische V e r k e h rs formen — Anbahnung — Schriftwechsel, Wortwechsel — Verlangen nach strenger Erziehung, nach erniedrigenden Arbeiten, nach Freiheits- beraubung (L i g a t i o n s metatropismus), nach Tritten und Schlägen (Flagellan- tismus) — Pikazismus — Kopro - und Uro lagnie — Sukkubismus — Verkappter Metatropismus — Der tiefe Sinn der Worte Passion und Leiden- schaft — Visueller Metatropismus — Die metatropische Frau — Vorliebe der Metatropistin für den femininen Männertyp — George Sand — i Was wünscht die metatropische Frau selber zu sein? — Der w eibliche Inkubismus und andere Verkehrsformen metatropischer Frauen — » Metatropismus h e te ro sexualis und h o m o sexualis — Erotisch betonte Selbstquälereien — Beispiele sexueller Selbstverstümmelung — Beziehungen zwischen religiöser und sexueller Passiophile — Abtötung des Fleisches als Fleisches 1 u s t — Die allgemeine Bedeutung der Passiophilie ■ — Metatropisten b r i e f e. Der Geschlechtstrieb des Mannes und des Weibes unterscheidet sieh nicht allein voneinander durch das anziehende Sexualobjekt, sondern auch durch die Art und Weise, wie sich Mann \ind Weib dem begehrten Wesen gegenüber verhalten und benehmen. V. Kapitel: Der Metatropismus 225 Wie bei der großen Mehrzahl aller Geschöpfe, besonders auch wie bei nahezu sämtlichen Säugetieren, ist auch beim Menschen der Mann der angreifende, werbende, erobernde, im Akt selbst der oben befindliche, bewegliche und keimstreuende Teil; das Weib der um- worbene, gewährende, empfangende, im Koitus der unten liegende, ruhende und aufnehmende Teil. Er sucht, folgt, erklärt sich und hält an, sie wartet und erwartet, sträubt und ziert sich, nimmt ihn an und auf, oder lehnt ab. Der Mann gibt im Verkehr, die Frau aber gibt sich hin. und zwar, wenn sie liebt, voll und ganz. Allerdings kann man sowohl beim brünstigen Tierweibchen als beim menschlichen Weibe beobachten, daß sich ihrer eine gewisse Unruhe bemächtigt, wenn sich geraume Zeit kein Partner findet. Das Weibchen läuft dann erregt um das Männchen herum und läßt alle seine Eeize spielen, um anzulocken. Ganz ähnlich verhält sich oft das Menschenweib. Daraus aber nun zu folgern, wie es Bucura1) tut, die Frau sei „im Annäherungstrieb und in der Wer- bung aktiv, der Mann passiv", er scheine nur aggressiv, weil er weniger Hemmungen habe, halte ich für ungerechtfertigt. Die anatomische und psychologische Beschaffenheit der Ge- schlechter steht mit dieser Annahme im Widerspruch. Von dieser Grundlage aber, ab o v o im eigentlichsten Sinne des Wortes, müssen wir ausgehen, um die Unterschiede im männlichen und weiblichen Geschlechtsverkehr richtig zu begreifen. Das urweibliche Symbol ist die abgerundete Eizelle, die sich nur passiv fortbewegen kann, während die unruhige, eigenbewegliche, gestraffte Samenzelle als männliches Symbol gelten kann. Der weibliche Körper mit seinen ausgebuchteten Formen bildet gleichsam ein Eierstocksgewölbe, die Gestalt des Mannes ist mehr ein Abbild der Samenzelle. Das Sekret, welches die Samenzellen mobilisiert, verleiht auch den übrigen Organen, vor allem den Nerven und Muskeln, mehr bewegliche Kraft, hingegen begünstigt das weibliche Innensekret, das Gynäzin, im Gegensatz zum Andrin, mehr die Ruhe und damit die Fettbildung. Dadurch also, infolge ihres verschiedenen Chemismus und der von diesem abhängigen Funktions- und Übungsversehiedenheit, wurde der Mann das stärkere, das Weib das schwächere Geschlecht. Von höchster Wichtigkeit aber ist, daß der Mann aktiv seine Keimzellen in den Schoß des Weibes hineinbefördert. Zu diesem Zweck ist er beim Verkehr incubus, das Weib succubus. Sein Leib führt beim Geschlechtsakt mehr oder weniger rhythmisch-reflek- torische Bewegungen aus, während ihr Leib sich verhältnismäßig passiv verhält. Der Körper des menschlichen Weibes ist sogar bis zur ersten Begattung verschlossen, erst der Mann erschließt ihn, womit eine nicht unbeträchtliche Veränderung, ja eine Verwundung x) Bucura, Gonstantin J. Hirschfeld, Sexualimthologie. It. Geschlechlsunterschiede, S. 45. 15 226 V. Kapitel: Der Metatropismtis ihres Leibes verbunden ist. Der Körper des Mannes ist dagegen vor und naeb dem ersten Verkehr völlig- der gleiche, ebenso vor und nach der ersten Zeugung, er vermag an s e i n e m Leibe durch nichts wahrzunehmen, ob er Vater geworden ist. Die sich hieraus ergeben- den Zweifel und Skrupel sind von neueren Dichtem, wie von Ibsen in der „Wildente", von Strindberg im „Vater" mehrfach dramatisch bearbeitet worden. Die Frau unterliegt aber nicht nur in der Deflo- ration, sondern auch bei den regelmäßigen Menstruationen, während der Befruchtung. Schwangerschaft und Entbindung organischen Vorgängen von tief einschneidender Bedeutung, für welche es beim Manne kein Analogon gibt. Dies alles rechtfertigt den Satz, daß die beiden Geschlechter wohl gleichwertig, auch gleichberechtigt, sicher- lich aber nicht gleichartig sind. Aus dem Angeführten erhellt, daß dem Manne im ganzen im Geschlechtsleben eine aktivere, dem Weibe eine passivere Rolle zukommt. Der Komparativ besagt hier weniger wie der Positiv, er will ausdrücken, daß ein gewisser Grad von Aktivität auch beim Weibe vorhanden ist, eine gewisse Passivität auch nor- malerweise dem Manne innewohnt. Dies wird dadurch bewirkt, daß die Frau für den Mann die objektiv-primäre Reizquelle ist, die durch die von ihr ausstrahlenden Eigenschaften sein Sensorium lustbetont beeinflußt, so daß die affizierten Sinne sich den Reizen spontan zuwenden. In diesem anfangs meist unbewußten, nach und nach in ihr Bewußtsein dringenden und dann meist mehr oder weniger bewußten Locken des Weibes liegt eine Art von Auf- forderung, der ein tätiger Charakter nicht ganz abzusprechen ist. Es ist aber doch nur eine scheinbare Aktivität, denn das Wesent- liche bleibt, daß, wenn Reize ein Geschlechtsempfindungszentrum von spezifischer Empfänglichkeit treffen, sich dieses Zentrum ziel- strebig, automatisch nach der Reiz- und Lustquelle hinneigt. Auf dieser Zuneigung und Zuwendung liegt der Schwerpunkt, gleichviel ob es nur das nachschauende Auge, das der sympathischen Stimme lauschende Ohr ist, welches sich hinwendet, oder ob es die Hand ist, welche zärtlich die anziehenden Teile berührt oder Liebesbriefe schreibt, oder ob es die in immer stärkerer Steigerung zu immer innigerem Kontakt drängenden Körperoberflächen sind. Es kommt hier zu Stadien, in denen Aktion und Reaktion, Reiz und Lust völlig zusammentreffen, und eine aktive und passive Phase, ein subjektiver und objektiver, ein primärer und sekundärer, motorischer und sen- sorischer Vorgang, ein Geben und Nehmen kaum noch zu unter- scheiden sind. Denken wir beispielsweise daran, wie sich im Kusse die vom Gehirn zu den Lippen auf motorischem Geleise ver- laufende Handlung mit der Empfindung verbindet, welche auf um- gekehrtem sensorischem Wege vom Munde zum nervösen Zentral- organ zurückläuft. 227 Dieses Zuwenden kann man in Anlehnung an den Heliotropis- inus der Pflanzen, dem Cheinotropismus der Elemente als sexuel- len Tropismus (oder Genotropismus) bezeichnen. Zieht man dabei die Bedeutung in Betracht, welche der innere Chemismus als Geschlechtscharakter hat, so liegt in der Zusammenstellung mit dem Chemotropismus vermutlich mehr eine Identität als eine Analogie, mehr eine Gleichsetzung als ein Vergleich. Hat doch kein Geringerer wie Häckel bereits in seiner „Anthropogenie" den „erotischen Chemotropismus als Urquelle der Liebe" bezeichnet. Sicherlich ist die tropistische und höchstwahrscheinlich chemotropistische Art, wie die Samenzelle im Innern des weiblichen Organismus von der Ei- zelle angezogen wird, wie sie diese sucht und findet, im kleinsten eine Wiedergabe dessen, was sich im großen zwischen Mann und Weib abspielt. Wie die Samenzelle in den Leib der Eizelle, so dringt der Mann in den Körper des Weibes. Wie die Eizelle dem sich nähernden Kopf der Samenzelle den Empfängnishügel entgegen- streckt, streckt auch das Weib dem Manne, der von ihr Besitz nimmt, ihren Körper entgegen. Wir wissen, daß die Besitzergreifung des Weibes durch den Mann in alten Zeiten viel gewalttätiger vor sich ging als heutzutage. Ähnlich wie bei der Mehrzahl der Tiere wurde das Weibchen vom Manne überwältigt, brutalisiert. Die Raubehe und die Entführungs- sitte, von der in der Hochzeitsreise noch Reste wahrnehmbar sein sollen, legen davon Zeugnis ab. Auch als man schon zu milderen Gebräuchen übergegangen war, als man sich Weiber durch Tausch und Kauf verschaffte, kamen noch gelegentlich Rückfälle in die ur- sprünglichen Gepflogenheiten vor, wie der Raub der Sabinerinnen, oder die Geschichte im biblischen Buche der Richter lehrt, nach der sich Leute vom Stamme Benjamin mit Gewalt Weiber aus Schilo holten. Für unsere Betrachtung fällt ins Gewicht, daß die Frau, gleichviel ob durch Raub, Tausch oder Kauf erworben, ursprünglich ein Eigentum des Mannes wurde, mit der er nach Belieben schalten und walten konnte. Durfte er sie doch bei manchen Völkern sogar weiterverkaufen oder verpfänden. Er, der Herr, übte allein die Herrschaft aus, die Frau war ein Teil der Herrschaft. In den meisten Sprachen — das französische l'homme und englische man sind Bei- spiele — hatte das Wort Mann zugleich die Bedeutung von Mensch, das Weib „das Frauenzimmer" war vielfach sogar nicht einmal weiblichen, sondern sächlichen Geschlechts. Dementsprechend verlor mit der Verehelichung das Weib fast überall ihren eigenen Namen und erhielt den des Mannes. Daß gleichzeitig aus dem Fräu- lein eine Frau, ebenso wie aus der Miß eine Mistreß, aus der Made- moiselle eine Madame, der Signorina eine Signora wurde, während die entsprechenden Bezeichnungen des Mannes durch die Hochzeit keine Änderung erfuhren, dürfte allerdings weniger mit dem wirt- 1.')* 228 schaftlichen Charakter der Ehe, als mit der damit verbundenen Vor- stellung der Defloration zusammenhängen, welche den Leib der Jungfrau und damit Seele und Bedeutung des Weibes nicht un- wesentlich umgestalteten. Was der Mann von der Frau in erster Linie verlangen zu können das Recht zu haben glaubte, selbst dann noch, als er ihrem Vater nichts mehr für sie zahlte, sondern von ihm noch etwas dazu bekam, die sogenannte Mitgift, war, daß sie ihm als ihrem Herren eine gehorsame Dienerin sei, noch jetzt lautet in England die Eheformel der Frau: „To love, to serve und to obey", und Goethes Worte aus „Hermann und Dorothea" : „Dienen lerne bei- zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung", Schillers: „Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden, das harte Dulden ist ihr schweres Los", entsprechen auch gegenwärtig noch den Anschauungen und Wünschen konservativer Kreise. Jede Abhängigkeit bewirkt, selbst wenn der Beherrscher nichts weniger als streng ist, von Seiten des unterworfenen Teils einen latenten Widerstand, eine innere Auflehnung, ein Aufbäumen, das instinktiv, oft unmerklich dazu übergeht, sieh in irgendeiner Weise dem Machthaber überlegen zu zeigen. Das Weib verfügt zu diesem Zwecke von Natur über ausgezeichnete Mittel. Sie kann dem Manne, der nach der ihrem Leibe entströmenden Lust hungert und dürstet, die Liebe zu einer wahren Leidenschaft machen. Diese Wortbildung enthält das ganze Geheimnis der Leidlust, der Passiophilie, auf die schon der persische Dichter ßurai 2) das Wort münzte: „Liebe ist ihrer Natur nach Schmerz." Mit dem Eroberungsdrange des Mannes und der Widerstands- kraft des Weibes hängt der Kampf der Geschlechter zusammen, der auf beiden Seiten mit vielen wirksamen Waffen geführt wird. Nach Meinung der einen hat in diesem unausgesetzten Kampfe, der ver- mutlich schon so lange geführt wird, als es eine Trennung der Ge- schlechter gibt, das Weib, nach Ansicht anderer der Mann die Ober- hand behalten. Diese Verschiedenheit der Auffassung dürfte daher rühren, daß für viele Fälle das eine gilt, für viele aber auch das andere zutrifft. Von Wichtigkeit ist, daß die beiden Gegensätze, um die es sich hier handelt, auch außerhalb des Liebeslebens als zwei sich gegen- überstehende Grundtriebe des Menschen eine entscheidende Rolle spielen: der Trieb zu leiten und sich leiten zu lassen, Beherr- schungsdrang auf der einen Seite, im Extrem gesteigert bis zu despo- tischer Tyrannei und grausamer Willkür; Willfährigkeit auf der anderen Seite, im Extrem herabsinkend bis zur tiefsten Ergebenheit, Untertänigkeit und Hörigkeit. Wir wollen hier ununtersucht lassen, ob und inwieweit der ge- -) Zitiert nach Bloch: Sexualleben, S. 614. 229 steigerte Aktivismus und Passivismus als Triebfedern, mit anderen Worten als ein unbewußt, unterbewußt, ja vielfach sogar bewußt erotisch gefärbter Herrschafts- und Unterwürfigkeitsdrang auch für das allgemeine Leben von ausschlaggebender Bedeutung sind; auch soweit sie sich innerhalb normalsexueller Grenzen bewegen, sollen sie uns hier nicht ausführlicher beschäftigen, sondern nur in Kürze zum besseren Verständnis herangezogen werden. Für uns kommt hier nur der pathologisch gerichtete, und der, wenn umgewendet, auch meist gesteigerte Herrsch- und Diensttrieb in Betracht. Eine Umkehrung und damit eine Abweichung vom Geschlechtstypus haben wir dann festzustellen, wenn in der Liebe des Mannes die passive Lust am Dienen und Leiden, beim Weibe die aktive Neigung zur Unterjochung und Demütigung in ausgesprochener Weise über- wiegt. Bezeichneten wir das normale Verhalten der Geschlechter untereinander als sexuellen Tropismus, so können wir ein derartig abnormales Verfahren, in dem das Weib die aktive, der Mann die passive Rolle spielt, Metatropismus nennen (griechisch: fisrä wie in Metamorphose im Sinne von umgekehrt). Wir ziehen diesen Terminus den von Krafft-Ebing mit großem Erfolg in die Fachliteratur eingeführten Begriffen eines männlichen „Masochismus" und weiblichen „Sadismus" vor. Den Masochismus erklärte Krafft-Ebing als „eine eigentümliche Perversion der Vita sexualis, welche darin besteht, daß das von derselben ergriffene In- dividuum in seinem gescl lechtlichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht, dem Willen einer Person des anderen Ge- schlechts vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemütigt und selbst mißhandelt zu werden. Diese Vorstellung wird mit Wollust betont; der davon Ergriffene schwelgt in Phantasien, in welchen er sich Situationen dieser Art ausmalt; er trachtet oft nach einer Ver- wirklichung derselben und wird durch diese Perversion seines Ge- schlechtstriebes nicht selten für die normalen Reize des andern Ge- schlechts mehr oder weniger unempfänglich, zu einer normalen Vita sexualis unfähig — psychisch impotent." Au anderer Stelle umgrenzt Krafft-Ebing den Sadismus dahin, daß er unter ihm Akte der Grausamkeit versteht, „die vom Manne am Körper des Weibes verübt werden, nicht sowohl als präpäratorische Akte des Koitus bei gesunkener Libido und Potenz, sondern als Selbstzweck zur Befrie- digung einer perversen Vita sexualis". Im Gegensatz hierzu gehören nach diesem Autor dann zum Masochismus Fälle, in denen „der Mann auf Grund von sexuellen Empfindungen und Drängen sich vom Weibe mißhandeln läßt, und sich in der Rolle des Besiegten statt des Siegers gefällt". Während Krafft-Ebing die Bezeichnung Sadismus dem französischen Schrifttum entlehnte, bildete er den Ausdruck Maso- 230 V. Kapitel: Der Metatropismus chismus selbst. Die Naniengeber beider Anomalien entstammten alten aristokratischen Familien. Während der Marquis de Sade, welcher 1740 in Paris zur Welt kam und 1814 im Irrenhause von Charenton endete, in seinem umfangreichen Lebenswerk Verbin- dungen aller Arten von Grausamkeit und Wollust mit ausschwei- fendster Phantasie schilderte, gefiel sich der österreichische Schrift- steller Leopold von Sacher Masoch (geb. 1836 in Lemberg, gest. 1895 in Lindheim bei Weinheim) darin, in seinen Komanen wieder und immer wieder Verhältnisse darzustellen, in denen eine stolze, ge- bieterische „Herrin" vielfach mit Pelz und Peitsche, als Herrschafts- emblemen, einen ihr sklavenhäft ergebenen, willensschlaffen, wenn auch häufig geistig bedeutenden Mann demütigte und mißhandelte. Krafft-Ebing erkannte auch bereits, und der gründlichste Kenner dieser Triebstörung, Albert Eulenburg, schloß sich ihm in dieser Auffassung völlig an, daß dem masochistischen Unter- würfigkeitsdrang des Mannes ein passiv femininer Charakter innewohnt, während die sadistische Unterjochungsneigung des Weibes eine männlich aktivistische Note besitzt. So meint Krafft- Ebing einmal, es liege nahe, den Masochismus überhaupt als eine pathologische Wucberun g spezifisch weiblicher Elemente anzusehen, er sei eine krankhafte Steigerung einzelner Züge der psychisch weiblichen Geschlechtscharaktere, man habe daher seine primäre Entstehung bei diesem Geschlechte zu suchen. Er fügt hinzu, man könne als feststehend annehmen, daß sich eine Neigung zur Unterordnung unter den Mann beim Weibe bis zu einem gewissen Grade als normale Erscheinung vorfinde. Der Verfasser der Psychopathia sexualis zitiert in diesem Zusammenhange den Ausspruch der Lady Milford in Schillers „Kabale und Liebe" (2. Akt, 1. Szene): „Die höchste Wonne der Gewalt ist doch nur ein elender Behelf, wenn uns die größere Wonne versagt wird, Sklavinnen eines Maniies zu sein, den wir lieben." An anderer Stelle (S. 150) sagt Krafft-Ebing: „Während der Sadismus als eine patho- logische Steigerung des männlichen Geschlechtscharakters in seinem psychischen Beiwerk angesehen werden kann, stellt der Masochis- mus eher eine krankhafte Ausartung einer spezifisch weiblichen psychischen Eigentümlichkeit dar," und weiter (Anm. zu S. 155): „Es drängt sich der Gedanke auf, daß der Masochismus, wenn auch nicht immer so, doch in der Kegel ein Erbstück der Hörigkeit weib- licher Vorfahren sei. Er tritt so," heißt es dann in einer wenn auch sehr entfernten Beziehung zur konträren Sexualempfindung, „als Ü b e r g a n g einer eigentlich dem Weibe zukommen- den Per version auf den Mann." Einige Seiten weiter spricht sich der Verfasser sogar direkt dahin aus, daß „der Masochismus eigentlich eine Form der konträren Sexual empfindung sei, eine partielle Effeminatio, welche nur die sekundären Ge- 231 seMeehtsdharaktere der psychische n Vita sexualis ergriffen hat"; vorher hat er nochmals dargelegt, daß der Masochismus eine ins Pathologische o titrierte Erscheinung weih: lieh er psychischer Geschlechtsmerkmale darstelle, da „ein Merkmal derselben Duldung, Unterwerfung unter den Willen und die Macht i s t". Über den Sadismus, als einer pathologischen Steigerung männlicher Geschlechtseharaktere, hat sich Krafft-Ebing ganz ähnlich ausgesprochen. Ihne wichtige Stütze seiner Annahme findet der Wiener Psych- iater darin, daß „heterosexuelle Masochisten sich oft als weiblich fühlende Naturen bezeichnen und bei Beobachtung auch tatsächlich weibliche Züge aufweisen, ferner darin, daß „masochistische Züge so überaus häufig bei homosexuell fühlenden Männern anzutreffen sind". Das Analoge findet sich bei sadistischen Frauen; sie haben oft seelisch und körperlich viel männliche Eigenschaften, auch findet sich weibliehe Homosexualität nicht selten mit Sadismus vergesell- schaftet vor. Ziemlich häufig kommt auch bei Frauen eine eigene Form der Bisexualität vor, die darin ihren Ausdruck findet, daß dem einen Geschlecht, beispielsweise dem Weibe gegenüber, maso- chistische Kegungen vorhanden sind, während dem andern gegen- über eine sadistische Neigung vorliegt. Daß der heterosexuelle Metatropist ganz ähnlich wie der Homo- sexuelle und Transvestit häufig einen recht femininen Eindruck, nicht nur psychisch, sondern auch körperlich, in Gestik und Mimik macht, kann ich auf Grund eigener umfangreicher Erfahrungen be- stätigen. Namentlich wird man, wenn man ihn genauer kennen lernt, kaum je bei einem Masochisten anderweitige weibliche Ein- schläge im Seelenleben vermissen. Damit wird auch der Gedanken- gang mancher Masochisten widerlegt, ihre Sonderart sei doch nur ein Ausfluß der männlichen Ritterlichkeit, der sich der edel- gesinnte Mann dem schwächeren und schöneren Geschlecht gegen- über pflichtgemäß zu befleißigen habe. Da der Ritter, der Kavalier, gerade als eine recht männliche Erscheinung gelte — so fahren sie fort — , könne doch auch in ihrem Gebaren nichts Unmännliches liegen. Offenbar liegt die Umschlagstelle zwischen den Gegensätzen Beherrschen und Bedienen im Begriffe des Beschützeus. Der Ritter beschützt das Weib, indem er es aber unter seinen Schutz nimmt, bedient er es auch und kann, wenn seine Geneigtheit dem entsprechend ist, dann leicht weiter hinabgleiten bis zur völligen Hingabe an die geliebte Herrin, wie uns solches vom „Minnedienst" des Ritters Ulrichs von Lichtenstein und anderer Minnesänger über- liefert wird. Aber gerade dieses historische Beispiel zeigt uns wieder die enge Zusammengehörigkeit von Masochismus und Femi- nismus, wissen wir doch, daß Ritter Ulrich von Lichtenstein, der als 232 V. Kapitel: Der Metatropismus „Königin Venus" durch die Lande zog, ebenso wie Ritter Otto von Buchawe und Ritter Friedrich von Auchenfurt Frauenkleider anlegte, um sich, so angetan, „züchtiglich vielen schönen Frauen zu zeigen" (vgl. Transvestiten, S. 431 u. ff.). Ulrich rühmt sich, daß, wenn er „ganz in Frauensitte ging, sein Tritt kaum händebreit war, und daß er ein dargereichtes Buch so nahm, wie Frauen tun". Wer die Einzelfälle genau analysiert, wird alsbald die Überzeugung gewinnen, daß die zitierten Ausführungen Krafft- Ebings den Kernpunkt des ganzen Problems treffen, nämlich, daß der Masochismus des Mannes und der Sadismus des Weibes aus- gesprochen metatropische Erscheinungen sind. Vom sexual- psychologischen Gesichtspunkt aus sind der Masochismus des Weibes und der Masochismus des Mannes zwei grundverschiedene Dinge, und ebenso der Sadismus des Mannes und des Weibes. In dem einen Falle handelt es sich um einen Exzeß, im andern um eine Inversion, der eine Fall bedeutet nur eine Steigerung, der andere aber eine völlige Umkehrung des eigentlichen Geschlechts- typus. Aus diesem Grunde erscheint es mir auch nicht richtig, diese beiden verschiedenen Gefühlskomplexe gemeinsam abzuhandeln und mit dem gleichen Namen zu belegen, wie es in der bisherigen Lite- ratur üblich ist. Den vielgestaltigen Sadismus des Mannes und den Masochismus des Weibes will ich dort beschreiben, wo ich die Hyper- ästhesien und erotomanischen Exzesse des menschlichen Geschlechts- triebes schildere, während der masochistische Mann und das sadisti- sche Weib offenbar in diesem Bande, ihren Platz haben müssen, der den Abweichungen vom Sexualtypus gewidmet ist. Eine maso- chistische Frau nach Sacher-Masoch zu benennen, wie es in der Fachliteratur noch gang und gäbe ist, erscheint völlig unangebracht. Denn wer das Leben, das Wesen und die Werke dieses Schriftstellers kennt, weiß, daß sie gerade vom Gegenteil des inasochistischeu Weibes, nämlich von der „Herrin", der „Domina" erfüllt sind; das Wesentliche in Masochs Schriften ist gerade der Metatropismus, die sklavenhafte Unterwürfigkeit des Mannes unter das kraftvolle Weib. Wir sehen bei dieser Feststellung ganz davon ab, ob nicht überhaupt der Gebrauch von Personennamen in der sexual wissenschaftlichen Nomenklatur besser unterbleiben sollte, wie ich dies bereits im vorigen Bande hinsichtlich der Onanie gleich Ipsation vorgeschlagen habe. Es heißt dem Andenken eines literarisch verdienstvollen Murines, dessen Kinder noch leben, keinen Gefallen erweisen, wenn man Empfindungen und Handlungen nach ihm benennt, von denen er seihst keineswegs verraten hat, ob sie im einzelnen tatsächlich bei ihm vorhanden waren, oder ob sie nur seiner Dichterphahtasie ent- sprangen. Kann man auch nicht von jedem wissenschaftlichen Ter- minus beanspruchen, daß er völlig den Inhalt des Begriffes deckt, I 233 so darf man doch wohl verlangen, daß er etwas ganz Wesentliches ausdrückt. Der Ausdruck Metatropismus erfüllt diese Forde- rung, die Bezeichnung Masochismus nicht. Die Berufung Krafft- Ebings auf das Beispiel des Daltonismus für Farbenblindheit trifft insofern nicht zu, als es sich hier doch um ein viel umgrenzteres und sehr viel weniger heikles Krankheitsgebiet handelt. Ferner war Dalton, der als erster die Krankheit, an der er selbst litt, beschrieb, kein Belletrist, sondern ein berühmter Naturforscher. Auch wurde der persönliche Name ziemlich bald durch den sachlichen „Farben- blindheit" fast völlig verdrängt. Das Unzureichende in den Bezeichnungen Masochismus und Sadismus ist auch von anderen Seiten bereits empfunden und betont worden. So von Schrenck-Notzing, der dafür den auch von Eulen- burg übernommenen Ausdruck Algolagnie (von äXyog Schmerz und Xayveicc Lüsternheit) empfahl und aktive und passive Algolagnisten unterschieden wissen wollte, je nachdem solche Personen Schmerzen einem andern zufügen oder selbst von einem andern erleiden wollen. Eulenburg hat noch eine dritte, wie er bemerkt, „zahmere Abart oder Spielart", nämlich die ideelle oder illusionäre Algolagnie hinzu- gefügt, die darin bestehen soll, daß „die geschlechtliche Erregung und Lustbefriedigung in psychisch-onanistischer Weise lediglich aus der autosuggestiv produzierten und lebhaft apperzipierten Vorstel- lung verübter oder erlittener Mißhandlung geschöpft wird". Übrigens machte auch schon Thoinot (L. Thoinot: Attentate aux moeurs et perversions du sens genesique, Paris 1898) den wichtigen Unterschied zwischen „fictions ideales masochistes" und .,secnes inasochistes reelles", in denen „le masochiste va passer du reve a la realite". Gegen die Bezeichnung Algolagnie, wie überhaupt gegen den Begriff des Masochismus als einer durch Schmerz hervor- gerufenen Geschlechtserregung, läßt sieh mancherlei, vor allem aber folgendes einwenden: da das, was dem Normalen Schmerz verursacht, bei dem Masochisten keine Schmerz- und Unlustempfind ungen, sondern im Gegenteil Lustgefühle auslöst, so ist eben für ihn der Schmerz subjektiv und objektiv kein Schmerz. Ich habe mir oft von passiven Flagellanten sagen lassen, daß die Schläge auf das Gesäß zwar für sie erotische Irritamente seien, die sie nicht ent- behren möchten, daß sie sich sogar vielfach Mühe gäben, „eine tüch- tige Portion" davon zu vertragen, indem sie ihre Empfindlichkeit nach Möglichkeit abstumpften, daß aber, wenn man ihnen wirklich wehe täte, die sexuelle Anregung zurücktrete, weil dann eben das Unlustgefühl das Lustgefühl übertönte. Mir scheint es, daß man der Lösung dieses Rätsels wesentlich näher kommt, wenn man die von den Masochisten für die Haut- sinnesncrven begehrten Reize mit denen vergleicht, welche seine 234 V. Kapitel: Der Metatropismus anderen Sinnesnerven verlangen. Da wird man dann bald gewähr, daß nicht etwa nur das Hautorgan, sondern auch die vier übrigen Sinnesorgane nach viel stärkeren und massiveren Irritamenten lechzen, als es bei Normalsexuellen die Regel ist. Das Auge liebt das kräftigere, robustere Weib, das Ohr die rauhere, gröbere „herrische" Stimme. Ebenso ist die Nase auf derbere Reize erpicht, wie in besonders krasser Weise die Harn- und Afterriecher zeigen. Ähnlich ist es mit dem Gesekniacksorgan. Während dieser im normalen Sexualleben des Menschen nur eine untergeordnete Rolle spielt, gehört die Zunge bei vielen Masochisten geradezu mit unter die Geschlechtsorgane, wie die große Verbreitung der Cunnilinctio bei metatropischen Männern beweist, wobei ich die von Märzbach aufgeworfene ^nd negativ beantwortete Frage, ob nicht alle „lecheurs" überhaupt Masochisten seien, unentschieden lassen möchte. Stellt man einfach nebeneinander, auf welche ge- steigerten Eindrücke der Opticus, Acusticus, Olfactorius und Glosso- pharyngeus der Metatropisten eingestellt sind, so verliert der Um- stand, daß nun auch der Cutaneus als fünfter Sinnesnerv nach inten- siveren Impressionen verlangt, viel an Absonderlichkeit. Fast scheint es, als ob schwächere Nerven stärkerer Eindrücke bedürfen, um sich erotischen Lustgewinn zu verschaffen; allmäh- lich suchen sie sogar oft immer kräftigere Nervenreize, weil ihre Sinne sich an die weniger derben mit der Zeit gewöhnen, ähnlich wie sieh das Nervensystem nach und nach auch in stärkere elek- trische Ströme „einschleichen" kann. Mit Übersättigung oder auch, nur mit Variationsbedürfnis hat jedoch ein solcher „Reiz- hunger" nichts zu tun; diese veraltete Auffassimg hält in der Sexual- pathologie objektiver Nachprüfung nicht stand. Nerven von ge- sunder Sinnlichkeit und Empfindlichkeit reagieren auf Normal- er ize, schwächere Nerven bedürfen mehr, um erotisch aktiviert zu werden, und auch dann entwickeln sie nicht die volle motorische Stärke eines kräftigen Nervenmenschen, der sich selbsttätig Lust- <i utdlen im Weibe erobert, sondern sie bringen es nur zu passiver Entgegennahme der sie berauschenden Lehensreize. So erklärt es sich, daß die meisten Passiophilen von Hause aus Neurotiker, genauer Neurastkeniker und Psychastheniker sind. Man kann diesen Satz auch umdrehen und sagen, daß die meisten Neuropathen und Psychopathen von Hause aus nicht sexuelle Voll- nienschen sind, sondern in das große Gebiet intersexueller Varianten gehören, zum mindesten aber sexualpathologische Züge aufweisen. Mit der hier vertretenen Auffassung des Masochismus steht es nicht im Widerspruch, daß nicht ganz selten masochistische und sadistische Gelüste in einer Person vergesellschaftet vor- kommen. Da sieh in jedem Menschen durch zweigeschlechtliche Zeugung männliche und weibliche Erbmasse uud damit auch aktive V. Kapitel: Der Metatropismus 235 und passive Komponenten vereinigen, ist es theoretisch sehr wohl denkbar, daß sich gelegentlich auch wohl einmal beide gesteigert als pathologischer Aktivismus und Passivismus nebeneinander fin- den. Die praktische Erfahrung zeigt sogar einen merkwürdigen Kontrast, nämlich den, daß ausgesprochene Sadisten im Leben oft recht weiche, zarte, Masochisten dagegen ansonsten häufig recht grobe und derbe Menschen sind. Während des Krieges suchte mich einmal ein Unteroffizier auf, der hochgradig metatropisch war; er hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als „das Dienstmädchen einer recht strengen Herrin" zu sein. Dieser teilte mir mit, daß er in seiner Truppe verrufen sei, weil er die Soldaten beim Exerzieren „so fürchterlich schleife". Es täte ihm wohl, wenn er so lange „auf, nieder" kommandieren könne, bis die Leute vor Wut ganz erbost auf ihn seien, gleichzeitig hätte er mit ihnen aber tiefes Bedauern. Frauen, die aus dem Masochismus der Männer ein Gewerbe machen, berichten, daß unter ihren Kunden auffallend viel „schneidige Herren mit Durchziehern", eine sagte „Assessoren, Staatsanwälte und Offiziere" seien. Natürlich ist auf die Aussagen solcher Ge- werblerinnen nicht viel zu geben. Nun gab es in Berlin früher — ob auch jetzt noch, ist mir unbekannt — einige solcher Frauen, die Einrichtungen getroffen hatten, daß man unbemerkt ihren Sitzungen beiwohnen konnte, ohne daß der unglückliche Gast eine Ahnung hatte, daß man sein Leiden auch noch zur Schau stellte. Diese Masseusen hatten durch die Türen ihres Salons kleine Guck- löcher gebohrt, die völlig ausreichten, die seltsamen Vorgänge zu beobachten. Um wissenschaftliches Material zu sammeln, habe ich verschiedentlich von diesen Einrichtungen Gebrauch gemacht und mich überzeugt, wie stark der Gegensatz war zwischen dem vornehm selbstbewußten Eindruck der eintretenden Kunden und ihrem würde- losen Gebaren, wenn sie um „Mißhandlungen" bettelten. Noch eine weitere hierher gehöi'ige Beobachtung sei angeführt. Ich besuchte einst eine Berliner Herrin, die im Besitz einer reich .•uisgestatteten Folterkammer war, welche ich mir ansehen wollte. Die Dame lag, trotzdem die Mittagsstunde längst vorüber war, noch im Bett. Sie ließ mich sogleich in ihr Schlafzimmer bitten und hier sah ich nun, wie sie eine neben ihr im Bett liegende weibliche Person fütterte, indem sie ihr die zärtlichsten Kosenamen beilegte. Sie be- nahm sich ihr gegenüber als gefällige Dienerin, der sie jeden Liebes- dienst zu erweisen bereit war. Von herrischem, hochfahrendem Wesen zeigte sie keine. Spur. Dieselbe Frau war in Masochisten- kreisen weit gefürchtet und daher auch geliebt wegen der Hart- herzigkeit und Gewalttätigkeit, mit welcher sie die Männer behan- delte. Wie erklärt sich dieser Kontrast? Ganz einfach. Die Person, die neben ihr lag, war ein junges Mädchen, das sie liebte und daher verhätschelte, während sie die Männer haßte und es ihr deshalb keine 236 Überwindung kostete, sie zu züchtigen. Es war im Grunde also keine sadistische, sondern eine homosexuelle Frau. Als ich den Fall später mit Eulenburg besprach, äußerte er die Meinung, daß nach seiner stattlichen Erfahrung die große Mehrzahl derjenigen Frauen, welche gewerbsmäßig Masochisten peinigen, überhaupt nicht Sadistinnen, sondern Lesbierinnen seien. Er hielt überhaupt wirkliche sadistische Frauen für eine große Seltenheit im Gegensatz zu masochistischen Männern, die eine der ausgedehntesten sexualpathologischen Gruppen bilden. Seinerseits zu Tätlichkeiten überzugehen, wird im gewerbs- mäßigen Verkehr sich der feminine Mann kaum je erlauben, wohl aber kommt dies nicht selten dann vor, wenn er „ein festes Verhält- nis", oder gar eine Ehefrau hat, von der er sich grausam behandeln läßt. Dieser sadistische Einschlag ist aber meist nur scheinbar; er wird weit weniger dadurch verursacht, daß der Masochist erlittene Grausamkeiten vergelten will, als dadurch, daß er stärkere von seiten des Weibes hervorrufe n möchte. Oft ist es schwierig, masochistisehe und sadistische Regungen streng voneinander zu unterscheiden. So wissen wir, daß sowohl Sadisten als Masochisten eine große Vorliebe für grauenhafte Er- lebnisse haben. Sie verschlingen nicht nur Schauergeschichten in leidenschaftlicher Spannung, sondern suchen auch Schreckensszenen beizuwohnen. In der Literatur wird durchgehends darauf hin- gewiesen, wie sich diese Leute zu Hinrichtungen, Stierkämpfen, Ringkämpfen und blutigen Operationen drängen, kurz, überall dort zu finden sind, wo Personen großen Gefahren ausgesetzt sind. Auch an Stätten, an denen Menschen leiden, wie bei Begräbnissen, in Ge- fängnissen, früher in der Umgebung des Prangers, vor allem auch bei Gerichtsverhandlungen findet man sie. Zunächst könnte man denken, das sind doch Sadisten, die an grausamen Vorgängen und den Leiden der anderen ihre aktive Freude haben. Weit ge- fehlt; in Wirklichkeit überwiegt meist das Mitleid die Schaden- freude, aber das Mitleid wird nicht als Leid, sondern als Freude empfunden. Damit ist der Charakter passiver Leidlust gegeben. Zugleich ruft der Anblick des Blutes und der Gefahr die unter- bewußte Gedankenassoziation hervor: Du hast hier passiv Anteil an dem Vorhandensein von körperlicher Stärke und geistiger Kraft. Diese Vorstellung allein bedeutet für passiophil veranlagte Men- sehen einen großen Nervenkitzel. Ich habe mehr als einen aus- gesprochenen Weibling kennen gelernt, der förmlich in der Beschrei- bung von Grausamkeiten schwelgte. Jede Nachricht von einem Mord, vor allem aber Mitteilungen über ein Massenunglück, ein Progrom. eine Schlacht erregten ihn erotisch. Der Satz: „Vor unseren Gräben lagen Tausende toter Feinde", löste in ihm sexuelle Lustcmpfindungen aus. Daß die „schmerzliche Wonne" am Schreck- V. Kapitel: Der Metatropismus 237 liehen sowohl dem Hyperaktivisten, wie dem Hyperpassivisten eigen ist, muß als ein Umstand erachtet werden, der der Überwindung von Mord und Totschlag ebenso wie anderer gewalttätiger Eingriffe nicht günstig ist. Denn wenn wir auch nicht so weit gehen wollen, wie W u 1 f f e n , der weit über das Liebesleben hinaus den Schlüssel fast unserer ganzen Kulturentwicklung im Masochismus und Sadismus gefunden zu haben glaubt, und diese als bewegende Kräfte fast überall vermutet, so soll doch nicht in Abrede gestellt werden, daß die Bedeutung dieser beiden Grundtriebe sublimiert und losgelöst von der erotischen Basis eine ungemein große ist und das Verständ- nis für viele Vorgänge erleichtert, die zunächst anscheinend mit Sexualität nicht das geringste zu tun haben. Es würde jedoch zu weit führen, diesen verschlungenen Pfaden nachzuspüren und nachzugehen, für unsere Zwecke empfiehlt es sich m,ehr, jetzt erst einmal das Wesen des metatropischen Mannes und Weibes in seinen einzelnen, teils mehr physiologischen, teils mehr pathologischen Zügen kennen zu lernen. Der metatropische Mann Wir haben dreierlei zu unterscheiden: Das Objekt, dem die Sinne des Metatropisten sich unwillkürlich zuwenden, das Sub- jekt, das er nach seinen Empfindungen selbst darstellen möchte, und drittens die Verbindung, die er zwischen sich als Subjekt und dem Weibe als Objekt herzustellen sucht. I. Welche Eigenschaften ziehen den Metatropisten am Weibe objektiv an? a) In körperlicher Hinsieht:, In den meisten Fällen liebt der Metatropist ein starkes, stattliches Weib (Heroinen-, Amazonen- typus, Germaniat'ijo-uren); oft bevorzugt er eine massige Ausbildung aller weiblichen Geschlechtscharaktere, namentlich der Brüste und Hüften, nicht selten aber fühlt er sich auch zu sehr schlanken Frauen hingezogen, die in Gang, Stimme, Muskulatur männliche Ein- schläge erkennen lassen, dies namentlich, wenn er selbst stark feminin empfindet. Einen eigenartigen Reiz üben auf manche Meta- tropisten fremdrassige, vornehmlich auch andersfarbige Frauen aus (Negerinnen, Chinesinnen). Gelegentlich findet man auch Vorliebe für Frauen mit körperlichen Fehlern, häßliche, lahme oder ver- wachsene Personen. Ich kannte einen geistig sehr hochstehenden Metatropisten, der in ähnlicher Weise wie der Philosoph Descartes, schielende Frauen liebte, eine Vorliebe für bucklige Mädchen hatte, von denen er stets eine oder mehrere als Hauspersonal in seiner Um- gebung hielt. Selbst sehr zierlicher Gestalt, war er zweimal ver- 238 V. Kapitel: Üer Melatropismus heiratet gewesen, beide Male mit Kiesendamen, die doppelt so viel wogen wie er selbst. Es machte einen seltsamen Eindruck, wenn der kleine, stets sehr feierlich aussehende Mann neben seiner wuchtigen Gattin einherschritt, die er galant am Arme führte. Man erkennt leicht, daß der Metatropist ungefähr von allem das Gegenteil sucht, was den Mann mit normalsexuellem Tropismus an- zieht. Dieser pflegt weder für übermäßig, noch für unterdurch- schnittlich entwickelte Geschlechtscharaktere zu sein. b) Alter: Während der normale Mann Frauen bevorzugt, die jünger sind als er, oder gleichalterige — in Deutschland ist im Durchschnitt die Frau 4 bis 5 Jahre jünger als ihr Ehemann — fühlt sich der Metatropist sehr oft zu Frauen hingezogen, die ihm an Jahren überlegen sind. Zwischen 20 und 30 alt, schätzen sie am meisten Frauen von 35 bis 45, doch werden nicht selten auch noch ältere begehrt. Die Gerontophilie beruht bei Männern fast stets auf infantilem Metatropismus. So stellte sich mir ein Metatropist von 25 Jahren vor, ein Ingenieur, der sich in eine 63jährige, ver- mögenslose Witwe heftigst verliebt hatte; trotz stärkstem Wider- spruch seiner Eltern ehelichte er sie und wurde mit ihr sehr glück- lich. Daß Metatropisten meist keine oder nur sehr wenig Kinder haben, hängt oft mit dem vorgeschrittenerem Alter ihrer Frauen zu- sammen. c) Geistige Eigenschaften: In dieser Beziehung bevorzugt der Metatropist zwei Frauentypen: Das stark intellektuelle, energische Weib, vom Typus der Frauenrechtlerin, und das sozial, geistig und sittlich niedrig stehende Weib, vom Typus der Halbwelt- dame. Bei beiden liebt er ein herrisches, sicheres, ja strenges, oft sogar brutales Wesen. Die beiden Typen bilden insofern keine Gegensätze, als sich der Metatropist das eine Mal dadurch erniedrigt fühlt, daß ihm das Weib geistig überlegen ist, das andere Mal da- durch, daß er als gebildeter Mann sich soweit „wegwirft", „so tief sinkt", daß er sich von einer gesellschaftlich und moralisch unter ihm stehenden Person beherrschen läßt, sich vor ihr beugt. Infolge- dessen findet man auch unter den Zuhältern viele Metatropisten. Der demütigende Reiz liegt für sie in der Entehrung, einer Prosti- tuierten in ihrem verachteten Gewerbe Vorschub zu leisten. d) Stand des Weibes: Der Metatropist hat es gern, wenn die Frau einen Beruf ausübt. Besonders beliebt sind Erzieherinnen und Lehrerinnen, die für streng gelten; hochangesehen sind Tierbändige- rinnen (Dompteusen), Zirkusreiterinnen, überhaupt „schneidige Reit- damen" (Reitkostüm, Reithut). Eine andere Gruppe zieht akade- misch gebildete Frauen vor, wie Ärztinnen oder auch Direktorinnen, Chefinnen, Frauen in männlichen Berufen. Eine besondere Rolle spielt bei vielen Metatropisten die Masseuse; schon das Wort übt auf viele, vielleicht durch die unterbewußte Klangassoziation mit 239 Masocliismus und massiv einen eigenen Reiz ans. Es kommt hinzu, daß die Massage vielfach als Deckmantel von weiblichen Per- sonen benutzt wird, die aus der Behandlung von Masochisten ein Ge- werbe machen. Keineswegs soll damit gesagt sein, daß dies für alle Masseurinnen zutrifft, unter denen es höchst ehrenwerte gibt, doch kommt es nicht selten vor, daß eine Masseurin anfangs ihren Beruf ohne irgendwelche Nebenabsichten ergreift, dann aber allmählich auf eine schiefe Ebene gleitet, indem sie nur sehr wenig von Per- sonen aufgesucht wird, die sich gesundheitshalber massieren lassen wollen, um so mehr dagegen von Herren, die an sie das Ansinnen stellen, geschlagen, getreten oder anderweitig gezüchtigt zu werden. Andere Metatropisten, besonders solche, die gern einen Pagen, Knappen oder eine Kammerzofe vorstellen möchten, haben eine Vor- liebe für Aristokratinnen oder reiche Weltdamen. Der Titel einer Prinzessin, Gräfin oder Freifrau, auch schon ein einfaches Adels- prädikat flößt ihnen ein erotisch betontes Untertänigkeitsgefühl ein, selbst wenn sie wissen, daß die Baronin bis zu ihrer Namensheirat ein schlichtes Fräulein Schmidt, die Gräfin eine „Bardame" war. e) Kleid ung des Weibes: Der Kleidungsgeschmack des Metatropisten ist ganz vom fetischistischen Symbolismus abhängig. Als den eigentlichen Fetisch des Masochisten bezeichnet Krafft- Ebing den Schuh. Ich lasse es dahingestellt, ob sämtliche Schuh- und Stiefelfetischisten, von denen es unter den Männern eine recht beträchtliche Anzahl gibt, metatropisch sind, die Mehrzahl ist es sicherlich. Sie verbinden die Vorstellung des bekleideten Fußes mit dem Gedanken eines strammen Auftretens des Weibes oder auch des eigenen Getretenwerdens. Unter den Utensilien ge- werbsmäßiger Spezialistinnen auf diesem Gebiete fehlen selten die bis an die Waden reichenden Knöpfstiefel mit hohen Absätzen, ebenso wie die bis an den Ellbogen gehenden Glacehandschuhe. Ein Metatropist schreibt: „Die behandschuhte Hand, trotzdem sie gleich dem Fuße kleiner und zierlicher ist als die des Mannes, schwingt kraftvoll die Peitsche über den Sklaven, dessen höchstes Glück darin besteht, nach oder schon während der Züchtigung das Schuhwerk der Herrin zu küssen." Ein anderes Kleidungsstück, das auf fast alle Metatropisten einen tiefen Eindruck macht, ist der Pelz. Mit ihm verbindet sieh auf der einen Seite im Unterbewußtsein die Vorstellung majestä- tischer Vornehmheit, auf der anderen Seite der Gedanke an wilde Bestien, mit deren schönem Fell sich nun die grausame Gebieterin schmückt. Aber nicht nur die Stoffe, welche Tieren abgezogen sind, Leder und Pelz, liebt der Metatropist, auch die rauschende Seide, der weiche Samt und kostbare Spitzen ziehen ihn an, als Symbol von Reichtum, Eleganz und Macht; ähnlich ist es mit teurem Schmuck. Doch gibt es auch Metatropisten, die gerade einfache, einfarbige, V. Kapitel : Der Metatropisnius _ schmucklose, enganliegende Kleider mit hohem Stehkragen lieben, weil sie in ihren Augen etwas Feierliches, Gediegenes, Strenges und Ernstes verkörpern, und seihst solche Masochisten habe ich kennen gelernt, die Frauen in liederlichen „schlampigen", unmodernen ge- schmacklosen oder schlecht sitzenden Anzügen den Vorzug geben: sie fühlen sich erst recht dadurch gedemütigt, wenn sie als gebildete Männer, vornehm gekleidet vom Scheitel bis zur Sohle, vor solchen vernachlässigten, schmutzigen „Vetteln" im Staube liegen \iele Metatropisten haben auch eine Vorliebe für männlich gekleidete Frauen. Es gibt manche, denen die Kriegszeit trotz aller Entbeh- rungen und Gefahren lieb geworden ist, weil sie ihnen als Augen- weide die Massenerscheinung der Frau in der Hose gebracht hat. II. Was wünscht der metatropische Mann selbst zu sein? Überschauen wir das große Material, welches uns direkt in mündlichen und schriftlichen Äußerungen von Metatropisten ent- gegentritt, oder in der masochistischen und sadistischen Literatur, in dem Instrumentarium, mit dem auf diesem Gebiete tätige Gewerb- lerinnen arbeiten, so sind es im wesentlichen 5 Arten der Ernied- rigung, die wir unterscheiden können. a) Erniedrigung im Stand (Servilismus): In dieser wohl umfangreichsten Metatropistengruppe liegt den Männern daran, sich als Diener, Sklaven, Pagen einer stolzen Herrin gänz- lich zu unterwerfen. Die am Ende dieses Kapitels abgedruckten „Sklavenbriefe" und „Herrinnenbriefe" veranschaulichen uns am besten die seltsame Psyche der „in tiefster Ergebenheit vor der t>nädigsten Gebieterin untertänigst ersterbenden" Männer. b) Erniedrigung im Alter (pueriler Metatropisnius): Diese Personen möchten Schüler, Zöglinge einer strengen Gouver- nante sein, wollen von einer „Mama" oder „Tante" als Knaben, als „unreife Jungen behandelt" werden. c) Erniedrigung im Geschlecht (trans vestitischer Metatropisnius: Dies ist vielleicht die klassischste Gruppe der Meta- tropisten. Der Mann wünscht sich selbst in die Kolle des Weibes und das Weib in die Rolle des Mannes. Auf die engen Beziehungen zwischen Transvestitismus und Masochismus habe ich schon kurz hingewiesen, das eingehende Studium der Metatropisten zeigt, daß bei den meisten transvestitische Neigungen im stärkeren oder schwächeren Grade vorkommen, gleichwohl darf man aber nicht so weit gehen, beide Erscheinungen zu identifizeren. Wir finden Maso- chisten, die nicht Transvestiten sind, beispielsweise unter den In- fantilen, und auch Transvestiten, besonders unter Homosexuellen, die nicht metatropisch sind. Nicht selten stößt man auf Fälle, in denen sich diese Gruppe transvestitischer Metatropisten mit einer V. Kapitel: Der Metatropismus 241 der vorigen vergesellschaftet. Besteht eine Verbindung mit Servi- lismus, wünschen diese Personen dann Sklavinnen, Dienstmädchen, Kammerzofen zu sein; liegt gleichzeitig Infantilismus vor, begehren sie statt männlicher weibliche Zöglinge oder Schulmädchen zu sein, und lassen sich gern mit dementsprechenden Namen belegen. d) Erniedrigung zum Tier (zoomimischer Metatropismus): Wenn wir es nicht aus den direkten Mitteilungen der Metatropisten wüßten, würden uns die Gebrauchsgegenstände ihrer Herrinnen be- lehren, daß sich die erotische Selbstentäußerung dieser Men sehen bis zum Hineinversetzen in die Rolle eines Tieres steigern kann. Nicht nur, daß die Belegung mit Tiernamen, wie: ,,Du Schaf, du Hund, du Schwein, Ochse, Esel, Kamel" und zahlreiche ähnliche als Gegenteil einer Beleidigung empfunden werden, in den assortierten Polterkammern gewerblicher Gebieterinnen finden wir Sattel- und Zaumzeug, das nicht für Pferde, sondern für Men sehen angefertigt ist, große Maulkörbe, die Männern angelegt wei- den, die wie Hunde auf Vieren gehen und bellen. Daneben befinden sich Hundeleinen, Hundehalsbänder, Hundepeitschen und Hunde hätten. Auch große Käfige kann man sehen, in welche sich Men sehen einsperren lassen, um als Symbol „menschlicher Unterwürfig keit" Tiere nachzuahmen. Es gibt auch Fälle, in denen Männer um eine geliebte Herrin herumlaufen, indem sie wie Tauben girren oder wie Hähne krähen, ja, selbst wie Hühner gackern und dabei so tun, als ob sie Eier legen wollen. In einem andern Falle benahm sich ein vornehmer Herr ganz wie „ein verliebter Kater" nicht im über- tragenen Sinn, sondern völlig das Liebesspiel dieses Tieres imitie rend. Es gibt ein altes metatropisches Gedicht, vermutlich 1660 von Seyffart verfaßt, das in dieser Hinsicht lehrreich ist. Darin heißt es: „Man muß sich wünschen offt zum schwartzen Floch zu werden, zu hüpfen in das Bett, sonst oder an der Erden. Ja mancher wünschet offt: ach wäre ich die Saeh, darauf das Jungfervolck sich setzet im Gemach, ach war ich doch die Schürtz, das Hündgen und das Kätzgen usw." e) Erniedrigung zur Sache (i mp ersoneller Meta- ttopisnius): In dem oben angeführten Gedicht tritt uns auch an der Stelle: „Ach wäre ich die Sach", neben dem zoomimischen (Floh, Hündchen, Kätzchen) eine letzte Form des Metatropismus entgegen, die wir ebenfalls aus unserer Kasuistik mit zahlreichen Beispielen belegen können, der Wunsch, ein toter Gegenstand zu sein, dessen sich die Herrin bedient. Da wünscht jemand ein Schemel zu sein, auf dem die „Schühchen der Gestrengen" ruhen, oder ein Teppich oder Fell, auf den sie tritt. Eine Dame, die mich wegen ihres Gatten konsultierte, berichtete, daß dieser von Anfang ihrer Ehe an sich abends zu ihren Füßen vor das Sofa ausgestreckt hingelegt und sie aufgefordert hätte, während der Mahlzeiten ihn als Fußbank zu Hirschfeld, Sexualpathologie n 16 242 benutzen. Die Frau war anfangs ihrem Manne zuliebe auf die ihr lächerlich erscheinende Marotte eingegangen, als sie aber die Zähig- keit erkannte, mit welcher der Mann auf dieser Szene beharrte, wurde sie stutzig, weigerte sich, bis eine Ehescheidung drohte, zu deren Verhütung sie meine Ansicht hören wollte. Andere gehen noch weiter, sie begehren, gleich den Weibernarren, über die Philander von Sittew'ald berichtet, „das Brett auf dem geheimen Kabinett" zu sein, oder gar das Nachtgeschirr der Herrin, wieder andere begnügen sich, leblose Figuren darzustellen, Puppen, Hampelmänner, Mario- netten, mit denen die Domina ganz nach ihrem Belieben „spielen" soll. III. Metatropischer Verkehr zwischen Subjekt und Objekt. a) Anknüpfung: Der Metatropist will* das Weib nicht er- obern, sondern will von ihm genommen sein; er ersehnt zwar meist Leidenschaftlich das Weib, sucht auch wohl ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, erwartet aber im allgemeinen, daß das Weib die aktive Eolle übernimmt und als angreifender Teil auftritt. Da er sich von vornherein zu einer energischen, unternehmenden, meist älteren Frau hingezogen fühlt, und diese wiederum oft eine Vorliebe für einen mehr zurückhaltenden, „schüchternen Liebhaber" hat, hat . er auch nicht selten das Glück, die st ar ke Persönlichkeit zu finden, welche in seinem weicheren Wesen ihre Ergänzung sieht; bei höheren Graden von Metatropismus, in denen der Mann nicht nur unter dem Pantoffel, sondern' unter der Fuchtel des Weibes stehen will, sind die Schwierigkeiten größer, denn es scheint, als ob Frauen, deren Metatropismus einen ausgesprochen sadistischen Charakter trägt, bei weitem nicht so häufig sind, wie Männer mit weitgehend maso- chistischen Neigungen. So erklärt es sich auch, daß in den ver kappten Zeitungsanzeigen, auf welche ein aufmerksamer Sachkun diger in sehr vielen Tagesblättern stößt, die metatropischen Männer, welche „eine strenge Erzieherin", „eine zielbewußte Lehrerin", „strenge Masseuse", oder „eine elegante Dame energischen Charak- ters, bewandert in der engjischen Erziehungsmethode für ältere Knaben" suchen, sehr viel zahlreicher vertreten sind, als Inserate in etatropischer Damen, die „einen vornehmen Kavalier zwecks Unterrichts", oder „einen gebildeten jungen Mann zur Verrichtung häuslicher Arbeiten", oder „einen Zögling von sanfter Gemütsart" ku' finden wünschen, oder gar annoncieren, daß sie noch „einige Hunde zur Dressur" übernehmen. I») Schriftwechsel: Viele Metatropisten leben sich im Schrifttum aus. Daher auch die umfangreiche belletristische Lite- ratur sado-masochistischen Inhalts. Der meist sehr erregbaren Phantasie vieler dieser Personen genügt es vollkommen, '„Sklaven- briefe" zu schreiben und die brüsken Entgegnungen der Herrinnen / 243 zu empfangen, bei deren Lektüre sie Erektionen bekommen und schließlich masturbieren. Es gibt Gewerblerinnen, die gegen ein beigefügtes Honorar die gewünschten Briefe „Sklaven" über senden, welche sie niemals, persönlich kennen lernen. Charakte ristisch ist, daß die Briefe der Sklaven (von denen wir später Proben geben) gewöhnlich recht langatmig sind und überströmen von größt- möglichster Dienstfertigkeit, während die Frauen oft sehr knappe Antworten erteilen, auch gebrauchen diese vielfach „von oben herab" die Anrede „Du", während sich die Männer in ihren Zuschriften nur des „Sie" bedienen. c) Wortwechsel: Ganz ähnlich liegt es auch im mündlichen Verkehr. Der Metatropist hat den Wunsch, daß das Weib ihn duzt, iu lautem, strengem Tone zu ihm spricht, ihm Befehle gibt; aucb gemeine und verächtliche Worte bereiten ihm ein Wohlbehagen. Er selbst spricht in leisem, oft etwas kläglichem Tone, benutzt Anreden, wie „Allergnädigste" Göttin,. Gebieterin, versichert sie seiner un begrenzten Ergebenheit und spricht von seinen Wünschen, die darin bestehen, der Herrin zu dienen, ihr zu gehorchen und alle Strafen auf ,sich zu nehmen, die sie über ihn verhängt. In hohem Grade unterliegen die Metatropisten dem Wortzauber. Ausdrücke wie „fesseln", „durchpeitschen", „du gehörst mir zu eigen", erregen ihn ungemein. Kommt es zum Akt, so fleht er die Partnerin an, ihn dabei zu beschimpfen, namentlich auch ihn mit obszönen Eedeiis arten zu traktieren. d) Verlangen nach strenger Erziehung: Zu den eigentlichen metatropischen Handlungen übergehend, erwähnen wir zunächst das „Schulespielen". Es besteht darin, daß ein erwachsener Mann die Sehnsucht hat, von einem Weibe, seiner Gouvernante oder Erzieherin, wie ein Schulknabe, gelegentlich auch wie ein Schuh mädehen behandelt zu werden. Sie muß ihm Bechenaufgaben stellen. Diktate oder Aufsätze anfertigen lassen, wobei sie wirkliche oder angebliche Fehler aufs Schwerste rügt. „Wie schreibst du denn wieder?" herrscht sie ihn an und zieht ihn an den Ohren; oder sie sagt: „Dir werde ich schon die Flötentöne beibringen"; dann be- kommt er Strafarbeiten, muß einen Satz zwanzigmal abschreiben, und wird schließlich in die Ecke gestellt, oder erhält gar eine „Back pfeife". Ich kannte einen 53jährigen Staatsbeamten, der mehrmals im Monat als Knabe gekleidet, mit kurzen Hosen und Bluse, unter dem Arme eine Schiefertafel mit Griffel und Schwamm, zu seiner „Gou- vernante" ging, wobei auf der Straße ein weiter Mantel die Sonder- art seines Anzugs verhüllte. Wenn er ankam, zeigte er erst seine Hände vor, damit die Erzieherin feststelle, ob er sich auch sauber gewaschen hätte. Dann setzte er sich an ein Schülerpult und buch- stabierte in der Fibel. Darauf schrieb er mit einem Griffel auf der 16* 244 V. Kapitel: Der Metatropismus Schiefertafel. Er nahm stets eine volle Unterrichtsstunde, für die er jedesmal 10 M. entrichtete. Die metatropische Schulszene trägl ganz den Charakter einer sexuellen Ersatzhandlung, die fast stets volle Befriedigung his zum Orgasmus, teils mit, teils ohne manuelle Beihilfe auslöst. Ein eigentlicher Koitus in Verbindung mit dieser Szene findet nicht statt. e) Wunsch, erniedrigende Arbeiten zu verrichten: Wie der infantile Metatropist mit Vorliebe Schularbeiten macht, strebt der sich mehr als Diener fühlende die Ausführung häuslicher Arbeiten an. Er möchte die Wohnung der Herrin ausfegen, möchte Staub wischen, die Fenster putzen, die Betten machen, Kartoffel schälen, das Geschirr abwaschen und was dergleichen Hausarbeiten sonst sind. Gern ist er der Dame auch beim An- und Ausziehen be hilf lieh, vor allem auch beim Ausziehen der Stiefel. Er wichst ihr die Schuhe blank, wäscht ihr die Füße und küßt die Stelle des Bodens, auf der sie stand. Auch möchte er den Ofen heizen und Besorgungen aus dem Hause machen. Am liebsten trüge er eine Livree oder einen Pagenanzug. Ein Herr aus meiner Praxis hatte die Leidensehaft, Prostituierte zu frisieren, und zwar sowohl weib liehe als männliche. Seinem Stande nach Major außer Diensten, hatte er es in dieser Kunst zu größter Fertigkeit gebracht. Er litt seelisch schwer unter seinem ihm unbeherrsebbar scheinenden Drange, namentlich, nachdem durch verschiedene Umstände, merk würdige Briefschaften und Besuche, ein Bruder davon Kenntnis be kommen hatte, der ihn nun auf Grund dieser Frisierleidenschaft wegen Geistesstörung entmündigen lassen wollte. Im Zusammen hang mit diesem Verfahren wurde mir der seltsame Fall unter breitet, der nach meiner Überzeugung jedoch keinesfalls ein Ent ra hndigimgsver fahren rechtfertigte. Wieder andere Metatropisten, als die bisher angeführten, wun sehen Arbeiten zu verrichten, welche der transvestitischen Gruppe angehören. Sie möchten am liebsten mit Häubchen und Schürze Zofendienst e tun, oder sich in grober Frauentracht als ' Reinmache l'rauen betätigen. Andere wollen gern weibliche Handarbeiten an Fertigen, häkeln, stricken, nähen. Einen transvestitischen Meta Iropisten reizte es besonders, wenn er selbst Süßigkeiten knabberte, während die Herrin neben ihm saß, Bier trank und schwere Zigarren rauchte. Metatropisten, welche Tiere darstellen,, wünschen von der Herrin als solche benutzt und behandelt zu werden. Beispielsweise wünschen sie als Pferde, daß die Herrin auf ihnen reitet, ihnen Sattel und Zaumzeug anlegt, die Sporen gibt, mit der Reitpeitsche knallt und Hotohüh ruft. Wie alt derartige Übungen sind, geht aus einer Stelle bei Martial (XI. 104. 134) hervor, an der es heißt V. Kapitel: Der Metatropismus 24.% „Hinter der Tür befriedigen sich selbst die phrygischen Sklaven, Wenn auf hektorischem Roß ihre Gebieterin saß." Das Roß des Hektor bedeutete in jenen Zeiten eine Stellung, bei der das Weib als Reiter auf dem Manne saß, welcher das Reittier markierte. f) Freiheitsberaubung: Von den Bogriffen Abhängig k e i t , Gehorsam, Sklaverei führt zu den Vorstellungen Gefangen nahm e, Gefangenschaft, Fesselung und Bindung nur ein kleiner Gedankensprung. Um die Festigkeit und Innigkeit einer Liebe auszudrücken, werden diese Worte ja schon in übertragenem Sinne vielfach angewandt; ein Verliebter befindet sich in den Banden eines Weibes, ist an sie gekettet, von ihrer Schönheit gefesselt und ganz von ihr gefangen genommen. Im metatropischen Verkehr wird alles dies zur Wirklichkeit. Da lassen sich Männer tatsächlich festbinden, in Ketten legen, anschnallen und anschließen, um ge schlechtlich erregt zu werden. Dabei kommt für die Art der Freiheitsberaubung wiederum in Betracht, welcher metatropischen Gruppe jemand angehört. Der Sklave will an die Kette gelegt, der Schüler eingeschlossen werden, um nachzusitzen, der Tiernachahmer in einen Stall gesperrt oder an der Leine geführt werden, während der als Weib auftretende Metatropist Leidlust empfindet, wenn ihm ein Teil seiner Garderobe fortgenommen wird, so daß er das Haus nicht verlassen kann. Es gibt Metatropisten, die, bevor sie sich in Haft nehmen lassen, ein Schriftstück unterschreiben, in dem sie be kennen, gestohlen zu haben. Man muß diese metatropischen Ge dankengänge kennen, um gewisse sonst nicht begreifliche Vorkomm nisse zu verstehen, beispielsweise die Tatsache schwerer Selbst - bezichtigungen und Verbrechen, die ohne jede Vorsichts- maßregeln begangen werden. Vor einiger Zeit hatte ich einen Angeklagten zu begutachten, der wiederholt sich selbst angezeigt hatte, er habe mit andern straf- baren Verkehr gepflogen. Als ich über ihn ein Sachverständigen urteil abgeben sollte, war er wegen Erpressung angeklagt. Er hatte Erpresserbriefe ohne jede Unterlage geschrieben, so daß er auf seine Verhaftung und Verurteilung mit Sicherheit rechnen konnte. In Aufzeichnungen, die er in der Gefängniszelle verfaßt hatte, heißt es wörtlich: „Durch das Zusammentreffen mit einem Sadisten wurde mir erst vor kurzem klar, daß ich stark masochistisch veranlagt bin. Hieraus erkläre ich mir auch viele Gefühle, die mir selbst sonst un begreiflich sind. Beispielsweise sitze ich hier im Gefängnis. Aber manchmal wünsche ich, die Haft möchte noch monatelang dauern. Wenn ich abends hungrig im Bette liege, bereitet es mir Genuß, an schöne Speisen zu denken, und so quäle ich mich ununterbrochen. Ich fühle mich nur wohl, wenn ich mich nicht wohl fühle. Diese Gefühle habe ich schon, solange ich denken kann. Oft trage ich 246 V. Kapitel: Der Metatiopisnms mich mit dem Wunsche, rasende Schmerzen zu erdulden, oder schwer krank zu werden. Der Prozeß mit K., in dem ich zum ersten Male verurteilt wurde, löste bei mir die höchsten Eeizgefühle aus. Ich freute mich darauf, auf der Anklagebank zu sitzen und wünsche noch jetzt manchmal, in einen großen Prozeß, der viel Aufsehen macht, verwickelt zu sein. Trotzdem ich wußte, daß auch gegen mich Anklage erhoben werden würde, wenn ich gegen K. An- zeige erstattete, schritt ich doch dazu. Nach der Verurteilung be- reitete es mir den größten Genuß, allen Bekannten zu erzählen, daß ich im Gefängnis gesessen hatte. Jede Gefahr, in die ich mich be- gebe, reizt mich um so stärker, je mehr ich weiß, daß mir aus ihr Unheil erwächst. Ich bin der festen Überzeugung, daß diese meine Veranlagung die Schuld daran trägt, daß ich die Erpressungsbriefe schrieb, die mich nun auf die Anklagebank führen. So seltsam es klingt: ,Ich freue mich auf die kommende Verhandlung.' Ich kämpfe gegen diese Gefühle, ohne sie jedoch bezwingen zu können. Zwölf - mal verließ ich das Elternhaus. Jedesmal stand ich diß furcht- barsten Seelenkämpfe auf der Flucht aus und wurde von wirklichem Heimweh geplagt; und trotzdem floh ich immer wieder." Ähnliche Gefühle schildert auch ein anderer mir bekannter Metatropist. Dieser erzählte folgendes Erlebnis aus seiner Jugend: Eines Tages erhielt ich wegen eines Vergehens 6 Stunden Karzer. Diese sollte ich in 2 Malen absitzen. Ich suchte aber unseren Klassenlehrer auf und bat ihn, er möchte mich die 6 Stunden hinter- einander einschließen lassen. Meinem Wunsche wurde stattgegeben. Unser Karzer bestand aus einem kleinen Bodenraum mit einem ver- bitterten Dachfenster. Ein Schemel und ein Tisch bot die ganze Ein- richtung. Schon als der Pedell mich die Treppe zu dorn kleinen Raum hinaufführte, erwachten in mir seelische Regungen, die ihren Höhepunkt erreichten, als der Pedell die Tür des Karzers hinter mir schloß. Ich stellte mir vor, als Sträfling in einem Gefängnisse zu sitzen, und war übermäßig glücklich bei dem Gedanken, 6 Stunden eingeschlossen zu sein. Die primitive Einrichtung, das vergitterte Fenster, die Strafe, die ich zu Hause wegen des Ver- gehens erhalten würde, steigerte die Erregung derart, daß ich ona- nierte. Mir waren mehrere Arbeiten aufgegeben; doch war es mir unmöglich, diese auszuführen, so sehr beschäftigten mich meine masochistischen Vorstellungen. Ich trieb während der Einschließung dreimal Onanie. Als der Pedell nach Verlauf der 6 Stunden mich wieder herausließ, bemächtigte sich meiner ein Gefühl von Traurig- keit darüber, daß ich nun wieder frei war. . g) Ist für den Ligationsmetatropisten, bei dem Ge- bundenwerden neben der psychischen Vorstellung bereits der physische Druck auf den Körper als lustbetonte Reizung des Haut- sinns ein nicht gering zu veranschlagender Faktor, so gilt das in V. Kapitel: Der Metatropismus 247 höherem Grade noch für jene Strebungen,, denen wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen. Es ist dies das Bedürfnis des Metatropisten nach direkter manueller oder instrumenteller Be- arbeitung ihrer Nervi cutanei. Auch hier wird zweifellos aus der seelischen Demütigung erotischer Gewinn gezogen; hat es doch von jeher überall als größter Schimpf des Mannes gegolten, Fußtritte oder Schläge versetzt au erhalten; daneben aber geht von der schwächeren oder stärkeren Erregung der Nervenendkörperchen der Haut eine wohltuende Empfindung aus. Einige Prädilektionsstellen sind dabei hervorzuheben, so die Gegend der Genitokruralnerven, das Gesäß, der Damm, die Analregion, deren Betastung, Druck und Zug bei vielen Menschen, wenn auch keinesfalls bei allen erogen wirkt. Noch mehr gilt dies von der Oberhaut der Schamteile. Aber auch die taktile Sinnesreizung anderer Haut- und Muskelpartien, wie Tritte und Schläge auf Bücken und Brust, Zerren an den Ohren und Haaren, Kneifen in die Arme und Wangen, Kratzen der Kopf- und Nackengegend wirken um so lustvoller, je metatropischer die Ver- fassung eines Menschen ist. Alle diese Eingriffe dürfen freilich einen bestimmten Stärkegrad nicht übersteigen, damit nicht der lustbetonte in einen unlustbetonten Eindruck umschlägt, den der Metatropist höchstens nur insofern liebt, als er das Brennen und Prickeln als angenehme Nachwirkung verspürt. Als Instrumente für die Züchtigung kommen zunächst die Füße und Hände, erstere mehr mit, letztere mehr ohne Lederbedeckung in Betracht. Die Leidenschaft einiger Metatropisten für das Getreten- werden durch weibliche Schuhe ist enorm. Ein Patient veranstaltete ^ in einem Mädchenturnverein ikarische Spiele, wobei die ahnungs- losen Mädchen ihn tüchtig auf seine Schultern, Arme und den Rücken treten mußten. Er hatte bei solchen Übungen auch seine spätere Gattin kennen gelernt. Diese aber durchschaute in der Ehe alsbald den wahren Grund seiner turnerischen Leidenschaft und verlangte eifersüchtig seinen Austritt aus dem Turnverein, was ihn nun wieder heftig deprimierte. h) Flagellantismus: Verbreiteter aber noch wie der Drang nach Tritten ist das Verlangen nach Schlägen, die Sucht flageliiert zu werden, sei es unmittelbar von den Händen der Herrin, sei es mittels Handwerkzeugen, wobei der Sklave den Kantschuh, der Zög- ling Stock und Rute vorzuziehen pflegt, während der Tiernachahmer die Hunde- oder Pferdepeitsche begehrt, und der sieh zum Trittbrett Erniedrigende kaum je etwas anderes fühlen will, als den Stiefel der Gebieterin. Mit diesen Geißelinstrumenten ist freilich das Inven- tarium einer Folterkammer für Masochisten noch keineswegs er- schöpft, Da gibt es neben den Schlag- vor allem Stichinstrumente mannigfacher Art, beispielsweise Nadelkissen, ajvf die sich der Strafe Heischende zu setzen hat. V. Kapitel: Der Metalropismus Auch chemische Hautreize werden gelegentlich von Meta tropisten angewandt. So hatte ich einmal einen Herrn zu begut achten, dessen ganzer Körper mit Narben bedeckt war, die von Ver ätzungen herrührten. Der Patient hatte sioh die Verletzungen selbst beigebracht. Daß auch thermische Hautreize, ebenso wie niecha- nische und chemische erotisch lustbetont wirken können, vermag ich ebenfalls durch ein Beispiel zu belegen. Es betrifft einen 30jährigen Kaufmann, dessen sexuelle Befriedigung darin bestand, daß er bei stärkster Kälte nachts halbnackt am liebsten in Mädchen- kleidern herumlief. Noch eine letzte, sehr verbreitete Art kutaner Reizung muß er wähnt werden, es ist das Gebissenwerden. Die bald mehr mit den Zähnen, bald mehr mit den Lippen und der Zunge vorgenommenen Applikationen rufen sowohl bei der aktiv ausführenden, als der passiv den Lutsch- oder Bißkuß empfangenden Person lebhafte erogene Wirkungen hervor. Diese oft mit Blutunterlauf ungen ver knüpften Hautinsulte bilden den Übergang zu einer weiteren großen Gruppe metatropischer Handlungen, bei denen nicht der fünfte, sofl dern der dritte und vierte Sinn (Olfactorius und Glossopharyngeus) das Obergewicht haben. i) Pikazismus (sexueller Leck- und Schnüffeldrang): Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen den masochistischen Er regungen des Hautsinns und denen des Geschmacks- und Geruchs- sinns, für die Eulenburg den Ausdruck Pikazismus bildete. Wäh- rend sich das Hautorgan, wie wir sahen, gänzlich passiv verhält, gehen das Geruchs- und Geschmacksorgan aktiv vor. Es mag sein, daß, wie Märzbach annimmt, das Belecken der Geschlechtsteile keineswegs immer auf eine metatropische Anlage schließen läßt, in der Mehrzahl der Fälle scheint es mir außer Zweifel zu stehen, daß die „lecheurs" sich in metatropischer Abhängigkeit vom Weibe be- finden. Im Gegensatz zum Tier spielt beim Menschen das Belecken und Beschnüffeln im normalen Sexualleben nur eine untergeordnete Rolle. Welche Verachtung der Mensch gerade allem entgegenbringt, was mit dem Lecken zusammenhängt, verrät der bildliche Sprach gebrauch; der „Speichellecker" gilt als ein sehr niedrig stehender Mann, ebenso derjenige, welcher einer anderen Person den Staub von den Schuhen ableckt und das Lecken vollends, von dem in „Götz von Berlichingen" die Rede ist, stellt so ziemlich den Gipfel aller menschlichen Entwürdigung dar. Der Metatropist aber scheut vor keiner dieser Demütigungen zurück. Er leckt nicht nur gern den Speichel der Geliebten, sondern bittet sie, sie möge ihm in den Mund speien, damit er den Saft herunterschlucke. Ich hatte einen Fall, und der ist nicht vereinzelt, in dem ein Mann sich die Speisen, die er aß, von einer Prostituierten durchkauen und einspeicheln ließ. Auch ein Ablecken der Schweiß- und Milchdrüsen des Weibes, das V. Kapitel: Der Metatropismus 249 Verlangen, sich Ohrenschmalz, Nasenschleim und andere ihrer Sekrete zugänglich zu machen, und schließlich ein Beschnüffeln und Belecken des Cunnus und Anus gehört nicht zu den Seltenheiten im metatropischen Geschlechtsleben. Von hier führt dann ein aller- dings noch ziemlich weiter Schritt dazu, Sekrete dieser Organe auf den eigenen Körper zu bringen, sich mit ihnen besudeln zu lassen oder selbst zu beschmieren, Früchte in Vaginalschleim oder gar Menstrualblut zu stecken und zu verzehren. Als das Extremste in dieser Richtung wird gewöhnlich die Kopro- und Urolagnie angeführt. Die extreme Koprolagnie dürfte sehr selten sein; ich selbst habe in meiner Praxis keinen derartigen Fall kennen gelernt; der Gedanke daran, wie der an die weibliche Defäkation überhaupt, spielt jedoch unter den Sinnlichkeitsvorstellungen der Masochisten keine unbeträchtliche Bolle. So sucht mich ein Mann auf, der unter dem Zwangstrieb stand, seiner Gemahlin nach Defäkationen die Analgegend zu reinigen. Er führte dies auch tatsächlich au*. Andere haben den Drang, die Entleerung selbst mit oder ohne Wissen der Defäzierenden zu beobachten. In Paris ließ sich ein elegant angezogenes Weib für ziemlich hohes Eintrittsgeld sehen, deren Beruf darin bestand, auf der Bühne stehend einen Flatus nach dem anderen hervorzustoßen („la femme petomane"). Häufiger wie der koprolagnistische ist der urolagnistische In- stinkt, der Trieb, der Miktion beizuwohnen, den warmen Urin über den eigenen Körper schütten zu lassen, Harn zu riechen und zu schmecken. Wulffen berichtet, daß in Chemnitz im Jahre 1894 ein Bijähriger Kaufmann dabei betroffen wurde, wie er in einem öffent- lichen Vergnügungslokal an der Bückseite eines Damenabortes in ein Gefäß Urin auffing. Er gab an, an der unheilbaren Krankheit des Urintrinkens zu leiden; ärztliche Behandluug habe keinen Er folg gehabt. Er wurde wegen VerÜbung groben Unfugs zu einer Woche Haft verurteilt, die im Gnadenwege in eine Geldstrafe uni- gewandelt wurde. Im allgemeinen gehört das Belecken und Beriechen des Körpers, auch beim Menschen genau so wie bei den Tieren, zu den präpa rat orischen Erregungen, nach denen die Entspannung vielfacli im Koitus selbst gesucht wird. Bei den meisten metatropischen Handlungen verhält sich dies nicht so, namentlich lösen die Haut- bearbeitungen, wie die Flagellation, gewöhnlieh ajs eigentliche Surrogatakte volle Befriedigung aus. Eine Kohabitationsform gibt es jedoch, die auch ohne sonstiges Beiwerk auf metatropische Ver- anlagung schließen läßt. Über sie muß noch einiges gesagt werden. k) Der Sukku hieraus (Drang unten zu liegen): Wie der Metatropist sich seelisch unterordnet und von einem ihm zum mindesten sexuell überlegenen Weibe den Angriff erwartet, so möchte er sich auch im Akte selbst unterwerfen, dem Weib 250 V. Kapitel: Der Metatropismus unterlegen sein. Ich hatte wiederholt Patienten zu sehen Ge- legenheit gehabt, die völlig unfähig waren, den Coitus ineumbens (von oben) zu vollziehen. Sie wußten nicht, daß dies mit ihrer metatropischen Veranlagung zusammenhing; als Succuhi waren sie dann vollkommen potent. Auch vom eigentlichen Geschlechtsakt abgesehen, hat der Begriff unten für den Metatropisten die höchste Bedeutung. Niemand liegt lieber zu Füßen des Weibes und kniet vor ihr mit größerer Begeisterung, als der Metatropist. Wenn er mit dem Weibe Arm in Arm geht, ist er derjenige, welcher unter- hakt. Wie wir sahen, erfordern ja auch die meisten nietatropisti- schen Exzesse, wie die Ligation, das Getretenwerden, die Flagel- lation, die Besudelung, eine Stellung, bei der sich der weibliche über dem männlichen Körper befindet. 1) Verkappter Metatropismus: Im Gegensatz zu vielen sexuell Abnormalen ist der sexuelle Metatropist sich sehr häufig des metatropistischen Charakters seiner Empfindungen, Wünsche und Handlungen nicht bewußt. Dabei ist das Gebiet des verkappten Metatropismus - - einer Leidsucht mit unbewußt sexueller Unter- strömung — ungemein vielseitig und umfangreich. Ich kannte einen Metatropisten, der dem normalen Geschlechtsverkehr mit seinem Weibe oder einer ledigen Person nicht den geringsten Ge- schmack abgewinnen konnte; er fühlte sich ausschließlich zu ver- heirateten Frauen hingezogen. Nur der ehebrecherische Ver- kehr reizte ihn; nicht etwa geschah dies aus sadistischem Zer- störungsdrang, vielmehr entsprang die absonderliche Neigung seiner metatropischen Natur in zwiefachem Sinne. Zunächst entsprach seiner passiven bequemen Eigenart die „erfahrene" Fravi, das „ver- dorbene" Weib, während er gegen „unschuldige" Mädchen geradezu antifetischistische Abneigung hegte, vor allem aber reizte ihn die Sünde und Gefahr, die bewußte Gemeinheit, einen ihn noch dazu be- freundeten Mann mit seiner Gattin zu hintergehen. Solche Fälle sexualpathologischen Ursprungs sind nicht vereinzelt. Einer, den ich kennen lernte, endete mit einem Doppelselbstmord des ehe- brecherischen Paares. Häufiger wie dem Ehebruch, liegt dem Triolismus ein verkappter (larvierter) Metatropismus zugrunde. Verkehrt eine Frau in Anwesenheit eines Mannes mit einem andern Manne, so liegt darin eine Verwerfung seiner alleinigen Ansprüche, die quält und erregt. Viele Metatropisten wünschen, daß die Herrin in ihrer Anwesenheit jede Schani fallen läßt, sie wollen „wie Luft" behandelt sein. Diese Bücksichtslosigkeit erreicht den Höhepunkt, wenn die Frau sich vor ihren Augen einem Dritten hingibt. Vor mehreren Jahren wurde mir der folgende Fall vorgetra gen. Ein Fabrikant verlangte ziemlich häufig von seiner Ehefrau, sie solle sich von Geschäftsfreunden, die er zu sich bat, koitieren lassen. Wenn der Eingeladene zum Abendessen erschien, mußte die V. Kapitel: Der Metatropismus 251 Frau erklären, ihr Mann sei plötzlieh in dringender Angelegenheit abgerufen. In Wirklichkeit saß er in einem dunklen Alkoven und beobachtete durch ein Bohrloch in der Tür die Vorgänge im Wohn- zimmer. Man aß, trank viel, musizierte, flirtete und ging schließlich zu Liebkosungen über. Das Ende war die Hingabe der Frau. Un- mittelbar nach beendetem Koitus mußte sie darauf drängen, daß der Fremde sieh schleunigst entferne, ihr Mann könne jetzt jeden Augen- blick heimkehren, es sei sehr verdächtig, wenn er sie" noch zusammen träfe. Sobald der Fremde dann das Haus verlassen hatte, stürzte der Gatte aus seinem Versteck hervor und vollzog nun seinerseits den Beischlafsakt mit seinem Weibe. Dieser Fall ist darum so be- merkenswert, weil er uns anschaulich die Beziehungen des Meta- tropismus zum sexuellen Schautrieb und zur Eifersucht zeigt. Die Selbstquälerei, welche der Eifersucht zugrunde liegt, ist zweifellos oft passiophilen Ursprungs. Der Satz Schleiermachers, daß die Eifersucht eine Leidensehaft ist, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft, nimmt der Metatropist so wörtlich wie möglich. Der tiefe Sinn und die Entwicklung des Wortes Leidenschaft, und ebenso auch Passion als gleichbedeutenden Ausdruck für Liebe, Redewendungen wie „leiden mögen", viel angeführte Sätze wie „Lieben heißt leiden", offenbaren viel für das innerste Wesen der Passiophilie, die Sehnsucht passiver Naturen, um der Liebe willen leiden zu wollen. m) Visueller Metatropismus (Erregung durch den bloßen Anblick von Leiden, Schrecken, Gefahren und Grausam- keiten): Ein mehr oder weniger bewußtes Lustgefühl beim Anblick von Leiden kann sowohl aktiver als passiver Natur sein. Es ist daher auch schwer zU sagen, ob bei den Personen, die sich zu Schreckensszenen, Unglücksfällen, Hinrichtungen drängen, die an den Furchtbarkeiten des Krieges ihre Freude haben, mehr maso- chistisehe oder sadistische Unterströmungen vorhanden sind. Beides kann der Fall sein. Mit 1 e i d und Schaden freu d e sind innerlichst verwandt. Die in etatropische Frau Die Eigentümlichkeiten des metatropisehen Weibes stehen in völligem Gegensatz zu denen des metatropisehen Mannes. Wir können uns daher bei ihrer Schilderung unter Hinweis auf die eben gegebene Übersicht bedeutend kürzer fassen. 1. Zu welchen Eigenschaften fühlt sich die Meta- tropistin beim Manne hingezogen? In körperlicher Hin- sicht liegt ihr nicht der robuste, muskulöse, sondern mehr der zarte, wenn auch ebenmäßig gebaute Mann mit weicheren Formen. Stark hervortretende sekundäre Geschlechtscharaktere mag sie nicht. 252 V. Kapitel: Der Metatropismus Daher ist ihr der Vollbart ebenso unsympathisch, wie eine tiefe Stimme. Die meisten metatropischen Frauen bevorzugen den bart losen Mann. Ich hatte mich privatgutachtlich über eine zu äußern, welche die Ehescheidung ins Auge faßte, als ihr Gatte, den sie hart los geheiratet hatte, ihren Bitten zu Trotz, den ansehnlichen Voll bart beibehielt, welchen er sich im Felde hatte wachsen lassen. Wäh rend Metatropistinnen gegen Gesichts- und Körperbehaarung eine Idiosynkrasie haben, ist ihnen dagegen das Kopfhaar angenehm, wenn es länger, weicher und gelockter ist, als es durchschnittlich beim Manne zu sein pflegt. Im ganzen ist es der feminine Männer- typ, welcher die metatropische Frau reizt, so daß Urninge sich sehr oft der intensiven Freundschaft metatropischer Frauen erfreuen, oft genug freilieh sich auch nur mit Mühe ihrer Liebe erwehren können. Was das Alter betrifft, so schätzt die Metatropistin mehr den Manu, welcher jünger ist wie sie selbst, oder wenigstens von etwa gleichem Alter; Männern, die 5 Jahre mehr zählen als sie, oder noch älter sind, bringt sie nur ausnahmsweise erotische Neigung entgegen, ganz anders wie die vollweibliche Frau, die gerade einen ihr an Jahren überlegenen Mann sucht. Als guten Typus einer metatropischen Frau möchten wir George Sand nennen, die nacheinander einen jüngeren Musiker und Lyriker in ihr Herz geschlossen hatte, den gefühlstiefen polnischen Kompo nisten Chopin und den zarten französischen Dichter Alfred de Musset. In dieser Liebeswahl treten uns so recht die seelischen Eigen Schäften entgegen, welche die Metatropistin reizen: gefällig» • Formen, Sanftheit des Charakters, Schmiegsamkeit im Wesen, Emp fänglichkeit und Begeisterungsfähigkeit für irgend etwas, das ihm und ihr schön, gut oder wahr erscheint. Daher ist es weniger die energisch leitende, rücksichtslos vorwärtsstrebende Persönlichkeit, welche die Metatropistin begehrt, viel mehr nach ihrem Sinne ist der Künstler, der Priester, der Schauspieler, der Schriftsteller, der stille Denker, auch unter den einfacheren Ständen diejenigen, die keine ausgesprochenen Kraftmenschen zu sein pflegen, etwa ein Musiker, Dekorateur oder Friseur, ein Putzmaeher oder Blumen händler. In der Kleidung lieb£. die metatropische Frau vielfach beim Manne den femininen Einschlag, wie er sich in lebhafteren Farben und in allerlei Verzierungen kundtut, in locker gebundenen Schlei t'en, vielen Falten, gelegentlich auch wohl in „auf Taille gearbeiteten" eleganten Anzügen oder solchen, die übertrieben nach der neuesten Mode verfertigt sind, wie sie den von* jeher für weiblich gehaltenen Stutzer, Gent oder Dandy kennzeichnen. Selbst gegen Parfüms, Puder und Schminke, die eine normalsexuelle Frau oft sehr vom Manne abstoßen, hat eine metatropische Frau gewöhnlich kaum etwas einzuwenden. Doch kommt es auch vor, daß sie das ganze 253 Gegenteil der eben geschilderten Erscheinung beim Manne liebt, un- gepflegtes Haar, schlecht sitzende Eöcke, Hosen und Schuhe. Das Gemeinsame in beiden Fällen besteht in der Abweichung von der beim korrekten Durchschnittsmann üblichen Tracht. Darauf komml es ihr, wenn auch zumeist unterbewußt, an. Manche metatropische Frauen, die selbst viel Männliches an sich haben, gehen so weit, daß es ihnen wohltuend ist, wenn sich der Mann völlig in Frauen kleider hüllt. Ich habe mehr als eine Metatropistin kennen gelernt, die für Transvestiten ausgesprochene Sympathie empfand. 2. Was wünscht nun das metatropische Weib selber zu sein? In ihrem Berufe erstrebt sie vor allen Dingen Selbständigkeit, Unabhängigkeit vom Manne. Wie der metatropische Mann die Erniedrigung, so will sie die Erhöhung über die dem Weibe von der jeweiligen Gesellschaft im allgemeinen zu erkannte Stufe; sie möchte Menschen, Werte und Meinungen be herrschen im Leben sowohl wie in der Liebe; je einflußreicher, ge bieterischer ihre Stellung ist, um so befriedigter fühlt sie sich. Eine nicht geringe Anzahl metatropischer Frauen finden wir unter Er- zieherinnen, auch unter Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, ebenso unter Chefinnen und Direktorinnen jeder Art, von Schul reiterinnen, Fechtlehrerinnen, Athletinnen, Kriegerinnen und Mas seusen ganz zu schweigen. Ich kannte metatropische Frauen, die wilde Spekulantinneu und Spielerinnen waren, und ganze Kreise zu der Leidensehaft verführten, der sie frönten. Andere erkauften sich durch Scheinehen hohe Titel und Namen („die Gräfin Strach witz" u. ä.), um mehr Eindruck auf feminine Männer zu machen. Viele der absonderlichen Berufe, die sich in der Fiktion und Phan tasie der Metatropisten finden, kommen freilich in Wirklichkeit kaum jemals vor oder doch so selten, daß der Metatropist kaum Aussicht hätte, seine Wünsche zu realisieren, wenn es nicht Frauen genug gäbe, die auf Wunsch nur zu gern bereit sind, die Rolle einer Sklavenhalterin, Tierbändigerin oder Kommandeuse, wenigstens dem Manne gegenüber, zu spielen. :'». Verkehrs weise der m etatropischen Frau: Die vom ineta tropischen Manne ersehnten Züchtigungen entsprechen nur äußerst selten der Eigenart der metatropischen Frauen selbst; es liegt ihnen kaum je daran, Männer zu binden, an Ketten zu legen oder auch nur zu peitschen. Immerhin verrät schon die bloße Bereitstehaft dazu ohne wirkliehe innere Neigung einen erheblichen Grad von Viriiis mus. Verhältnismäßig häufig findet man dagegen weniger weil gehende Züge metatropischer Veranlagung, so ist in bezug auf die Anbahmxng des Verkehrs der Metatropistin ein werbendes und er uberndes Vorgehen zweifellos meist lieber, als ein geduldig ab wartendes Verhalten. Mehr als einmal hat eine metatropische Frau ihrerseits um die Hand des Mannes angehalten und sie auch be 254 V. Kapitel: Der Melatiopismus kommen. Im Wort- und Schriftwechsel ist die metatropische Frau .kurz angebunden", sie bittet nicht, sondern gebietet und verbietet, sie äußert nicht Wünsche, sondern gibt Befehle. Während sie laut, streng und oft barsch redet, erwartet sie vom Manne ein demütiges und wehmütiges Betragen, während sie ihn mit „Du" anredet, will sie von ihm mit „Sie" angesprochen werden. In ihren Anreden gibt sie überhaupt ihre Überhebung kund, oft artet ihre Rauheit in Roheit aus. Nennt sie ihn „dummer Junge", so ist das verhältnismäßig noch milde im Vergleich mit den Lehnwörtern aus der Zoologie und Skat«, logie, deren sie sich mit Vorliebe bedient. Höchst bezeichnend ist es, daß die Metatropistin es oft ver- schmäht, beim Geschlechtsakt unten zu Hegen. Es widerstrebt ihr, sich dem Manne zu unterwerfen und so dringt sie darauf, incumbens (oben liegend) den Verkehr auszuführen (Inkubismus). Eine Meta tropisfin meiner Beobachtung hatte in dieser Lage die Empfindung, das Membrum virile des Mannes sei ein Teil ihres eigenen Körpers. Der Akt wird vollzogen, indem der Mann ruhig, etwa wie die Frau beim Coitus normalis, liegt, während die aktiven rhythmischen Be- wegungen ausschließlich vom Weibe vorgenommen werden, nach- dem sie meist auf ihm sitzend, sein Membrum in ihre Vagina ein- geführt hat. Nur auf dem Gebiete des Pikazismus verhält sich die metatrope Frau passiv, d. h. sie läßt sich wohl gnädigst cum lingua lambere, während sie ähnliche Akte von ihr am Manne vollzogen, perhorresziert. Um so aktiver ist sie aber in der Bereitung seelischer Qualen; das ist so recht die Domäne der metatropischen Frau. Daß innerhalb der Ehe die Schlüsselgewalt in ihren Händen ruht, daß sie namentlich auch das Verfügungsrecht über die Hausschlüssel besitzt, bedarf kaum der Erwähnung. Eine wahre Freude bereitet es ihr, den Mann zu martern und zu peinigen, ihn in Verlegenheit zu bringen oder in Zorn zu versetzen, wobei ihr namentlich in der Verweigerung ihres Leibes, und vor allem in der Erweckung seiner Eifersucht gute Mittel zur Verfügung stehen. Hinsichtlich des visuellen Metatropismus gilt für den metatro pischen Mann ganz das gleiche wie für die metatropische Frau.^ Es wäre nur noch zu bemerken, daß der metatropische Trieb sich nicht nur auf Personen des andern Geschlechts, sondern nicht selten auch auf gleichgeschlechtliche Personen erstreckt. Wir können danach einen Metatropismus heterosexualis und homo- sexualis unterscheiden. Bei der homosexuellen Passiophilie ist die Beurteilung, ob eine pathologische Triebsteigerung oder Tri cbumkeh- rung vorliegt, oft nicht so einfach. Eine Umkehrung im metatro- pischen Sinne ist vorhanden, wenn virilere Homosexuelle, gleich viel ob Männer oder Frauen, den Drang haben, sich von femininen Typen ihres eigenen Geschlechts mißhandeln und knechten zu lassen; metatropisch ist es auch, wenn femininere Homosexuelle sadistische V. Kapitel: Der Metatropismus 255 Regungen zeigen, die sieh nicht auf Personen des anderen, sondern ihres Geschlechts erstrecken. Hingegen werden wir nur von einer Triebsteigerung reden können, wenn virile Homosexuelle hyper- aktivistisch, feminine Urninge und Urninden hyperpassivistisch sind. Demnach können wir hinsichtlich der Verbindung von Homosexualität, mit Meta tropismus und Passiophilie acht Möglichkeiten, die sämtlich auch vorkommen, unterscheiden. Es sind: f. Der feminine Urning, der körperliche und seelische Demütigungen und Mißhandlungen vom Manne anstrebt. Dieser ist nicht metatropisch, seine Passiophilie ist vielmehr nur ein pathologischer Exzeß seiner femininen Charakter beschaffenheit. Vor mehreren Jahren hatte ich einmal in einem großen Prozeß, der großes Aufsehen erregte, einen stark femininen Angeklagten zu begutachten, der aus leidenschaftlicher Liebe zu einem älteren Manne auf dessen Wunsch als Bankbote an 100 000 Mk. unterschlagen hatte. Er hatte das Geld auf dem Tempelhofer Felde ver- graben. Der Fall wurde in der Presse als Masochismus aufgefaßt, doch handelte es sich eigentlich um sexuelle Hörigkeit. Diese unterscheidet sich von der Passiophilie dadurch, daß nicht sowohl Lust am Leide, als eine übermäßige Fixierung an eine Person vorliegt. Wir werden die sexuelle Hörigkeit daher auch erst bei den quantitativen Ausdrucksstörungen im III. Bande erörtern. II. Ganz anders aufzufassen als der feminine ist der virile Homo- sexuelle, welcher sich in leidender Abhängigkeit von einem femi- ninen meist jüngeren Partner wohlfühlt. Dies ist Metatropismus, und zwar wohl die verbreitetste Form im homosexuellen Verkehr. Als Beispiel will ich einen älteren Bankier meiner Beobachtung anführen, der sein ganzes Vermögen einfachen Burschen aus dem Volke geopfert hat. Diese konnten mit ihm anstellen, was sie wollen. Je mehr sie ihn ausnutzten und mißhandelten, um so glücklicher war er. Sogar Erpressungen bereiteten ihm mehr Lust- als Unlüste m p f i n düngen, übrigens eine bei metatropischer Veranlagung keineswegs seltene Er- scheinung. III. Das Seitenstück zu der eben geschilderten Gruppe bildet der feminine Urning, welcher- nicht leiden, sondern leiden lassen will.. Da seine Grundnatur eine weibliche ist, so ist sein mehr aggressiver als exspektativer Hang, sein Be ilürfnis, an dem Partner körperliche oder seelische Grausamkeiten zu verüben, eben falls als Metatropismus zu werten. Auch dieser Typus ist namentlich unter den männlichen Prostituierten, aber auch sonst ziemlich häufig. Ich habe in meiner langen Krpresserpraxis eine beträchtliche Anzahl recht gefährlicher Erpresser kennen gelernt, die hochgestellten Persönlichkeiten Jahre hindurch die schwersten Ungelegenheiten mittels Drohbriefen bereiteten; Erpresser, deren psychische Durchforschung ergab, daß nicht Gewinnsucht das treibende Motiv ihrer skrupellosen Grausamkeit war, son- dern eine Mischung von Feminismus mit Hysterie und metatropischem Sadismus. IV. Im Gegensatz zu den eben geschilderten Individuen ist nun wieder der virile Urning, welcher Mißhandlungen auf einer bewußt oder unbewußt sexuellen Grundlage verübt, nur ein Exzedierender; der männliche Aktivismus ist bei ihm nicht umgewandelt, sondern nur zu grotesken Übertreibungen geschlechtlicher Be- herrschungssucht gesteigert. Unter den weiblichen Homosexuellen heben sich vier, den männlichen analoge Gruppen ab. V. Die virile Urninde, welche in ihrer ganzen Wesensart, vor allem aber in erotischer Beziehung erfüllt ist von sexuellem Unternehmungsgeist und Unter- jochungsdrang, ist aktiv passiophil, aber nicht metatropisch, exzediert also nur im Sinne ihrer psychischen Eigenart. VI. Anders liegt es bei der virilen Urninde, die sich ihrer Partnerin unter- wi r f t. Wir hatten hier in Berlin eine sehr männliche Urninde, welche sich mit 256 V. Kapitel: Der Metatropismus Vorliebe als Page verkleidete und sehr froh war, wenn sie eine strenge Herrin fand, der sie Pagendienste leisten konnte, wobei sie vor keiner Dienstleistung zurückscheute Diese sklavische Unterwürfigkeit einer männlichen Urninde unter eine weibliche ist m e t a t r o p i s c h. VII. Ebenfalls metatropisch aber ist es auch, wenn eine feminine Homo sexuelle die Herrschaft über eine virile ausüben will und ausübt. Wiederholt sah ich Ehen in die Brüche gehen, weil ein Weib, das bis dahin ihren Mann beherrscht hatte, eine Leidenschaft zu einer männlichen Frau faßte, die sie dann ebenso demütigte wie vorher ihren Mann. VIII. Eine letzte Gruppe endlich stellt die feminine Urninde dar, die von einem Weibe, das sie liebt, alles Erdenkliche erdulden und erleiden möchte. Sie bleibt ihrer Weibnatur, wenn auch in Auswüchsen, treu, ist also passiophil, nicht aber metatropisch. Mit der Aufstellung dieser Gruppen ist der homosexuelle Metatropismus noch riicht erschöpft, denn wir wissen, daß sich durchaus nicht immer feminine zu virilen Typen hingezogen fühlen, sondern ziemlich oft auch feminine zu femininen und iririie zu virilen. Auch unter solchen Verbindungen gibt es metatropische, die Kennt nis der geschilderten Hauptgruppen dürfte aber genügen, um das Verständnis dei vorkommenden Kombinationen zu ermöglichen. Daß passiophile Akte auch Personen von sieh selbst an sich selbst vornehmen, habe ich bereits in dem Kapitel „Autornonosexua- lisnius" erwähnt und durch Beispiele erhärtet. Man könnte hier zu nächst an Autosadismus denken, da der Drang zu schlagen, zu stechen und andere Züchtigungen zu verabreichen, ein aktiver ist, und die grausamen Handlungen mit der Hand oder auch unter Zu hilfenahme von Instrumenten selbsttätig ausgeführt werden Doch wäre dies ein Fehlschluß, da nicht das Schlagen, sondern das Geschlagenwerden das Wesentliche ist. Die Leidlüsternen miß- handeln oder quälen sich selbst, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, weil sie keinen anderen zur Verfügung haben, der ihnen den Liebesdienst erweist. Ihre Akte sind demnach mehr ipsatorisch als autistisch, mehr Ersatzhandlungen, als eine seelische Bevorzugung der eigenen Person zur aktiven Vornahme der Flagellation, Ligation oder Mutilation. Sehr anschaulich zeigte dies der von mir begut- achtete Fall des Herrn v. S., dessen ganzer Körper mit Narben selbst beigebrachter Ätzwunden bedeckt war. Weil keine zweite Person ihm diese starken Hautreizungen gewähren wollte, vollzog er sie selbst an sich. Immerhin kommt es auch vor, daß Personen körper liehe und seelische Selbstquälereien verüben, trotzdem ihnen bewußt ist, daß andere zu den Eingriffen an ihnen gern bereit sind. Einer meiner Patienten, Lehramtskandidat, hatte die Sucht, sich mit Nadeln und „Messerchen" in die Brustwarzen zu stechen. Er gibt an, daß er, als er mit 12 Jahren zu onanieren begann, dabei einen „Kitzel in den Brüsten" verspürt hätte, den er anfangs durch kaltes Wasser zu beseitigen versuchte; „dadurch steigerten sich aber nur die kitzlichen Gefühle, und es trieb mich um so mehr zur Betätigung der Wollust"; er verfiel dann darauf, sich die Brustwarzen zu kneifen, bis er dazu überging, sie sieh zu durchstechen uud in dfiu V. Kapitel: Der Metatropismus 257 Warzenhof tiefe Einschnitte zu machen. Zahlreiche Narben dieser Manipulationen sind deutlich erkennbar. Blut entleerte sich bei den Hautverletzungen (infolge Gefäßkontraktion) fast niemals. Patient kann nur succubus kohabitieren, als incubus ist er impotent. Er ist zum zweiten Male „unglücklich" verheiratet, aus erster Ehe hat er zwei Kinder, seine jetzige Frau steht vor der Niederkunft. Er liebt Frauen mit männlichem Einschlag; „ihr Gesicht muß ausdrucksvoll knabenhaft sein, keine vollen Brüste und breiten Hüften". Er hat auch den Wunsch, von einer solchen Frau mit einer sehr spitzen Nadel in die Brustwarzen gestochen zu werden; doch muß ihr Gesichts- ausdruck dabei „recht männlich" sein; seltener, aber doch auch dann und wann beseelt ihn der Wunsch, selbst einmal ein Weib in die Brustwarzen zu stechen. In Wirklichkeit ist er aber bislang nicht über autistische Manipulationen hinausgekommen. Ich sah andere Patienten, und ähnliche Fälle finden sich in der Literatur mehrfach beschrieben, die sich Drähte durch das Skrotum zogen und sich mit spitzen Gegenständen die Harnröhre ritzten. Vor einigen Jahren überwies mir einmal ein Berliner Kollege einen Mann, der sich die ganze Bauchdecke kreuz und quer skarifiziert hatte. Auch bei Selbstverstümmelungen muß man differentialdiagnostisch an automasochistische Gelüste denken (vgl. die Arbeit von Blondel in Paris: „Lex automutilations, etudes psycho - pathologiques et in^dico-legales"). Ganz besonders lehrreich ist der folgende Fall: Patient, ein Kaufmann, ist 28 Jahre alt, sieht jedoch bedeutend jünger aus; er schreibt: „Als ich zwanzig Jahre alt war, war der Trieb zur Selbstpeinigung besonders stark. Ich steckte mir furchtbar gern Stecknadeln in das Fleisch des Armes, auch durch die Backe hindurch und durch die Ohrlappen. Ich hatte dabei Lustempfindungen sexueller Art. Diese Neigung schien mir um so sonderbarer, als sonst mein Nerven- system so sensibel ist, daß oft der bloße Gedanke an einen ärztlichen operativen Eingriff, ja, das Sehen eines Menschen mit blutender Nase, bei mir Weißwerden im Gesicht oder Schwindelanfälle hervorruft. Meinen Hang zum Fakir- und Asketentum bringe ich mit dieser masochistischen Triebrichtung in Zusammenhang. Es ist sicher Mangel an Kenntnis und Verständnis des feineren erotischen Seelenlebens, wenn man diese Leute so sehr bedauert und glaubt, sie hätten keine Freuden I Der indische Heilige, von mächtigen neurotischen Impulsen getrieben, tötet das körperliche Leben durch Fasten und Kasteien ab, um dadurch der höheren ekstatischen Freuden teilhaftig zu werden. Diese hochentwickel- ten Menschen brauchen zweifellos nicht den Austausch von Geschlechtsmagnetismus durch Berührung der Sexualorgane herbeizuführen. Jedenfalls kann ich aber von mir nicht behaupten, daß ich in meiner jetzigen Inkarnation bereits eine solche geistige Entwicklung erreicht habe, um ohne sexuellen Verkehr auskommen zu können. Das indische Pranayam, d. h. die Abtötung des Fleisches, löst bei mir ein großes Interesse aus. Ich lese mit Vorliebe Abhandlungen über Askese der indischen Fakire. In dem Roman Nena Sahib von Lord Retcliff kommen häufig Szenen vor, in denen Personen durchgepeitscht werden. Wenn ich solches lese, habe ich stets Erek- tionen. Es wird dann meistens der Wunsch bei mir rege, selbst einmal Schläge auf einen bestimmten Körperteil zu erhalten. Ebenfalls haben mich schon Bilder gereizt, Hirschl'eld, Sexnolp&thologie. II. J7 258 in denen Russen durchgepeitscht wurden, auch Abhandlungen in den Zeitungen über die empfindliche Bestrafung von Fürsorgezöglingen. Weil diese Triebe unbewußt in mir liegen, fühle ich mich auch wohl sehr zum Brahmanismus und der Theosophie hingezogen. Die große Macht des brahminischen Priesters und des indischen Yogy haben stets einen großen Zauber auf mich aus geübt. Mein Streben ging stets danach, selbst in den Besitz okkulter Kräfte zu ge- langen." Viele Fälle von Selbstgeißelungen lassen recht anschaulich die engen Beziehungen erkennen, welche zwischen religiöser und sexuel- ler Passiophilie bestehen. Können wir auch nicht so weit gehen, wie Staatsanwalt Wulffen, welcher kurzweg schreibt („Der Sexual- verbrecher", S. 504): „Das Christentum ist eine Kulturerscheinung masochistischer Richtung, denn es lehrt im Sehmerz und in der Ent- sagung Glückseligkeit zu empfinden", so darf doch als feststehend gelten, daß die Anhänger und Vertreter der Askese aus den mannig fachen Leiden, die sie sich selbst zufügten, Kasteiungen, Geißelungen — sogar Selbstentmannungen sind vorgenommen worden — einen Lustgewinn zogen, der einer erotischen Unterströmung nicht ent- behrte. Die A b t ö t u n g d e s F 1 e i s c h e s , wie sie uns im Mönchs- und Nonnentum klösterlicher Weltabkehr entgegentrat, war letzten Endes doch wieder — Fleischeslust. Des näheren auf dieses große, wichtige Grenzgebiet sexueller Brunst und religiöser Inbrunst einzugehen, haben wir hier aber weder Anlaß noch Raum. Nur ein weiterer Ausspruch von Wulffen sei noch kurz angeführt, um zu zeigen, wie weitgehende Betrachtungen der Trieb zu leiten und zu leiden weit über das Sexuelle hinaus anzuregen vermag. Der Satz lautet: „Der Gläubige, der Gottes harte Schicksale als Züchtigungen eines liebenden Vaters nimmt, die Angehörigen einer unter einem einzigen Befehle stehenden Kriegsmacht fühlen masochistisch. Was ich schon früher sagte: Zwischen sadistischen und masochistischen Gefühlen, Vorstellungen und Strebungen schreitet die Entwicklung des Menschengeschlechts dahin. Was wäre es ohne Sadismus und Masochismus? In allen seinen wertvollsten Zuständen kehren sie wieder, in seinem Geistesleben, in seiner Liebe, welche diesen Weg des Geistes zeichnet und beleuchtet, und ebenso in seinem Ge schlechtsleben, welches die Basis dieses ganzen Geistes und Lebens- daseins bildet." Überblicken wir die metatropische Literatur von Krafft-Ebing, welche vor 40 Jahren die Ausdrücke Masochismus und Sadismus in die wissenschaftliche Terminologie einführte, bis zum heutigen Tage, so könnte ein Umstand die Vermutung nahelegen, daß die Verbrei- tung dieser sexuellen Anomalie verhältnismäßig doch wohl nur eine recht geringe ist, der Umstand nämlich, daß die Verfasser im wesent- lichen immer wieder auf die ursprüngliche Kasuistik zurückgreifen. Beispielsweise begegnet uns immer wieder die Schilderung der meta- v- Kapitel: Der Metatropismus 259 tropischen Liebe Jean Jacques Rousseaus zu Fräulein Lambercier, die er m seinen „confessions" ausführlich geschildert hat. In Wirk- lichkeit ist aber der Metatropismus des Mannes und des Weibes, ebenso wie die sexuelle Passiophilie, eine recht häufige Erscheinung.' Ich hätte daher gern aus dem recht umfangreichen einschlägigen Material, das mir aus meiner Praxis zu Gebote steht, einige aus- führlichere Schilderungen metatropischer Männer und Frauen ge- bracht, seltsame Dokumente menschlicher Psychologie, doch muß ich mir mit Rücksicht auf die verfügbare Bogenzahl Einschrän- kungen auferlegen, und will daher nur eine Anzahl Metatro pistenbriefe herausgreifen, die das oben Gesagte belegen und anschaulich illustrieren. Zunächst einige Briefe eines Künstlers an eine ihm vorläufig noch unbekannte Dame, in denen die seelische Unterwürfigkeit des Metatropisten überaus charakteristisch zutage tritt: ... Was ich kennen lernte, waren Weibchen, die schwach wurden, wenn sie anfingen zu lieben, sanft duldend, ohne eigenen Willen, ich aber suchte und suche verzweifelt die Frau, die meine Fähigkeiten, meine Arbeitskraft nach ihrem starken überlegenen Willen zu lenken versteht, sie mit Liebe und Strenge wie bei einem Buben leitet und meinem guten, vornehmen und anständig denkenden, aber innerlich schwachem und haltlosem Charakter die Lebensfreude, das Lebensziel gibt, um die das Leben allein lohnt. Ich sehne mich in meiner, zu einer geradezu frauenhaften Hingebung neigenden Eigenart nach der innerlich männlich gearteten Frau, der es eine Freude, eine Wollust bereiten würde, ein solches Wesen ganz und gar ihr eigen nennen, zu ihrem Geschöpf machen, es sich ganz unterwerfen zu können, indem sie die männlichen Seiten in mir vollkommen unterdrücken, sei es mit den exzentrischsten Mitteln, und die weiblich gerichteten Seiten unter ihren liebenden und doch starken und strengen Händen zur vollen und schönen Entwicklung bringen würde. Ich sehne mich nach einem seelisch direkt umgekehrten Verhältnis, wie es sonst zwischen Mann und Frau wohl üblich ist. Die Frau von überlegener Willenskraft, aggressiv im höchsten Grade (kein blondes Gretchen), die es nicht nur versteht, ihren Willen, ihre Wünsche durchzusetzen, sondern sich auch den Willen 'des Jüngeren, nicht der Außen- welt, sondern nur seiner Liebe lebenden Mannes vollkommen bis zur wehrlosen Ohn- macht zu unterwerfen. Dabei soll er ihr kluger Kamerad sein, mit dem sie alles, aber auch alles, besser als mit einer vertrauten Freundin, das Intimste wie das Höchste rückhaltlos besprechen kann, vor dem sie keine Scheu kennt, der gleichzeitig ihr Spielzeug zur Unterhaltung und Befriedigung ihrer tollen Sinne ist, dem zu mißfallen sie aber nicht zu fürchten braucht, weil er sie und alles, was sie tut, willenlos anbetend lieben muß, da sie die Stärkere ist, den sie wohl sexuell als Mann, aber doch gleichzeitig wegen seiner alle weiblichen Interessen teilenden und verstehenden weiblichen Seiten wie eine jüngere intime Freundin empfindet. Darum, gnädigste Frau, sehnte ich mich — ich kann wohl sagen von Kindheit an — und meine Sinne erwachten sehr früh — nach einer älteren, über mir stehenden Frau, zu der ich wie der Bub zu einer Erzieherin aufschauen konnte. Sie leitet und erzieht ihn nach ihren Wünschen, sie liebt an ihm das weiche seines Wesens und seines Äußeren, und gewöhnt ihn an mädchenhafte Hingebung. Glauben Sie aber deshalb um Gottes willen nicht, daß ich süßlich wäre. Das hasse ich, auch bei einer Frau . . . ... Mit allen Fasern seines Herzens sehnt sich der Junge nach der großen Frau in Rot. Darum ist mir auch die Figur des Pierrot so sympathisch mit seinen brennend 17* 260 V. Kapitel: Der Metatropismus roten Lippen und den heißen, sehnsüchtigen, schwarzen Augen in dem weißen Gesicht, fast mehr ein schwül und wollüstig sehnendes Mädel als ein Mann. Ein Wesen nur zum Spiel für seine Herrin geschaffen. Darum liebe ich auch Bayros unendlich . . Wie gern wäre ich Ihnen mit meinem ganzen Idealismus, mit der ganzen tollen Schwärmerei meines Herzens zu Füßen gefallen, und hätte meinen Kopf in Ihren Schoß gebettet, willenlos anbetend. Eine Furcht habe ich: daß ich Ihnen, wenngleich auch ich Künstler bin, nicht auf die Höhen folgen kann, auf denen Sie als Frau von Welt von hohem, künstlerischen Empfinden, wie ich aus allem sehe, stehen. Und doch und doch, der Bub möchte doch so gern mit hinaufgezogen werden mit allen seinen Empfindungen auf diese Höhe. Folgsam und artig, und begeistert anbetend möchte er an den Lippen, den Augen seiner Meisterin, seiner Göttin hängen, die ihn zu sich hinaufzieht, aus all dem, woran ihn eine platte Erziehung, em flacher Beruf, der niedrige Kampf ums Dasein gefesselt halten, und wovon loszukommen er sich immer und immer wieder allein vergeblich bemüht, die ihn zu ihrem Geschöpf macht, damit er mit ihren Augen sehen, mit ihren Sinnen fühlen muß, so daß er alles, was er innerlich ist ihr dankt. Kein anderer Gedanke als sie, hat in seinem Inneren dann mehr Raum, von ihr hängt er ab. Mit überschwenglicher Zärtlichkeit liebt er seine Göttin, ideal wie eine Mutter, sinnlich wie das Mädel seinen Geliebten und Herrn . . . Übrigens, wie finden Sie die Rollen des Rosenkavaliers, oder die des Cherubim in Figaros Hochzeit, ebenso wie die des Chevalier Faublas? Alles Verhältnisse und Beziehungen, die mich stets unendlich begeistert und gereizt haben. Werden Sie mir darauf antworten? Überhaupt liebe ich das Rokoko, wenn es auch ein wenig dessen entbehrt, was man mit rassig bezeichnet. Heißen Dank für die reizende Karte, wenn auch nicht der siegende, sondern der besiegte, gefangene, unterworfene Pierrot meine Rolle ist, den seine Herrin erst zum Pierrot macht, um ihn durch den letzten Rest von männlichem Selbstbewußtsein, das nun einmal dem Manne infolge seiner überlegenen Stellung in der menschlichen Gesellschaft stets innewohnt, zu rauben, um ihm schon durch den Blick auf sein Äußeres, durch das Gefühl des reizenden, aber ganz unmännlichen Aussehens, das sie ihm'gegeben, tief das Bewußtsein einzuprägen, daß er kein Mann ist, sondern ihr lebendes Spielzeug, ihr Eigentum, das sie nach Laune und Geschmack in den Ketten ihres starken eigenen Willens und seiner grenzenlos hingebenden an- betenden Liebe zu ihr gefangen halten kann Wie schade, daß jetzt keine Kostüm- feste sind, ich kann meine Seele in diese Dinge hineinlegen. Manchem erscheint all das vielleicht b-sonders in jetziger Zeit eitel und nichtig; äußerlich, wie oft behauptet wird, ist es jedenfalls nicht. Dem Unmusikalischen wird ja auch die Musik nichtig erscheinen und seltsam, für mich ist die Kleidung, das Äußere, nicht nur eine Sache des Auges, sondern auch des Gefühls, ob ich sie nun bei anderen oder an meinem eigenen Körper fühle. ... i Außerordentlich gefesselt hat mich stets die Gestalt Elisabeths II. von Rußland, ihr reizendes Abenteuer mit dem Chevalier d'Eon, und ihre seltsam männlich anmutende Vorliebe für ihre P a g e n , die sie sogar als junge Damen anzuziehen liebte, sind Ihnen wohl bekannt. Es war ein entzückendes Zeitalter und hat mit all seiner angeblichen Degeneration unseren größten und dabei zugleich feinsten Mann hervorgebracht. . . . Der Gedanke, ich werde ein Wesen kennen lernen, das männlich denkt und fühlt, doch äußerlich eine schicke und geschmackvolle Frau ist, macht mich allein un- säglich glücklich, und mehr als einmal habe ich die Beschreibung ihres Äußeren ge- lesen. Ich kann eine geschmackvoll angezogene Frau stundenlang anschauen, und es war mir ein Genuß in Berlin die Stätten aufzusuchen, wo man dies Vergnügen haben kann. Nur um still zu schauen und in mich aufzunehmen Die Stadt, in der ich wohne, ist eine Stadt, in der man Pelze nur trägt, um sich zu wärmen — und ich lielie Pelze so sehr — es ist auch eine Stadt, wo man noch glaubt, es könne eine ilüiilscliü Mode geben und wo das Gefühl dafür fehlt, daß die Mode, d. h. der Ge- ■riunaclr, inlernntional ist, und an die Individuen, nicht an die Nationalitäten geknüpft V. Kapitel: Der Metatropismus 261 ist Um die Gespenstersonate am Freitag beneide ich die gnädigste Frau, und über- haupt um die Berliner Premieren Ich sah im August u. a. in der Königgrätzer Slraße das Traumspiel von Strindberg, ich habe selten eine so tiefe Offenbarung gehabt. In heißsehnender Hoffnung küsse ich inbrünstig die Hand der Marquise und träume zu sein ihr Page. . . . . . Einem einzigen Wesen, dem ich meine ganze Liebe, mein ganzes Ich weihen kann, will ich gehören, als ein Sklave — nein, der Ausdruck ist häßlich, er erinnert so an den altmodischen Sacher-Masoch mit Peitsche und hohen Lackstiefeln — nein, ein Bub, nein, ein Spielzeug. Und nun soll ich das Wesen kennen lernen, das ganz dieser erträumten Frauengestalt entspricht und das nicht brutalisiert sein, sondern selbst brutalisieren will, das mich so kennen lernen will, wie ich im Innern bin, weich, hingebend, willig. Ich zittere für mein Glück, werde ich die Prüfung bestehen? 1 Sie werden mich ganz gewiß nicht enttäuschen und darum liegt der Bub schon jetzt auf den Knien vor Ihnen und bittet, seine große, große Göttin um viel, viel Nach sieht. Er ist durchaus nicht etwa der große Künstler, von dem sie vielleicht träumt, sondern ein ganz dummer, kleiner Bub, der ja tief, tief unter ihr steht, und außer ein bißchen Welt- und Menschenkenntnis nix kann und nix versteht, als eine große Frau anbeten, sie verhätscheln, ihr dienen, sie mit seiner großen, heißen Liebe umgeben. Es folgen einige Briefe, die mir eine „Herrin" übergab, die viel mit Metatropisten korrespondiert. Sie rühren von gebildeten Männern in angesehenen Stellungen her. Die Handschrift zeigt in den meisten Fällen femininen 'Typus: Hochverehrte, gnädige Fraul Heute, wo Sie ausdrücklich erklären, daß Sie in mir einen gehorsamen Sklaven zu finden hoffen, stehe ich nicht an zu bekennen, daß ich „leide r" ein Mann bin, der infolge der ihm einmal angeborenen, anormalen Veranlagung es von Jugend auf als höchstes Glück, als beneidenswertes Los erträumte, als Sklave leibeigen einem schönen Weibe zu gehören, von einer, seinem Herrinideal natürlich möglichst entsprechenden, d. h. ihm sympathischen, stolzen und selbst- bewußten Dame auch ganz als ihr Sklave gehalten, betrachtet, behandelt und „nach klassischem Grundsatz und Vorbild" sans gene auch für die intimen Funktionen ihres persönlichen Dienstes abgericht.et und verwendet zu werden! Honny soit qui mal y pense! Es handelt sich dabei schließlich doch nur darum, in welcher Art das statt- findet. — Ich bin der Meinung, daß eine Herrin von ihrem Sklaven jede Art von Dienstleistung fordern kann, solange sie dieselbe eben als Herrin von ihrem in der nötigen Ehrfurcht erzogenen, und an Respekt, Demut und äußerste Unterwürfigkeit ihr gegenüber gewöhnten Sklaven verlangt. — Die Frauen des alten Roms, die russischen, polnischen und ungarischen Edelfrauen vor 150, die Frauen und Mädchen der amerikanischen Pflanzeraristokratie vor wenig mehr als 60 Jahren waren auch „Damen", kümmerten sich aber sehr wenig um das Geschlecht der mit ihrer persön- lichen Bedienung betrauten Sklaven und Leibeigenen, welche allerdings auch so er- zogen waren, daß sie aus Furcht in ihrer Herrin niemals das schöne und begehrens- werte Weib erblickten, niemals mit Mannesaugen auf dessen Reize zu blicken wagten. — Für diese stolzen, herrschgewöhnten Frauen aber war der Sklave niemals ein Mann und Mensch, sondern eine wesenlose Sache, ein Möbel, ein lebender, ihnen gehöriger Gegenstand, ein vernunftbegabtes und daher doppelt nützliches Haustier, bestimmt einzig und alleine dazu, in jeder nur denkbar möglichen und gewollten Weise dem Nutzen und Wohl- befinden, den Launen, Wünschen und Bedürfnissen, der Bequemlichkeit und nicht zuletzt natürlich auch der Lust und dem Vergnügen ihrer Besitzerinnen zu dienen. — " Der Sklave war für seine Herrin für gewöhnlich ein elendes Nichts und doch auch wieder Alles! Ein „Nichts" nämlich, was sie auch nur im geringsten in 262 V. Kapitel: Der Metatropismus ihrer Eigenschaft als Weib genieren und inkommodieren konnte, worauf sie als Frau in ihrer Lebensweise, ihrem Verkehr, ihren Liebhabereien und Gewohnheiten irgend- welche Rücksicht zu nehmen hatte, und „Alles" war der Sklave doch wieder, was die Herrin wollte, daß er für sie sein sollte, wozu sie glaubte ihn gebrauchen zu können, was ihr beliebte in Anwendung dieser oder jener Laune mit ihm und aus ihm zu machen. — Der sympathische, intelligente, gelehrige Sklave wurde der dummen, ein- fältigen, häßlichen und ungeschickten Sklavin meistenteils vorgezogen, die anspruchs- vollen, stolzen Damen aber, welche gewohnt waren die Kostbarkeiten, Wunder und Schätze aller drei Naturreiche als selbstverständlich ihnen gebührenden Tribut ent- gegenzunehmen, vermochten nicht einzusehen, warum sie einen hervorragend geistig wie körperlich wohlgebildeten Vertreter der Species homo sapiens, der trotz edler Abstammung das persönliche Pech hatte ein Sklave zu sein, in dieser Eigenschaft nicht zu ihrem persönlichen Dienst verwenden sollten. — Für ein stolzes, selbstbewußtes Weib ist eben das Beste gerade gut genug, und es freut und interessiert mich, gnädige Frau, aus Ihrem Briefe zu ersehen, wie viel Gewicht Sie darauf legen, daß ich, als von Ihnen zu Ihrem Sklaven bestimmtes Indi- viduum, gleichfalls von guter Qualität und nicht etwa professionell dienenden Standes bin. — Ob gnädige Frau sich nun zu meiner Herrin, ich mich zu Ihrem Sklaven eigne, das muß wohl unsere nähere Bekanntschaft miteinander erst feststellen. — Die Sehn- sucht nach einer, meinem Ideal entsprechenden Herrin haben gnädige Frau in Ihren Briefen wieder neuervseckt! Es ist merkwürdig, wie elektrisierend eine solche Initiative, von einer Dame ergriffen, auf mich einwirkt. — Mein Herrinideal ist ja gerade eine stolze, selbstbewußte und gebildete Frau, welche auf Grund meiner ihr bekannten, anormalen Veranlagung in mir ihr recht- mäßiges Eigentum, ihren natürlichen Sklaven erblickt und beansprucht. — Aber so sehr ich mich selbst nach einer Herrin sehne, so möchte ich doch nur der Sklave einer solchen Dame werden, v/elche ihrerseits auch wirklich die Qualität dazu hat. — Alle Halbheit, alles Possenspiel ist mir da zuwider. — Meine Herrin soll sich nicht nur dem Namen nach, sondern in Wirklichkeit als meine Herrin fühlen, sie soll imstande sein, sich mir gegenüber als solche auch durchzusetzen und zu be- haupten, als solche zu empfinden und mir als solche zu imponieren. — Ich möchte der Sklave einer Herrin sein, welche neben blindem, bedingungslosem Gehorsam aufs Wort, mir eine an Anbetung grenzende Verehrung ihrer eigenen Person zur Pflicht und erstem Gesetz macht. — Ich möchte, daß meine Herrin von Anfang an mich zu äußerster Ehrerbietung sich selber gegenüber erzieht, daß sie eifersüchtig auf ihre Autorität, auf ihre von mir respektierte Herrinwürde bedacht ist. — Ihr ergebenster, mit vorzüglichster Hochachtung zeichnender, untertänigster, wenn Sie es wollen: „Sklave". „Allergnädigste Herrin und Gebieterin! Heißen Dank für Ihren gnädigen Brief, wie glücklich ich darüber bin. Ich möchte jetzt in Ihrer Nähe weilen, zu Ihren Füßen knien, um Ihnen meine Dankbarkeit darzubringen. Ich küsse Ihre Füße und atme mit Gier den Duft ein, der der Schönheit entströmt. Ich sehe Ihre zarte Chaussure, ich will Ihren Fuß umfassen, der seine Absätze in meinen Nacken eingraben soll. Drohend heben Sie die Peitsche, Ihr zarter Fuß versetzt mir einen Stoß. Jetzt soll nicht Zeit sein, wo ich Sklavendienste verrichten soll. Lässig legt sich meine Herrin aufs Chaiselongue, alle Reize dem Sklaven zeigend, ich darf Ihnen eine Zigarette an- zünden, dann befehlen Sie mir, meinen Kopf zu Ihren Füßen zu legen. Ich bin zur Tollheit gereizt, alles zittert in mir. Ich höre die Seide Ihres Gewandes rascheln, ich atme das betäubende Parfüm. Ihre Füße zwängen jetzt meinen Kopf ein, die Herrin verlangt von dem Sklaven /geküßt zu werden. Ihre Peitsche saust durch die Luft, immer schneller soll ich küssen. All so tolle Gedanken schnüren mich jetzt ein, Herrin, könnte ich bei Ihnen sein. Ich bin jetzt wahnsinnig erregt. Wenn meine Gedanken jetzt frivol sind, o Herrin, V. Kapitel: Der Metatropismus 263 verzeihen Sie mir. Meist immer brachte ich die Nächte schlaflos zu, furchtbare erotische Träume peitschten mein Blut auf. Herrin, bitte sagen Sie mir, wie ich Ihnen dienen soll, wie ich die Herrin heben soll. Morgen werde ich auf einige Tage verreisen, ich will ins Gebirge, um dort Erzen nachzuforschen, da ich Mutungsrechte erwerben möchte; Neuland der Kultur, der , Industrie zuführen. Ich bin sehr begierig, was ich vorfinden werde. Es ist immer etwas Geheimnisvolles die Schätze zu finden, die die Erde birgt. Es ist Vererbung, schon als Kind bin ich so oft in Großvaters Kohlenschacht mit eingefahren. Als junger Mensch leitete ich für meinen Vater Abbohrungen nach Kohle. Herrin, ich liege zu Ihren Füßen, Ihnen demütig als Sklave ergeben." Allergnädigste Herrin und Gebieterin I Demütig auf den Knien lie- gend, will der Sklave die Peitsche küssen, die die stolze Herrin un- barmherzig auf den nackten Sklavenkörper niedersausen ließ. Herrin! Sie wollen jetzt physisch und moralisch zu einem Nichts den Sklaven erniedrigen. Ihr ganzer Zorn sollte mich treffen. Ich bin furchtbar zerknirscht, machen Sie mich zur willen- losen Kreatur, die nur den Launen und der Wollust dienen soll. Herrin, sind Sie mit dem Sklaven gemein, foltern Sie den Sklaven seelisch und körper- lich. Befehlen Sie mir die größten Schmerzen zu Ihrer wilden Lust, binden Sie mich mit B i e m e n , daß der Sklave sich nicht rühren kann, und dann unnach- sichtig die Peitsche, das Gewinsel soll Ihnen Lust sein, die Grausamkeit soll die Freude der Herrin sein. Erniedrigen Sie mich zu Ihrer Magd, nehmen Sie mir auch äußerlich die Mannheit, stecken Sie mich in Weiberkleider, schnüren Sie mir ein Korsett um, Herrin, bestrafen Sie meine Sünde. Ihre werten Handschreiben liegen vor mir, das angenehme Parfüm berauscht mich. Wie gern hätte ich sofort auf Ihre werten Schreiben geantwortet, aber ich habe in der Fabrik große Sorge. Nichts scheint mir mehr zu glücken, ich arbeite wie ein Pferd. Seit 5 Tagen habe ich nur nachts einige Stunden Schlaf mir gönnen können. Ich bin beglückt darüber, daß meine Herrin in frohem Kreise den Geburtstag verleben konnte. Es freut mich besonders zu erfahren, wie meine Herrin eingerichtet ist. Dort soll ich einst Sklavendienste verrichten dürfen, dort wird meine stolze Herrin Ihr elegantes Füßchen auf meinen Nacken setzen. Herrin, ich möchte Sie in der ganzen Schönheit schauen; zu Ihren Füßen will ich knien. Es durch- schauert mich der Gedanke, durch die weiche, schmiegsame Seide meiner Herrin Wärme zu fühlen. Ich bin begeistert für das Männliche in der Frau, und liebe besonders auch die Gestaltung der Herrin in engen, seidenen Hosen nach Herren Art. Nun zu der Beschreibung meines Äußeren. Ich bin sehr groß, war Flügelmann beim Militär. Mein Haar ist brünett, trage nur ganz kurzen Schnurrbart, meine Wange ist durchfurcht von alten Säbel- und Schlägerhieben. Sonst bin ich wohl- gebaut, eher etwas dünn, doch leidlich muskulös. Wann ich kommen kann, um meiner Herrin die Füße zu küssen, ist noch sehr unbestimmt. Herrin, sind Sie dem Sklaven gnädig. In tiefer Unterwürfigkeit, Ihr demütiger Sklave." Den folgenden Brief erhielt ich von einer deutschen Erzieherin, die bis Kriegsausbruch in Moskau deutschen und englischen Unter- richt erteilte. Trotzdem sie bei ihren Anzeigen in angesehenen Tageszeitungen keinerlei Nebengedanken verfolgte, empfing sie wiederholt Zuschriften, wie die hier wiedergegebene: „Sehr geehrtes Fräulein! Da Sie, wie ich in Ihrem geschätzten Inserat lese, 8 Jahre in England lebten, wird Ihnen auch die englische Erziehungsweise bekannt 264 V. Kapitel: Der Metatropismus sein, d. h. die Liebe und die Gewohnheit der englischen Damen, den Stock und die Rute bei Knaben, Jünglingen und selbst Männern häufig in Anwendung zu bringen Ich bin selbst in Cambridge erzogen worden, wo, wie Ihnen bekannt sein dürfte, die Erziehung als besonders streng gilt, und noch mit 20 Jahren erhielten wir jungen Leute bei einer geringen Nachlässigkeit von den gestrengen Lehrerinnen tüchtig Ruten streiche. Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich voraussetze, daß Sie wissen, daß durch diese Art der Erziehung sich bei den meisten jungen Leuten der angelsächsischen Rasse eine direkte Vorliebe dafür ausgebildet hat, von Damenhand die Rute oder den Stock zu erhalten. Auch ich habe mir, trotz meiner nun 6jährigen Entfernung aus England, diese Leidenschaft bewahrt, und ich bitte Sie, wenn Sie ge- willt sind, mir einige Male wöchentlich die Wohltat des Rohrstocks oder der Rute angedeihen zu lassen — was nachgewiesenermaßen Körper und Geist besonders frisch erhält — , mir zu schreiben, an welchen Tagen ich Sie besuchen darf, sowie, was Sie für eine, jedesmal ca. *U Stunde dauernde Sitzung rechnen würden. Ab 6 Uhr abends bin ich stets frei." Ebenfalls von einem Flagellanten stammt der nächste Brief. Allergnädigste Herrini Ach wie von Herzen gern schreibe ich meine Anrede. Der untertänige Sklave weiß, daß seine Erziehung viel zu wünschen übrig läßt, er gesteht das demütig zu. Er verspricht ferner, der Herrin stets zu gehorchen und freut sich, daß seine Talente infolge früheren langjährigen Sklavendienstes gut entwickelt sind, so daß seine Herrin, wenn sie ihn zum Sklaven erheben will nach ihrem Befehl, schon ein gelehriges, gefügiges Material vorfindet. Allergnädigste Gebieterini Tief- ergebenst auf den Knien liegt der Sklave vor Ihnen und fleht die Herrin an: ergreifen Sie die Zügel und die Peitsche, nehmen Sie den Sklaven auf in Ihre Zucht. Be- dingungslos schwöre ich Ihnen blinden Gehorsam. Nie werde ich fragen, nie mich sträuben, sondern mit wonnigem Erschauern den schlanken, weißen Sklavenkörper den Launen der strengen Herrin darbieten. Mein Alter war wohl verschrieben, denn ich bin 331/2, aber an Erfahrung viel viel reifer. All mein Fühlen, Denken und Sinnen ist schon bei der Herrin, die ich lange gesucht. Mit sehnsüchtig geöffneten Lippen schlürfe ich den Duft der sich mir nahenden Herrin ein — mit bebenden Lippen will ich unter Ihrer Peitsche den goldigen Nektar trinken, wenn die Herrin dem Sklaven den herrlichen Schoß öffnet. — 0, allergnädigste Gebieterini Wie soll ich meine Begierden alle Ihnen schildern? Soll ich Ihnen sagen, daß ich mir die Herrin ersehne, die ihre Phantasie spielen läßt, die ihren Leibsklaven zu ihrer Wollust abrichtet? — Die ihm den Stempel seiner Leibeigenschaft einbrennt in raffiniert schwüler Stunde? — Ich weiß, herrlichste Herrin, es gibt Amazonen, die ihrem Tier die Zügel anlegen und fest die Kandare an- setzen. Wenn sie ihm dann sich auf den glänzenden Rücken schwingen und die Sporen eindrücken in die Schenkel, damit er zur höchsten Entfaltung seiner Talente angespornt wird — wer wird größeren Genuß haben: er, der Sklave, der da' seinen Leib und seine Seele der hohen Gebieterin verschrieben — , oder sie, die Gebieterin, der er sich nur naht auf den Knien liegend? — Gnädigste Herrini Darf der Sklave untertänigst einen Vorschlag machen? — Ganz alleinstehend wohnt er im Gartenhaus 1 Treppe. Eines Nachmittags, vielleicht Sonnabend von 3 Uhr ab, erscheint die Herrin bei ihm. Auf zweimaliges Klingeln wird er nur öffnen und sofort in sein Zimmer (links) gehen. Will die Herrin, daß er nackend auf seinem Chaiselongue liege — gut. Er wird genau so sein bereit, wie Herrin das befiehlt. Er wird nicht fragen und nicht sprechen Herrin mag ja, wenn sie nicht will, daß dem Sklavenauge ihr Gesicht gezeigt werde, im Korridor eine Gesichtsmaske anlegen. Jedenfalls schwöre ich, daß Herrin absolut ungeniert bei ihrem Sklaven ist. ( Wie die Herrin ihren Sklaven vorzufinden gewillt ist, welches Programm sie festsetzt für diese Probestunde, das mag die Gebieterin bestimmen, der Sklave wird V. Kapitel: Der Metatropismus 265 stumm gehorchen. — Der Sonnabendnachmittag würde mir passen. Die genaue Zeil bestimmt Herrin noch in ihrer Gnade. — Allergnädigste Herrini In einem besonderen Kuvert sende ich meine Adresse zu Ihrer Orientierung. Nun bin ich der hohen, gnädigen Gebieterin treuergebener Ski. Nachschrift: Ich weiß, es sind die Männer dir nur Ein Spielzeug für müßige Stunden, Ich weiß es, und kann doch nimmermehr Von meiner Liebe gesunden. Ich sehnte so innig, du würdest mein Her/ Das heiß für dich geschlagen, In einem alten Pompadour Tändelnd am Arme tragen. Kollege Bloch überließ mir das folgende Schreiben eino« puerilen Metatropisten: Werte Damel Auf der Reise befindlich (ich wohne in naher thür. Residenz), lese ich Ihr Inserat und wage eine offene Offerte. Diskretion gegen Diskretion; Ver- trauen gegen Vertrauen! Ich bin allerdings bereits 57 Jahre alt (Junggeselle), aber gesund, groß, stattlich, mit vollem Haarwuchs, solid, lebensfroh, ohne jeden Anhang. — Als staatlicher Sekretär habe ich gutes, zu Pension und Witwengeld berechtigendes Einkommen, dabei etwas Vermögen, Lebensversicherung. Sonach suche ich kein Geld, sondern einzig eine wohlwollende, dabei aber energische Frau. Nur eins muß ich erbitten, und von Ihrer Vorurteilslosigkeit erhoffe ich um so mehr Berücksichtigung, als davon alles Fernere abhängt: Ich habe mich einst an einer Frau schwer versündigt und heilig gelobt, nur eine ältere Dame zu heiraten, die gewillt ist, mich bei der ersten Begegnung hart und ohne jede Nachsicht zu bestrafen. Ich muß alsbald zu Ihnen kommen und Ihnen volle 100 Stunden (4 Tage und 4 Stunden) in weiblicher Kleidung als Magd bei unbedingtem Gehorsam dienen, d. h., ich muß alle — auch die gröbsten — Hausarbeiten verrichten (Scheuern, Spülen, Waschen, Zimmerreinigen, Küchendienst, dann Nähen, Stricken), so daß ich von früh bis abends tätig zu sein habe. Gezüchtigt werde ich mit Rohr- stock und Rute, und im Falle eines Ungehorsams gibt es langen Arrest in einem finsteren Räume bei völligem Fasten. Als gewöhnlicher Aufenthalt wird mir eine denk- bar einfache Kammer mit Tisch, Stuhl und bescheidenem Lager angewiesen. Als Nahrung erhalte ich während der ganzen Strafzeit neben Wasser nur täglich dreimal warmen Kinderbrei, ein wenig lauwarme Milch aus einem Fläschchen mit Gummi- pfropfen, einem sog. Lutscher. Weiter gibt es absolut nichts. Ehe ich nach Ablauf der nicht zu verkürzenden oder zu unterbrechenden Strafzeit, in der ich „Du" genannt werde, während ich „gnädige Frau" sagen muß, meine Kleider zurückerhalte, habe ich schriftliches Heiratsversprechen abzugeben. Wenn Sie in der Sache einverstanden sind, folgen sofort alle Einzelheiten, so daß ich wohl am Dienstag vormittag 10 Uhr die Strafe antreten und solche sonach Samstag nachmittag 2 Uhr beendigen kann. Dann wäre alles gut und ich darf Ihnen versichern, daß Sie einen treusorgenden, folg- samen Mann erhalten, der sich längst nach einer trauten Häuslichkeit sehnt. Ich betone noch, daß ich für Stock, Rute, Fesseln (zum Binden "beim Züchtigen und Essengeben), sowie — wenn Sie solches selbst nicht besitzen — weiße Haube sorgen kann. Dagegen müßten Sie die Frauenkleidung, als Hemd, Hose, Korsett, Unterröcke, Kleid und Pantoffel bereitlegen, auch ein Fläschchen beschaffen. Auslagen werden vergütet. Ich sehe Ihrer schnellsten Nachricht entgegen (folgt Unterschrift). Nachschrift: Verfügen Sie über einen finsteren, verschließbaren Raum (Keller oder dergleichen)? D. 0. 266 Ein weiteres Beispiel für die recht häufige Verbindung von Transvestismus mit Metatropismus geben die folgenden Zeilen: Sehr geehrte gnädige Fraul Darf ich also wirklich hoffen, eine stolze, rücksichts- lose Herrin und Gebieterin gefunden zu haben, die über mich befiehlt als über ihr Eigentum, das ihr gehört und mit dem sie machen kann was sie will. Ich hoffe, daß ich Ihnen als Zögling oder Ihr Dienstmädchen dienen darf, daß Sie die Erziehung über mich übernehmen werden. Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen aufs Wort gehorchen, jeden Ihrer Befehle gehorsam und untertänig ausführen werde, wie es einem Dienstboten zukommt. Welche Freude würde ich empfinden, wenn ich den Staub von Ihrem Schuhwerk, oder den Saum Ihres Kleides küssen dürfte! Wie gern würde ich bei Ihnen aufräumen, Stiefel putzen, ausfegen, überhaupt alle jene Arbeilen verrichten, die einem Dienstboten zukommen. Wenn es Ihnen aber mehr zusagt, würde ich gern Ihr kleiner Zögling sein, dessen Erziehung Sie als gestrenge Gouver- nante übernehmen. Sie haben dann ja ganz alleine völlige Macht über mich, können den Stock gebrauchen, wenn ich Ihren Anordnungen und Befehlen nicht unbedingt Folge leiste. Sie werden sicher in der Lage sein, mir alle Ungezogenheiten aus- zutreiben und mich zu einem Wesen zu erziehen, das nur einen Willen kennt, näm- lich den Ihren. Befehlen Sie also über mich. Ich verspreche Ihnen, gehorsam und folgsam zu sein. Darf ich hoffen, schon diese Woche bei Ihnen in Dienst treten zu dürfen? — Sie brauchen nur eine Zeit zu bestimmen, wann Sie mich in Ihrer Wohnung erwarten. Ich werde Ihrer Aufforderung, zu erscheinen, bestimmt unverzüglich Folge leisten. Also seien Sie so gnädig und befehlen Sie mich möglichst schnell in Ihre Wohnung ■mv Vorstellung. Vielleicht legen Sie Ihre schmutzige Wäsche, die ich anzuziehen hätte, zurecht. Ihre getragene Wäsche und abgetragenen Kleider von Ihnen zu tragen, würde mich sehr reizen. Gebrauchen Sie auch bitte kein freundliches Wort mir gegenüber, sondern treten Sie gleich von vornherein zielbewußt mir gegenüber auf. Sie sind ja die Gebieterin und ich Ihre Untergebene, Ihr willenloses Eigentum. Wenn Sie diese Zeilen beantworten, befehlen Sie auch schon bitte in Ihrem ersten Brief an mich, und gebrauchen sie die Anrede „Du", während ich es natürlich niemals wagen würde, die gleiche Anrede Ihnen gegenüber zu gebrauchen. Wann darf ich mich meiner Herrin vorstellen? Ihnen die Stiefel küssend, in Demut Ihr (Unterschrift) Ist in den bisherigen Briefen besonders der Fuß- und Schuh- fetischismus vertreten, so enthält der folgende Brief die etwas seltenere Kombination von Metatropismus mit Gesäßfetischismus: Hochverehrte, allergnädigste Dame! Gnädigste bitte ich tiefuntertänigst und ganz sehorsamst um Verzeihung, daß ich Knecht es wage, an Sie, hohe Dame, zu schreiben. Gestern, Sonnabend nachmittag, 1/2 vor 4 Uhr, sah ich Gnädigste auf dem Balkon Ihrer Wohnung in weißer Taille und braunem Kleide. Der Anblick Ihrer imposanten, majestätischen Erscheinung hat mich zu Ihrem willenlosen Sklaven gemacht. Über- wältigend war aber Ihr Anblick, als Gnädigste sich mit Ihren hochgebietenden Händen das braune Kleid hinten, an Ihrem ehrfurchtgebietenden, stolzen' Gesäße zusammen- zogen und rafften, und hochhoben, so daß Ihre stolzüppigen Hüften und Ihr großmäch- tiges, strenges, energisches Gesäß in seinen majestätischen Konturen und Linien in aufregendster Weise zu erkennen waren, und als Gnädigste Ihren angebeteten Ober- körper über das Geländer des Balkons nach vorn, nach der Kirche, wo eine Hochzeit war, beugten, und Ihr strenges, ehrfurchtgebietendes, wahrhaft majestätisches, impo- santes Gesäß nach hinten herausstreckten, da spannte sich Ihr braunes Kleid noch mehr, und der Anblick Ihres unbedingten Kadavergehorsam anbefehlenden Gesäßes war sinnberauschend. Wie wurde ich auf der Straße von Sehnsucht ergriffen vor Ihrem strengen, allergnädigsten Gesäße in tiefster Knechtseligkeit und Unterwürfigkeit niederzuknien, und hochdasselbe voll Ehrfurcht und tiefsten Bespekts als gehorsamster 267 untertänigster Diener, Knecht und Sklave in tiefster Andacht zu küssen. Sollten allergnädigste gestrenge Herrin und Gebieterin mir, Ihrem unter Ihnen abgrundtief- stehenden Knechte, wegen dieses Schreibens zürnen, so bitte ich allergehorsamst und liefuntertänigst um harte Bestrafung und erbarmungslose Züchtigung. Für jede Back- pfeife werde ich die allergnädigste Hand demütigst küssen, für jeden Fußtritt Ihren angebeteten, energischen Fuß hündisch lecken, und ich werde stolz sein, wenn aller- gnädigste Herrin hoch Sich auf mich setzen und ich dem strengen Gesäße meiner hochgebietenden Despotin als lebender Sitz dienen darfl Gnädigste können mich zu den allererniedrigendsten Diensten benutzen, aufs verächtlichste behandeln, mich in undenkbarster Weise knechten und höhnisch, demütigen als willenloses Werzeug Ihrer triumphierenden, blendenden Schönheit. Auf allen Vieren — als der Gnädigsten Hund — werde ich hinter Ihnen, hohe stolze Dame, kriechen, wenn Sie, strenge Ge- bieterin, hoch Sich Ihr Kleid an Ihrem majestätischen Gesäße von beiden Seiten zu- sammenraffen und stolz in Ihren Zimmern und auf dem Balkon promenieren, und in tiefster Sklaverei werde ich emporblicken voll Ehrfurcht zu Ihrem hochmütigen und herrschsüchtigem Gesäße, hochweichem ich als meinem Herrn und Gebieter u n bedingt en Gehorsam und tiefste Ehrfurcht schuldig bin, stets aufs unter würfigste zu jedem Dienste bereit, unter der Herrschaft Ihrer Peitsche ! Gnädigste werden in mir einen treuestergebenen, zuverlässigen Diener haben, der seine Herrin auf Händen tragen wird, wenn er noch so sehr als Canaille behandelt wird, denn ich bin mir dessen voll und ganz bewußt, wie tief, wie abgrundtief ich unter Ihnen, Gnädigste, stehe, daß Gnädigste ein höheres Wesen, eine erhabene vornehme Dame sind, vor hochweicher hunderte Sklaven und Sklavinnen im Staube liegen, der Despotin und Tyrannin auf Gnade und Ungnade ergeben. Wollen gestrenge Gebieterin allergnädigst Ihrem Sklaven strengstens befehlen und schreiben im beiliegenden Kuvert, ob ich zum Besuche und zur Huldigung kommen darf. In tiefster Knechtschaft, in Ihren Fesseln Ihren stolzen Fuß und Ihr aristokratisches er- habenes Gesäß voll Ehrfurcht küssend, Ihr Sklave." Als Gegenstück zu diesen Sklavenbriefen mögen nun einige Schreiben von metatropischen Frauen folgen. In einer großen Berliner Tageszeitung erschien folgende An- zeige einer Metatropistin: „Adam wo bist Du? Weib, hochgebildet, daseinsfreudig, voll sprühenden Temperaments und unbezwing- licher Lebenskraft, sucht zwecks Ehe in regem Gedankenaustausch denjenigen zu finden, der gleich ihr für alles Schöne in Kunst und Leben empfänglich ist und viel Kraft, Licht und Sonne braucht." Unter den auf diese Anzeige eingehenden Briefen befand sich einer folgenden Inhalts: Gnädigste Herrin! Ich las Ihre Anzeige. Vielleicht läßt mich in Ihnen das Schicksal die so lang gesuchte Herrin finden. Nehmen Sie mich zum Spielzeug Ihrer unbezw inglichen Lebenskraft. Vielleicht bin ich Ihnen ein passender Zeilvertreib. Sie können mit mir tun und machen was Sie wollen. Je niedriger und gemeiner Sie mich vom ersten Augenblicke an behandeln, desto anhäng- licher werde ich sein, und in Treue und Ergebenheit einem jeden Ihrer Befehle nach- kommen. Es ist selbstverständlich, daß ich von dem Augenblicke an, da ich meinen Sklavendienst bei Ihnen antrete, für Sie sorgen werde, daß ich nur noch für Sie arbeite. In Ihrem Handeln sollen Sie völlig frei sein, Sie können verkehren, mit wem Sie wollen, lieben, wen Sie wollen. Auf mich brauchen Sie keine Bücksicht zu nehmen 1 Keine Diskretion, kein Mitleid mir gegenüber! Ich fühle mich nur wohL wenn ich f V. Kapitel: Der Metatropismus meiner menschlichen Würde entkleidet bin. Sie können mich gebrauchen, wozu Sir wollen, mich gebrauchen lassen, von wem Sie wollen. Fn demütiger Ergebenheit harre ich Ihres Befehles. Ihr gehorsamster Sklave (Name) Die Antwort der Herrin lautete wie folgt: Sklave! Es liegt etwas in Deinem Briefe, das ein auf dem Grunde meiner Seete ruhendes Gefühl aus dem Dämmern aufpeitscht. Es reckt sich, dehnt sich und lechzt nach Blut 1 1 Die Pantherkatze ist in mir erwacht! Auf denn! Ein tolles Spiel soll beginnen. Ich werde Deine Herrin sein und Du wirst erzittern vor mir in Furcht und Beben. Nicht meine Schönheit zwingt Dich vor mir in die Knie — denn ich bin nicht schön — nein, dieses Dunkle, Geheime, das in mir schlief, wird Dich nieder- zwingen in den Staub, daß ich meinen Fuß auf Deinen Nacken setze, Dich hinnehme als mein Eigentum, über das ich verfügen kann nach meinem Willen, meiner Lust Meine Zähne werden Dir das Zeichen in Dein Fleisch eingraben, das gleich einem Schandmale Dich zu meinen willenlosen Sklaven macht. Du willst großmütig sein und mich in meiner Freiheit nicht beschränken? Elender Narr 1 Als ob ich Fesseln duldete ! D u gehst in Ketten, ich aber bin frei in meinem Handeln, Tun und Lassen, ohne daß Du je danach zu fragen hättest. Mitleid? Das kenne ich nicht, Dir gegenüber nicht 1 1 Denn der Mann, der sich so tief voi; dem Weibe demütigt, sich seinen Fußtritten aussetzt, verdient kein Mitleid, der ist mir so ver- ächtlich, daß ich ihm ins Gesicht speien möchte, daß mein Fuß über ihn hinweg schreitet wie über ein ekles Gewürm. Daß mich vor seiner Nähe, seine Berührung ekelte, wäre er nicht ein Sklave, der rechtlos ist und noch unter dem Tiere steht. Wehe Dir, wenn mich je Dein Blick anders anschauen sollte, als in hündischster Unterwürfigkeit! Die Peitsche soll Dich dann daran erinnern, was Du mir bist. Du sollst mir noch heute gegenübertreten! Punkt 2 Uhr erwarte ich Dich am Bahnhof Zoo. Ein Erkennungszeichen brauchst Du nicht. Dein sklavischer Instinkt muß Dir sagen, daß die Herrin naht. Ein nicht minder dokumentarischer Brief derselben Herrin an einen anderen ihrer Verehrer lautet: Sage, mein stolzer Löwe, war es nicht eine berauschend schöne Stunde, als Du in Demut und sklavischem Gehorsam zu meinen Füßen lagst? Du, der Du wähntest ein Löwe zu sein und über das Pantherkätzlein zu herrschen, neigtest zitternd und bebend die Knie und küßtest mit widerstrebenden Lippen die Gerte, die Deinen Körper traf, als Du mir den Gehorsam weigertest! 0, wie mußte ich über Dich Schwächling lachen !! Wo ist Deine Macht? Weißt Du noch, wie Du im Fieber un- gestillter Leidenschaft flüstertest: Sei mein Kätzlein, sei ein liebes Kätzlein? Nun, gefällt Dir dies Kätzlein, das so grausam lüstern mit Dir armen Maus zu spielen weiß? Erinnerst Du Dich noch, wie ich ausgestreckt auf dem Diwan lag, eingehüllt in den weichen fließenden Stoff, der sich dem Gliederspiel so wohl anschmiegte, und Dich zwang, zu spielen, wundersame Weisen zu spielen, indes ich mich niederbeugte zu dem Weibe meiner Wahl und seine sich mir öffnenden Lippen mit verzehrender Inbrunst küßte? 0 Löwe, wie da Deine Augen glühten! Wie Deine Hände zuckten in nervöser Qual und dennoch spielen mußten, weil ich's befahl. Melodien, die das Blut aufpeitschten und ein Märchen aus 1001 Nacht schufen. Wie kam es, daß auf einmal die Saite Deiner Geige sprang? Wie ich Dir, um Dich noch tiefer in den Slaub zu beugen, befahl, das Lager mir zu lichten und Du gehorchtest, zähneknirschend, o Löwe, das war ein stolzer Anblick!! Habe ich Dich endlich gezähmt und unter mein Joch gezwungen? Du machtest es mir schwer, aber um so tiefer werde ich Dich verwunden, um so mehr sollst Du die Pranken „Deiner" Pantherkatze fühlen. Morgen, Löwe, wirst Du zu mir kommen und zum Tanze aufspielen, wie ich es Du befehle. Träume inzwischen davon und denk an die Stunde, da Du den Fuß In) fliest Deiner Herrin. 269 An einen dritten Liebhaber schrieb diese metatropische Frau: Es ist gestern das letzte Mal gewesen, daß Du in dem Tone, wie Du es wagtest, zu mir gesprochen hast. Ein weiteres Mal lasse ich es mir von Dir nicht bieten. Ver- gißt Du so ganz, wer Du bist, und was Du mir gegenüber für eine Rolle spielst? Wie Du schon so oft zu meinen Füßen gelegen und meinen Fuß in Deinem Nacken gefühlt hast? Vielleicht zeigt sogar noch Dein Körper die roten Streifen, die meine Gerte ihm gezogen, oder die Male, die meine Zähne ihm eingepreßt haben. Und wenn Du dies alles nur für Spiel hinnahmst, so will ich Dir zeigen, wie bitter ernst es mir war. Du selbst hast für alles, was folgt, die Verantwortung zu tragen. Noch habe ich an mich gehalten, mir in meinem Handeln eine Fessel angelegt. Du zerbrichst sie mit Deiner Widersetzlichkeit, machst mich frei, so frei, daß das, was nur wie ein Funke glimmte, zum verzehrenden und vernichtenden Brande wird. Und dieses Feuer wird über Dich hinweggehen, Dich versengen und verbrennen. Du selbst hast es nicht anders gewollt. Meine Liebe sollte Dir Deine Sklavenfesseln mit Rosen umwinden; Du warst mir Sklavin und Weib zugleich. Nun sollst Du nur noch das erstere sein, bis die Stunde kommt, in der Du Dir durch treues, demütiges Dienen ein gütiges, Hebendes Wort Deiner Herrin verdient hast. Mit jedem mir zu Gebote stehenden Mittel werde ich jetzt Deinen Widerstand brechen, und jedes Übertreten meines Gebotes, jede Achtungsverletzung, jeder Widerstand und Ungehorsam findet seine unnachsichtige Strafe. Du bist durch Schrift und Wort an mich gebunden, das bedenke wohl, und in meiner Macht liegt es, Dich, wenn ich will, preiszugeben. Beugst Du Dich willig meiner Herrschaft, dienst Du mir ohne Widersetzlichkeit, so werde ich nie ungerecht sein. Aber wagst Du es auch nur noch einmal, Dich auf- zulehnen, wie bisher, dann zerbreche ich Dich unbarmherzig. Dann nützt Dir auch Deine körperliche Kraft nichts, denn gefesselt und gebunden mußt Du, und wenn Du Dich aufbäumst vor Schmerz, doch meine Strafe, die ich über Dich verhänge, tragen 1 1 Und wenn Du wochenlang die Spuren so einer Züchtigung auf Deinem Leibe trägst, so soll es mir nur zu um so größerer Lust gereichen. Ich erwarte Dich heute abend unter allen Umständen in meiner Wohnung, wo Du mir verschiedene Dienste zu leisten hast. Der Vertrag, von dem in diesem Schreiben die Bede ist, hat folgenden Wortlaut: Ich bekenne mich hiermit, daß ich mich für alle Zeiten meiner Freiheit, meines Wollens begebe, um in Demut und Gehorsam meiner gnädigen Herrin zu dienen. Daß ich hinnehmen werde, was mir von ihrer Hand kommt, Strafe, Qual, Liebkosung und Glück. Völlig gebe ich mich ihr zu eigen. Sie kann mich schlagen, verschenken, ver- kaufen, ich gehöre ihr als ihr Geschöpf, über das sie zu bestimmen und zu verfügen hat. Noch einige wenige andere „Herrinnenbriefe" meiner Samm- lung mögen die überaus seltsame Psychologie dieser herrschsüch- tigen Frauen illustrieren: a) Elender Sklave 1 Wie konntest Du es wagen, meinen Befehlen zu trotzen ? Ich gebot Dir seinerzeit, mich in Deiner Wohnung zu erwarten. Ich kam vergebens. Wärest Du mir danach begegnet, die Peitsche hätte ich Dir zu kosten gegeben, daß Du ein für allemal gefühlt hättest, daß eine Herrin über Dir steht, die kein Mit- leid kennt. Du gehörst mir von dem Tage an, da sich unsere Wege kreuzten, und wenn ich Dir scheinbar noch Freiheit ließ, noch nicht nach Deiner Dienstbarkeit Begehr trug, so war es, weil es nicht in meine Pläne paßte. Von heute an aber hast Du. seiest Du, wo Du seist, Deinen Dienst anzutreten. Meinen Wünschen und Befehlen hast Du unverzüglich Folge zu leisten, die Strafen, die ich über Deine Widersetzlich- 270 keit verhänge, hinzunehmen, zu dulden, daß mein Fuß über Dich hinwegschreitet wie über ein Nichts. Ein willenloses Werkzeug hast Du zu sein! Gnade, überreiche Gnade ist es, wenn Du den Staub von meinen Füßen küssen darfst. Mir und meinem Geliebten hast Du zu dienen, die niedrigsten Dienste zu verrichten. Ein Gewand, wie ich es Dir vorschreibe, wirst Du Dir beschaffen und in ihm Deiner Dienstbarkeit nachkommen. Zu welcher Stunde, welchem Tage es auch sei, mögest Du hier oder in Hamburg weilen, Du hast zu gehorchen und unverzüglich zu kommen, sowie mein Befehl Dich erreicht. Der Hund, der in Unterwürfigkeit dem Menschen anhängt, wird ein König an Freiheit Dir gegenüber sein. Du hast völlig Dich mir unterzuordnen, und je niedriger ich Dich, mein Freund oder meine Gäste Dich behandeln werden, je dankbarer hast Du zu sein. Die geringste Übertretung strafe ich unnachsichtlich ! Also hüte Dich, Deine Herrin zu reizen, oder ihr mit einem anderen, als unterwürfigen Blicke zu begegnen 1 Vielleicht schenke ich Dich meinem Geliebten, der als das schönste Weib, das ich gesehen, neben mir lebt, zum Spielzeug. Dann hast Du ihm genau so zu gehorchen, den Staub von seinen Schuhen zu küssen, wie mir, Deiner Herrin. Verantworte Dich umgehend über Deine unbotmäßige Handlung, mich über Deine Abreise im Unwissenden gehalten zu haben. Die Peitsche wird Dich dafür treffen, sobald Du vor mir stehst. Ich rate Dir also in Deinem eigenen Interesse zu völliger Unterwürfigkeit. Denke nicht, da Du in Hamburg weilest, Du seiest meinem Machtbereiche entflohen. Ich werde Dich erreichen zu jeder Zeit, sobald ich will und Dir eine furchtbare Herrin sein! b) Bär! Gehorsam gelobst Du und liehst die hohe Herrin an, sie möge Dich erniedrigen und knechten, Dich zum willenlosen Werkzeuge, zum Tier erniedrigen! 0, darum hättest Du nicht zu bitten brauchen, denn als ich Dich das erste Mal sah, da wußte ich bereits, wozu Du mir dienen solltest. Und wenn Du Dich geweigert hättest, meinen Wünschen, die Dir Befehl sein müssen, nachzukommen, so hätte ich Dich wider Deinen Willen dazu gezwungen. Breit und mächtig ist Deine Gestalt, und Dein Tritt wuchtet und zeigt Kraft! Ich sehe Dich vor mir, in dem Pelze des Bären, die Kette um den Hals gelegt, und fürwahr, Du bist ein stattliches Tier! Ah, und wie zahm Du mir den Zucker von der Hand frißt, und wie sich wohlig Dein Fell sträubt, wenn die Hand der Herrin Dich krault, aber wie Du auch erzitterst vor ihrem Blicke und Dich sehen in Dich verkriechst, um ihrem Zorne zu entgehen, wie Du Dich mühst, mit Anmut Dich nach den Klängen des Dudelsacks zu wiegen und zu tanzen zu unserer Belustigung, wenn ich Dir zuschaue. Und wie Du versuchst, zu brummen und Dich dem Rhythmus der Melodei anzupassen! 0 Bär, Du wirst ein Geschöpf werden, mit dem ich Ehre einlegen kann. Du wirst da sein, wann und wie ich es befehle. Des Nachts wirst Du zu Füßen meiner Lagerstatt, mit der Kette an dem Pfosten angebunden, ruhen, und die Träume Deiner Herrin bewachen. Ein treuer Wächter wirst Du sein und keiner wird es wagen, mir zu nahen, solange Du Wache hältst. Schau, der wilden Hjördis diente auch ein Bär in Treuen, und setzte sein Leben ein für seine Herrin. So will ich auch, daß Du mir dienst. Daß Du den Fuß leckst, der in Unmut nach Dir tritt, wenn Du mir lästig bist, daß Du Dich nieder- läßt zur Erde, wenn mich gelüsten sollte, auf einem lebendigen Bärenfell zu ruhen. Mein bist Du, Bär, von der Stunde an, da Du mein Haus betrittst und nichts soll Dich aus meiner Macht befreien. c) Willenloses Geschöpf! Ich erwarte Dich morgen nachmittag 4 Uhr, um Deine ungelenken Hände mit aller notwendigen Strenge zu lehren, Nadel und Faden zu handhaben. Ich rate Dir, stelle Dich nicht zu ungeschickt an, denn meine Hand wandert nicht lange, auf ihre Weise Dir die nötige Geschmeidigkeit beizubringen. V. Kapitel: Der Metatropismus d) Großes, unerzogenes Kind! Es ist gut, daß Du selbst einsiehst, wie sehr Du der führenden und erziehenden Hand bedarfst. Ich werde von diesem Augenblicke an Deine Erziehung in meine Hand nehmen und unter meiner Rute wirst Du verlernen, zu widersprechen, trotzig aufzubegehren und mit Unlust Deine Arbeiten zu erledigen. Merke Dir: so wie Du Dich beträgst, so werde ich Dich behandeln. Unnachsichtlich bestrafe ich die geringste Unachtsamkeit mit dem Stock. e) Du Wachs in meiner Hand! Du wagst es, einen eigenen Willen zu haben? Warte, ich werde Dir zeigen, daß ich Dich kneten und formen kann, wenn ich will. Ich befehle Dich noch heute abend in meine Wohnung. Da wirst Du sehen, wie Dein Wille zerbricht. Und wenn Du mich am Morgen verläßt, wirst Du sanft und geduldig wie ein Lamm sein. Wie fast überall im Liebesleben, geben aucb auf dem Gebiete des Metatropismus die Grenzen des Physiologischen und Patho- logischen unmerklich ineinander über. Sicherlich werden wir es nicht für pathologisch halten, wenn eine 50jährige Dame einen 20jährigen Jüngling heiraten möchte; weniger physiologisch er- scheint es schon, wenn ein Mann von der Geliebten anstatt Gegen- liebe Schläge begehrt, und noch weniger, wenn er in einen Keller eingesperrt zu werden wünscht. Und doch handelt es sich hier um Erscheinungsformen, die in ihren letzten Wurzeln zusammen- hängen und auf dem gleichen Boden erwachsen sind. Immer wieder aber erfüllt es uns mit Verwunderung, daß an einer Naturerschei- nung, wie es das menschliche Geschlechtsleben ist, die Natur forschung so lange achtlos vorübergehen konnte, nicht etwa weil man von dem Gebiete mit Goethe sagen kann: „Wo man es packt, da ist es interessant", sondern weil es uns den Schlüssel gibt für das Verständnis so vieler Vorgänge im Sein des einzelnen und der Gesamtheit. Namenregister Abel 85. Aheira Zepbte 83. Ahlfeld 86. 92. Arnaud 91. Auchenfurth Friedr. v , 232. Bauhin, Caspar, 75. Benda 89. 103. Benkert 181. Biedel 70. Binet 216. Blair Bell 88. Bloch, Iwan, 43. 101. 183. 193. 211. 265. Blondel 257. Body, N. 0., 44. Bouchard 112. Brandes 100. Buchawe, Otto v., 2«2. Bücke 119. ßucurra 115. 118. 225. Burchard, Ernst, 35. Carlyle 140. Carmenion 119. Carpenter 204. ChSreau 95. Chopin 252. de Courchamps 170. Oöquy, Marquise de, 170. Dalton 233. Descartes 237. Ellis, IL, 107. 119. 124. 182. d'Eon, Chevalier, 160. Eulenbure, Albert, 230. 233. 23«. Fibiger, Joh., 16. 72. Klatau, S., 119. Forel 214. 217. Franque' 84. Freud, Sigm., 141. 192. 216. Freund 55. Friedenthal 28. Friedreich 84. Garre 85. Goethe 195. Goldscheider 158. Goltz 97. Grießmann 105. 187. Grillparzer 186. Groß 81. Gudernalsch 86. Gunkel, Heinr., 73. Halban 17. 94. Havelock-Ellis 107. 119. 124. 182. Häckel 227. Hegar 95. Heilborn 103. Heliogabalus 113. Heymann, Arnold, 24. Hirschfeld, Immanuel, 67. Hirschfeld, Magnus, 67. 101. 102. Hodann 21. 51. Hofmann, Ed., 84. Hoppe, Tafel VII. Howells 119. Humboldt 117. Ibsen 226. Kallmann 103. Kammerer 81. Kaplan, Paul, 79. Kerlbeny 181. Klebs 25. 78 f. v. Kölliker 84. Koerber 193. Kräpelin 216. Krafft-Ebing 94. 102. 117. 129. 130 f. 182 ff. 187. 197. 204. 210. 229 f. 232 f. 239. 258. Namenregister. 273 Langer 118. Leppmann, Tafel IV v. Levetzow 125. Levy-Dorn 83. Leydig 6. Lichtenstein, Ulrich v., Lingard 19. Lipschütz, Alex., 100. Lode 4. 231. Mantegazza 107. Märzbach 234. 248. Marchand 17. Martial 119. 130. 210. 244. Masini 117. Mathieu, Laurent, 82. Maura, Virginia, 83. Mayer, M., 92. Meckel 121. Mies 124. Möbius 123. Moll, Elisabeth Wilhelm, 73. Moll, A., 182. 217. Mühsam 103. Müller, Joh., 8. Müllerheim, Rob., 43. Musset, Alfr. de, 252. Nagel 92. Näcke 196. v. .Neugebauer 12 f. 25. 77 f. 84. 92. Oesterlen Dl. Orth, J., 89. Persius 130. Photakis 86. Pick, L., 72. 86 ff. Foliklet 94. Quetelet 112. v. Recklinghausen 84. Retzius, Gust., 124. Reuter 88. v, Römer 216. Rothe 115. Rousseau, J. J., 259. Roux, Wilh., 103. Rumi 228. j v. Sacher-Masoch 230. Sade, Marquis de, 230. Sal<§n, Ernst, 86. 88. Sand, George, 170. 252. Schaudin 3. Schickele 87. Schiller 230. i Schleiermacher 251. Schneidemühl 110. Schrenck-Notzing 182. 207. 233. Seelig 55. 67. Seneca 130. Seyffart 241. Sharp, William, 170. Shutfeld, R. W., 82. Siegenbeck van Heukelom 79. : Sittewald, Philander v., 242. v. Skanzoni 84. Stabel 43. Steinach 6. 16. 80. 96. 102 f. 216 Stekel 141. 217. Strindherg 226. Tandler 81. Tarnowsky 197. 208. Taruffi 13. Thoinot, L., 233. Todds 119. ( Topinard 124. ; Turgenieff 123. Uffreduzzi 85. Ulrichs, K. H., 111. 182. 207. 211 ff. Venelle 82. Vestphali, Felicitas v., 119. Virchow, Rudolph, 12. 25. 78. 83. 95. 107. Waldeyer 81. 108 f. Weininger, Otto, 169. Weißenberg, Rieh., 11. 43. Westphal, Carl, 181. 195. 207. Whitman, Walt, 119. Wilhelm 74. N Wilson, Albert, 75. | Wulffen 237. 249. 258. de Wyzewa 119. Ziegler 86. Zondek, M., 32. ] Zuckerkandl 24. Hirse Ilfeld, Sexualpatholog-ie. II. 18 Sachregister Abfall vom Weibe 193. Acne pustulosa 115. Addisonsche Krankheit 112. 122. Adenoma tubuläre testiculare ovarii (ovo- testis) 871?. Aggressionsinversion 180. Ailoilh 117. Aktivierte Androgynie 105 ff. Algolagnie 233. Alloiophilie 214. Alopecia areata 115. Amazonen 117. Amphiphilie 214. Ampulle der Tube 4. Anale Sexualakte 201 ff. Andrin 6. Androglottie 117. Androgyner Drang und Wahn 130. Androgynie 89. 93 ff. — aktivierte, hypo-metaplastische, 105 ff. Andromastie 117. Androphilie 212. i Androsphysie 109. Androtrychie 116. Anhysterie 9. Anilinktio, Straffreiheit der, 203. Antagonismus der Sexualhormone 101. Antifeminismus 193. Appendix testis Morgagni 9. Askese, christliche, 258. Assoziationstherapie 217. Atmung 118. Atypien, psychosexuelle, 129. Autosadismus 256. Barthaß und -wünsch 130 ff. Basedowsche Krankheit 122. Becken 108. Beherrschbarkeit der Homosexualität 204. Bildsäule des Hermaphroditen von Poli- klet 94. Bisexualität 184 ff, Bisexualitätsperiode, pubische, 185. Bißkuß 248. Blasenblutungen als Menstruationsäqui- valente 84. Blasenöffnung 11. Blut- und Blutgefäßunterschiede der Ge- schlechter 120 ff. Blutsverwandtschaft bei Hermaphroditis- mus 51. Brusthaß und -wünsch 131 ff. Canalis epididymidis 9. Chemotropismus 227. Chlorose bei urnischen Jünglingen 209. Corps innomine (Giraldes Organe) 9. Cunniünctio bei metatropischen Männern 234. — Straflosigkeit der, 203. Damm 11. Defloration 10. 226. Degeneration und Hermaphroditismus 15. Descensus (der Ovarien und Testikel) 7. — ausbleibender 18. Differentialdiagnose zwischen Herm- aphroditismus und Homosexualität 35. — zwischen Hetero-, Homo- und Bi- sexualität 185. Digitatio 200. Doppelbenennung des Weibes 10. Doppelgeschlechtigkeit 184. Effemination, partielle, 230. Ehebruch und Metatropismus 250. Ei, Ablösung des, 3. Eier, männliche, weibliche, hermaphrodi- tische, 17. Eierstockmännchen (Steinach) 99. Eierstockshernie 8. Eifersucht und Metatropismus 251. Eikern 3. , Einschläge, somatische, 126. Sachregister. 275 Einsprengungen, genitale, 126. Eiplasma 3. Eizelle 3. Ejaculatio praecox 190 ff. Ektopie, labiale, 8. Empfängnis, unbefleckte, 83. Empfängnishügel 4. 227. Entführungssitte 227. Entjungferung 10. 226. Ephebophilie 212. Epididymis 9. , Epispadie 19. Epilhelkörperchen 123. Epoophoron (Parovarium, Rosenmüller- sches Organ) 9. Erolisierung des Zentralnervensystems 97. Experimentelle Zwitterbildung beim Säuge- tier 101. Externe Geschlechtscharaktere 12. Exzesse, sexuelle, 232. Familie, die urnische, 216. Farbenblindheit 125. Femorale Sexualakte 201. Fetisch, masochistischer, 239. Fetischismus bei Homosexualität 213. Fettansatz 112. Flagellantismus 247 f. Flimmerströmung 3. Folterkammern, masochislische, 241. Forensische Seltsamkeiten 203. Fossa navicularis 11. Frau, die metalropische, 251 ff. Frauen als Soldaten 163 ff. Frauen, Neigung der, zum Kriegsdienst 57. Frauenrechtlerin, Typus der, 238. Freiheitsberaubung 245. Frenulum 11. Frühreife 122. Fundus uteri 7. Gang als motorische Ausdrucksform 110. Gartnersche Gänge 5. 9. Gehirn, Geschlechtseigenlümlichkeiten des, 123. Gemütsbewegungen bei Frauen 125. Genitale Einsprengungen 126. Genolropismus 227. Genus neulrum, Fall von, 25. Geronlophilie 212. 238. Geschlechter, Kampf der, 228. — Verschiedenheit der, 2. Geschlechtsapparat, tubuläre Organe des, 8. Geschlechstbestimmung, irrtümliche, 23. Geschlechsldifferenzierung, Zeitpunkt der, 11. Geschlechtsdrüse, Lageveränderung der, 6. 7. — Komponenten der, 6. Geschlechstdrüsenverpflanzung 97 ff. Geschlechtsentdeckung nach dem Tode 171. Geschlechtsgefühl 128. Geschlechtsmerkmale, sekundäre, 7. Geschlechtstrieb 6. — bei Mangel an Fortpflanzungszellen 34. 1 — 1 der Tuberkulösen C. | — Indifferenzperiode des, 193. ; Geschlechtsübergänge, Einteilung der, 89. Geschlechtsverkehr, erster bei Mann und Weib, 225 f. Geschlechtsvorläuschung, Strafbarkeit der, 171. Geschlechtswerkzeuge (externe, tubuläre, glanduläre) 7. 12. Geschlechtswille 128. Geschlechtswülsle 7. Geschlechtszugehörigkeit, Zweifel an der, 68. 71. Geschwister, homosexuelle, 216. Gestik 110. Girald£s Organ 9. Glanduläre Geschlechtscharaktere 12. Glans clitoridis 11. Glatze 115. Gonorrhöe, rektale, 202. Graophilie 213. Graphologie 111. Gubernaculum Hunteri 7. Gynandromorphie 120. Gynäkomastie 117. Gynäkophilie 213. Gynäzin 6. Gynoglottie 117. Gynosphysie 109. Gynolrichie 115. i Haarkleid 114. Halbweltdame, Typus der, 238. Handarbeiten der Transvesliten 164. Harnleiter, primäre, 5. Hautausdünstung 114. Hautreize, sexuelle, 247 f. Heilungsbedürfnis der Homosexuellen 218. Heliotropismus 227. Heredität hermaphroditischer Bildungen 13. Hermaphrodisie, psychische, 102. 184. Hermaphrodisierung, künstliche, 80. 18* Hermaphroditenbildsäule des Poliklet 94. Hermaphroditen, rechtliche Stellung der, 62. Hermaphroditismus 12 ff. — und Blutsverwandtschaft 51. — Einteilungen des, 78. 90 f. — ,und Gebärfähigkeit 75. — genitalis, somaticus, psychicus, psy- chosexualis 89. — bei Geschwistern 48. 51. — i Häufigkeit des, 77. - und Homosexualität 35. — innersekretorisch formativer und ger- minal generativer, 81 ff. — mascul., feminin., neutral., incertus, verus, falsus 25. — und Militärtauglichkeit 38. 61. — Vorstufen des, 18. Herrinnenbriefe 240. 269 ff. Hilus ovarii 9. Hochzeitsreise 227. Hodeneierstock, mikroskopische Unter- suchung des, 85. Hodensack 12. Hodensacknaht (raphe) 7. Hörigkeit, sexuelle, 255. Homines neutrius generis 25. 78. Homoiophilie 214 f. Homosexualität 179 ff. — aktive und passive, 199. — und Alkohol 188. — Beherrschbarkeit der, 204. — Diagnose der, 188 ff. . — echte, Pseudo-, 183. 188. — und Eifersucht 194. — episodischer Charakter der, 193. — erworbene, tardive, aktivierte, 187. — als Hermaphroditismus psychosexua- lis 89. — hypnotische Behandlung der, 216 f. — und Impotentia coeundi 188. — und Kinderspiele 208. — komplizierte und unkomplizierte, 214. — und neuropathische Disposition 215. — operative Behandlung der, 218. — und Schamgefühl 198. — stabile und labile, 214. — und Traumleben 196 f. — und Verlobung 190. — • und Wortzauber 198. Homosexuelle Geschwister 216. — Stigmata 206. Hormone, sexuelle, 6. Hottentottenschürze 21. Hydatide, ungestielte des Hodens (Appen- dix testis Morgagni) 9. Hymen, Sprengung des, 10. Hyperästhesie, sexuelle, 232. Hypophyse 16, 122. Hypoplastische Androgynie 105. Hypospadie 18. — peniscrotalis 19. Hysteroneurasthenie 188. Impotentia coeundi und Homosexualität 188. Indifferenzperiode des Geschlechtstriebes 193. Individuum neutrius generis 25. 78. Inkubismus 254. Innersekretorischer Anteil der Ge- schlechtsdrüse 6. Intersexuelle Konstitution 188. 205. Irrtümliche Geschlechtsbestimmung 23. Isogameten, Kopulation der, 4. ! Jungfrau von Orleans 57. Juxtaposition bei Zwittern 91. Kampf der Geschlechter 228. Kanalsystem der Geschlechtsorgane 8. Kastraten, Geschlechtsapparat der, 16. Kehlkopf, Pubertätsentwicklung des, 116. Keimdrüse 6. Keimepithel 5 ff. Keimepithelwulst, Waldeyerscher, 5. Keimfleck 3. Keimzelle 2. — Weiterbewegung der, 3. Kinderspiele bei Homosexuellen 208. Kleidung und Seelenleben 140. Klimakterium 121 f. Klitoris 11. — Hypertrophie der, 19. Knochenbau 106. Körpergröße 106. Kommandostimme 119. Komplex, verdrängter, 184. Konstitution, intersexuelle, 188. 205. — neuropathische, 205. Konträre Sexualität 180. Kopfstimme 119. Koprolagnie 249. Korophilie 213. Kristalloide Bildungen der Zwischenzel- len 6. Kryptorchismus 8. — simplex, duplex 18. 277 Längsentwicklung, männliche, 11. Lageveränderung der Geschlechtsdrüsen 7. Lambitus 201. Lanugobehaarung Iii. Leistenbruch 7. Leistenring 7. Leydigsche Zellen 6. Lig. rotundum 7. Ligationsmetatropismus 246. Lipowaner 113. Liquor folliculi 3. Lockmittel des Weibes 225 f. Lokomotion der Samenzellen 4. Malpighische Gänge 9. Mann, der metatropische, 237 ff. Mannlinge 211. Manuelle Sexualakte 200 ff. Masochismus 229 ff. — und Feminismus 231. Masseusen und Metatropisten 238. Menstruation aus dem Penis 24 81. Menstruationsäquivalente 84. Menstruationsverzögerung bei Urninden 209. Metaplastische Androgynie 105. Metatropischer Verkehr 242 ff. Metatropismus 89. 180. 224 ff . 229. — impersoneller, 241. — pueriler, 240. — transvestitischer, 240. — verkappter, 250. — zoomimischer, 241. Migräne bei urnischen Jünglingen 209. Milchdrüsen 116. Militärtauglichkeit und Hermaphroditis- mus 38. 61. — und Transvestismus 145. Mimik 110. Minnedienst 231. Mitleid 236. Möns veneris 11. Müllerscher Gang 8. — Hügel 8. Muliebriores 211. Musculus psoas 7. Mutterkomplex, homosexueller, 192. Mutterschaft und Transvestitismus 167. Nachkommenschaft und Homosexualität 215. Namenstransvestitismus 169. Nebenhoden 8. 9. Nebennieren 16. — Tumoren der, 122. — Erkrankung der, (Addison) 122. Nervensystem, stabiles und labiles der Homosexuellen 214. Neuropathische Disposition und Homo- sexualität 215. Organe, tubuläre, 8. Organtherapie bei Transvestitismus 177. Orale Sexualakte 200 ff. Orificium urogenitale 11. — urethrae 11. Osteomajacie 123. Ovarien 7. 8. Ovotestis 82. 88. Pädophilie 213. Pankreas 123. Paradidymis 9. Paroophoron 9. Parovarium (Epoophoron, Rosenmüller- sches Organ) 9. Parthenophilie 213. Passiophilie 228. 234. 254. 258. | Pedikation 201 ff . | Penilinctio, Strafbarkeit der, 203. Penis 11. I — Menstruation aus dem, 24. 81. Perinealspalt 19. Phallus, künstlicher, 202. Phimose 21. Pikazismus 248. Pollutionierende Frauen 39 ff. 81. Polyglanduläres System, Funktionsstörun- gen des, 13. j Polymastie 117. ; Primordialfollikel 86. Projektionstrieb, Unterdrückung des ge- schlechtlichen, 175. Pseudoarrhenie 89. Pseudohermaphroditismus 29 f. 78. — femininus internus 72. Pseudonyme und Transvestitismus 170. Pseudothelie 89. Psychosexuelle Atypien 129. Pubertätsanämie 209. Pubertätsdrüse 6. 98 f. — zwittrige, 81. Pubertätszellen 6. Pubische Bisexualitätsperiode 185. Querentwicklung, weibliche, 11. Raubehe 227.' Rektale Gonorrhöe 201. Ritterlichkeit 230. Sachregister. Röntgentherapie bei Transvestitcn 177. Rosenraüllersches Organ 9. Roß des Hektor 245. Sadismus 229 ff. Samenstrang 5. 8. Samenzelle, Kern der, 3. — Anzahl der, 4. Saris 117. Schadenfreude und Metatropismus 236. Schamgefühl, homosexuelles, 198. Schamhaare 114. Schamlippen 11. — Überentwicklung der kleinen, 20. Schautrieb, sexueller, 251. Schilddrüse 121. Schuhfetischisten 239. Schulespielen 243 f. Schwachsinn, physiologischer, 123. Schwangerschaftstransvestitismus 168 f. Schwangerschaftszellen 122. Seelenleben und Kleidung 140. Selbstbezichtigung 245 f. Selbstmorde, homosexuelle, 215. Selbstquälerei 256. Selbstverstümmelung 257. Seltsamkeiten, forensische, 203. Septum scroti 12. Servilismus 240. Sexualakte der Homosexuellen 200 ff. Sexualhormone 6. 101. Sexualität, konträre, 180. — Nachlassen der, 186. Sexuelle Hörigkeit 255. Sexus anceps 89. — incertus 30. 71. Sinus urogenitalis 8. Sklavenbriefe 240. 242. 259 ff. Skrotalspalt 19. Skrotaltaschen 12. Skrotum 7. Soldaten als Frauen 159 ff. Soldatenfreunde 213. Somatische Einschläge 126. Speichellecker 248. Spiele, weibliche, bei Transvestiten 164. Steinachsche Forschungen 102 ff. Stiefelfetischisten 239. Stigmata, homosexuelle, 206. Stimmbruch 117. Stimmwechsel bei Homosexuellen 209. Stutzer und metatropische Frauen 252. Sukkubismus 249. Supraposition bei Zwittern 91. Tabellen der Genitalformation 14 ff. — der Geschlechtstypen 106 ff. Testikel 7. Testogan 177. Thelygan 132. 177. Thierscher Genitalstrang 8. Thymusdrüse 123. Träume, transvestitische, 167. Transgesticismus 111. Transplantation von Keimdrüsengewebe 177. Transvestit, Offizier als, 159 ff. Transvestiten, asexuelle, 145. — bisexuelle, 143. — heterosexuelle, 141. — homosexuelle, 156. Transvestitischer Schwangerschaftsdrang 168. Transvestitismus 139 ff. — und Automonosexualismus 144. — Behandlung des, 176. — und Ehefrage 177. — als Hermaphroditismus psychicus 89. — und Militärtauglichkeit 145. — partieller, kompletter, 173. — und Selbstmord 175. — und Vererbung 178. — und Vorname 169 f. Treppenreflex, sexueller, 199. Triolismus 250. Tube 3. 9. Tubentrichter 8. Tubuläre Geschlechtscharaktere 12. Tumoren der Nebennieren 122. Typen der Homosexuellen 210. Typus, Konstanz des anziehenden, 212. Überentwicklung der kleinen Schamlip- pen 20. Umkleidungstrieb 140. Uniformliebe und Transvestitismus 166. Unterschied zwischen Mann und Weib 12. 224 ff. Uranismus 182 ff. Uranlage der Geschlechtsorgane 5. Ureier 5. Urethralkanal 11. Urgeschlechtszellen 5. 6. Urnieren, Wolffsche Gänge, 5. Urningsehe 207. Urningtum 182 ff. Urogenitalverbrückung 9. Urolagnie 249. Ursamenzeilen 5. Sachregister. 279 Uterus (duplex, didelphis, bicornis, in- cudiformis) 9. — rudimentarius, foetalis, infantilis 20. — hypoplasie 20. Utriculus masculinus 9. Vagina 9. Vas deferens 9. Vasa aberrantia 9. Verhalten nach dem Verkehr 19L Verkappter Metatropismus 250. Verkehr, metatropischer, 242 ff. — Verhalten nach dem, 191. Verkleidungstrieb 139 ff. Verlobung und Homosexualität 190. Vermännlichung (nach Steinach) 98. „Versehen" Schwangerer 13. Verweiblichung (Steinach) 98. Vestibulum vaginae 11. Vestologie 173. Virgines intactae, homosexuelle, 190. Viriliores 211. Visueller Metatropismus 251. Wanderung der Geschlechtsdrüsen 7. Weiblinge 211. Wolffscher Gang 8. Wortzauber bei Homosexuellen 198. — bei Metatropisten 243. Zirbeldrüse 122. Zona pellucida 3. Züchtungshygiene 178. Zuhälter, metatropische, 238. Zweifel an- der Geschlechtszugehörig- keit 68. Zwischenzellen 6. Zwitterbildung durch zentrale Einflüsse 12. — experimentelle, beim Säugetier, 101. Zwitterdrüsen 88. Zwittertum, echtes, 62. Zwittrige Pubertätsdrüse 81. A.Marcus & E.Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Sexualpathologie Ein Lehrbuch fürÄrzte und Studierende von Dr. med. Magnus Hirschfeld Spezialarzt für nervöse und psychische Leiden in Berlin Erster Teil : Geschlechtliche Entwicklungsstörungen mit besonderer Berücksichtigung der Onanie Mit 14 Tafeln, 1 Textbild und 1 Kurve Preis geheftet 8 Mark 40 Pf., gebunden 10 Mark Mit Teueruugszuschlag: geheftet 13 Mark 10 Pf., gebunden 15 Mark 60 Pf. Inhaltsverzeichnis. Erstes Kapitel: Der Geschlechts- tiriisenausfall. Zweites Kapitel: Der Infantilismus. Drittes Kapitel: Die Frühreife. Viertes Kapitel: Sexualkrisen. Fünftes Kapitel: Die Onanie (Ipsation). Sechstes Kapitel: Der Automouo- sexualismus. Verzeichnis der Abbildungen. Tafel I: Äußere und innere Sekretion der männlichen Geschlechtsdrüse. • Tafel II: Angeborener Geschlechtsdrüsenausfall (Eunuchoidismus). Textbild: Hoden und Nebenhoden eines Eunuchoiden. Tafel III : Erworbener Geschlechtsdrüsenausfall (Kastratensänger). Tafel IV: Geschlechtsdrüsen verlust im 20. Lebensjahre. Tafel V: Hodenverlust im Kriege. Tafel VI: Spätkastrat. Tafel VII: Geschlechtsteile eines infantilen Kryptorchisten. Tafel VIII: Schnitte durch kryptorche Hoden. Tafel IX: Zisvestitismus eines psychosexuellen Infantilen. Tafel X: Proben aus der Bildersammlung eines infantilen Masochisten. Tafel XI: Proben aus der Bildersammlung eines infantilen Fetischisten und Exhibitionisten. Tafel XII: Prämature Geschlechtsentwieklung bei einem vierjährigen Knaben. Tafel XIII: Doppelgeschlechtliche Frühreife im achten Lebensjahre. Tafel XIV: Selbstbildnis Dürers im 13. Lebensjahre. Kurve über den Beginn der Onanie. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. ,jur. Albert Ahn) in Bonn Auszüge aus Besprechungen : 30 Jahre sind verflossen seit Kraft-Ebbings berühmte Psychopathia sexualis das erstemal erschien. Seither hat die Sexualwissenschaft eiue enorme Be- reicherung erfahren, die jenes ausgezeichnete Werk trotz Berücksichtigung «es neuen m den späteren Auflagen veralten ließ. So hat es der auf dem Gebiete der Sexualpathologie rühmlichst bekannte Autor unternommen, ein neues Lehrbuch zu schreiben, dessen erster Teil, die geschlechtlichen Entwicklungs- storungen enthaltend, nun vorliegt. . . . Eine Keine ausführlicher Kranken- geschichten und guter Abbildungen ergänzt das Gesagte aufs beste. Möge das Buch das vom Autor gesetzte Ziel erreichen, den Sexuell-Pathologischen eine gerechtere und mildere Beurteilung zu sichern. Der praktische Arzt 1917, Heft 5, S. 100. . . . . Eine systematische Bearbeitung der sexuellen Störungen unter Be- rücksichtigung dieser neugefundenen Tatsachen hat bis jetzt gefehlt, und diese Lücke wird durch Ilirschfelds Buch ausgefüllt. . . . Dabei schöpft der Ver- fasser aus dem reichen Born einer langjährigen praktischen Beschäftigung auf diesem Sondergebiete der Medizin, so daß er seine Ausführungen fast durchweg mit lehrreichen Fällen seiner eigenen Erfahrung belegen kann. ... Frankfurter Ärzte-Correspondenz 1916/17, Nr. 20, S. 116. ... Das Buch ist all denen, die sich für dieses Spezialgebiet interessieren, wohl zu empfehlen, besonders da H. mit zahlreichen Krankengeschichten die systematische Darstellung illustriert. Württ. med. Correspondenz-Blatt 1917, Nr. 7, S. 65. ... Der bekannte Verfasser hat sich befleißigt, alles zu vermeiden, was als Mangel an kuhler Sachlichkeit angesehen werden könnte. Trotzdem kann man sich bei der Lektüre dieses Werkes des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen, von denen hier die Rede ist, doppelt leiden, nicht nur an der Iriebnchtung an und für sich, sondern mehr noch unter ihrer Verkennuno- Schon .um hier eine Besserung herbeizuführen, ist dem Hirschfeldsehen Buche dem eine größere Anzahl instruktiver Bildtafeln beigegeben sind weiteste Ver- breitung zu wünschen. Bayr. Ärztl. Correspondenz-Blatt 1917, Nr. 2, Seite Ii. ■ ■ . Hirschfeld schöpft aus dem Leben und aus dem Vollen, sein Werk entstammt nicht der Schreibstube, sondern dem Sprechzimmer und seiner sehr umfangreichen Spezialpraxis der Millionenstadt Berlin. Er beginnt mit den Ursachen und Folgen des Geschlechtsdrüsenausfalls, dann folgen: Stehenbleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe (Infantilismus), Vorzeitige Entwicklung von Korper, Geist, Geschlechtsempfinden und Geschlechtstrieb (Frühreife), Neurosen und Psychosen im Pubertäts- und Rückbildungsalter (genitale Evolution und Involution),, zusammengefaßt als „Sexualkrisen«, schließlich die Onanie und das Verliebtsein in die eigene Persönlichkeit (Automonosexualismus). Die nächsten leilo sollen bringen; Störungen der Geschlechtsdifferenzierung und die o-e- schlechthchen Eindrucks- und Ausdrucksstörungen. Eine eingehende Besprechun»- des ganzen Werkes nach Erscheinen behalte ich mir vor. Zum ersten Teile bemerke ich daß dem Verfasser die Neuordnung des schwierigen Stoffes, seine wissen- schaftliche Durchdringung und das Fernhalten von" jeglichem sensationellen Beigeschmack durchaus gelungen ist, so daß nur der ernste Forscher der dunklen Seiten des Menschenlebens auf seine Kosten kommen wird. Der Stil ist flüssig die Darstellung ungemein klar. ' K. Gerster im Literarischen Zentralblatt 1917, Nr. 12. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Soeben erschien: Das Geschlechtsleben der Hysterischen Eine medizinische, soziologische und forensische Studie von Dr. med. Placzek Nervenarzt in Berlin Preis geh. M. 15. — , mit Teuerungszuschlag M. 18.— geb. M. 17.50, mit Teuerungszuschlag M. 21 — Inhalt: A. Wandlungen in der Auffassung der Hysterie. B. Die sexuelle Wurzel der Hysterie. C. Das Geschlechtsleben der Hysterischen. Die hysterische Frau. I. Pseudologia phantastica. II. Anonyme Briefe. III. Der Stehl- trieb. IV. Der Kauftrieb. V. Der Brandstiftungstrieb. VI. Furcht und Angst. a) Gesche Gottfried, b) Tamara Freifrau von Lützow. c) Frau Lina Hau. d) Marguerite Steinheil, e) Frau Professor Herberich, f) Gräfin Marie Tarnowska. g) Frau von Elbe, h) Johanna Zehentner. i) Antonie von Schönebeck. Der hysterische Mann. D. Hexenwahn und Geschlechtsleben. E. Das Geschlechtsleben der Hysterischen in soziologischer Beziehung. F. Das Geschlechtsleben der Hysterischen in forensischer Beziehung. • a) Strafrechtliche Beurteilung, b) Zivilrechtliche Beurteilung, c) Zu- rechnungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit. d) Hysterische als Zeugen, e) Hysterische als Denunzianten, f) Die Begutachtung Hysterischer. 4 In dem neuen Werk behandelt der bekannte Verfasser die viel ventilierte Frage nach der Bedeutung der Sexualität für die Hysterie. In neuer Be- leuchtung werden zum ersten Male die Hysterischen als Geschlechtswesen gezeigt, die Umsetzungs- und Ersatzvorgänge des Geschlechtslebens werden überzeugend aufgerollt. Welche soziologischen und forensischen Fern- wirkungen hieraus erwachsen, zeichnet der Verfasser mit lapidaren Strichen. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Freundschaft und Sexualität Von Dr. Placzek Nervenarzt in Berlin Vierte, wieder vermehrte Auflage, 7.-9. Tausend Preis geh. M. 3.60, mit Teuerungszuschlag M.4.35 geb. M. 5.20, mit Teuerungszuschlag M 6.25 Inhalt: Vorwort 3 I. Freundschaft, Dichter, Dichtung- 7—21 II. Freundschaft und Stammbuch 22—31 III. Freundschaft in der Gegenwart '. . , 32- 38 IV. Freundschaft und Geschlechtsleben 39—113 a) Männerfreundschaft 39_ 53 b) Freundschaft, Lehrer. Erzieher ......... 53— 76 c) Sokrates und Alcibiades . . . . 76— 93 d) Frauenfreundschaft 93 96 e) Mann-weibliche Freundschaft . 96—101 f) Freundschaft und Ehe .... ' 10"— 113 V. Freundschaft und Wandervogel 114—127 VI. Freundschaft. Sexualität und die Kreud'sche Lehre. . 128—135 VII. Nietzsche und Wagner 136—149 VIII. Der Freundschaftshegriff ... 150—155 IX. Literatur . . . . 156—157 Auszug aus Besprechungen: Je weiter man liest, um so mehr gewinnt man die Überzeugung, daß hierein Schritt weiter getan wurde in der Erkenntnis eines der schwierigen Probleme des menschlichen Zusammenlebens. Die Allgemeinheit geht meist achtlos an solchen Problemen vorüber bis das Gewicht eines Einzelfalles die Existenz des Problems von neuem aufzeio-t ' Die Schrift ist in hohem Made belehrend. Das über den ., Wandervogel " Gesagte erregt besonderes Interesse an der mm schon in zweiter Auflage erschienenen Studie. Zeitschrift für Psychiatrie. Placzek gibt zuerst einen geschichtlichen Überblick über die Freundschaft, wie sie sich m der Literatur der Zeiten spiegelt, vom Standpunkt des Sexualforschers aus betrachtet. Er warnt, geschichtliche Freundschaftsschilderungen, besonders die überschwenglichen literarischenFreundschaf tsergüsse der Menschenperiode nach sexuellen Momenten durchsuchen zu wollen, da hier unmöglich scharfe Grenzen gefunden werden können. Archiv für Frauenkniule und Engenik. Die Sexualforschungen der letzten Jahre sind eine Folge des Kulturfortschrittes • sie bezwecken und erreichen Besserung trüber sozialer Momente. Placzeks Buch bringt uns in diesem Sinne auch vorwärts, schon weil die Darstellung auf sachlichem Boden bleibt und dem Historischen wissenschaftliche Unterlagen zu geben sucht. Der praktische Arzt, Das bereits in dritter erweiterter Auflage erschienene Buch ist zu bekannt, als daß es einer besonderen Empfehlung bedürfte. Zeitschrift f. ärztl. Fortbildung. Eine Schrift, die den Ittel ..Freundschaft und Sexualität" trägt, muß von vorn- herein die Aufmerksamkeit der Pädagogen erwecken. Denn ie größeren Einfluß er auf seine Schüler gewinnen, je vertrauensvoller er sein Verhältnis zu ihnen gestalten will, um so eingehendere Beachtung muß er dem Problem der Freundschaft entgegen- bringen . . . Der deutsche Lehrer der Oberstufe z. B. muß das Kapitel .,Freundschaft Dichter, Dichtung", der Altphilologe die Abhandlung „Sokrates und Alcibiades" gelesen haben, wenn er das letzte Verständnis für diese Fragen erreichen will. Jedenfalls gehört auch das Placzekscho-Büchlein in die Abteilung .Sexualpädagogisches" jeder Lehrerbucherei. Deutsches Philologenblatt. • • • Die Abhandlung ist sehr interessant und lehrreich, auch für solche Ärzte, die nicht auf dem Standpunkte des Verfassers stehen. Keiehs-Med.-Anzeiger. M A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Die sexuelle Untreue der Frau Eine sozial-medizinische Studie von Universitätsprofessor Dr. E. Heinrich Kisch k. k. Eegierungsrat Erster Teil: Die Ehebrecherin Dritte vermehrte Auflage 7— 12. Tausend Preis geh. M. 6.-—, mit Teuerungszuschlag M. 9.35 geb. M. 7.60, mit Teuerungszusehlag M. 11.90 Aus dem Inhalt: Die geschlechtliche Untreue der Frau. - Die Kausalität der Geschlechts- untreue der Frau. - Phänomene des weiblichen Ehebruchs. - Der Mutter- typus und die kinderlose Frau. - Die degenerierte Frau und der Ehe- bruch. - Die Wahlverwandtschaft als Motiv geschlechtlicher Untreue. - Die emanzipierte Frau und ihre Untreue. - Schlußwort und Rückblick. | Zweiter Teil: Das feile Weib Preis geh. M. 5.40, mit Teuerungszuschlag M. 8.40 geb. M. 7—, mit Teuerungszuschlag M. 10.90 Aus dem Inhalt: Die Prostitution des feilen Weibes. - Die Prostitution als soziales Übel. - Die Kausalität der Prostitution. - Das „Verhältnis" der jungen Leute. - Mätresse und Konkubine. - Die öffentliche und Straßendirne. - Rückblick und Schlußwort. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Abu) in Bonn Auszüge aus Besprechungen : . . . Häutige Beziehungen auf die einschlügige moderne Literatur heieben die Darstellung, die für den Arzt und Soziologen gleiches Interesse bietet und als ernste Arbeit gewertet sein will, die den hohen Wert der Frauentreue für das Glück der Ehe und den Aufstieg der Rasse einschätzt und preist. Büchermarkt 1917. . . . Alles in allem : Ein gutes Buch mit reiner Tendenz. Jicue Generation 1917. . . . Mit Becht kann man hier wirklich von einem Buche reden, wie es auf diesem Gebiete in der Weltliteratur bisher nicht seinesgleichen hat. Deutsche Miitterzeitnng 1917. Mag man mit dem Verfasser auch über manchen Gedankengang und Leitsatz rechten können, das Buch als Ganzes bietet eine Fülle von Wissensbereicherung, und diese ist den Ärzten ganz besonders zu wünschen, die, durch ihren Beruf mehr als andere Menschen gezwungen, psychische Eigenarten zu verstehen, leider noch immer den gewichtigsten Faktor im Erdendasein, die Sexualität, allzuwenig kennen. Hier kann und soll Kischs Buch belehrend wirken. .Medizinische Klinik 1917. Nachdem der bekannte Marienbader Badearzt im ersten Teil dieser sozialmedizi- nischen Studien mit dem weiblichen Ehebruch bekannt gemacht, schildert er in dem nun vorliegenden zweiten Teile die Geschlechtsuntreue des Weibes, wie sie besonders in der P r o s t i t u t i o n zu suchen ist. Der Verfasser führt uns nicht nur die Umrisse dieses weiblichen Lasters vor Augen, sondern sucht auch ihr Wesen zu analysieren, die Ursache zu erforschen und Vorschläge zur Bekämpfung des Übels zu machen. Die einzelnen Typen sind scharf gezeichnet vom „Verhältnis1- der Jugendlichen, dem Mätressentum und Konkubinat bis zur öffentlichen Straßendirne. Hinsichtlich der Bordellfrage wird das Für und Wider erörtert, der Standpunkt der Abolitionisten abgelehnt. Aus dem Ganzen spricht der sittliche Ernst des Forschers und Arztes und überall verrät sich die große Vertrautheit des Verfassers mit Literatur und Geschichte. Schmidts Jahrbücher für die gesamte Medizin. Auf der Grundlage einer mehr als fünfzigjährigen Tätigkeit als Frauenarzt und an der Hand der physiologischen und psychologischen Forschungen der Gegenwart formt der Verfasser in diesem Buche das Bild der ehebrecherischen Frau, erforscht die Gründe und den Werdegang der geschlechtlichen Untreue des Weibes in ihrem ver- wickelten Verlaufe vom ersten gedanklichen Liebessehnen bis zur fleischlichen Voll- endung und legt die Zusammenhänge bloß, die zwischen dem Fehltritte der Frau und ihrer angeborenen Keimanlage, sowie ihrer eig-entümlichen, auf die Mutterschaft ab- gestellten Geschlechtsausbildung, der Beschaffenheit des heimständigen Bodens und ihre Umwelt bestehen, und weist nach, welch überwältigende Schuld nicht selten dem eigenen Manne an dem Falle seiner Ehegattin zukommt. Mit hohem sittlichen Emst sucht er die tieferen Ursachen des beklagenswerten sittlichen Niederganges der Ehe der Gegenwart zu ergründen. . . . Das Buch ist in einem guten, klaren, von entbehr- lichen Fremdwörtern ziemlich freien Deutsch geschrieben und bietet reiche Belehrung für jeden, der im öffentlichen Leben mit solchen Dingen zu tun hat, vor allem aber dem Kriminalisten, dem Richter, dem Moraltheologen, dem Beichtvater, Prediger nnd dem geistlichen Gcwissensberater in den Großstädten. Sein Wert für die moderne Frauenfrage liegt 'auf der Hand. Angsbnrger Postzeitnng. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Zeitschrift für Sexualwissenschaft Begründet von Prof. Dp. A. Eulenburg und Dr. Iwan Bloch in Berlin in Berlin Herausgegeben im Auftrage der INTERNATIONALEN GESELLSCHAFT FÜR SEXUALFORSCHUNG von Prof. Dr. BEOMAN (Lund) - Prof. Dr. M. DESSOIR (Berlin) - Wirkl. Gehe^r^Prof. Dr. ERB (Heidelberg) - Prof. Dr. P. FAHLBECK (Lund) - Prof. Dr HEIMAT b (Groningen) - Minister a. D. Dr. VAX HOLTEN (Haag) - Geh. Med.-Rat Prof. Dr. JADASSOHN (Breslau) - Hofrat Prof. Dr. L. v. LIE B ERMANN (Budapest) Geh. Hof rat Prof. Dr. K. v. LILIENTHAL (Heidelberg) - Dr. M AN MARCUSE «Berlin) - Prot. Dr. G. MINGAZZINI (Rom) - Geh. Justizrat Prof. Dr. W. M1TTERMAIER (Gießen) - Geh. Sanitätsrat Dr. ALBERT MOLL (Berlin) - ProL ^r. W. NE F( St. Gallen) — Geheim- rat Prof. Dr. SEEBERG (Berlin) - Geh. Med.-Rat Prof. Dr. SELLHETlS (HaRe) - Prof. Dr. STEINA CH (Wien) - Prof. Dr. S. R. STEINMETZ (Amsterdam) - Prot Dr. J. TANDLER (Wien) - Prof. Dr. A. VIERKANDT (Berlin) - Prof. Dr. L. v. WIESE (Köln) Redigiert von Dr. MAX MARCUSE, Berlin Preis für den Jahrgang von 12 monatlich erscheinenden Helten 24 Mark Die „Zeitschrift für Sexualwissenschaft" erscheint mit dem im April 1919 begonnenen VI. Jahrgang als offizielles Organ der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung und wird nach den Grundsätzen strengster Wissensehaftlicbkeit alle Fragen des Geschlechts- lebens und seiner Beziehungen zur Kultur, Gesellschaft und Rasse behandeln. < triginal- arbeiten, kleinere Mitteilungen. Referate und Buchbesprechungen von hervorragenden Fachgelehrten aller Fakultäten und wissenschaftlichen Richtungen werden im Laute der zeit die gesamte natnr- und geisteswissenschaftliche Sexuologie widerspiegeln. Die bcnritueitung wird besonders darauf Bedacht nehmen, daß medizinische und juristische, yolks- und völkerkundliche, historische und biologische, volkswirtschaftliche und statistische Bei- träge möglichst abwechseln, um auf diese Weise immer weitere Kreise für die Sexual- wissenschaft zu interessieren und um der Auffassung programmatischen AusdrucK zu geben, daß die Sexuairorschune das gemeinsame Gebiet sämtlicher Wissenschaften dai- st'ellt, auf dem keine von ihnen Vorrechte genießen soll. Die vollständig vorliegenden Bände I, II, III, IV und V sind geheftet zum Preise von je 25. - Mark und gebunden zu je 30.60 Mark zu beziehen. Probehefte der Zeitschrift, die am besten über den Inhalt anterrrichten , liefern auf Wunsch alle Buchhandlungen und der Verlag, die auch Abonnements entgegennehmen. A.Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Abu) in Bonn Die moderne Behandlung der Gonorrhöe beim Manne Von Professor Dr. Asch 2. Auflage. / Mit 25 Abbildungen im Text Preis brosch. M. 4.80, mit Teuerungszuschlag M. 5.75 geb. M. 6.20, mit Teuerungszuschlag M. 7.45 ... Die angenehme Art der Darstellung und die besondere Berücksichtigung1 gerade, der neuesten Behandlungsmethoden werden dem kleinen Leitfaden sicherlich unter den Praktikern Eingang verschaffen. .Mülleimer med. Wochenschrift 1915. " - vP *s kleine Buch, das ohne ein überflüssiges Wort in klarer Form alles bringt, was zur Einführung in die Therapie der Gonorrhöe beim Manne notwendig ist, das jede auch scheinbar geringf ügige Technik genau berücksichtigt, wird gewiß in den Kreisen der Studierenden und Arzte sich viel Freunde erwerben. Es wird aber auch ■den erfahrenen Spezialisten, gerade dadurch, daß es ein eminent persönliches Gepräge hat, eine interessante Lektüre sein und ihm manche Anregung geben. Straßbnr^er medizinische Zeitung 1014. Die Behandlung der Haut= u. Geschlechtskrankheiten Von Dr. Erich Hoffmann o. ö. Professor und Direktor der Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten an der Universität Bonn Zweite vermehrte Auflage Preis geh. M. 5.60, mit Teuerungszuschlag M. 6.75 geb. M. 7.20, mit Teuerungszuschlag M. 8.65 Medizinische Klinik : Auf engem Baum handelt Hoffmann in durchaus eingehender Weise die Behandlung. der Haut- und Geschlechtskrankheiten ab. Die Anordnung der Stoffe besteht in einer Ubersieht der Heilmittel und Heilmethoden, einer alphabetischen Aufführung der Hautkrankheiten und einer ebensolchen der Geschlechtskrankheiten. Die Therapie entspricht dem modernen Stand der "Wissenschaft. So gedrängt in ihrer Karze auch die Ausführungen Hoffmanns sind, lassen sich in ihnen doch sehr deutlich individuelle Eigentümlichkeiten der Behandlungsart erkennen, welche zeigen, daß der Verfasser das, was er schildert, wirklich als erprobt vor Augen hat. Was in diesem Buche steht, ist alles praktisch brauchbar, einfach zu machen, oder sagt, daß es spezi- ellerer Kenntnisse bedarf, um es auszuführen, ohne daß auf besondere spezialistische Feinheiten Gewicht gelegt würde. Mit Nachdruck wird auf die große Bedeutung der frühen Erkennung der Geschlechtskrankheiten hingewiesen, die soziale Bedeutung deren früher und gründlicher Heilung hervorgehoben. Das ganze Werk läßt auf jeder Seite die praktische Richtung des erfahrenen Therapeuten erkennen. Besonders hervorzuheben ist die geschickte Anpassung, die Hoff mann an die für die Dermatologie so schwierigen Kriegsverhältnisse getrofftn hat, indem er auf Salbenersatz und Vertretung alter nicht mehr vorhandener Mittel durch neugeschaffene eingeht. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Abu) in Bonn Lehrbuch der forensischen Psychiatrie Von Professor Dr. A. Hübner Oberarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik in Bonn Preis brosch. M. 26. — , mit Teuerungszuschlag M. 40.55 geb. M. 28. — , mit Teuerungszuschlag M. 43.70 Nicht bloß die Mediziner im allgemeinen und die Psychiater insbesondere, sondern auch die Juristen — Richter sowohl wie Staatsanwälte und .Rechtsanwälte — . ferner auch Verwaltungsbeamte und namentlich auch Leiter von Heilanstalten, Vorsteher von Straf- anstalten, sowie überhaupt alle, die an der Erkenntnis und Feststellung von Geistes- krankheiten ein Interesse haben, werden aus dem geistvollen, ungemein inhaltsreichen Werke Belehrung und für ihre Praxis dauernden Nutzen schürfen. Wirklicher Geheimer Kriegsrat Dr. jnr. Komcn. Die Anschaffung des Buches kann dem Gericht sarzt ebenso wie dem Psychiater warm empfohlen werden. Gell. Med.-Rat Prof. Puppe-Königsberg i. Pr. Zeitschrift für Psychiatrie: . . . Das Hübnersche Buch bringt trotz seiner Stärke nur Notwendiges und "Wissenswertes und dies in klarer und verständlicher Form. Die illustrierenden Beispiele aus der Praxis sind knapp, kurz und treffend, die Gesetzes- paragraphen und ihre Erläuterungen recht vollständig. Berliner klinische Wochensenlift 1914: ... In der Tat dürfte es kaum eine einzige Rechtsfrage an den Psychiater geben, die das Hübnersche Buch nicht beantwortet. . . Ein erschöpfendes Namen-und Sachregister schließen das Hübnersche Buch . dem Referent den wohlverdienten Erfolg herzlich wünscht. Das Heft ist ein treffliches Nachschlage- buch auch für den erfahrenen Sachverständigen und kann zugleich für das schwierige Gebiet der forensischen Psychiatrie auf das beste vorbereiten. Deutsche medizinische Wochenschrift 1914. Kr. 9: Den vielen beamteten Ärzten, wie manchem Praktiker, der häufig mit forensisch-psychiatrischen Fragen befaßt wird, ist das Buch sicher als zur Zeit bestes Lehr- und Nachschlagewerk zu empfehlen. Archiv für Psychiatrie: . .,. Das reiche Material, welches dem Verfasser zur Ver- fügung gestanden hat, ist geschickt verwendet worden: Die Darstellung erfreut durch Klarheit und Prägnanz. Das Lehrbuch in seiner Vollständigkeit bildet einen guten Rat- geber für alle in das' Bereich der forensischen Psychiatrie fallenden Fragen. Ärztliche Sachverständigen -Zeitung 1914, >'r. 8: ... Im Rahmen einer Besprechung lassen sich die Einzelheiten eines so groß angelegten Buches nicht würdigen. Bingen vorstehende Angaben und Beispiele genügen, um zu zeigen, wie umfassend und doch wieder mit welcher selbständigen Vertiefung in wichtige Einzelheiten Hübner sein Werk ausgestaltet hat, dem ein bedeutender Erfolg vorausgesagt werden kann. Schmidts .Jahrbücher der gesamten Medizin 1914. Jlelt 1: ... Zu den bekannten Lehrbüchern der gerichtlichen Psychiatrie gesellt sich das Hübnersche Buch als ein modernes und eigenartiges Werk hinzu. Es ist selbstverständlich, daß die Hübnersche forensische Psychiatrie dem gegenwärtigen Stande der Psychiatrie und gerichtlichen Medizin in materieller Hinsicht Rechnung trägt. Was das Werk aber eigenartig macht und es vor seinen den gleichen Titel tragenden Genossen auszeichnet, ist die Tatsache, daß die rechtlichen Verhältnisse und Beziehungen, auf welche sich das medizinische Gutachten erstrecken^ soll, in einer erschöpfenden und — wie ich das ausdrücklich hervorheben will — in keinem anderen Werk über den gleichen Gegenstand so muster- gültigen Vollkommenheit abgehandelt sind . . . Das Buch ist handlich. Ein ausführliches Register erleichtert die Orientierung. Seine Anschaffung kann dem Gerichtsarzt ebenso wie dem Psychiater warm emp- fohlen werden. Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende Von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin. Dritter Teil BONN 1920 A. Marcus & E.Webers Verlag Dr. iur. Albert Ahn Störungen im Sexualstoffwechse mit besonderer Berücksichtigung der Impotenz Von Dr. Magnus Hirschfeld Sexualarzt in Berlin Mit fünf Tafeln (Photographien, Kurven und einem Innervationsschema) BONN 1920 A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. iur. Albert Ahn Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright 1920 by A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn: Druck : Otto Wigand'sche Buchdruckerei G. m. b. B., Leipzig. Inhaltsverzeichnis. Seite Erst es Kapitel. Fetischismus (Sexueller Symbolismus) . . .1 Wesen der Teilanziehung — Der individuelle Fetischzauber als Grundlage der sexuellen Selektion — Unterschied zwischen p h y s i o - logischem und pathologischem, kleinem und großem Fetischis- mus - — Sexueller und religiöser Reliquienkult — Partialismus, Idolis- mus, Symbolismus — Sinnbildliche Bedeutung des Fetisch — S y m bolismus oder' Meta bolismus — Partielle Attraktion und Aver- sion — Antifetischismus oder Fetischhaß — Die antifetischistisehe * Idiosynkrasie als Revers der Teilanziehung — Antifetischistische Zwangseinstellung gegen Weibliche Brüste bei einem heterosexuellen Mann — Haß einer Frau gegen Vollbart träger — Wort zauber — Gedanklicher Objektivier ungs drang gefühlsmäßiger Komplexe — Unbe- grenzte Zahl der Fetische — Schamgefühl aus Lustgefühl — Wichtiger Unterschied zwischen dem Begehren eines Gegenstandes am eigenen oder fremden Körper — Ausführungen eines Damenstiefelfeti- schisten — Sexualpartial spezialismus — Gibt es absolute Schön- heitsgesetze? — Das „gewisse Etwas" - Nuancierung der Partialreize — Spezialisiertheit im Haarfetischismus — Fetischistischer Sammeltrieb — Krüppel i'etischishius — Fall eines Krücken fetischisten — An- ziehung durch defekte Körperteile und Körperhüllen — Vorliebe für häßliche Menschen — Gibt es akzidentell determinierende Erleb- nisse? ~i Aufteilung der verursachenden Momente — Die Tücken des Zu- falls und der Dämon, der Konstitution — Das R ei z ziel — Der durch die spezifische Konstitution bedingte Reflex — Erste Begegnung zwischen dem endogenen und dem exogenen Komplement — Ober- flächlichkeit jeder ätiologischen Begründung aus dem Milieu — Fetischismus und innere Sekretion — Das sexuelle Hunger- gefühl — Assoziations beispiele — Die Versinnbildlichung weiblicher Energie — Ausführungen von Bein-, Arm-, Nagel-, Seide- und Gümmi- fetischisten — Einteilung de« Fetischismus nach der Ausgangs- und Eingangs stelle fetischistischer Reize — Distanzielle und proxi- male Fetischreize — Das instinktive Fahnden aller Sinne nach lust- betonten Sexualeindrücken — Optische und akustische Fetische — ■ T i t e 1 fetischismus — Mannes- und Weibsgeruch — Sexualpunkte in den Sinnesorganen — Geschmacksfetischismus — Temperatur fetischis- mus — Berührungs furcht — Juwelenfetischismus — Inhärente, a d - härente und kohärente Partialreize — Wechselwirkungen zwischen Fetischismus und Mode — Sexuelle Entspannung durch Manipulationen am Fetisch — Einteilung des Fetischismus nach Körperregionen — ■ Zopfabschneider und Scheitelf etischisten — Verschweigen falscher Haare als Eheanfechtungsgrund — Fetischhaß gegen rote Haare — Die Barttracht als Indikator der Geschlcchtsakzentuierung einer Zeit - VI Scheidenverlegung in die Nasen löcher — Beteiligung sämtlicher Sinnes- organe am Mund fetischismus — Sexuelle Spielerei am Ohr — Tränen- fetischisteu — Rumpffetischismus — Wirkung des Dccollctee — Fetischisti- sche Bedeutung der Vor Wölbungen und Einsenkungen der Körperoberfläche — Der Busen des "Weibes und der Kehlkopf des Manne* : — Coitus intermammalis — Nabelhaß — Schwangerschaftsfetischisten — Welche Männer geben breiten, welche schmalen, welche mittleren Hüften den Vorzug? — Verehrung des Phallus und der Vulva — Anusschnüffler r- 1 Genitali'etischisten — Extremitäten fetischismus — Die entblößte Hand und der bekleidete Fuß — Händedruck und Handkuß — Bewe- gung fetischismus — Tanzvoyeure — Kohärenz fetischismus — Künstliche Nachhilfen fetischistisch stark wirksamer Körperteile — Erotische und antierotische Bedeutung von Augengläsern, Stöcken und Schirmen - - Parfümfetischismus — Adhärenz fetischismus — Gründe der Bekleidungswahl — Eine Kragenknopffetischistin — i Fetischis- mus für rote Kokarden — Ehescheidung wegen Barchentfetischis- ni us — Differentialdiagnose zwischen Taschendiebstahl und Taschentuch- fetischismus — Eheanfechtung wegen Korsettfetischismus — Hypererotische Zustände bei einer Frau infolge Wickel- und Ledergamaschen — i Die große Gruppe der Schuh freier — Die metatropische Bedeutung des Schuhes — Fetisch n a r b e n — Retroussee- und Aus- ' kleidungsfetischisten — B e 1 1 fetischismus — Fetischismus für schla- fende Frauen - — Sexueller Farbenrausch — Kostüm- und Uni- formfetischismus — Reiztrachten — Frack- und Mantelhaß — Feti- schismus für tierische Felle, wie Pelz und Leder — Die fetischistische Grundlage der Zoophilie — Schwachsinnige Tierschänder — Hunde- und Katzenliebe — Erotische Fixatio/i an einen Kanarienvogel und Papagei — Onanie mit Tieren — Von Tieren an Menschen vorgenommener Lambitus und Coitus — Zoosadismus — Krokodile und Schlangen als Sexualobjekte — Übertragung von Krankheiten durch Tierliebkosun- g e n — Religiöse Sodomie — Weshalb ist die Bestrafung von Unzucht mit Tieren entbehrlich? — Dendrophilie — Ein Mann, der ein Ver- hältnis mit einer alten Eiche hat — Erotische Fixierung an Gegenstän- den aus dem Mineralreich ■ — Fall von Kristallfetischismus — Der feti- schistische Charakter der Statuophilie, Nekrophilie und des H y p e r - erotismus. Zweites Kapitel. Hypererotismus Die quantitativen Abweichungen des Geschlechtstriebes — Die sexual- pathologische Plus- und Minus gruppe — 1 Die innersekretorisch bedingte S t ä r k" e des Erotismus — Wo fängt das geschlechtliche Über- maß an? — Das Sexualtemperament — Sexuelle Athleten — Verhältnis der Triebrichtung zur Triebstärke — Ungleichheit der auf das eine und das andere Geschlecht gerichteten Libido bei Bisexuellen — T r i e b b e h er r s-ch b ark e i t — Präpubische und postklim- akterische Geschleclitslust — Innersekretorische Bedeutung der Pro- stata-Involution — ■ Verhältnis von Libido und Potenz — Sexuelle E i 11 d r 11 c k s f ä h i g k e i t und Ausdrucksmöglich ke«t — Die „Leichenbraut" — Der Sexualrhythmus — Ebbe und Flut der sexuellen Hormon wellen — Geschlechtliche Anfechtungen — Einfluß der Nahrungs-, Genuß- und Arzneimittel auf die Triebstärke — Hormon- therapie — ■ Liebesraserei, Satyriasis, Nymphomanie und Mannstollheit - Fausts: „im Genuß verschmacht ich nach Begierde" — Poly- VII Seite g a m e und monogame Form des Hypererotisrnus — Der P o 1 y e r o - t i k e r — Menschen mit Genitalien und Genitalien mit Menschen — Sexuelle Polypragmasie — Einfluß des Hypererotisrnus auf den körper- lichen und seelischen Gesundheitszustand — Fall eines verhei- rateten Polyerotikers — Oraler Genitalverkehr — Prostituierte aus Leiden- schaft — Hypererotische Gebärden — ■ Sexuelle Überbedürftigkeit beim Weibe — Lüsternheit infolge Pruritus vulvae — Koitus halluzi- nationen — Die natürliche Koitusform des Menschen — Coitus a poste- riori — Succubation — Sexuelle Ersatzorgane — Die Kontakttendeuz erogener Zonen — Figurae veneris — Digitationen als infantilis tische Betätigungsart — Differentialdiagnose zwischen Finger und Glied — Orale Betätigungsform — Cunnilinctio, Penilinctio und Anilinctio — Überwin- dung des Ekels als ein Hauptmerkmal der Liebe — Die monogame Form des Hypererotisrnus — Don Juan- und Toggenburgtypen — Liebe als Krankheit — Erotische Superfixation neurotischer Frauen wäh- rend der G r a v i d i t ä t — Pathologische Liebe zu Prostituierten — Über- flutung des Gehirns mit erotischen Rauschstofl'en — Narkotische Wirkung des Andrins und Gynäcins — Sehnsucht und Eifersucht — Der gesteigerte Liebes a k t i v i s m u s und -Passivismus — Geschlecht- licher Unterwerfungsdrang und sexuelle Hörigkeit — Gelähmter Ge- schlechtswille — Doppelselbstmord infolge sexueller Über- fixation — Metatropismus und Hypererotisrnus — Der erotische Unterwerfungsdrang» des Weibes als Wurzel ihrer früheren Ent- rechtung — Sadismus und Hypererotisrnus — Verstärkte Inkretion als Ursache des Sadisrnus — Die quantitative und qualitative Erklärung des Virilismus durch die innere Sekretion — Inkretorisch verursachte Ge- waltakte und Verbrechen — Sexuelle Intoxikation — Triebwiderstand und Willenswiderstand — Vergewaltigungs wünsche — Physische und psy- chische Beugung des Geschlechtswillens — Koitus an einer Hyperero- tischen — ■ Liebeskünstler ■ — Unterdrückung sexueller Gegenwehr — Sexuelle Siegerpose — Einfluß des Alkohols, der Erschöpfung und Musik auf den sexuellen Widerstand — Sadistische Stufenleiter — Imaginärer Sadismus — Pollutionen bei Erzählung der Passionsgeschichte — Passiophilie — Beobachtungen in der Berliner Spartakuszeit — Luststeigerung durch Schadenfreude und Mitleid — ■ Wach träum eines Hypererotikers — Die Zotomanie — Sexueller Wortrausch — Hyper- erotische Schreibwut — Obszönitäten in Bedürfnisanstalten • — ■ Physiologischer und pathologischer Visionismus — Trieb zu schauen und sich zur Schau zu stellen — Fetischvoyeure — Triolisten — ■ Wechselwirkung zwischen materieller und sexueller Gewinnsucht : — Ein Voyeurroman von Barbusse — Kuppelsucht — Brachiale Sexualexzesse — - Der Lust- mord-— ^Mitteilungen angeblicher Lustmörder - — Plötzliche Todesfälle im sexuellen Affekt — Absoluter und relativer Hypererotisrnus — Anschei- nende Lustmorde aus Raubgier und Eifersucht — E c h t e Lustmorde zur Entspannung der Geschlechtslust — Geschlechtsrauseh — Sadistische Ver- stümmelungen — Affekttaumel Schwachsinniger — Epileptische Lusttöter — Schließen Planmäßigkeit und Erinnerungsmöglichkeit Unzurechnungsfähigkeit aus? — Lustmord und Aberglaube — Geißler und Mädchenstecher — Sexualpathologische Stereotypie — Bösartig- keit als Überkompensation von Gutartigkeit — Weiche Fanatiker — Sadisten und Spartakisten — Antifetischistischer Sadismus (Bild) — Bilderschändung — Statuostupration und Statuophilie — Sexuelle Urmotive von Bifderdiebstählen — Hyperfixierung an Personen im Film • — Nekrophilie — Imbezille und hysterische Leichenschänder — Salome-Typen Inhaltsverzeichnis Seit. — Körperliche Hypererotismusformen — Der Priapismus — Erektionen ohne Mitbeteiligung des Geschlechtstriebes — Johannestrieb und Wasser- stanzen — ' Gonorrhoische Priapismen — Aphrodisiaca — Anale Erektions- wirküng — Periphere Reizung der Wollustkörperchen — Erektionen und Ejakulationen bei Erhängten und Geköpften — Erschöpfungspria- pismen — Leukämische Priapismen — Toxische Priapismen — Priapismen durch Dauerreizung des Erektionszentrums — Die Polyspermie — Pollutionismus und Spermatorrhoe — Samenplethora und S am e.n k o 1 1 er — Krankhaftigkeit unfreiwilliger Samenverluste — Tagespollutionen — F rottage — Miktions- und Defäkationsspermatorrhöe Verwechselung zwischen Spermatorrhoe und „Gonorrhoea simplex" — Regurgitierender Samen — Begriff der sexuellen Überreizung. Drittes Kapitel. Impotenz Der sexuelle Potenzmechanismus — Die vierfache Genitalinnervation - Einige allgemeine Betrachtungen über Fortpflanzungsfähigkeit — A d o p t i e r u n g s gutachten — Einteilungen der Impotenz — Die Impo- tentia coeundi et generandi — Zerebrale Erotisierung — Eheanfechtung wegen Aspermatismus und Anandrinismus — Organische und funk- tionelle Impotenz — Absolute und relative Impotenz, matrimoniale Impotenz — Unsere Vierteilung in impotentia carebialis, spinalis, geni- talis und germinalis — Sexuelle Appetitlosigkeit — Antierotische Wirkung der Ermüdungsstoffe und Toxine — Flucht vor sexuellen Anfech- tungen in die Einsamkeit — Depotenzierende Wirkung des Alkohols — Morphinistische Impotenz — Einfluß von Kokain, Kaffee, Blei und Nikotin auf die Potenz — Impotenz infolge akuter und chronischer Krankheiten — Gemütsverfassung und Sexualität — Anerotismus des Weibes — Impotenz infolge von Triebanomalien — Impotenzen auf antifetischisti- scher Grundlage — E h e w i e d e r h e r s t e 1 1 u n g s gutachten bei tempo- rärer Impotenz — Autosuggestive Impotenz — Hemmung. s- imp.otenzen — Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Mannes und des Weibes — Warum bleibt das Lustgefühl beim Weibe häufiger aus als beim Manne? — Anorgasmus und Frigidität — Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Lustkurve — Kalte Frauen — Relative und ab- solute Frigidität — Der individualistische Charakter des Sexualreflexes — Stimmung des Nervensystems — Lustvortäuschung im Geschlechts- verkehr — Ejaculatio praecox — Die spinale Impotenz — Die sexuellen Zentren im Rückenmark .und Sympathikus — Die sensorische Leitung im nervus pudendus — Die motorische Leitung in den nervi erigen t es — Die Unabhängigkeit des Erektions- und Ejakulationsvor- gangs vom Willen — Der komplizierte Blutgefäß- und Muskelapparat des Gliedes — Ausfallserscheinungen bei Schuß durch das Lendenmark und ihre allmähliche Rückbildung — Tabische Impotenz — Fall von Impotenz bei multipler Sklerose — Gutachten über Ehebruchsbilligung eines impotenten Gatten — Psychogene Bedingtheit der „nervösen" Impotenz — Die genitale Impotenz — Penisdefekte — Beischlafs- und Zeugungsfähigkeit von Hermaphroditen ■ — Abnorme Kleinheit und Größe des Penis — Verdoppelung des Penis (Diphallus) — K o h a b i t a t i o n s e r s c h w e - rung durch Hypospädie und Epispadie — Bedeutung der Phi- mose — Die wirkliche und angebliche Verkürzung des Vorhautbänd- chens — *■ Behinderung des Koitus durch Paraphimose — Pcnisschüsse - Fraktur und Luxation des Penis — Der geschundene uud abgerissene IX Seite Penis — Abschnürungen des Penis — Fremdkörper in der Harnröhre — Er- frierungen und Verbrennungen des Gliedes — Herpes progenitalis — Die Kavernitis — Chorda penis — Die plastische Induration des Penis — Ossifikationsprozesse im Glied — Die Foumiersche Krankheit — ödema- töse, variköse und elefantiastische Verdickungen des Gliedes — Impotenz durch Kondylome, Geschwüre und Geschwülste des Penis — Penishörner — Einschlüpfen des Penis — Beischlafsfähigkeit weiblicher Hermaphroditen — Membranöser Vulvaverschluß — Narbige Scheidenverwachsungen — Atresia vulvae — Neubildungen an der Scham — Depotenzierende Wirkung der Hottentottenschürze — Pruritus vulvae — Scheidenstenose — Das abnorm dicke resistente Hymen — Die zweite Verschlußmembran — Schei- dendefekt — Falsche Scheiden — Doppelscheide — Kohabitation in den vor- gefallenen Muttermund — Beischlafsunfähigkeit wegen schmerzhafter Ent- zündung in den Adnexen — Die germinale Impotenz — Das Drüsengemenge im Ejakulat — Die Aufgabe der Samenbläschen — Bedeutung des Prostata- saftes — Aspermie und Azoospermie — Ejaculatio disjuneta — Samenlosig- keit auf Grund nicht produzierter oder nicht sezernierter Samenfädchen — Kausalverhältnis zwischen psychosexopathologischer und generativer Konstitu- tion — Beischlafs- und Zeugungsfähigkeit der Eunuchen — Doppelseitige Nebenhodenentzündung als häufigste Ursache der Azoospermie — Tripper- sterilität — Notwendigkeit der Samenuntersuchung bei strittiger Vaterschaft — Künstliche Befruchtung durch Hodenpunktat — Samenlosigkeit bei Erschöpfungszuständen — Quantitative und qualitative Keimverderbnis durch Alkohol — Zeitsterilisation mittels Röntgen- strahlen — Nekrospermie — Oligospermie — Asthenischer und mißbildeter Samen — Spermaschädliche Stoffe — Verfahren zur Gewinnung einwand- freien Spermas — 1 Samenblasengelee — Rot, grün und gelb gefärbter Samen — Ejakulationsloser Koitus — Aspermie nach wiederholten Koilusakten — Organische Behinderungen des Samenaustritts — Schmerzen beim Orgasmus — Spermaturie — Die germinale Impotenz der Frau — Eicrmangel — Un- wegsamkeit der Leitungswege — Geschlechtskrankheiten als häufigste Ur- sache der weiblichen Unfruchtbarkeit — Verkümmerungen der Gebärmutter — Der fötale, infantile und pubeszente Uterus — Nachentwicklung der Ge- bärmutter — Empfängnisunfähigkeit — Muttermundstenosen — Impotentia coneipiendi, gestandi und parturiendi. Viertes Kapitel. Sexualneurosen (Sexualverdrängung) . . 220 Zusammenfassung der sexuellen Neurasthenie, Hysterie und «Hypochondrie unter dem ätiologischen Begriff der Sexualverdrängung und dem nosologischen der Sexualneurosen — Hysteroneurasthenic — A b u 1 i e der Sexualneurotiker — • Sexuelle Beklemmungen und Angstträume — Die Angst als Flucht aus Schwäche in Erregung — Verstimmung und Uberempfindlichkeit des Nervensystems auf sexueller Basis — Herz- neurosen und nervöse Dyspepsie, Coccygodynie und Hodenneuralgien infolge Sexualverdrängung — Steigerung von Schwäche in Lähmung, von Unruhe in Zittern — Stammeln und Erröten — Ruhctremor und Intentionstremor — Der sexuelle Verdrängungsschrei — Hysterische Spasmen — Harnstottern — Hysterische Pseudophthise bei einer Hypererotischen — Sekretionsstörungen der Drüsen und Reflexsteigerungen bei Sexualneuro- tikern — Seelische und körperliche Ursachen des Vaginismus — Penis captivus — Ejaculatio praecox — Sensibilitätsstörungen — Heiser- keit und Stimmlosigkeit der Sexualneurotiker — Hysterogene Druck- X Inhaltsverzeichnis Seite punkte und Topalgien ■ — Polydipsie — Phobien und Idiosynkrasien — Die sexuelle Grübelsucht — • Syphilidophobie — Masturbation- und Pollu- tionshypochonder — Kohabitationshypoehonder — Unlust rcaktiö'n auf sexuelle Betägigung ■ — Inipotenzhypochonder — Sexuelles Lampenfieber — Hochzeitsangst — Pathologische Entlo- bungen — Deflorationshypochonder — Selbstquälereien über an- gebliche Mängel am Genitalapparat — Sex u"a 1 pathologische Un- entschlossenheit als eine der häufigsten Ursachen der Ehelosigkeit Eifersuchtswahn — Sexueller Beziehung^- und Verfolgungswahn — — Hysterische Hochstapler und Schreiberinnen anonymer Briefe — Entste- hung des sexuellen Verfolgers aus dem sexuellen Verdränger — Ekstasensucht der Sexualneurotiker — Das Verhältnis zwischen neuro- tischer Disposition und Störungen im inneren Chemismus — Ansichten von Beard, Binswanger, Eulenburg und Krafft-Ebing über die sexuelle Neurasthenie — Das Zutreffende der Freud sehen Theorie — Eingeklemmte, verdrängte und abreagierte Sexualaffekte — i Toxische Natur der Sexualneurosen — Psychochemischer Parallelismus — Das Abstinenzproblem — Keuschheitsprinzip, Sportabstinenz und Priester- zölibat — Der Maler Menzel als Typus eines sexuellen Negativisten — In welchem Alter treten Abstinenzschäden auf? — Stärkt die Beherr- schung des Geschlechtstriebes den C h a r a k t e r? — Verschwinden schäd- licher Abstinenzfolgen durch sexuellen Verkehr — Geschlechtliche Surrogate — Fleischenthaltung als angebliches Mittel gegen „Fleischeslust" — Darf der Arzt zu H e i 1 z w e c k e n den Geschlechtsverkehr empfehlen? — Frauen Überschuß — Kampf zwischen sexuellen Reflexen und Reflexionen — Dauernde und temporäre Abstinenz — Totale und partielle Abstinenz — Absolute und relative Abstinenz — Sexual- verstopfung — Bedeutung der adäquaten Entspannung unter Berück- sichtigung der Sexualkonstitution — Sexualneurosen Abnormaler — Coitus in terru.pt us, reservatio, prolongatus — Verlobungszeit als Nervenprobe --> Masturbatio interrupta et incompieta — Col- li c u 1 i t i s s em i n a 1 i s als Ursache reizbarer Nervenschwäche — Die onanistische Neurose — Dreiphasige Entwicklung des Geschlechts- triebes: autistische, indifferenzierte und differenzierte Geschlechtsepoche — Sexuell bedingte Schülerselbstmorde - Uberkompensation durch Über- treibung des Gegensätzlichen — Trip"perneurastheni<- — Erhöhte Reizbarkeit spinaler Zentren durch periphere Sensibilitätssteige- rung — Überreizungsneurasthenie infolge sexueller Exzesse — Mangelnde A u s b a 1 a n z i e r u n g des in erotische Vibration versetzten Nervensystems — Das sexuelle Trauma - Schamverl etzungs- chok — Hysterische Zustände im Anschluß an die Bräutnacht — Neivenschwächende Wirkung der von Weib und Mann gebrauchten Vor- beugungsmittel — Weibliche Hysteroneurasthenie infolge männlicher Vernachlässigung — Gab es unter den alten Griechen und Ger- manen auch Genitalhypochonder und Sexualneurotiker? Fünftes Kapitel. Exhibitionismus Der krankhafte Entblößungsdrang — Ursprung und Etymologie dieses sexualwissenschaftlichen Begriffs — , Seltsamer Widerspruch zwischen der Schamhaft igkeit und Schamlosigkeit der Exhibitionisten—- Selbst b e k e n n t n i s s e eines Exhibitionisten — Scheu der Exhibitio- triateii vor dem weiblichen Geschlecht — Exhibitionismus und Fetischismus Inhaltsverzeichnis XI — Exhibitionismus und Hypererotismus — Überkompensatorische Leistungs- fähigkeit eines Exhibitionisten — Krankhaft gesteigerte A b - wehrtendenzen — Flucht in Krüppelhaft igkeit — Exhibitio- nismus und Narcißmus — i Wie spielt sich ein exhibitionistischer Anfall ab? — » Was geht ihm voraus? — Der endogene und exogene Faktor im Zeigezwangstrieb — Die Bedeutung der unteren Extremitäten als auslösende Ursache der Entblößung — Exhibitionistische Reaktion auf Gesäß und Brüste — Die Teilerscheinung als Index 'der Gesamtvorstellung — Schul- mädchen und Dienstmädchen als Hauptobjekte exhibitionistischer Attentate — An welchen Orten und zu welchen Zeiten findet die Exhibition statt — Der Exhibitionsmantel — Der zielstrebige und stereotype Ab- lauf des Exhibitionsakts — Exhibitionistische Zurufe — Sprach- licher Exhibitionismus — i Reaktionsformen auf exhibitionistische Angriffe — Typische Ausreden der Exhibitionisten - - Der angebliehe Demonstrationssadismus — Schaustellung und Bloßstellung — Überschrei- tung der Schamgrenzen ohne fetischistischen Anreiz — Die psycho- pathisch-infantile Konstitution des Exhibitionisten — Ex- hibitionisten — Exhibition senil Dementer — Imbezille, epilep- tische und idiopathische Exhibitionisten — Gerichtsurteile über Exhibitionisten — i Antireflektorische Einflüsse — Verhütung und Behandlung des Exhibitionismus — Willkürliche Beherrschung der Inkretion. Nachwort 326 Verzeichnis der Tafeln zwischen Seite Tafel I. Temperaturfetischismus 30 und 31 Tafel II. Antifetischistischer Hypererotismus 82 und 83 Tafel III. Hypererotismus 128 und 129 Tafel IV. Potenzinnnervation 144 und 145 Tafel V. Ausbleibende Befriedigung des Weibes infolge vorzeitiger Ent- spannung des Mannes 174 und 175 I. KAPITEL Fetischismus (Sexueller Symbolismus) Wesen der Teilanziehung — Der indivi d uell e Fetischzauber als Grundlage der sexuellen Selektion — Unterschied zwischen physiologischem und pathologischem, kleinem und großem Fetischismus — Sexueller und reli- giöser Reliquienkult — Partialismus, Idolismus, Symbolismus — Sinnbild- liche Bedeutung des Fetisch — S y m bolismus oder Meta bolismus — Partielle Attraktion und Aversion — Antifetischismus oder Fetischhaß — Die antifetischistische Idiosynkrasie als Revers der Teilanziehung — Antifeti- schistische Zwangseinstellung gegen weibliche Brüste bei einem heterosexuellen Mann — Haß einer Frau gegen Vo 1 1 b a r t träger — Wort zauber — Gedanklicher Objekti- vierungsdrang gefühlsmäßiger Komplexe — Unbegrenzte Zahl der Fetische — Schamgefühl aus Lustgefühl — Wichtiger Unterschied zwischen dem Begehren eines Gegenstandes am eigenen oder fremden Körper — Aus- führungen eines Damenstiefelfetischisten — Sexualpartial s p e z i a 1 i s m u s — Gibt es absolute Schönheitsgesetz? — Das „gewisse Etwas" — Nuancierimg der Par- tialreize — Spezialisiertheit im Haarfetisehismus — Fetischistischer Sammeltrieb — Krüppel fetischismus — Fall eines. K r ü c k e n fetischisten — Anziehung durch defekte Körperteile und Körperhüllen — Vorliebe für h ä ß 1 i c h e Menschen — Gibt es- akzidentell determinierende Erlebnisse? — Aufteilung der verursachenden Momente - - Die T ü c k e n des Zufalls und der ö ä m o n der Konstitution — Das Reiz ziel — Der durch die spezifische Konstitution bedingte Reflex — Erste Begegnung zwischen dem endogenen und dem exogenen Komplement — Oberflächlichkeit jeder ätiologischen Begründung aus dem Milieu — Feti- schismus und innere Sekretion — Das sexuelle Hungergefühl — Asso- ciation s beispiele — Die Versinnbildlichung weiblicher Energie — Ausführungen von Bein-, Arm-, Nagel-, Seide- und Gummifetischisten - - Einteilung des Fetischismus nach der Ausgangs- und Eingangs stelle fetischistischer Reize — Distan- zielle und proximale Fetischreize — Das instinktive Fahnden aller Sinne nach lustbetonten Soxualeindrücken — Optische und a k u s t i s c h e Fetische — Titel- fetischismus — Mannes- und Weibsgeruch — S e x u a 1 p u n k t e in den Sinnes- organen — Geschmacksfetischismus — Temperatur fetischismus — Berührungs- furcht — Juwelenf'etisehismus — inhärente, adhärente und kohärente Partialreize — Wechselwirkungen zwischen Fetischismus und Mode — Sexuelle ' Ent- spannung durch Manipulationen am Fetisch — Einteilung des Fetischismus nach Körperregionen — Zopfabschneider und Scheitelfetischisten — Ver- schweigen falscher Haare als Eheanfechtungsg r und — Fetischhaß gegen rote Haare — Die Barttracht als Indikator der Geschlechtsakzentuierung einer Zeit — Scheidenverlegung in die Nasenlöcher - Beteiligung sämtlicher Sinnesorgane am M u n d fetischismus — Sexuelle Spielerei am Ohr — Tränen fetischisten — Rumpf- fetischismus — Wirkung des Decolletee — Fetischistische Bedeutung der Vor Wöl- bungen und Einsenkungen der Körperoberfläche — Der Busen des Weibes Hirschfeld, Sexualpathologie. III. \ 2 und der Kehlkopf des Marines — Coitus intermammalis — Nabelhaß — Schwanger- schaftsfetischisten — Welche Männer geben breiten, welche schmalen, welche mittleren Hüften den Vorzug? — J Verehrung des Phallus und der Vulva — Anusschnüffler — Genitalfetischisten — Extremitäten fetischismus — Die entblößte Hand und der bekleidete Fuß — Händedruck und Handkuß — Bewegungs fetischismus - Tanzvoyeure — Kohärenz fetischismus — Künstliche Nachhilfen fetischistisch stark wirksamer Körperteile — - Erotische und antierotische Bedeutung von Augengläsern, Stöcken und Schirmen — Parfümfetischismus — Adhärenz fetischis- rnus — Gründe der Bekleidungswahl — Eine Kragenknopffetischistin — Fetischismus für rote Kokarden — Ehescheidung wegen Barchentfetischis- m u s — Dil erentialdiagnose zwischen Taschendiebstahl und Taschentuchfetischismus — Eheanfechtung wegen Korsettfetischismus — Hypererotische Zustände bei einer Frau infolge Wickel- und Ledergamaschen — Die große Gruppe der Schuh- freier—Die meta tropische Bedeutung des Schuhes — Fetisch- narben — Eetroussee- und Auskleidungsfetischisten — Bett fetischismus Fetischismus für schlafende Frauen — Sexueller Farbenrausch — Kostüm- und Uniformfetischismus — Reiztrachten — Frack- und Mantelhaß — Fetischismus für tierische Felle, wie Pelz und Leder — Die fetischistische Grundlage der Zoophil ie Schwachsinnige Tierschänder — Hunde- und Katzenliebe — Erotische Fixation an einen Kanarienvogel und Papagei — Onanie mit Tieren — Von Tieren an Menschen vorgenommener Lambitus und Coitus — Zoosadis- mus -( Krokodile und Schlangen als Sexualobjekte — Übertragung von Krankheiten durch Tierliebkosungen — Pieligiöse Sodomie — Weshalb ist die Bestrafung von Unzucht mit Tieren entbehrlich? — Dendrophilie — Ein Mann, der ein Verhältnis mit einer alten Eiche hat — Erotische Fixierung an Gegenständen aus dem Mineralreich — Fall von Kristallfetischismus — Der fetischistische Charakter der Statuophilie, Nekrophilie und des Hypererotismus. Die Anziehungskraft, welche eine Person auf eine andere aus- übt, geht niemals von ihrer Gesamtheit aus. Es sind viel- mehr immer nur einige körperliche und seelische Eigenschaften, bald in geringerer, bald in größerer Anzahl, die reizen und fesseln; es kommt sogar nicht seitin vor, daß es nur eine einzige Eigen- schaft an einem Menschen ist, der sich jemandes Liebe zuwendet. Fehler und Mängel der Person werden dann zwar noch objektiv als solche empfunden, aber subjektiv um des einen Vorzugs willen völlig übersehen. Diese Teilanziehung oder partielle Attraktion wurde von Krafft-Ebing „individueller Fetischzauber" genannt und von ihm „als Keim jeder physiologischen Liebe" erachtet. Als phy- siologischem Fetischismus steht ihr ein pathologischer gegenüber, der in krassester Form darin seinen Ausdruck findet, daß ein von seinem Träger gänzlich losgelöster Teil, beispielsweise ein abgeschnittener Haarzopf oder Schuh, geschlechtlich in hohem Grade erregend wirkt. Zwischen diesen beiden, der normalen Teilanziehung, auf der das große Gesetz der sexuellen Selek- tion beruht, und der krankhaften Partialattraktion, welche sich auf eine isolierte Eigentümlichkeit allein erstreckt, liegt das weite Gebiet leidenscbaftlicher Zuneigungen, bei denen die Sinne zwar auf einen Teil in Verbindung mit dem zu ihm gehörigen Menschen I. Kapitel : Fetischismus 3 eingestellt sind, dieser Bestandteil aber so über wertet wird, daß viel weniger der Mensch mit der bestimmten Eigenschaft, als die Eigenschaft mit der an ihr befindlichen Person begehrt wird. Bin et hat unter Zugrundelegung dieser Beobachtungen einen kleinen und großen Fetischismus unterschieden; beim kleinen steht der erotisch wirksame Teil stark im Vordergrunde so- wohl hinsichtlich der sexuellen Empfindung als der Betätigung, löscht aber den Träger nicht aus, auf den sich vielmehr allmählich die Verliebtheit überträgt. Beim großen Fetischismus bleibt eine solche Übertragung in der Regel aus, es findet eine völlige Sub- stitution statt, indem der anziehende Gegenstand, selbst wenn er ein lebloser ist, vollkommen an die Stelle einer geliebten Person tritt. Von Binet, welcher im Jahre 1887 durch seine Arbeit : „Du Fetichisme dans l'amour" in der Revue philosophique diesen sexual- pathologischen Begriff in die Wissenschaft einführte, rührt auch der Name her. Meist wird dieses Wort mit dem portugiesischen „f eitico" zusammengebracht, was eine gefeite Sache bedeutet, eine Art Zaubermittel, etwas Ähnliches wie in der religiösen Verehrung ein Amulett, ein Talisman, eine Reliquie; oder auch wie ein Götzenbild, wobei man berücksichtigen muß, daß der primitive Mensch sich diese unbelebten Gegenstände und Symbole als innerlich beseelte Wesen vorstellt. Bereits im Jahre 1769 war in Paris ein Buch mit dem Titel: „Du Gülte des dieux-fitishi" erschienen, das sich mit der Anbetung vieler sonderbarer Dinge beschäftigte, denen ein fetischistischer Charakter zuerteilt wird. Die Bezeichnung Feti- schismus hat sich durchgesetzt, während andere nicht minder zu- treffende Ausdrücke für dieselbe Erscheinung, wie sexueller Par- ti a 1 i s m u s (von „pars pro toto" = der Teil an Stelle des Ganzen) oder sexueller Idolismus - - Idol im Sinne von Götze nicht durchgedrungen sind. Ebensowenig auch der von Eulenburg vor- geschlagene Name: sexueller Symbolismus, der den Vorteil hat, mit einem Schlagwort das innerste Wesen der Erscheinung zu be- leuchten, denn wie wir sehen werden, handelt es sich bei den Feti- schen in der Tat um assoziativ entstandene Sinnbilder, konzen- trierte Symbole. Übrigens soll das portugiesische Ursprungs- wort feitico aus dem lateinischen factitius gebildet sein, das von facere — machen herstammt und soviel wie ein künstlich her- gestelltes Abbild bedeutet. Ein Philologe hat vorgesehlagen, den Fetischismus statt Symbolismus, welcher Terminus bereits ander- weitig mit Beschlag belegt ist, Metabolismus zu nennen, her- geleitet vom griech. metaballo, was eintauschen oder ersetzen heißt, ein zweifellos gut geprägtes, biegsames und klares Wort, da ja der ganze Vorgang in der Tat eine Substitution ist. Gegen die von mir in den „Naturgesetzen der Liebe" eingeführte Bildung: Teil- anziehung oder partielle -Attraktion, der als Revers nicht I. Kapitel: .Fetischismus weniger bedeutungsvoll und verhängnisvoll die Teilabstoßung oder partielle Aversion gegenübersteht, ist eingewandt worden, daß diese Worte keine Wandlungen, vor allem keine Eigenschafts- wörter zulassen. Für den Begriff der partiellen Aversion haben sich in der Literatur auch die Bezeichnungen Antif etisch is- m u s und Fe.tisc h h a ß eingebürgert. Der Fetischismus verhält sich zum Antifaschismus wie etwas Positives zu etwas Negativem, Zuneigung zu Abneigung, wie Lustbetontes zu Ünlustbetontem, Liebe zu Haß. So heftige Formen der Fetischhaß gelegentlich annimmt kann er doch selbst kri- minelle Zerstörungen im Gefolge haben — , so stellt er im Grunde meist doch nur einen verkappten Fetischismus dar, bei dem das Unlustgefühl aus dem Nichtvorhandensein der lust- betonten Sinneswahrnehmung erwächst. Um ein Beispiel zu geben, rührt die antifetischistische Aversion vieler Frauen gegen den Voll- bart des Mannes vielfach von einer fetischistischen Vorliebe für ein glattes Gesicht ber; das positive Anzeichen - - der männliche Ge- schlechtscharakter des Bartes - - entfaltet eine negative, das nega- tive - - die Bartlosigkeit ■ - eine positive Wirkung, entsprechend einem Minus von Weiblichkeit und weiblicher Reaktionsfähigkeit bei der liebenden Person. Als Ursache seelischer Impo- tenz spielt die a n t i f c t i s c h i s t i s c h e Idiosynkrasie eine nicht geringe Rolle. Ich will hier aus einer Zusammenstellung, die im „Neurologischen Centralblatt" unter dem Titel „Über Horror sexualis partialis (sexuelle Teilaversion, antifetischistische Zwangs- vorstellungen, Fetischhaß)", von mir veröffentlicht wurde, zwei Be- ob ach t u n gen anführen. Einer der Fälle betrifft einen ärztlichen Kollegen. Er ist 35 Jahre alt, verheiratet, vollkommen heterosexuell, stark libidinös. Seine Abneigung bezieht sich auf die weib- lichen Brüste.- Sie ist so stark, daß Ausdrücke wie „Busen", „Brust", „Mammae" u. ä. ihm großes Unbehagen bereiten. Es koste ihn eine große Überwindung, das Wort „Brust" auszusprechen; er suche es nach Möglichkeit zu vermeiden. Diese Wortaver- sion ist übrigens für Antifetischisten eine ebenso verbreitete wie bezeichnende Eigen- tümlichkeit; sie entspricht .dem Wortzauber bei der fetischistischen Einstellung. Seine Frau, berichtet der Kollege weiter, singe häufig die schöne Komposition des Heine- schen Gedichtes: „Wenn ich «in Deine Augen seh." Vor der Stelle dieses Liedes: „Wenn ich mich lehn' an Deine Brust, kommt's über mich wie Himmelslust" spüre er uin Bangen und Zittern; er schäme sich in die Seele seiner Frau, die übrigens seine Aver- sion nicht kenne, und atme erleichtert auf, wenn der ominöse Passus vorüber ist. Die Vorstellung eines aus der Milchdrüse herausfließenden Milchtropfens, nicht nur der Anblick, sondern auch der Gedanke daran, verursache ihm Brechreiz. Der Anblick einer dekol- letierten Dame, einer stillenden Mutter, einer starkbusigen Frau, Bilder wie die Tiziansche Venus erregten ihm Übelkeit. Auslagen von Korsettgeschäften er- schienen i Ii in ,i 1 s Gipfel der Indezenz. In seinem Beruf als Arzt habe !) „Neurologisches Centralblatt", Übersicht der Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie, Physiologie, Pathologie und Therapie des Nervensystems einschließlich der Geisteskrankheiten. 1911, Nr. 10. Red.: Dr. Kurt Mendel. Leipzig. f. Kapitel: Fetischismus 5 ihm diese unüberwindliche Aversion wiederholt Schwierigkeiten bereitet. So könne er Perkussion und Auskultation weiblicher Brustorgane nur vom Rücken aus vornehmen: eine Frau, die ihn wegen eines karzinomatüsen Knötchens in der Mamtna konsultierte, vermochte er nicht zu palpicren („Berührungsfurchf); er überwies sie ununter- sucht einem Spezialarzt. Um des Anblicks des ihm verhaßten Körperteils in der Praxis weniger teilhaftig zu werden, wurde er Kinderarzt. Eine Erklärung für seine ihm unerklärliche und peinliche Antipathie weiß er nicht anzugeben. Daß sie durch eine Gelegenheitsursache, einen ,.choc fortuit", entstanden sein könne, hält er für ausgeschlossen; er habe sich eingehend daraufhin geprüft, aber nichts zu entdecken ver- mocht, worauf seine Antipathie zurückzuführen wäre." Ein analoger Fall von Fetischhaß bei einem Weibe ist fol- gender: Eine den besseren Ständen angehörige Dame, etwa 40 Jahre alt, erklärte ihrem Gatten, sie müsse sich von ihm scheiden lassen, wenn er sein Vorhaben, sich einen Voll- bart wachsen zu lassen, ausführen würde. Die Patientin ist ausschließlich heterosexuell, fühlt sich zu Männern, die ihrem Geschmack entsprechen, stark hingezogen, liebt seit mehreren Jahren einen Mann sehr, hat dagegen, solange sie zurückdenken kann, einen förmlichen Haß gegen Vollhärte. „Schon als ganz junges Ding", schreibt sie, ..habe ich mich dagegen empört, wenn ich Zeitungsanzeigen las, in denen vom Bart als .höherer Zierde' oder ,Stolz eines Mannes1 die Rede war, oder wenn Bartwuchsmittel an- gepriesen wurden. Ich kann nicht ausdrücken, wie greulich mir so ein wallender oder auch gestutzter dunkler oder heller Vollbart ist. Ich gebe ja zu," — fährt sie in bezeich- nender Ironie fort — , „daß häufiges Waschen von Kragen und Chemisettes damit gespart, selbst minderwertige Schlipse darunter aufgetragen werden können; das kann doch aber für den Geschmack nicht maßgebend sein. Nie und nimmer könnte ich für einen Voll- bartträger in Liebe entbrennen. Ist nicht das Genie, wenn auch oft mit starkem Haar- wuchs, doch meist glatt rasiert? Cäsar, Napoleon, Luther, die Humboldts, Goethe und Schiller, Moltke und Mommsen und noch viele andere Geistesheroen trugen keinen Voll- bart. Hat man ihn den katholischen Geistlichen nicht ganz untersagt, damit sie ein ge- wisses seelisches Übergewicht besser zum Ausdruck bringen können? Ich meine — und dies soll wahrhaftig nicht frivol klingen — ■ selbst ein Christuskopf am Kreuz müsse er- greifender und rührender erscheinen, wenn die weh und schmerzlich verzogenen Lippen nicht ein Vollbart bedeckte. Für michist der Vollbart ein Abzeichen von Brutalität und Gewaltmenschentum; ich liebe nur die feine, stolze Männlichkeit, deshalb ist mir ein Vollbart im allerhöchsten Grade ekelhaft." Man beachte den gedanklichen Objektivierungsdrang rein sub- jektiver Empfindungen, ferner, daß sich in beiden Fällen bei völlig heterosexuellen Personen der Fetischhaß auf sekundäre Geschlechts- charaktere wie die Brüste des Weibes und den Bart des Mannes er- streckt, die im allgemeinen als besonders typische und anziehende Geschlechtszeichen angesehen werden. Dies läßt weitgehende Schlüsse auf die psychosexuelle Eigenindividualität der antifetischistisch reagierenden Persönlichkeiten zu, und zwar nach der Richtung, daß sie selber keine Volltypen ihres Geschlechtes sind. Die Zahl der Fetische ist unbegrenzt groß. Von Kopf bis Fuß gibt es kein Fleckchen am Körper, und von der Kopfbedeckung bis zur Fußbekleidung kein Fältchen am Gewand, von dem nicht eine fetischistische Reizwirkung ausgehen könnte. Da es sich hierbei oft um ganz außerordentlich kleine Besonderheiten handelt, etwa eine bestimmte Art des Lächelns oder eine eigentümliche Haltung, so 6 I. Kapitel: Fetischismus verbirgt sich sowohl das, was anzieht, als das, was abstößt, nicht selten in der Tiefe des Unbewußten, oder wird als rein ästhe- tische Geschmacksrichtung aufgefaßt. Die ersten Zweifel, ob der Empfindung des Schönen nicht doch eine erotische Unterströmung beigemischt ist, pflegen in der Keife zeit aufzutauchen, wenn sich zu dem Lustgefühl das Schamgefühl gesellt. Instinktiv fängt der junge Mann oder das junge Mädchen dann an, sich des Wohl- gefallens zu schämen, das der Anblick des schönen Fußes oder Schuhes in ihnen auslöst, sie erröten bei ihrer Erwähnung und unterdrücken Äußerungen darüber, weil sie von ihnen als peinlich empfunden werden. Dabei ist es sehr beachtenswert und differentialdiagnostisch von entscheidender Bedeutung, ob jemand einen Gegenstand am eigenen oder fremden Körper begehrt. Der wirkliche Fetischist interessiert sich lediglich für den Teil oder die Sache an einer an- deren Person, oder für das Ding an sich. Er selbst trägt meist sogar das Gegenteil von dem, was ihn bei einem zweiten Menschen fetischistisch fesselt; liebt er Frauen mit kurzgeschnittenen Haaren, so hat er die Neigung, sich die seinigen lang wachsen zu lassen; ist er auf Lack-, Schnür- oder Knopfschuhe eingestellt, so findet man ihn selbst vielfach in plumpen Zug-, Schnallen- oder Rohrstiefeln. Wohl kommt es vor, daß jemand ein fetischistisches Kleidungsstück anlegt, um es in möglichste Nähe mit sich zu bringen, aber meist nur vorübergehend, sehr selten auf die Dauer. Erstreckt sich hin- gegen seine Leidenschaft darauf, Samt und Seide, Perlen und Dia- manten oder gar Frauenkleider am eigenen Leibe zu haben, so sind dies Begehrungsvorstellungen, d früher geschilderte Gebiet des Narzißmus, Transvestismus oder Zisvestitismus fallen; sexuel- ler Autismus und Altruismus verhalten sieh zueinander wie Eitel- keit zu Neugiei'. Freilich werden oft auch Fetische angelegt, um Fetischisten anzulocken; namentlich die Prostitution bedient sich seit alters bewußt und unbewußt solcher Reizmittel („Reizstrümpfe", „Lockstiefel", „Lockpelze" u. a.) in großem Umfange. , Es gibt allerdings auch Fälle, in denen die Differentialdiagnose zwischen Automonosexualismus und Fetischismus sehr schwer zu ziehen ist ; in dem Bestreben, den geliebten Gegenstand in möglichst engen Kontakt mit dem eigenen Körper zu bringen, wird er für längere oder kürzere Zeit angelegt, jedoch nicht wie bei Trans- und Zisvestiten als Projektion des eigenen Persönlichkeitswesens, sondern als äußerlich erregendes Sexualobjekt. Ich gebe ein Beispiel, in dem die Lust, den Fetisch an anderen zu sehen, zu be- sitzen und selbst zu tragen, unmittelbar ineinander übergeht. Die Zuschriften unseres Gewährsmannes sind auch deshalb beachtens- wert, weil sie uns einen Einblick in den einseitigen Gedankengang mancher Fetischisten gewählten, die nur für Fragen Interesse haben, I. Kapitel: Fetischismus 7 die mit ihrem Fetisch in loserer oder festerer Verbindung stehen. Der Fetisch ist bei diesen Leuten förmlich der Kern, um den sich das ganze übrige Leben in konzentrischen Kreisen herumlagert. K., der, wie seine Ausdrucksweise zeigt, aus unverbildeten Volks- schichten stammt, schreibt: „Ich möchte Sie um Auskunft bitten, ob es für mich unnatürlich wäre, wenn ich mir Damenstiefel erwerben würde, mit ganz hohem Schaft, wie sie jetzt gerade Mode, um, wenn es mir ganz kritisch ist, sie auf eine halbe oder viertel Stunde anziehen zu können. Wenn ich die Stiefel stets nur im Geiste, in der Phantasie vor mir habe, glaube ich, schadet letzteres weit mehr als in natura; zudem wenn ich sagen kann, ich habe die allerelegan- testen selbst zu Hause, lassen mich vielleicht die der Trägerinnen kalt, die ich immer auf der Straße ansehen muß, freilich nur die, welche elegante, hochglänzend gekremte Chevreauxstiefel mit ganz hohem Schaft und hohen Absätzen tragen. Durcli die jetzigen hohen Modestiefel ist die Geilheit in mir über alle Maßen erwacht, deshalb muß ich etwas anziehen, damit ich befreit werde. Sonst kriege ich bösartige Kopf- schmerzen, wenn ich aber Damenstiefel anhabe, fühle ich mich königlich und zufrieden." In einem anderen Briefe heißt es: „Ich leide seit meiner Jugend an krankhafter Voreingenommenheit für Damenlackschuhe und Damenstiefel mit ganz hohen Absätzen. Das Gefühl der Unnatürlichkeit hielt mich stets davon ab, meinem Triebe nachzugehen, nun verdichtet es sich aber infolge der ausgeprägten Entwicklung der Damenschuhmode, mit Einsatz, Schnür- und Knopfstiefel und Spangenschuhen in allen erdenklichen zier- lichen Ausführungen; ich bekam es durch den Anblick. Auf dem Jahrmarkt war ein Variete Schicht! und vor Beginn der Vorstellungen kamen immer hübsche junge Damen in Ballkostümen heraus auf die Rampe zum Vorstellen vor dem Publikum, und diese Mäd- chen trugen Lackballschuhe; eines von diesen Mädchen mußte auf einen Stuhl steigen. Neben ihr stand ein hoher eiserner Ständer; ich war 12 Jahr alt, als ich das1 alles sah. Der Direktor Schichtl nahm ein FläschT und hielt es dem jungen Mädchen unter die Nase, worauf das Mädchen die Augen zu machte. Dann machte der Direktor das Mädchen an dem Ständer an und auf einmal war das Mädchen in dem Ständer an den Hüften ein- geklemmt und das Mädchen war wagerecht ausgestreckt auf dem Ständer. Das Haar hing offen herunter und die schönen Ballschuhe mit den hohen Absätzen verursachten einen solchen Vorgang in meinem Kopfe, daß icli gar nicht wußte, was mit mir war; als ich heim kam, zog ich mir gleich dieselben Schuhe meiner Schwester an. Jahre gingen so fort, ohne zu wissen, was das ist, bis ich in der Zeitung von einem las, der einem Mädchen den Zopf abschnitt. Durch anschließende redaktionelle Bemer- kung kam ich darauf, daß ich auch Fetischist bin. Ich habe keine Ruhe mehr. Ich möchte gerne Damenstiefel mit extra hohem Schaft und hohe Absätze Nr. 42 kaufen zum Tragen. Aber stets im letzten Moment reut mich das Geld zur Einsendung, da extra angefertigt werden muß und handelt es sich um 35 Mark, für die die Firma Tack & Co. sie liefert. Wenn ich 'bloß eine Quelle wüßte, wo ich solche gebraucht oder fast neu billiger bekommen könnte. Ich finde, daß es mir im Kopf mehr schadet, wenn ich, die Stiefel immer nur im Geiste von mir haben muß, anstatt sie in Wirklichkeit auf eine 1 /4 oder eine 1 L Stunde tragen zu können, worauf ich einen bis drei Mo- nate wieder Ruhe hätte. Bin für ganz hochabsätzige Damensticfel mit ganz hohem Schaft und für Spangenschuhe, resp.* Bühnenschuhe." Es bildet nun aber niemals ein Teil ganz im allgemeinen die Sehnsucht des Fetischisten, sondern nur dann, wenn er von ganz bestimmter Beschaffenheit ist, wird er so stürmisch verlangt. Die Sinnesorgane wenden sich zwar zu- nächst spontan im allgemeinen nach den betreffenden Teilen (aus der Blickrichtung eines Menschen kann ein Kenner in dieser Hinsieht gewichtige Schlüsse ziehen, die Sinne bleiben an einem Teil aber n u r d ann lusterfüllt haften, wenn dieser Teil spezielle Eigenschaften besitzt. Es wird also niemals jemand, der schöne Augen liebt, durch jedes Auge gefesselt, sondern nur durch die, auf welche er subjektiv lustbetont reagiert: Augen von besonderer Art, Form, Farbe und Umrahmung, etwa solche mit langen Wim- pern. Wie das Sehorgan nur Gesichtseindrücke von eigener Artung wünscht, so sucht auch das Ohr bestimmte Tonhöhen und Klang- farben, und auch das Geruchs- und Gefühlsorgan nicht alle, sondern nur gewisse Gerüche und Tastempfindungen. So wird der Sexualpart i a 1 i s-m n s zu einem S e x u al p a r t i a 1 s p e z i a - lismus, der eine ganz außerordentlich große Differenzierung be- dingt. Dieser erotische Schönheitsbegriff ist ein absolut persönlich gefärbter, wie es ja überhaupt fraglich ist, ob es eine objektive Schönheit gibt, so sehr sich auch Ästhetiker bemüht haben, be- stimmte Harmoniegesetze für Formen, Farben und Töne aufzu- stellen. Mögen solche Kegeln in der Ästhetik vielleicht objektive Gültigkeit haben, in der Erotik versagen absolute Schönheitsgesetze völlig, so daß der generalisierende Ausspruch: „die Liebe macht blind" von einer völligen Unkenntnis sexualpsychologischer Ele- inentargesetze zeugt. Fast ausnahmslos ist die gesuchte spezielle Formation der Eigenschaften eine solche, daß sie in ihrer Besonderheit und Verbindung nur dem einen oder dem anderen Geschlecht zukommen und innerhalb dieses Geschlechts nur einem kleinen Bruchteil, oft nur ganz wenigen Einzelwesen angehört. .Es ist klar, daß diese Personen untereinander sehr unähnlich sein können, wenn nur die anziehenden Erfordernisse, etwa ein bestimmter Gesichts- ausdruck oder eine gewisse Bewegungsart, vorhanden sind. Da diese Personen im übrigen blond oder dunkel, groß oder klein, stark oder schwach, kurzum verschieden geartet sein können, so glauben die Liebenden oft selbst, daß sie sich zu ganz verschiedenen Menschen hingezogen fühlen, wie dies ja auch die attraktiv wirkenden Per- sonen tatsächlich sind; nur besitzen sie alle ein „gewisses Etwas", und dieses, das Gemeinsame und Typische, ist eben das Anziehende. Das Detail der Partialreize ist ungemein minimin und mannig- fach, wie leicht zu erkennen ist, wenn man von einer größeren Reihe befragter Personen die Wünsche zusammenstellt, die von den ein- zelnen bezüglich eines sie anziehenden Körperteils geäußert werden. So erstreck! sich, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die so ver- breitete Anziehung der Haare nicht etwa nur auf die Farbe und fülle des Haupt- oder Körperhaares, auf seinen Geruch, seine Weichheit oder Härte, sondern vor allem auch auf die Haar- I. Kapitel: Fetischismus 9 t rächt. Der eine liebt nur offenes, der andere zum Zopf gefloch- tenes, der dritte gescheiteltes Haar. Ich gebe das Beispiel eines Haarfetisehisten. Patient, der über 10 Jahre in meiner Beobachtung stellt, ist höherer Regierungs- beamter, 50 Jahre alt; aus seinen Berichten gebt folgendes hervor: Als Patient 7 Jahre alt war, kam eines Abends, als die Kinder schon im Bette lagen, ihr junges Dienstmädchen zu ihnen und umarmte sie, da sie wegging. Dieser Moment steht Pat. noch deutlich vor Augen, wie er ihr damals ins Haar gegriffen hat. Mit Eintritt der Pubertät kommt der Zusammenhang der sexu- ellen Erregung beim Anblick oder Berühren eines schönen Scheitels zum Vorschein. Es beschränkt sich die Auslösung der Erregung von da ab aber nur auf das Haar bei Männern, Frauenhaar flößt ihm absolut keine Beach- tung mehr ein, und auch bei Männern nur das glatte, braunschwarze Haar mit einem Scheitel, der durchgezogen sein muß. Zwar be- achtet Pat. auch den vorderen Anfang des Scheitels, doth ist die Lage nicht so sehr von Bedeutung, ein zu weites Sitzen nach der Seite wird nicht als schön empfunden. Pat. bevorzugt junge schüchterne Leute, sie müssen sich aber recht natürlich geben; beson- deren Genuß und Auslösung seiner sexuellen Erregungszustände findet er beim Fri- sieren. Er nimmt dies folgendermaßen vor: Er steht hinter dem Betreffenden, feuchtet das Haar an mit Ol und Pomade, die er eUenso wie Kämme stets in der Tasche trägt, und zieht dann einen Scheitel. Beim Durchziehen des Scheitels über den Wirbel tritt Ejakulation ein, doch auch schon das Streichen des glatten Haares mit den Händen, das „Glätten" löst bei ihm diesen Moment aus, zumal wenn er die Rückseite des Betreffenden mit seinem Körper bei Annäherung an den Scheitel leicht berührt. Er entblößt dabei nicht seine Geschlechtsteile, doch meint er, daß: dieses ihm größeren Genuß bereiten würde, aber aus Schamgefühl unterbleibt es. Er selbst trägt auch einen durchgezogenen Scheitel und frisiert sich sehr oft. Doch bringt es ihm viel größeren Genuß, wenn er einen anderen frisieren kann. Allein der Anblick eines Scheitels läßt ihn dem betreffenden Träger hinterherlaufen und ihn ansprechen; wenn er als junger Offizier zu einem Mädchen ging, um zu koitieren, zog er sich selbst einen sehr gutsitzenden Scheitel; im entscheidenden Moment- stellte er sich einen schönen Scheitel vor. als höchstes Symbol seiner sexuellen Empfindung. Das Abschneiden von Haaren zur Erinnerung oder aus Zwang ist Pat. nicht verständlich, doch könne er sich wohl vorstellen, ..daß er von einem sehr lieben Freund, der auf dem Sterbebette läge und ihm endgültig verloren ginge, eine Locke zum Andenken mitnehmen würde". Seine Hauptideenassoziation läuft über den Anblick eines schönen Scheitels zurück zur Erinnerung an die schönsten Stunden, in denen er jungen Leuten einen Scheitel ziehen durfte, ,.als Ausdruck seiner höchsten Gefühls- und Gedankenwelt, in der er sich wie in einem geschlossenen Bing bewegt, dessen Zentrum ein schön durchgezogener, festanlie- gender, braunschwarzer Scheitel bildet, der Brennpunkt in einem Weltsystem, in dem nur wenig Licht in weiter Finsternis das Leben verrät.'" Pat., der durch sein seltsames Ge- baren verschiedentlich auffällig geworden, führt in den Lokalen, in denen' er sich mit Vorliebe aufhält, den Beinamen der „Frisierer". Diese Lokale entsprechen übrigens in keiner Weise seiner aristokratischen Abstammung, sondern dem volkstümlichen Milieu, in dem er sich am wohlsten fühlt. Aus dem Gesagten erhellt, daß die Grenze zwischen gesun- dem und krankhaftem Fetischismus und ebenso auch zwischen dem „petit" und „grand fetichisme" keineswegs leicht zu ziehen ist. Die Haarlocke des geliebten Mädchens im Medaillon ihres Liebhabers ist gewiß ein sehr verbreiteter Fetisch, in dessen Auf- bewahrung schwerlich .jemand etwas Krankhaftes erblicken dürfte; 10 I. Kapitel : Fetischismus neimt aber ein Mann 'mehrere hundert Haarbüschel sein eigen, — ein Fall, den ich wiederholt, so erst vor kurzem in meiner forensischen Praxis erlebte — , jedes mit einem bunten Seidenbändchen und dem Namen der einstigen Besitzerin versehen, aus deren pubes die Haare stammen, so wird man ebensowenig Bedenken tragen, in diesem Sammeltrieb den Ausdruck eines pathologischen Fetischismus zu erblicken. Daß der Fetischismus mit einem objektiven Schönheitssinn, falls es solchen überhaupt gibt, wenig gemein hat, lehren die zahlreichen Beispiele, in denen sich Fetischisten für verbildete, verkrüppelte und verstümmelte Körperteile leidenschaftlich erwärmen, einer Neigung, der auf dem Gebiet des Kleidungsfetischismus eine Vorliebe für zer- lumpte Gewänder und zerrissene Schuhe entspricht. Ein Seiten- stück zu der Liebhaberei* des Philosophen Cartesius für schielende Frauen erlebte ich in meiner Praxis, die schwärmerische Vorliebe eines Patienten für die Glotzaugen an Morbus Basedowii leidender Frauen. Auch auf lahme und bucklige Mädchen sind manche Männer „scharf", und ebenso gelegentlich Weiber auf hinkende und verwachsene Männer, ganz besonders auch auf solche, die im Krieg ein Glied verloren haben. Folgender Fall von Krückenfeti- schismus wurde von Dr. A. Kronfeld und mir beobachtet: Dr. S., Schriftsteller, holländischer Abstammung, 30 Jahre alt, wird von seiner Gattin zur Konsultation veranlaßt. Er mute ihr beim ehelichen Verkehr zu, an Krücken zu gehen, die Krücke mit ins Bett zu nehmen; er gehe auch selber dabei an Krücken. Pat. gibt an, seine ersten sexuellen Regungen seien damit verknüpft gewesen, daß er als Sjühriges Kind einem Knaben zuschaute, der an Krücken ging. Seitdem übe der An- blick von Krücken einen faszinierenden geschlechtlichen Reiz auf ihn aus. Das Weib als solches sei lange Jahre hindurch für ihn als Geschlechts- wesen gar nicht in Frage gekommen. Seit der. Pubertät habe er in der Vorstellung an Krücken geschwelgt, habe sich auch mehrfach welche gekauft, immer aber nach einiger Zeit sie aus Scham und Ekel fortgeworfen oder verbrannt. Es habe aber nicht lange ge- dauert, so habe er sich neue gekauft. Besonderen Lustgewinn habe er empfunden, wenn er an solchen Krücken des Abends heimlich ausgegangen sei. Es sei aber nicht der Ge- danke gewesen, von Vorübergehenden bemitleidet zu werden, sondern die Krücken selber mit den weichen Achselpolstern hätten ihn erregt.) Er habe bis zur Ehe keusch gelebt. Seine jetzige Frau sei seine erste Liebe. Sie sei 16 Jahre älter als er und habe ihn, abgesehen von ihrem geistigen Wesen, dadurch gefesselt, daß sie immer so reiches Pelzwerk trage, welches ebenfalls einen starken erotisierenden Reiz ausübe. Sie habe ihm anfangs volles Verständnis entgegengebracht. Besonders glücklich sei er in der Ehe gewesen, wenn seine Frau ihn unter die Schultern faßte, um ihn zu stützen, da. er sehr schwächlich sei, oder wenn er seine Frau in der gleichen Weise beim Treppensteigen unterstützte. Neuerdings aber fühle die Frau sich hinter den Krücken des Mannes in ihrem erotischen Wert zurückgesetzt; ein Einwand, der in ähnlicher Weise nicht selten von Frauen in Hinblick auf Fetische ihrer Männer er- hoben wird. Der etwas gebückt gehende, lang aufgeschossene, aber schwächliche Mann bietet am Nervensystem keine besonderen Befunde. Psychisch ist er ein weicher, sensitiver, leicht verletzlicher Charakter, von feinem poetischen Empfinden und großer Beeindruckbarkeit. Eine Suggestivbehandlung erzielte einen vorübergehenden erheblichen Erfolg. I. Kapitel: Fetischismus 11 Wir wollen den seltsamen Krückenfetischisten, der keineswegs der einzige seiner Art ist, den ich beobachtete, noch selbst zu Worte kommen lassen- er schreibt- Ich bin am 15. Mai 1890 geboren. Meiu Vater war zur Zeit meiner Geburt etwa 46 Jahre, meine Mutter 33 Jahre alt, beide meines Wissens durchaus normal Als ich §i/2 Jahre alt war, verzog mein Vater mit uns nach R. Dort sah ich tätlich vor un- seren Fenstern^ auf der Straße einen Jungen von etwa 12 Jahren spielen" der infolge seines verkrüppelten rechten Beines an einer Krücke ging. Ich konnte meine°n Blick nicht von ihm, wen den, sondern empfand schon damals einen mir natürlich m diesem Alter nicht erklärlichen Beiz, den Jungen zu beobachten Weiter entsinne ich mich aus der R . . . ener Zeit, auf Spaziergängen mit meiner Mutter öfters einen gutgekleideten Herrn gesehen zu haben, der an Krücken ging, aber wie ich mich noch entsinne, offenbar ebenso „markierte", wie ich dies später tat. Nach dem Tode meines Vaters zog meine Mutter nach Berlin. Damals, in meinem 11. Lebensjahre, begannen meine ersten „Gehversuche" an Krücken. Genau vermag ich es allerdings nicht anzugeben, es kann auch später mit etwa 15 Jahren gewesen sein. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher. Jedenfalls besinne icn mich erst von dieser Zeit ab — ich hatte mit 14i/2 Jahren einen sehr schweren Fall von Gehirnhautentzündung und Genickstarre durchgemacht — auf aktive anomale Empfindungen. Seit dieser Zeit habe ich — in großen Zwischenräumen — mir anfangs selbst Krücken aus Besen- stielen und dergleichen hergestellt, und bin heimlich im Zimmer daran gegangen. Später habe ich als Student, zuerst in Kiel, dann noch weitere dreimal. Krücken gekauft, und bin nunmehr, gewöhnlich spät in der Nacht, längere Zeit daran in den Straßen spazieren ge- gangen. Eine Ausnahme bildet die Zeit, bevor ich meine jetzige Frau kennen lernte Ich habe meine Scheu vor der Öffentlichkeit damals — Winter 1917 — soweit überwunden ge- habt, daß ich während meiner Referendarzeit in L., mit Ausnahme, der wenigen Schritte tsum Gericht, etwa 14 Tage lang auch am Tage an Krücken ging. Ich bin bis zu meinem 26. Lebensjahre nicht bei der Frau gewesen. Eine auch noch - so geringe homosexuelle Empfindung habe ich nie verspürt. Dagegen hatte ich vor dem normalen Verkehr stets eine große Scheu. Teils hinderte mich meine anerzogene Schüchternheit, teils Furcht vor Ansteckung, teils sehr knapp bemessenes Taschengeld, mir auf der Straße eine „Gefährtin" zu suchen. Also, ich onanierte. Gewöhnlich einmal, selten zweimal jede Nacht. Als Anreiz stellte ich mir schöne Frauen vor, in große Pelze gehüllt, an Krücken gehend! Ich habe mir in den drei Monaten meiner Verlobung, — ich wohnte bereits bei meiner Braut, verkehrte aber nicht mit ihr, mit eiserner Energie die Onanie völlig abge- wöhnt. Der Hang zur Onanie ist erloschen! Oder wenigstens, mein Wille ist "stärker als jener Trieb. Dagegen kann ich es nicht verhindern, daß beim Anblick normal ge- bauter und gut gekleideter Menschen, besonders Damen, die an Krücken gehen, mein 'Glied sich steift. Beim Anblick von Bettlern oder Amputierten habe ich diese Emp- findungen in keiner Weise! Ebenso wird mein Organ erregt, wenn ich Pelzwerk fühle. Aber dieser Zustand tritt eigentlicli nur dann ein, wenn ich meine Frau in ihren Pelz hülle, oder ihr zum Nachmittagsschlaf eine Pelzdecke überbreite, und endlich, wenn ich bei meinem eigenen Pelz den Kragen hochschlage. Überhaupt haben beide anormalen Empfindungen sich seit der Zeit meiner Ehe — ich habe im März dieses Jahres geheiratet — völlig auf meine Frau beschränkt, die ich über alles liebe und die ich mir in schweren Kämpfen errungen habe. Pelze und Krücken! Meine Frau ist 18*/, Jahre älter als ich! Aber, wir haben beide uns geprüft, wir haben uns zweimal im Zorn völlig getrennt gehabt, wir sind ein drittes Mal zuein- ander getrieben, und sind glücklich! Nur eines, und daher meine Beichte. Nicht der Reiz geschlechtlicher Empfindung ist es, der mich persönlich manchmal danach schreien läßt, wieder einmal an Krücken gehen zu können. Es ist ein Gefühl körperlicher Müdigkeit, das ich z. B. empfinde, wenn ich lange in der Straßenbahn stehen muß, wenn ich als Redakteur weite Wege zu Fuß gehen muß usw. Es ist ein Wunsch in meinem Gehirn, der stärker ist als ich, der mich bis zur nervösen Überreiztheit quält. Dazu kommt ein anderes Moment. Meine Frau hat mir einmal erzählt, daß sie selbst, infolge eines rheu- 12 matischen Leidens, mehrere Monate in Aachen an zwei Krücken gegangen ist. Und rinn, da sie von Natur sehr blutarm und schwächlich, ist, muß ich immer an jene Zeit denken, und wünsche mir so heiß, daß sie einmal mir den Willen erfüllt und vor mir an Krücken und in ihren Pelz gehüllt, erscheint, mit mir so spazieren geht! Zum Schluß noch eins. Ich bin sexuell nicht so stark, wie ich es als normaler Mensch sein müßte, und soviel ich selbst und auch, meine Frau beurteilen können, sind meine Hoden auch tatsächlich etwas verkümmert. Mehr als einmal, höchstens zweimal kann ich im Zwischenraum von etwa einer Stunde einen Koitus nicht ausfuhren. Oft passiert es mir auch, daß ich lange Zeit brauche, bis der erste Erguß erfolgt. Besonders ist dies der Fall, wenn ich am Tage angestrengt geistig gearbeitet habe. Um mir dann behilflieh zu sein, greift meine Frau mir dann, wörtlich genommen u n te r die Arme" oder erzählt von ihrer Zeit, da sie an Krücken ging. L'nd das hilft fast immer. Doch meine Frau kann sich trotz aller Liebe in meine Gedanken und Wünsche nicht so o-anz hineindenken. Vor allem ist sie unglücklich, wenn bei Gesprächen über Pelze oder auch Krücken mein Gin «1 sich erregt. Sie, die geschlechtlich trotz des Altersunterschiedes die stärkere von uns beiden ist, glaubt, daß ich ihr durch solche Gedanken wider meinen Willen einen Teil meiner Liebe entziehe. Und das ist nicht wahr. Aber, meine Frau ist nahe an 44 Jahren. Ich bin ja zum Glück — sonst hatte nach der Altersunterschied abgehalten — geschlechtlich nicht so stark, um nicht auch schon in 10 Jahren oder noch früher geschlechtlich sehr enthaltsam leben zu können. Und -laube ja, daß später meine Frau selbst, wenn bei ihr die geschlechtliche Regung M-hwärlMT zu werden beginnt, eher sich zu Hilfsmitteln, wie Krücken verstehen wurde. Doch darauf kommt es mir jetzt nicht an. Gerade die Jahre, da wir beide jung sind, sollen doch ein Glücksrausch sein! Ohne Schatten, in gegenseitigem Allesverstehen, und — und das allein ist mein Sehnen, — Alleserfüllen, wonach die Seele schreit Einen langen weichen Sealpelz hat sich meine Frau gekauft, mir zuliebe Doch mein Sehnen nach den Krücken?! Ich kann es ihr von allein nicht antun, selbst an Krücken zu gehen, und sie selbst — vermag es noch nicht über sich zu bringen, die Zeit von Aachen wieder erstehen zu lassen. Diese letzten beiden Sätze enthalten mein ganzes, trauriges Los. Man brachte auch hier wieder den Übergang von der au tis ti- schen zur fetischistischen Einstellung. Ferner ist in diesem Fall höchst bemerkenswert das sich aus dem Gefallen und Verlangen nach Krücken ergebende Schwächegefühl. Ähnliches sieht man öfter. So glauben Klältefetischisten an Hitzegefühl zu leiden und leiden auch tatsächlich daran, Druckf etischisten flüch- ten in Neuralgien, die durch Treten und Pressen ver- schwinden. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob das Organgefühl primär der fetischistischen Neigung zugrunde liegt, oder um- gekehrt, ob der Fetisch das primäre Bedürfnis ist, zu dessen Be- friedigung und Erklärung Unlustempfindungen entstehen, die nur der Fetisch zu beseitigen vermag. Daß auch von Männern mit amputierten Beinen und Armen ein fetischistischer Zauber aus- gehen kann, wußte man bereits vor dem Weltkriege durch Fälle,, die Lydston und Kr äfft -Ebing beschrieben haben. Einen von mir beobachteten Hermaphroditenf etischisten erwähnt Bloch in seinem „Sexualleben". Dieser Mann, ein Bittmeister, war ganz von der Zwangsvorstellung erfüllt, Zwitter ausfindig zu machen, mit denen er in geschlechtliche Beziehungen treten konnte. Ich kenne auch Fälle, in denen sieb Männer beson- I. Kapitel: Fetischismus 13 ders zu Frauen mit Sprachfehlern (wie „Lispeln") hingezogen füh- len, und auch eine Frau, die Stotterer allen anderen vorzog, befindet sich in meiner Kasuistik. Sogar ausgesprochene Krankheiten, wie Bleichsucht, Gelbsucht, Schwindsucht bilden fetischistische Ziele, ja, was vielleicht das merkwürdigste ist, nicht einmal Geschlechts- krankheiten erscheinen ausgeschlossen. Eine vornehme Dame, die sich an mich wandte, wurde durch Warzen, Sehwielen und vor allem Hühneraugen sexuell erregt. Fetischisten für Holzbeine, Liebhaber für Frauen mit starker Bartentwicklung sind beobachtet worden. Einen merkwürdigen Fall sah ich vor einiger Zeit: einen Mann, der eine leidenschaftliche Neigung für schwangere Frauen hatte. Er suchte auf der Straße nach Frauen, die guter Hoffnung waren, und ging ihnen oft lange Strecken nach. Je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten war, um so heftiger regte sich sein Geschlechtstrieb. Es scheint, als ob bei allen Anziehungen durch Ano- malien und Defekte, für die noch sehr viel mehr Beispiele beigebracht werden können, das Mitleid ein nicht zu unterschätzen- des Motiv der Zuneigung ist. Ganz charakteristisch sehreibt eine Patientin: „Vor vier Jah- ren lernte ich meinen Mann B. kennen; Schweizer von Geburt; furchtbar häßlich, wie seine Schwester; beide seit langen Jahren verwaist. Ich lernte ihn auf einer Gesellschaft kennen. Ich hatte gleich Zuneigung zu ihm, weil er häßlich war; ich habe häßliche Leute immer gerne, weil sie meistens von den Menschen schief angesehen werden, besonders wenn sie Gebrechen haben, doch habe ich immer in häßlichen Menschen gute, goldene Herzen gefunden. Sogenannte schöne Männer sind mir dagegen direkt zuwider." Es gibt Männer und Frauen, die von nichts erotisch mehr ein- genommen sind, als von der Hilflosigkeit des anderen. Sowohl aus der Beherrschung als ans der Bedienung solcher Wesen ziehen "sie Lustgewinn. Die Mehrzahl der Ehen, die wegen der Stärke gesell- schaftlicher, körperlicher und sonstiger Gegensätze Dritten unbe- greiflich erscheinen, erklären sich aus fetischistischer Beizwirkung. Worin aber findet diese selbst ihre Erklär u n g ? Binet hat 1887 in der Revue philosophique (Paris Nr. 8) die These aufgestellt, daß hier ein „choc fortuit" ein psychisches Trauma wirksam sei, und fast alle Autoren dieses Gebietes haben seither mit verhältnismäßig geringen Modifikationen ähnliche Anschauungen vertreten, so Ziehen2), der von „determinierenden" Erlebnissen spricht und auch die Freudsche Schule, die den „akzidentellen Faktoren" und „infan- tilen Eindrücken" ein sehr großes, nach unserer Überzeugung allzu großes Gewicht beilegt. Freud selbst hat sich allerdings wie- 2) Charite-Annalen 1910, S. 242 ff . 14 I. Kapitel: Fetischismus derkolt gegen den mißverständlichen Vorwurf gewandt, als hätte er die Bedeutung der angeborenen konstitutionellen Momente ge- leugnet, weil er die der infantilen Eindrücke hervorgehoben habe; er schreibt: „Ein solcher Vorwurf stammt aus der Enge des Kausal- bedürfnisses der Menschen, welches sich im Gegensatz der gewöhn- lichen Gestaltung der Realität mit einem einzigen verursachenden Moment zufrieden geben will. Die Psychoanalyse hat über die akzidentellen Faktoren der Ätiologie viel, über die konstitutionellen wenig geäußert, aber nur darum, weil sie zu den ersteren etwas Neues beibringen konnte, über die letzteren hingegen zunächst nicht mehr wußte, als man sonst weiß. Wir lehnen es ab, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen beiden Reihen von ätiologischen Momenten zu statuieren; wir nehmen vielmehr ein regelmäßi- ges Zusammenwirken beider zur Hervorbringung des be- obachteten Effekts an. Beide gemeinsam bestimmen das Schicksal eines Menschen; selten, vielleicht niemals, eine dieser Mächte allein. Die Aufteilung der ätiologischen Wirksamkeit zwischen den beiden wird sich nur individuell und im einzelnen vollziehen lassen. Die Reihe, in welcher sich wechselnde Größen der beiden Paktoren zu- sammensetzen, wird gewiß auch ihre extremen Fälle haben. Je nach dem Stande unserer Erkenntnis werden wir den Anteil der Konsti- tution oder das Erlebnis anders einschätzen und das Recht behalten, mit der Veränderung unserer Einsichten unser Urteil zu modifi- zieren." Wer allerdings vorurteilslos die Arbeiten der Psychoana- lytiker prüft, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß in ihnen der äußeren „Tücke" des exogenen „Zufalls" eine ungleich größere Rolle zuerkannt wird, als dem inneren „Dämon", der sexuellen Konstitution. Auch Krafft-Ebing, welcher in bezug auf andere Erscheinungen des Sexuallebens, wie der Homosexualität, des Masochismus und Sadismus, die Theorie Binets mit Entschiedenheit verwirft, macht hier eine Ausnahme, indem er in bezug auf den Fetischismus die Lehre vom „accident agissant sur im sujet predispose" akzeptiert. Unter „accident" soll hierbei ein beliebiges zufälliges Geschehnis, unter „predisposition", wie Binet ausdrücklich hervorhebt, nur eine allgemeine nervöse Hyperästhesie verstanden werden. Mir erscheint die Hypothese der okkasionellen Verknüpfungen, deren Vertreter um die Prädisposition, also das Konstitutio- nelle und Endogene doch nicht herumkommen, in ihrer bisherigen Form gänzlich unzureichend. Tatsächlich handelt es sich bei der Annahme, daß eine erstmalige und von da ab dauernde sexuelle Exzitation und Attraktion primär durch das reiz- auslösende Objekt, nicht aber dürch die individuelle Beschaffenheit der sexuellen Empfangsorgane im Nervensystem bedingt ist, um eine Theoi-ie, die bisher weder bewiesen ist, noch kaum bewiesen I. Kapitel: Fetischismus 15 werden kann. Denn daß das erstmalige Zusammentreffen des ent- wickelten Geschlechtssinnes mit dem, was „sein Fall" ist, Lustemp- findungen auslösen muß, die, wenn sie eine bestimmte Stärke er- reicht haben, auch als solche ins Bewußtsein dringen, bedarf als selbstverständlich kaum einer Erörterung; vergleichen wir aber die Ubiquität geschlechtlicher Reize mit der Rarität der individuellen geschlechtlichen Reaktion, berücksichtigen wir den enor- men Elektivismus, welcher den menschlichen Geschlechts- trieb beherrscht, denken wir daran, daß an demselben Objekt, das die einen in die höchste Ekstase versetzt, Millionen andere acht- los und reaktionslos vorübergehen, so liegt es nach allen Gesetzen der Logik klar zutage, daß nur die Beschaffenheit der sexuellen Psyche, der nervösen Zentralorgane, daß es nur die spezifische Konstitution sein kann, welche den Aus- schlag gibt. Von dem bestimmten individuellen Gepräge unseres Inneren hängt es ab, was wir als Reiz emp- finden, nicht vom Reiz als solchen. Dafür spricht auch die elementare, zielstrebende Durchschlagskraft, mit der allem Wollen und Wünschen, Einflüssen und Einflüsterungen zum Trotz der Ge- schlechtstrieb auf sein R e i z - Z i e 1 , sein Objekt lossteuert, auf das- • selbe „fliegt". In der Liebe gibt es keinen Zufall, in ihr ist alles Gesetz. Als zufälliges Ereignis pflegen wir eines zu bezeichnen, in dem zwei Kausalreihen sich kreuzen; im vor- liegenden Falle begegnen sich die akzidentelle äußere und die konstitutionelle innere Ur- sache; selbst wenn aber in einem konkreten Falle ein Vorgang nachgewiesen ist, in welchem ein belebtes oder unbelebtes Objekt die erste Libido hervorrief, ist damit noch nicht erwiesen, daß durch dieses Erlebnis die Neigung „erworben", „determiniert" wurde, denn einmal» muß sie doch begonnen und sich in der Begegnung zuerst geäußert haben. Die ganze Theorie schwebt umso mehr in der Luft, als Krafft-Ebing in Übereinstim- .mung mit Binet selbst sagt (1. c. S. 166): „Die Gelegenheit, bei welcher die Assoziation entstanden ist, wird in der Kegel vergessen. Nur das Resultat der Assoziation bleibt bewußt." Gewiß wird man sich hinsichtlich der Teilanziehung nicht ohne weiteres zu der Annahme entschließen können, daß etwa eine Vorliebe für zusammengewachsene Augenbrauen, für Manchesterhosen, Zigaretten- oder Juchtengeruch angeboren sein soll; allein ■ebenso unbegründet ist es zu glauben, daß, nachdem sich in der Jugend eines Menschen ein zufälliges, fast nie nachweisbares Ereignis vollzogen hat, in welchem der Eindruck eines meist doch ganz alltäglichen Objektes eine Rolle spielte, dieses nun dadurch auf Lebensdauer eine so ausgesprochene sexuelle Bedeutung gewinnen soll. Hier müssen offenbar viel kompliziertere Zusammenhänge in Betracht kommen, die mit der konstitutionellen Triebrichtung ih einem sehr innigen, wenn auch nicht immer unmittelbar durchsichtigen Konnex stehen. Wie bei jeder Sexualreaktion liegt auch bei der Fetisch Wirkung ein letzten Endes endokrin bedingter Reflex vor. Daß infantile Eindrücke hier nicht in entscheidender Weise maßgebend sein können, lehrt auch der Umstand, daß Eetischisten sehr häufig an Gegenstände fixiert sind, die in ihrer Jugend über- haupt noch nicht vorhanden waren. Die Kriegserfahrungen haben sich in dieser Richtung lehrreich erwiesen. So bildete die „feld- 16 I. Kapitel: Fetischismus graue" Uniform bald nach ihrem Auftauchen für viele Frauen einen überaus intensiven Fetisch, dem gegenüber die bunte Frie- densuniform vielfach nahezu als Antifetisch wirkte. Eine alte Dame suchte mich im zweiten Kriegsjahr auf, die von den Leder- gamaschen der Offiziere, wie sie sich ausdrückte, „ganz konfus" geworden sei; ein homosexueller Jurist, 45 Jahre alt, wurde ab 1914 durch das Eiserne Kreuz in höchste sinnliche Erregung versetzt. Menschen ohne diese Auszeichnung ließen ihn „gänzlich kalt". Schon ein bloßes Streicheln des schwarz-weißen Ordensbändchens bewirkte Erektion. In diesen Fällen, die sieh durch viele ähnliche Beispiele vermehren ließen, anzunehmen, daß der zufällige Anblick des ledernen oder eisernen Gegenstandes auf jeden beliebigen Neuropathen dieselbe Wirkung hätte haben können, beruht, um mit Möbius zu reden, „wie jede Erklärung aus dem Mi- lieuauf Ob er f läehliehkei t". In folgendem will ich kurz die Erklärung wiedergeben, die ich in meinem „Wesen der Liebe" (S. 152) für den Fetischismus in seinen mannigfachen Arten und Graden gegeben habe. „Primär an- geboren ist zuvörderst der die Lebensrichtung gebende Charakter der eigenen Persönlichkeit. Der so oft zitierte horazische Satz von der ewigen Wiederkehr der selbst mit der" Heugabel nicht auszu- treibenden Menschennatur gehört zu den wahrsten Maximen der Biologie. Gewiß sind Lebensumstände und Lebensweise, die Er- ziehung und allerlei Erlebnisse und Ereignisse für den äußeren Ab- lauf eines Lebens von hohem Belang, aber das Gepräge des Men- schen bleibt. Entsprechend d e m W e s e n der Persönlich- keit ist auch der Geschlechtstrieb und die Liebe in ihrer Eigenart und individuellen Wesentlichkeit^ einem jeden angeboren, eine Mitgift der Natur, zum* Glück öder Unglück, zum Guten oder Bösen. Der Mensch und seine Liebe sind eine untrennbare Einheit, Aber nicht nur die Trieb- richtung im allgemeinen, gleichviel zu welchem Geschlecht, ist in der Natur des einzelnen begründet, sondern auch die spezielle Vor- liebe für eine in bestimmter Weise charakterisierte Per- sonengruppe dieses Geschlechts. Ob ein Mann ein sich ihm voll hingebendes junges Mädchen liebt, die er seinerseits stützen will, oder eine ältere, geistig überlegene Frau, auf die er sich stützen möchte, ob ein Weib dem schwärmerischen Jünglingstyp oder dem „gesetzten Mann" den Vorzug gibt, alles das ist nicht vom Zu- fall, sondern von der eigenen innersten Natur des Liebenden abhängig." Wenn nun aber eine besondere Eigenschaft vornehmlich an- regt, das Auge, die Hand, die Kopf- oder Fußbekleidung, so beruht dies darauf, daß dieser Teil in seiner Eigenart als etwas für die Gefühlsrichtung ganz speziell Bezeichnendes empfunden, als > I. Kapitel: Fetischismus 17 für den Typus besonders typisch angesehen, als konzentriertes Symbol gefühlt wird. Die Teilanziehung gründet sich also auf kein zufälliges Zusammentreffen, son- dern auch auf die Eigenart der psychosexuellen Natur, nur daß diese verwickelten Assoziationen und anastomosierenden Neuronverbindungen ätiologisch meist schwieriger zu fassen sind, als die Triebrichtung auf ein Geschlecht, einen Typus oder ein Individuum. Ich stimme demnach mit meinem Freunde Professor Lipp- schütz in Dorpat vollkommen überein, daß es sich bei dem Feti- schismus um etwas ganz ähnliches handelt, wie bei den von dem Physiologen P a w 1 o w in seiner Arbeit über die psychische Sekre- tion der Speicheldrüsen beschriebenen bedingten Eeflexen. Wie die Verdauungsdrüsen ihre Absonderung bereits beginnen, be- vor der Mund und Magen die lecker scheinende Speise umschließen, bei ihrem bloßen Anblick, ja bei Nennung ihres Namens oder Er- wähnung einer sich auf sie oft nur entfernt beziehenden Vorstellung sezernieren, so verhält es sich ganz ähnlich mit der Sekretion der Geschlechtsdrüsen bei dem Anblick oder mündlichen, schriftlichen oder bildlichen Erinnerung an ein Objekt, die das nur viel individueller geartete sexuelle Hungergefühl zu sättigen geeignet wäre. Die mir gelegentlich von Kollegen gestellte Frage: Hängt der Fetischismus etwa auch mit der inneren Sekre- tion zusammen? ist hiernach insofern zu bejahen, als die psychosexuelle Beschaffenheit und Empfänglichkeit für eine Per- son und mit ihr im Zusammenhang stehende Vorstellungen in der Hauptsache auf der j besonderen Mischung männlicher und weib- licher Eigenschaften beruht, diese aber vor allem von dem Ver- hältnis und dem Einfluß des And r ins und Gynäzins auf das nervöse Zentralorgan abhängig ist. Somit ist auch die Reaktions- fähigkeit für einen Fetisch und damit der Fetischismus und Antifetischismus letzten Endes endogen und innersekretorisch ver- ursacht. Zwar handelt es sich um Ideenassoziationen, aber sie ent- stehen nicht beliebig, wie Binet und Krafft-Ebing meinten, durch ein okkasionelles Moment, sondern durch Vorstellungen, welche das Subjekt meist, ohne sich dessen bewußt zu werden, mit dem jeweiligen Objekt als seinem Reizziel verknüpft. Dieses oft höchst eigenartige Gedankenspiel zu verfolgen ist eine fesselnde Aufgabe. Wir wollen an einigen Fällen erläutern, wie die Brücke zwischen dem Fetischisten und seinem Fetisch zu schlagen ist. Vor einigen Jahren suchte mich einmal der Geistliche einer Sekte auf, welcher unter großer Überwindung beichtete', daß er eine unglückliche Neigung für hohe Ab- sätze an Frauenschuhen verspüre. Er empfand diese Leidenschaft als große Erniedri- gung, konnte aber nicht davon ablassen, von Zeit zu Zeit Prostituierte zu bitten, gegen Hirschfeld, Sexualpathologie. III. 2 18 I. Kapitel: Fetischismus Entgelt ihre Absätze k üsse n zu dürfen. Um dieselbe Zeit schrieb mir ein früherer Offizier- „Mein Fall sind: Amazonenhafte Weiber, dunkle Augen, volles, schwarzes Haar, volle Formen, kurzer, hoher Fuß und verhältnismäßig großer Umfang des Beines am Knöchel. Kuh Stimme, die womöglich jenes Klebrige hat, was sich bei Menschen, die viel im Freien sind, besonders im Süden, oft einstellt und von Gesundheit, Lebens- lust, und einem gewissen Übermut spricht. An der Kleidung viel Leder, womöglich knar- rend, besonders am Gürtel und in der Fußbekleidung. Großen Bei! übt anl mich am 'weiblichen Fuße ein lederner Schuh oder Stiefel aus, von d e r f r a nzösischen, ho c h h ackigen F o r m , wie sie in den 70er Jahren Mode war, andererseits das Benetzen oder Waten einer Frau mit derartiger Fußbekleidung im Wasser. Natürlich wird die Anziehung durch das hinzukommende seelische und geistige Element je nachdem erhöht oder abgeschwächt bis zur völligen Aufhebung. Also bin ich nur in dem Sinne Schuh- und Stiefelfetischist, als dieses Kleidungsstück den Fuß eines auch sonst mir sympathischen Weibes bekleiden muß, wo es mir dann vor anderem die Idee weiblicher Energie und Entschiedenheit versinn- bildlicht.1- Unser Patient fährt dann fort: „Der intime Verkehr hat nur mit Weibern und im ganzen sehr selten stattgefunden, wohl nie ohne Mitwirkung der oben bezeichneten Umstände, aber auch nicht ohne das wichtige seelische Moment. Nach Auflösung einer Staatsehe, die ohne Berücksichtigung meiner besonderen Richtung geschlossen und daher unglücklich war, habe ich mich wieder beweibt. Meine Partnerin kennt meinen Geschmack, bietet ihm teils schon durch ihre Eigen- tümlichkeit Nahrung, teils geht sie aus Liebe zu mir darauf ein, soweit es ihre Natur zuläßt. Und nachdem an die Stelle des von meiner ersten Frau zur Schau getragenen Absehens vor meiner „Abnormität" (wegen mangelnder Liebe) hier das (von der wahren Liebe gebotene) Eingehen auf dieselbe getreten, ist meine von Jugend an. bei ihrer Zartheit eingeschüchterte Natur aus sich herausgetreten, und — ich sehe, im Alter von 52 Jahren, baldiger Vaterschaft entgegen." Ein Lehrer schreibt: „Ich leide an G e h ö r s s c h u h f e t i s c h i s m u s und muß Frauen nachgehen, deren Schuhe beim Gehen knarren. Das taktmäßige Geräusch des feinen Schuhwerks erregt mich geschlechtlich ungemein und schwelge ich solange in diesen Tönen, bis Samenerguß erfolgt." Dieser Fall erinnert an einen von Moraglia berichteten, indem ein Mann dadurch ejakulierte, daß er sich eine Prostituierte mit Schuhen bekleidet, sonst aber nackt, ihm gegenübersetzen und mit ihren Stiefeln krachende Bewegungen ausführen ließ. Wie ist die starke Leidenschaft dieser Männer, denen sich der bereits oben beschriebene Fall zugesellt, -für eine gewisse Art von Frauenstiefeln zu erklären? Ihr Grundtrieb ist heterosexuell. Ihrer Natur nach, die der Offizier selbst als „zart und verschüchtert" be- zeichnet, liegt das „a m a z o n e n h a f t e" Weib. Der hochhackige Lederstiefel auf einem weiblichen Fuß verband sich in ihrem Ge- hirn mit der Vorstellung eines recht energischen, entschiedenen „Auftretens". Er wurde allmählich für sie das konzentrierte und konzentrische Symbol ihres Typus, und zwar schließlich so stark, daß diese Stiefel für ihre sexuelle Erregung auf optischem oder akustischem Wege eine conditio sine qua non wurden. Ein anderer Patient legt weniger Wert auf das Schuhzeug, als auf den Gang einer Frau: „Ich erkenne an dem Gang," schreibt er, „wie Sich ein Mensch selbst einschätzt. Und wenn ein Weib so stolz daher schreitet, schmeichelt es meinem Ehrgeiz, einer Person zu gefallen, die so viel auf sich hält. Es erregt mich ungemein, wenn 19 ich eine Dame sehe, die nicht kleine «trippelnde Schritte macht, son- dern fest auf den Boden tritt, und dabei ihre Füße so elastisch und gravitätisch hebt wie ein Pferd. Mit einem Weil), das so selbst: bewußt stolziert, möchte ich am liebsten dann Arm in Arm durch die Straßen gehen, recht weit weg von aller Welt. Ich meine immer, wenn eine so stramm auftretende Frau mich vorzieht und sich von mir geleiten läßt, so beneiden mich die andern darum, daß eine so kraftvolle Persönlichkeit, die doch weiß, wie sehr sie Bewunderung verdient, unter vielen mich erwählt hat." Sehr bezeichnend für diese Auffassung des Partialismus sind folgend? Zeilen eines Armfetisehisten ; er schreibt: „Für mich, der ich schöne, gesunde, in voller Schaffenskraft stehende Personen liebe, ist der Arm ein Fetisch; er ist mir wie eine Essenz der mir sympathischen Persönlichkeit; in ihm spricht sich die ganze mich berauschende Machtfülle einer stolzen, stattlichen, herrschenden Individualität aus. Er isi das Sinnbild der Energie, des kraftvollen Schaffens, das ich an einer mich fesselnden Person besonders liebe." Ich füge als weiteres lehrreiches Beispiel noch die „Uheorie" bei, welche ein Nagel fetischist mit allerlei objektivierenden Schluß- folgerungen für seine heftig^ Leidenschaft gibt, Er führt folgen- des aus: „Rein objektiv betrachtet, ist eine schöne, besonders eine weibliche Hand etwas Herrliches. Bilden mm gar den Abschluß der schlanken rosigen Finger rosige, glänzende Nägel,, die in eine schneeweiße, lange, glattgefeilte runde oder auch nadelscharfe Spitze auslaufen, so kann dadurch die Hand nur an Schönheit und Reiz gewinnen. Mancher mag zwar behaupten, das krallenartige, spitze der Nägel mißfalle ihm. widerspräche seinem ästhetischen Gefühl, das dürfte aber doch wohl nur Geschmackssache sein, wenn ich auch sagen muß, daß durch das Zuspitzen oder das Glattfeilen der Spitze zu einer „runden Spitze" in der Form eines Stachels, wie schon Vatsyayana sagt, eine Hand mit • etwas kurzen Fingern und viereckigen Nägeln erheblieh verschönt wird. Von dem ästhe- tischen Moment geht, meines Erachtens durchaus mit Recht, Max Dessoir in seiner in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie"' ■■>) erschienenen Abhandlung „Zur Psycho- logie der vita sexualis" bei der Motivierung der fetischistischen Liebe aus, indem er sagt: „In pathologischer Ausartung leitet das ästhetische Mo- ment zur fetischistischen Lieb e" '<). Indem nämlich das Wohlgefallen an der Schönheit nicht auf der Differenzierungshöhe verbleibt, sondern sich weiter spezialisiert, spitzt es sich derart zu, daß beispielsweise schönes Haar oder — i um bei meiner Vorliebe zu bleiben — eine herrliche Hand mit wunderschönen Nägeln allein genügt, die heftigste Leidenschaft zu erwecken. Aus praktischen Gründen — besonders schwere Handarbeit haben wir Mensehen uns gewöhnt, unsere Nägel kurz zu beschneiden. Das nennen wir „Kultur". Die T rere haben Krallen. Die Mensehen müssen sich durch beschnittene Nägel vor der Tierwelt auszeichnen. So die allgemeine Meinung. Aber: wir Menschen, soweit wir nicht zu den niedrigsten, zur Verrichtung schwerer Handarbeit verurteilten Schichten gehören, "müßten uns an den Japanern ein Beispiel nehmen, die sämtlich, wie über- haupt für Körperpflege, so besonders auch für Hand- und Nagelpflege Sinn haben. 3) 50. Band. Berlin 1894, S. 941 fr. *) Ibid. S. 950. 2* 20 I. Kapitel: Fetischismus Bis jetzt gilt freilich immer noch ziemlich allgemein die Ansicht als herrschend, an den Begriff „Maniküre" müßte sich der Gedanke entweder an männerfanglustige Demi- mondänen oder an müßiggehende Glieder der „oberen 10 000" knüpfen. In der Tat maniküren sich von dem „goldenen Mittelstand" die allerwenigsten. Seit einigen Jahren ist allerdings gegen frühere Zeiten erfreulicherweise ein erheblicher Fortschritt zu ver- zeichnen. Auf Hand- und Nagelpflege legten bereits im Altertum die Ägypterinnen, Griechinnen, Römerinnen s) und von asiatischen Kulturvölkern, wie sich das aus Male- reien und1 Zeichnungen ergibt, vornehmlich die Chinesinnen, Japanerinnen und Siame- sinnen — wie heute noch — , in neuerer und neuester Zeit die Türkinnen, Perserinnen (Haromsodalisken) usw., von Europäerinnen namentlich die Französinnen, Italiene- rinnen, Engländerinnen, Ungarinnen, und not least — glücklicherweise! — , unsere Deut- schen ein großes Gewicht. Sie alle trieben und treiben Maniküre, oft mit den raffiniertesten kosmetischen Mitteln. Das neuerdings wieder aufgekommene Zuspitzen der Nägel ist nach meiner Uberzeugung keine bloße „Mode" („Modenarrheit" sagen die Banausen), sondern es hat den tiefen psychologischen Grund, daß das Weib, das sich die Nägel sorg- fältig pflegt, lang trägt und zuspitzt, dem Mann, der libid werden soll — das ist nun einmal das Endziel jeder Frau, es liegt in ihrem Wesen — „durch die Blume" andeuten will: „Diese verlockenden, duftenden Hände, diese schneeweißen, langen Nägel laß ich dich küssen, Geliebter, wenn du Fetischist bist! Mit diesen weißen, nadel- spitzen Nägeln kratze ich dich; wenn dir eine zartere Art lieber ist, so kitzele ich^ dich oder berühre dich ganz leise mit diesen schönen, schimmernden, kühlen Nagelspitzen, die ich etwas abrunde, damit keine Wunde entsteht, wenn du Masochist bist. Und dabei w%de nicht nur dein Geschlechtstrieb befriedigt, sondern auch meiner zur Raserei entflammt: denn ich bin Sadist in!" Aus den letzten Bemerkungen geht hervor, daß es neben dem Gesichtssinn vor allem der Hautsinn ist, welcher sich von den langen Nägeln Lust erhofft, in denen dieser offenbar meta- tropische Fetisch ist das verkörperte Symbol einer nach Laune mit ihm umspringenden Herrin er- blickt. Die Ausführungen dieses Nagelf etischisten gewähren uns wiederum einen guten Einblick, wie diese Menschen ihre subjek- tiven Spezialneigungen ästhetisch zu verallgemeinern suchen, fer- ner wie der Fetisch für sie, und zwar meist unbewußt, zum Aus- gangspunkt wird für ihre Studien- und Interessenkreise, die sich allmählich immer mehr von dem ursprünglichen Mittelpunkt ent- fernen. Auch- die folgende Mitteilung einer gerontophilen Russin ist eine gute Bestätigung für die symbolistische Auffassung des Fetischismus. „Ich liebe das seidene Halstuch, weil es mir die Seele, die meiner Ansicht nach nur der seidenen Feinheit gleichkommen kann, und die weiche Natur des Geliebten versinnbildlicht. Ebenso geht es mir mit ^ dem Barte. Derselbe muß sehr fein gepflegt, weich, biegsam sein, bis über die Brust reichen, letzteres, weil nur dadurch die volle männliche Überlegenheit zu erkennen ist. Und von grauer Farbe, weil nur diese Bartfarbe, dem Manne das Würdevolle verleiht. Ein struppiger Bart und ein derbes, wollenes Halstuch würden mich, wenn nicht anwidern, doch sehr gleichgültig lassen. Sollte der Bart des von mir Geliebten infolge Vernachlässigung struppig sein, 'so würde ich ihn schnell wieder seidenweich und bieg- sam machen, als ob ich fürchten müßte, die Erhabenheit seiner Würde könne durch diese Entweihung irgendwelche Einbuße erleiden. .Und trüge er ein wollenes Halstuch, =) cf. Tibull. Elegieen, 1. Buch unter 8 (a. a. O.). I. Kapitel: Fetischismus 21 würde ich es schnell durch ein anderes von Seide ersetzen, weil mir nur durch das letz- tere seine weiche Seele widerspiegeln kann. In Ermangelung beider mich so beseligenden Symbole bin ich unfähig, eine geschlechtliche Empfindung oder gar Handlung aufzubringen." Endlich noch ein letztes Beispiel, in dem der Fetisch als er- regendes Symbol für die endokrine Sexualkonstitution sehr markant zum Ausdruck kommt. Herr B. Z., Student der Nationalökonomie, 21 Jahre alt, zeigt eine eigenartige Form von Fetischismus, nämlich eine hochgradige sexuelle Reaktion auf Gummi- 1 u f t k i s s e n. Herr Z., dessen sehr feminines Wesen seiner Familie schon längst auf- gefallen war, ohne daß sie von den wahren Ursachen seines Wesens eine Ahnung hatte, beobachtete an sich nach Beendigung des 14. Lebensjahrs ganz plötzlich einen merk- würdigen Drang, sich Luftkissen zu beschaffen, diese prall aufzublasen und sich an den Leib zu legen. Mit diesen heimlichen Manipulationen, die ihm wollig unverständlich waren, vermochte er zunächst keine Vorstellungen zu verbinden, da er keinerlei Kennt- nisse über sexuelle Dinge besaß. Der rein triebhafte Drang, sich. mit den Luftkissen einzuschließen, sich ständig mit ihnen in Kontakt zu wissen, wuchs immer stärker an und führte nach kurzer Zeit zu tiefgehenden Verstimmungen, da keine Entspannung eintrat, bis eines Abends, etwa 4 Wochen nach dem ersten Auftreten dieses eigen- artigen Begehrens die erste Ejakulation erfolgte. Er hatte an diesem Abend, wie immer im Bett das Luftkissen prall aufgeblasen, sich dann spontan davaufgelcgt, so daß sich die Genitalzone und die Unterbauchregion mit dem Luftkissen berührten. Die von dem Fetisch ausgehenden Reize waren in der Hauptsache taktiler Natur, sekundär erfolgte dann später assoziativ eine erotische Anregung durch die bloße Wahrnehmung des Gummigeruchs, wie er dem Luftkissen eigen war. Auf optischem Wege vermochte das Luftkissen nur geringe sexuelle Wirkungen auszuüben, während der akustische Weg in diesem Falle gänzlich ausgeschaltet war. Die Vorstellungen nun, die während des ersten, ganz spontan gefundenen Onanie- aktes auftraten, der nun täglich während der folgenden 6 Jahre mit wenigen Unter- brechungen wiederholt wurde,- wiesen stets das gleiche Grundmotiv auf: einen großen, starken, fetten Mann, der von der Phantasie in irgendeine Situation mit masochistischer Tendenz gesetzt wurde. Die lustbetontesten Vorstellungen von feisten Schenkeln und dickem Leib wurden durch Betasten und Pressen des glatten, prallen Luftkissens her- vorgerufen. Bemerkenswert ist, wie in den späteren Jahren die Symbolisierung von dem Drange, in den Besitz des begehrten lebenden Partners zu gelangen, immer mehr zu einem Surrogat hinsteuerte; da jedoch das adäquate Sexualobjekt nicht er- reichbar war, arrangierte Z. eine Situation, die auf den ersten Blick narzißtischen Charakter zu besitzen scheint, jedoch heterogener Natur ist. Herr Z. zog sich einen sehr weite« Herrenanzug an, den er mit Hilfe des aufgeblasenen Luftkissens ausstopfte; durch den Anblick des Spiegelbildes, in dem er dann nicht sich, sondern das begehrte Sexual- objekt erblickte, erfolgte die Auslösung der sexuellen Entspannung. Als Ausstopfungs- material wurden stets Luftkissen benutzt, da andere Gegenstände, wie etwa Federkissen, keine sexuelle Wirkung hatten. Die ersten sexuellen Regungen traten, wie erwähnt, im 14. Jahre auf. Jedoch konnte ein Erinnerungskomplex aufgefunden werden, der aus dem 8. Jahre stammt und eine gewisse Beziehung zu dem Luftkissenfetischismus auf- weist. In diesem Alter sah Z. zum ersten Male ein Luftkissen und an einem der fol- genden Tage im Zirkus in einer humoristischen Nummer einen Mann, der wie ein Gummiball aufgeblasen war. Diese beiden Erlebnisse interessierten ihn sehr, gerieten jedoch zunächst wieder in Vergessenheit, um erst mit dem Einsetzen der sexuellen Reife von der Psyche als adäquate Sexualmotive wieder aufgenommen zu werden. Dieses infantile Erlebnis ist aber nicht etwa als „choc fortuit" zu werten, der für die Sexualkonstitution irgendwie richtunggebend ist, vielmehr ist es die bereits im Keim vorhandene endo- 22 I. Kapitel: Fetischismus k r i n b e d i n g t e Sex u alps y c h e , deren 'feminine Komponente uns liier unter der Form des homosexuellen Masochismus entgegen- tritt, we 1 c h e so frühzeitig einen s e n s o r i s ch e n E i n - d r u e k als a d ä q u a t a k z e ptiert. Wenden wir uns nach den allgemeinen Betrachtungen über Wesen und Ursache des Fetischismus den einzelnen Formen der Teilanziehung zu, so erkennen wir bald, daß die außer- ordentliche Fülle der Erscheinungen auf diesem Gebiet Einteilun- gen nach den verschiedensten Gesichtspunkten ermöglicht. Da jeder Teil des fremden Körpers den Ausgang und jede Stelle des eigenen Körpers den Eingang fetischistischer Reize bilden kann, sind wir in der Lage, die Unterscheidungen sowohl nach der Reiz- quelle, den Objekten, als nach den Reizra ü n d u n g e n im Sub- jekt zu treffen. Die Empfangsstationen fetischistischer Sexual- reize verteilen sich auf sämtliche Sinnesorgane, mithin kann man, je nachdem es sich um Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck- oder Tastreize handelt, einen optischen, a k u s t i s c h e n , o 1 f a k t o r i s c h e n , guetato Tischen und taktilen Fetischismus unter- scheiden. Ein Teil dieser Sexualreize wirkt durch das Medium der Luft auf die reaktionsfähigen Organe der Körperoberfläche, ein anderer durch direkten Kontakt. Es gibt hiernach d i s t a n z i e 1 1 e Fetisch- reize; das sind die, welche die Netzhaut, das Trommelfell und die Riechfläche der Nasenschleimhaut treffen, und proximale Fetischreize,, welche Haut und Zungenschleimhaut berühren. Diese beiden Gruppen der Fern- und Nahreize zeigen physiologisch noch anderweitige Unterscheidungsmerkmale. Die Fernreize sind die- jenigen, denen sich die Sinne fast stets zunächst zuwenden- Sie gehen den proximalen voraus, sind also die primären, während die wesentlich massiveren Nahreize- meist als sekundäre auftreten. Sie wirken normalerweise nur dann als Lust, wenn durch die distanziel- len Sexualreize eine V o r 1 u s t geschaffen ist. Der kausale Zusammenhang ist meist so, daß ursächlich und zeitlich das primum movens die Vorstellung ist, erzeugt durch die distanzielle Wahrnehmung. An diese primäre Reizung schließt sich alles andere als Reflexkette oder richtiger als Treppenreflex, bald gehemmt, bald ungehemmt an. Suchen wir uns den Vorgang zu veranschaulichen. Ein Sinneseindruck dringt lusterregend zum Zentralorgan; das so entstandene Gefühl veranlaßt auf der moto- rischen Nervenbahn eine Reaktion; diese Reaktion selbst geht als neuer stärkerer Reiz von der Peripherie wieder zum Zentral- organ zurück. Die so bewirkte zentrale Steigerung der Lust setzt Meli auf dem motorischen Nervenstrang in eine neue Aktion um, deren Auswirkung wiederum als erhöhtes Lustgefühl zentralwärts dringt. So «cht es von außen auf der sensorischen Bahn nach innen, I. Kapitel: Fetischismus 23 und von innen auf der motorischen Balm nach außen und dann immer weiter zentripetal-sensorisch, zentrifugal-motorisch, bald be- wußt, bald unbewußt, bald unterbrochen, bald ununterbrochen staffelweise, bis durch Reizsummation eine zunehmende Erotisie- rung- der Hirnzellen und so allmählich die Höchstlnst erreicht ist, wenn nicht auf einer niedrigeren Stufe durch das Dazwischentreten äußerer oder innerer Einflüsse bereits vorher Malt geboten wurde. Das am weitesten tragende Sinnesorgan eines Lebewesens ist für sein sexuelles Leben das leitende und führende. Für den Menschen ist die Reihenfolge: Gesicht - Gehör — Geruch. Das gilt, sowohl für die physiologische als die pathologische Teil- anziehung. Das Auge steht als Vermittler der menschlichen Liebe obenan, möglich, daß es sich gerade durch die Übung auf erotischem Gebiet, das unwillkürliche An- schauen, Suchen und Fahnden nach Sexualreizen, zu dem entwickelt hat, was es für uns als Empfangsstelle d< s Schönen geworden ist. Bei anderen Lebewesen nehmen andere Sinne diese leitende Stellung ein, und zwar ist stets jedes Tferes feinstes Organ das erotisch empfindsamste und reizbarste. Bei vielen stpht das Gehör, bei anderen der Geruch an erster Stelle. So wissen wir, daß viele Vogelmännchen ausschließlich mit ihrer Stimme, oft im Dunkel der Nacht, das Weibchen locken. Wirkt auch das bunte Kleid des Männchens auf manches junge Weibchen in der Vogelwell ganz ähn- lich, wie der „bunte Rock" auf nianches junge Mensehenrnädchenherz, so fliegl doch das durch de« Gesang ans weite) Ferne angelockte Weibchen vor allem dem Männchen zu, welches nach seiner Empfindung die schönsten Liebestöne und Liebeslieder er- schallen läüt. Auch die Anreizung durch den Geruch spielt im Tierreich eine sehr große Rolle, und zwar überall dort, wo das Gcruchsorgan am höchsten entwickelt ist. Sehr viele Tiere haben drüsige Organe, deren Absonderung lediglich die Aufgabe hat, das Weib- chen anzulocken., es zu verführen. Aus unglaublichen Entfernungen wittern die Männ- chen den ihnen sympathischen Duft. Insekten nähern sich aus meilenweiter Ferne dem Standort des ihnen wohlriechenden Weibchens. Viele Tiere berauschen sich förmlich durch ein immer stärkeres Beschnüffeln, um schließlich in der Geruchs ekstase nur zu einem einzigen momentanen L i e b e s s p r u n g auszuholen. Sind die Geruchs- und Schalleindrücke bei den Nasen- und Ohrentieren — und zu diesen gehören unter den Säugetieren die große Mehrzahl — von dominierender Bedeutung in der Liebeswahl, so tritt ihre tropistische Wirksamkeit bei den Menschen als Augen- tieren weit hinter den Gesichts Wahrnehmungen zurück. Das erkennen wir deutlich auch darin, daß in der Liebesliteratur die Schilderungen der Schönheil des geliebten Objekts, die eingehende Beschreibung ihrer äußerlich sichtbaren Reize, den größten Raum einnehmen. Wie das geliebte Wesen riecht, schmeckt, sich anfühlt, welche Ge- räusche von ihm ausgehen, wird namentlich in der höheren Dichtkunst viel seltener und nebensächlicher erörtert. Das Sehorgan der meisten Menschen ist unbe- w ußt fort w ä h r e n d auf der Suche nach F e t i s c Ii e n , tin- willkürlich ob im freien oder im geschlossenen Raum stellt es sich auf lustbetonte Geschlechtseind rücke ein, die für sein Wohlbehagen von hohem Werte sind. Gleichzeitig bestrebt sieh das Auge, Anti- fetischen auszuweichen. Ich hatte einmal einen Patienten, einen Reisenden, der häufig den Zug verpaßte, weil er sich nicht aufraffen konnte, in einem Abteil Platz zu nehmen, in dem eine ihm abstoßende Person ■ - sein hauptsächlicher Antifetisch war Korpulenz selbst mäßigen Grades — saß. In nicht geringer LTnruhe suchte er Wagen für Wagen nach der hagersten Erscheinung. In der E n t sc b 1 u ß - 24 I. Kapitel: Fetischismus losig- keit, die das Fahnden nach der größtmög- lichsten Fetischwirkung verursachte, fuhr dann nicht selten der Eisenhahnzug ab, bevor er ein ihm zusagendes Coupe hatte finden können. Daß nun aber nicht nur das weittragendste Sinnes- organ als Empfangsstelle für distanzielle Sexualeindrücke funktio- niert, überhaupt nicht nur eins, sondern mehrere, ist eine der Sicher- heitsmaßregeln, der wir in der Natur immer dort begegnen, wo es- sich um die Liebe handelt. Auch dem Blinden und Tauben sollte nicht das größte Gut vorenthalten bleiben, welches die Natur zu ver- geben hat. So sehen wir, daß, wenn das Auge erloschen ist, andere Sinnesorgane den leeren Platz ausfüllen. Ich) führe die Mitteilungen eines Offiziers an, der einen Schuß in die Stirn erhielt,, welcher ihm das Seh- und Geruchsvermögen raubte. Vor seiner Verletzung waren es fast ausschließlich der Gesichts- und Geruchssinn, durch welche die Sexualreize sich den Weg in sein Inneres bahnten. Als ihm dann durch die schwere Verwundung die beiden wichtigsten Sinneszentren verloren gegangen waren, merkte er nach und nach, daß, wie er sich selbst mir gegenüber ausdrückte, „der Strom der Sympathie, welcher früher durch das Auge geleitet war, auf das Ohr überging". „Das Gehör war schon ehedem", schreibt er, „sehr fein entwickelt, es übersah aber oft seine warnende Pflicht, weil das Auge fortgerissen wurde. Seitdem meine Neigungen durch das Gghör geleitet werden, glaube ich viel sicherer zu gehen", Wohllaut des Organs, Aussprache und Satz- bildung seien jetzt das ihn Anziehende. Was weiter aus der Zuneigung würde, ent- scheide die Beschaffenheit der Haut, vor allem die Form der Hand. Eine schmale, weiche Hand, kleine, dünne Finger wirken abkühlend, während kräftige Hände mit derberen Fingern die Erregung steigern. Dabei sei der Typus, zu dem er sich hingezogen fühle, ganz der gleiche geblieben, und er wundere sich selbst, wie sein Gehör und Gefühl dieselbe Art geliebter Menschen herauszufinden wisse, wie früher sein Gesicht und Geruch. Victor Cherbuliez sagt einmal °) : „Für den Blindgeborenen ist die Stimme einer Frau soviel wie ihre Schönheit", und auch Havelock Ellis betont (Gattenwahl beim Menschen, S. 157), ein wie wichtiges Reizmittel die Stimme für den. Blinden ist, wobei er sich auf das Zeugnis eines amerikanischen Arztes beruft, James Cooke, der eine Arbeit über die Stimme als Seelenindikator („the voice as an index to the soul") geschrieben hat. Es kommt gar nicht selten vor, daß auch bei Vollsinnigen ein anderes Sinnesorgan als das Auge an die erste Attraktionsstelle rückt. In einem mir zur Verfügung gestellten Liebesbrief findet sich folgende Stelle, die ich zu diesem Punkte anführen möchte: „Wenn ich mir die erste Stunde, in der ich Dich fand, vergegenwcärtige, weiß ich, daß Ohr und Auge die gleiche Anziehung nach Dir hin spürten. Doch nenne ich absichtlich das Ohr zuerst, weil es, ehe ich Dich erblickte, — Du hieltest eine Rede und es saßen viele Menschen /wischen uns — , Deine wunderbar klangvolle, dunkelweiche und biegsame Stimme war, welche mich — fast körperlich — durch- zuckte — ; mir war, als hätte ich noch nie solche Töne aus meiner Seele Heimatlande gehört. Dann erst sah ich Dich, und mein Auge suchte den Mund, aus welchem jene Glockentöne kamen!" Wer je- «) „Die Kunst und die Natur", S. 65. I. Kapitel: Fetischismus 25 mals die Verzückung- mit angesehen hat, mit der manche Damen ge- wissen Bühnensängern lauschen, die Art, wie sie ihm nach dem Ge- sang zujubeln, wird nicht im Zweifel sein können, daß bei vielen ein erheblicher Erotismus im Spiele ist. Wedekinds „Kammersänger" ist völlig lebenswahr. Aber auch antifetischistische Idiosynkrasien sind dem Gehörsinn in erheblichem Grade eigen; nicht selten er- streckt sich diese Antipathie auf Dialekte. Ein Mann verliebte sich auf einem Wohltätigkeitsfest in eine Dame, die seinem Auge als Inbegriff weiblicher Schönheit erschien. Von ihrem Anblick förm- lich berauscht, gelang es ihm endlich, ihr vorgestellt zu werden. So- bald er nun aber in den ersten Sätzen der Unterhaltung ihren stark sächsischen Dialekt vernahm, war es nicht nur völlig mit seiner Zuneigung vorbei, es trat vielmehr ein solcher Umschlag ein, daß er schleunigst das "Weite suchte. Von jeher hatten diesen Mann einige deutsche Dialekte, wie das Hannoversche und Berlinische, mächtig angezogen, während andere, vor allem die sächsische und ostpreußisebe Sprache, ein starkes Unbehagen in ihm hervorriefen. Sprachfehler bilden im übrigen fast ebenso häufig Fetische wie Antifetische. Einer meiner Patienten, ein sehr femininer, metatro- pischer Mensch, wurde durch tiefe Frauenstimmen in hohem Grade erotisch affiziert. Auch andere von dem Objekt ausgehende Ge- räusche, der Schritt einer Person, ihre Atemzüge, selbst Dissonan- zen, wie ihr Schnarchen, werden von Liebenden nicht selten als Lustempfindung perzipiert. Eins der eigenartigsten Beispiele audi- tiver Sexualreize hörte ich einmal von einem 60jährigen Manne, der mir mitteilte, daß, solange er sich erinnern könne, ihn sexuell nichts so stark errege wie „kullernde Leibgeräusche". Eine ältere Dame meiner Kasuistik wurde durch Tritte fester Soldatenstiefel auf stei- nigem Boden in geschlechtliche Erregung versetzt. In der Stille ihres Zimmers lauschte sie auf dieses Stampfen und geriet in immer größere Spannung, je näher es ihrer Wohnung kam. Beim tak't- mäßigen Vorbeimarschieren einer Truppe fing sie nicht selten zu masturbieren an. In das Gebiet des akustischen Fetischismus fällt aufh der sexuelle Wortrausch. Verschiedentlich geben Frauen in Ehescheidungsfällen an, der Mann hätte ihnen zugemutet, während des Aktes stark obszöne Worte auszusprechen, oder er hätte es auch selbst getan, weil er nur so zur Erregung käme. Ein Patient, Richter von Beruf, teilte mit, daß seine Geschlechtslust durch nichts so sehr wachgerufen würde, als wenn ein Mädchen aus dem Volke ihn mit „D u" anredete. Von diesen beiden Buchstaben ginge für ihn die stärkste sexuelle Reizung aus. Offenbar liegt auch hier wieder ein metatropischer Komplex vor. Sehr verbreitet ist die von bestimmten Titeln, namentlich Adelsprädikaten, ausgehende Faszination, selbst wo - ihre Echtheit äußerst zweifelhaft ist. In erster Linie kommen für diesen Titelfetischismus Frauen, in zweiter feminine Männer in Betracht. Ein 24jähriger, sehr femininer Mann gibt folgendes an: „Die Anrede „Graf" und „Baron" bringen mich völlig aus dem sexuellen Gleichgewicht. Meine Träume haben meist folgenden Inhalt: ich weile in Berlin; lerne in einem Weinlokal einen 32jährigen Grafen ganz nach meinem Geschmack kennen. Ich fahre mit 26 L Kapitel: Fetischismus ihm in seine Wohnung. Er ist wunderbar eingerichtet. . Die Nacht bricht herein. Er führt mich in sein Schlafgemach. Er schlägt mir vor. für immer bei ihm zu bleiben. Ich erkläre, daß das .nicht geht, da ich in Stellung bin und bleiben muß. Während er mit mir spricht, treten Diener ein, die ihn mit devoter Miene als Graf anreden. Er läßt mich nicht mehr fort. Ich soll bei ihm zur Gesellschaft bleiben. Ich fühle mich darüber sehr glücklich, w a c h e bei dem W orte „bleibe n" unter einer Pollution auf, und nehme dann wahr, daß es mir ein Traum ist." Hinsichtlich des Geruchs könnte ich ebenfalls eine Reibe von Fällen anführen, in denen beim Menschen dieser Sinn die anderen völlig beherrscht. So zeigte mir eimal eine Dame ein kleines Stück Juchtenleder, das sie an einem Bande befestigt unter ihrer Bluse iiiig. In starken Superlativen schilderte sie die Bedeutung, welche der Geruch dieses Leders für sie besitze. Die erotische Nei- gung zu ihrem Manne, der von auffallender Häßlichkeit gewesen wäre — sie war früh verwitwet - - sei ganz von Gerüchen beherrscht gewesen, vor allem von einem „mit Mannsgeruch vermischten Ta- baks- und Juchtengeruch". Sie berausche sich noch jetzt an den Kleidern ihres Mannes, denen immer noch ziemlich viel von diesem „süßen Aroma" anhafte. Es würde für sie eine große Beherrschungs- kraft erfordern, einem Manne Widerstand zu leisten, der sich ihr gegenüber dieses Lockmittels bedienen würde. In einem anderen mir bekannt gewordenen Fall ließ sich eine Frau die Hemden ihres im Felde stehenden Mannes schicken, um, ihren Duft einsaugend, sich bis zum Orgasmus zu erregen. Ist das Gesetz richtig, daß die erotische Attraktionsfähigkeit eines Sinnesorgans sich zu seiner Feinheit und Differenziertheit direkt proportional verhält, so würde der Geruch beim Menschen an dritter Stelle rangieren. Er nimmt zwischen den Fern- reizen (Auge. Ohr) und den Nahreizen (Haut, Schleimhaut) insofern eine Mittelstellung ein. als es" nicht bloße Lufterschütterungen sind, welche die Nervenendigungen treffen, sondern korpuskulare Elemente, unendlich feine Teilchen von ungemein geringem Gewicht, welche die Nasenschleimhaut berühren. Aus dieser substantiellen Be- schaffenheit begreift sich, daß bei vielen Völkern, namentlich Mittelasiens, statt des Lippeiikusses und Zungenkusses ein Riech- oder Nasenkuß vorkommt, während den rein distanziellcn Reizempfängern (Auge, Ohr) ein dem Kusse analoges Reiz- und Lustmittel nicht bekannt ist. Im allgemeinen kommt dein Geruch beim Menschen mehr eine h e m m e n d e und w a monde Rolle zu, er dient mehr der sexuellen Aversion als Attraktion. Damit stimmt überein, daß viele Personen angeben, daß ihnen bei denen, die sie liefcen, jeder wahrnehmbare Ausdünstungsgeruch unangenehm^ sei. Es gibt aber sicherlich auch hier viele individuelle Abweichungen, wie ja im Liebes- leben überhaupt infolge der enormen persönlichen Färbung jede Regel nur etwas Durchschnittliches bedeuten kann. Von Körpergerüchen kommen im Liebesleben haupt- sächlich die Ausdünstungen der Haarbalg-, Schweiß-, Talg- und Schleimhautdrüsen in Betracht. Diese nach Intensität und Qualität individuell sehr verschiedenen Duftstoffe pflegen im Zustande sexueller Erregung heftiger auszuströmen als im Ruhestadium. Wir bemerkten, daß für viele Menschen" die Ausdünstungen mehr antipathisch als sym- pathisch wirken; doch verdient andererseits erwähnt zu werden, daß sehr starke ero- tische Erregungen imstande sind, unangenehme Gerüche zu überwinden. Es zeigt sich, daß unsympathische Ei n drücke bei einer starken Liebe schließ- lich selbst Lustgefühle er, wecken können, die allerdings dann meist eine masochistische Grundlage haben. So ist mir ein Fall bekannt, in dem ein Mäd- chen heftig in einen Athleten verliebt war. der an einer übelriechenden Ozaena litt. Der 1. Kapitel: Fetischismus 27 widrige Geruch war ihr anfangs höchst peinigend, doch war ihre Leidenschaft so stark, daß sie sich nicht nur an ihn gewöhnte, sondern ihn schließlich vermißte und suchte. In einem anderen Fall verursachte der penetrant riechende Fußschweiß eines Kavalle- risten einer Dame von hohem Stande im Anfang stärkste Unlust- und später höchste Lustgefühle. Man kann hier fast von einem Antiletisch - Fetischismus reden. Wenn manche Autoren, die sich mit „Osphresiologie'" beschäftigen, aus der großen Rolle, welche die Körperausdünsturigen in der Tierwelt spielen, folgern, es müsse für den Menschen ähnlich sein, so ist dies schon deshalb ein mangelhafter Schluß, weil, wie wir wissen, das Geruchsvermögen der Mensehen an und für sich sehr viel schwächer entwickelt ist als das Witterungsvermögen der Tiere. Anatomisch gibt sich dies dadurch kund, daß die Biechzentren, die Geruehslappen, im Tiergehirn viel größer sind als im Menschengehirn, und daß du- Lockdrüsen, welche die WiecliMihMaii/ n bilden — es finden sich beim Menschen noch Reste davon an den Glandulae vestibuläres majores — funktionell bei ihm vollkemrnen verkümmen sind. Alis den Beobachtungen von Schiff, Fl ieß und anderen geht hervor, daß bestimmte Geschlechtspunkte in den Schwellkörpern der Nase mit Vorgängen der Sexualsphäre in Wechselbeziehungen zu stehen scheinen. Es besieht danach eine Wahrscheinlichkeit, daß in der Nasenschleimhaut erogene Zonen vorhanden sind, wie wir sie in der Hautsinnessphäre seit langem kennen. Ob nicht auch in den anderen Sinnesorganen? Möglich ist es, nach Analogien sogar wahrscheinlich, doch fehlen uns Vorläufig die Mittel und Wege, diese Vermutungen durch direkte Beobachtungen zu stützen. D;;s Vor- händensein erogener Zonen in den Sinnesorganen legt den Gedanken nahe, oh nicht die besondere Empfindungsqual ität, welche die Liebes- empfindung von anderen Empfindungen unterscheidet, an bestimmte, in den Sinnesorganen vorhandene, nach dem Prinzip des A hgest immt- seins konstruierte Sexualendkörperchen gebunden ist. Wenn heute die bedeutendsten Physiologen mit v. Frey 7) sich für die Existenz eines besonderen Schmerzsinns, der durch Sehmerzpunkte charakte- risiert ist, ausgesprochen haben, so erscheint es nach allem, was wir von der Spezifiziertheit der Sinneseindrücke kennen gelernt haben, durchaus nicht unwahrscheinlich, daß auch f ü r die g e s c h 1 e c h t - liehe Empf indu n g b e s o n d e r e E m p f a n g s s t a t i o n e n , S e x u a 1 ]) u n k t e mit Substanzen von eigenartiger Empfänglich- keit und Empfindlichkeit, innerhalb der verschiedenen Sinnesorgane vorhanden sind. Verhältnismäßig am wenigsten Genitalpunkte dürfte nach dieser Auffassung unter den menschliehen Sinnesorganen der vierte, der Geschmackssinn, besitzen. Seine Lustempfindungen dienen bei Mann und Weib mehr der Erhaltung der Person als der Erhaltung der Art, während bei vielen Tieren neben dem Beschnüffeln das Belecken, neben der Nase die Zunge eine bedeutende sexuelle Rolle spielt. Auch beim Menschen ist die Zunge im Liebesleben keineswegs 7) v. Frey, Beiträge zur Physiologie des Schmerzsinnes, Bericht der Mathernatisch- physikalischen Klasse der sächsischen Akademie. Leipzig, Dezember 1804. 28 1. Kapitel: Fetischismus ausgeschaltet; das beweisen der • Zungenkuß, die Cunnilinctio und Penilinctio, die nicht die einzigen hierher gehörigen Akte sind. Da die Zungenschleimhaut ungleich mehr Tastwärzchen als Geschmacks- wärzchen enthält, steht noch die Entscheidung aus, oh nicht der Tast- sinn bei diesen Erregungen viel mehr beteiligt ist als der Ge- schmackssinn. Daß er nicht völlig unbeteiligt ist, zeigt die feti- schistische, dem Normalen unbegreifliche Vorliebe gewisser Leute für das Ablecken, Aufsaugen und Herunterschlucken von mensch- lichen Absonderungen, sei es fast geruch- und geschmackloser, wie des Speichels und des Blutes, oder gar scharf duftender und schmeckender, wie des Harnes und des Schweißes, des Vaginal- schleims, Präputialsebums und Kots. Dem Drang, die Tastwärzchen der Mundschleimhaut mit denen der Genitalschleimhaut in Kontakt zu bringen, wohnt nicht selten ein elementarer zwangs- mäßiger Charakter inne, der jede a udere B e t ä t i g u n g s - form als inadäquat ausschließt. Der eigentliche proximale Geschlechtssinn des Menschen liegt nicht in der Mund- und Genitalzone im besonderen, sondern in der Haut im allgemeinen. Können wir auch hier wie bei den anderen Sinnesorganen von physiologischer Teilanziehung und pathologi- schem Fetischismus sprechen 1 Prinzipiell hat beim Menschen die taktile Erreguugsmöglichkeit eine distanzielle Vorlust zur Voraus- setzung. Der Kontakt als solcher genügt nicht, er muß von einem Körper oder Teil ausgehen, der eine erotische Anziehungskraft be- sitzt. Nur wo diese magnetische Fernwirkung vorangeht, kommt es zu jenen Sensationen, wie sie etwa Wert her8) in den "Worten schildert: „. . . Ach, wie mir das durch die Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere Füße sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts." Wohl mögen viele körperliche Berührungen, die heute als Symbole unter Bekannten und Verwandten gang und gäbe sind, als sie in der Urzeit aufkamen, zunächst sexuelle Hautkontakte gewesen sein. Das gilt selbst von der heute so allgemeinen Sitte, sich einander die Hände zu reichen. In der Sprache, die konservativer als die Sitte ist, hält noch heute der Mann um die „Hand" des Weibes an, und sie „reicht dem Manne die Hand für 's Leben". Wie mit dieser Berührung der Hände, so ist es auch mit der Verschlingung der Arme, ja selbst mit dem Kusse. Umarmungen und Küsse auf Wangen, Hand, ja selbst auf den Mund, wie sie bei Begrüßungen und Verabschiedungen von Ver- wandten und Bekannten in vielen Ländern allgemein üblich sindr sind zu Sympathiebezeugungen ohne sexuelle Betonung herab- gesunken. , «) „Die Leiden des jungen Werther." S. 28. (Reclam.) I. Kapitel: Fetischismus 29 Welcher Unterschied aber zwischen dem kurzen, flüchtigen Händedruck sich be- grüßender Freunde und dem langen, innigen zweier Menschen, die sich lieben, bei welchen von der Berührungsstelle aus ein Strom wohltuender Erschütterungen durch die Reihen der Neurone zum Zentralorgan zieht! Wie verschieden der verflüchtigle Kuß der Etikette von jenem Kontakt der Lippen, bei dem die Summation der Nerven- xeize zu einer weit im Körper irradiierenden Hyperämisierung führt! In einer mir zugegangenen Zuschrift vergleicht einmal jemand die Liebesküsse, die er von einer Frau, übrigens seiner eigenen, erhielt, mit einer „Suppe ohne Salz". Es ist dies ge- rade ein Hauptunterschied zwischen erotischer und nicht erotischer Anziehung, daß eine Berührung von Personen, deren Eigenschaften den übrigen Sinnesorganen und der Vorstellung gleichgültig oder gar unangenehm sind, auch dem Hautsinn gleichgültig oder unangenehm ist. Gerade die oft schwer zu definierende, stets aber doch deutlich wahrnehmbare Artder Empfindung während der Berührung ist dafür entscheidend, ob eine Erregung sexueller oder unerotischer Natur ist, mit anderen Worten den erotischen Chemismus in Gang setzt oder nicht. Ist ersteres der Fall, si i können schon ganz leichte Berührungen, etwa der Fuß- oder Fingerspitzen, der Knie oder Ellenbogen, das eigentliche Lustgefühl wachrufen, das bei unsympathischen als un- angenehm, bei neutralen als neutral wahrgenommen wird, d. h. als belanglos überhaupt nicht ins Bewußtsein dringt. Wenn Chamf ort einmal die Liebe definiert als „l'echange de deux fantaisies et le contact de deux Epidermis" oder Dante im Purgatorio meint, daß das Sehen und F ü h 1 e n die beiden Kanäle seien, durch welche die Liebe ziehe, so muß daran festgehalten werden, daß es sich hier nicht um koordinierte, sondern sub- ordinierte Vorgänge handelt, indem das Fühlen zu dem Sehen nicht nur im zeitlich äußer- lichen Nacheinander, sondern im innerlich ursächlichen Folgeverhältnis steht. Hinsichtlich der partiellen Attraktion auf kutanem Gebiet ist zunächst zu bemerken, daß bestimmte Stellen der Haut offenbar sexuell reizbarer sind als andere. Es sind dies die „erogenen Zonen" (die Bezeichnung- „Zones erogenes" findet sich zuerst bei den Fran- zosen). Sie treten uns hauptsächlich an acht Stellen der Körperober- fläche entgegen : vier mit Haaren und die vierm.it Schleim- haut bekleideten Partien der Körperoberfläche, welche von dem Subjekt als besonders reizbar und vielfach zugleich auch an dem Ob- jekt als besonders erregend empfunden werden. Die vier Haarstellen sind die behaarte Kopfhaut, die, Gegend der Bart-, Achsel- und Schamhaare, die nicht nur für den Gesichts-, sondern auch für den Geruchssinn wesentliche Sexualreizregionen sind. Ganz ähnlich ver- halten sich die vier Stellen der Körperoberfläche, die sich von ihrer Umgebung durch eine zartere, dünnere Oberhaut abheben, die nach ihrer ganzen Beschaffenheit in der Mitte zwischen der gewöhnlichen Epidermis und der die inneren Kanäle auskleidenden Sehleimhaut steht (regio labialis, mamillaris, genitalis und analis). Die Brust- warzen stehen unter den Stellen, welche den sexuellen Widerstand reduzieren, an erster Stelle; es muß ein erfahrener Kenner der Liebe gewesen sein, der in den „Chansons de Roland" schrieb: „Der Mann liebt mit dem Herzen, das Weib mit der Spitze seiner Brüste." Außer den genannten acht Punkten finden sich noch sexuelle Erregungsstellen dort, wo die Oberhaut besonders prall gespannt ist und ohne viel Unterhautfettgewebe den Muskeln und Knochen auf- liegt. Bei den Mensehen sind derartige Reizstellen vor allem die 30 I, Kapitel: Fetischismus Handteller, die Fußsohlen, die Fingerspitzen, die Zehenspitzen, Knie, Ellenbogen und die Kreuzgegend. Weitere erogene Zonen sind hei vielen die innere Seite des Oberschenkels, die Nackengegend, Ohrmuschel und' Ohrläppchen. Auch hier gibt es wiederum ganz individuelle Besonderheiten, welche a natomisch v e r m ntl ich d u r eh eine st ä r k e r e Anhäufung sexueller Nervenen d k ö r p e r c h e n an ge- wissen Stellen charakterisiert sind. Um einige hierher- gehörige Seltenheiten anzuführen, erwähne ich den Fall eines Mannes, der angab, daß er durch Zwicken des äußeren Augen- winkels, eines anderen, der durch Einführen des Fingers in die äußere Öffnung des Gehörganges erotische Lustgefühle vermittelt erhielt. Beide erregten diese Partien künstlich zu masturbatorischen Zwecken. Nicht ohne Grund hat man den Hautsinn als den „unter den Sinnen am wenigsten intellektuellen, ästhetisch unbedeutendsten" bezeichnet. Zweifellos sind auch bei höheren Lebewesen Tasten- drücke bei weitem nicht so individuell verschieden geartet, bleiben auch in der Vorstellung und in der Erinnerung nicht so spezialisiert haften, wie die durch Auge, Ohr oder Geruch vermittelten Reize. Immerhin fühlt sich auch die Haut nach Geschlecht, Alter und Individuum sehr verschieden an, und die Erfahrung zeigt, daß nicht selten auf die Beschaffenheit der Haut, ob sie sich beispielsweise weich oder straff, zart oder rauh anfühlt, als auf einen erotisch oder anti-erotisch bedeutsamen Faktor größtes Gewicht gelegt wird. Der Fetisch ist kann durch eine bestimmte Hautberüh- i- u n g s e h r angezogen, d e r A n t i f e t i s c h i s t s e h r a b g e - stoßen werden. So übt das Streicheln von Haaren, und zwar so- wohl der am eigenen Körper gewachsenen als der von Tieren ent- lehnten (Pelzwerk), bei der Frau beispielsweise das Spielen mit dem Bart des Mannes eine häufige fetischistische Reizwirkung aus. Ein wesentliches Moment der Anziehung und Abstoßung ist auch die Hauttemperatur; so kenne ich einen Patienten, der durch die Berüh- rung kalter Hände, aber nur durch diese, in heftige Wallungen ge- rät. Wärme ließ ihn — kalt. In einem anderen Fall wurde ein Mann von dem Drange verfolgt, sieh auf einen Platz zu setzen, von dem sich unmittelbar zuvor eine Dame erhoben hatte; er konnte dies in den meist stark besetzten Wagen der Straßenbahnen und Stadtbahn- züge unbemerkt und leicht durchführen. Die dem Platze noch an- giftende Wärme des weiblichen Gesäßes rief bei ihm oft Erektionen hervor. Sich dorthin zu setzen, wo vorher ein Herr gesessen hatte, erzeugte in ihm großes Unbehagen und war i b m schließlich ganz unmöglich. In Hotels, auf der Eisenbahn und auch sonst vielfach benutzte er mit Vor- liebe Damentoiletten, was ihm nicht selten Zurechtweisungen ein- Temperaturfetischismus. Tafel I. Zeichnung des auf S. 31 beschriebenen Kältefetiscliisten , wie er sie seit seiner Jugend zahlreich anzufertigen pflegte, bevor er sich ihres fetischistischen Charakters bewußt wurde. Man beachte die Originalunterschrifl. 31 trug. Über einen seit Jahren von mir beobachteten Fall von Kälte- te tischismus (vgl. Tafel I) orientiere folgende Zuschrift : ...Mein Interesse für abhärtende Kleidung isl noch immer seliT stark, und bei dein gleichen Interesse meiner Frau ist es nicht verwunderlich, daß wir häufig davon sprechen, so daß von meinem Betonen des Abhärtungsgedankens zweifellos viel in dieser Hinsicht auf meine Frau übergegangen ist. Wenigstens meint sie, von selbst nicht auf alles ge- kommen zu sein. Aber in der Sache herrscht völlige Harmonie unserer Meinungen. Der Unterschied ist nur der, daß bei mir d e r G e d a n k e und An Mi ck solcher iE ältekleider oder von Bildern davon einen sexuellen Reiz aus- übt, was bei meiner Frau natürlich nicht der Fall ist. Und sie hat auch keine Ahnung, daß dies bei mir so ist, weiß überhaupt von solchen etwas konträren Empfindungen nichts. Sie ist in dieser Beziehung so rein und harmlos wie ein Kind. Wenn ich ge- legentlich mal eine Zeichnung in der Ihnen bekannten Art gemacht habe, die etwa ein Mädel mit bloßen Annen und Schultern und nackten Beinen auf der Eishahn darstellt, so hat sie die nur als einen Scherz betrachtet; denn wenn sie auch hei größeren Kindern unbedingt für nackte Waden und tiefen Halsausschnitt im Winter isl. so denkl sie natür- lich nicht im Ernst an solche Übertreibungen, an denen sich meine erhitzte Phantasie gefüllt. Solche Momente sexueller Erregung, die sich in derartigen Phan- tasien mit gleichzeitigem Onanieren aus! ö s Im. sind öfter vor- gekommen in Zeiten, in denen ein Beischlaf nicht möglich war wegen der Schonungs- bedürftigkeit meiner Frau. Die Phantasien bewegten sieh dabei ausschließlich in der "inen Richtung: halb- wüchsige Mädels in leichtester Kleidung im Winter. Ich selbst bin übri- gens, als ich im Winter 1915 bei Wigger in Partenkirchen war. in Gegenwart meiner Frau einmal meinem Triebe gefolgt und habe in der halbvereisteü Pari nach unter tief ver- schneiten Bäumen bei einigen Grad Kälte ein Bad genommen, was mir ausgezeichnet bekommen ist, während meine, Frau es für einen entzückenden Dummen- Jungenstreich hielt, „den sie mir gar nicht zugetraut hätte". Nach einjährigem Dienst in der Front kam ich in hiesigen Garnisondienst. So war ich im Lande. Unser militärisches Bureau, in dem ich arbeitete, sah auf den Schulhof einer höheren Knabenschule hinaus. Es interessierte mich da sehr, festzu- stellen, wieviel Jungens Sommer und Winter Wadenstrümpfe trugen. Zu gleichem Zwecke stellte ich mich mitunter mittags am Eingang der .Mädchenschulen ffuf, um zu sehen, wieviel Kinder nach meinen Ideen gekleidet gehen." Ich möchte hier bemerken, daß sehr zahlreichen Zwangsvorstel- lungen, vor allem vielen Formen der B e r ü Ii r u n g s I' u r c h t a 11 d B er ührungs sucht — follie de toneher — , die meist völlig aus der Luft gegriffen erscheinen und früher jeder eigentlichen Er- klärung spotteten, letzten Endes im Geschle e h ts 1 e 1) e rj w n r - zeln. So wandten sich mehrere Personen an mich, denen der übliche Händedruck hei der Begrüßung und Verabschiedung größte Zwangsangst verursachte; während der Unterhaltung mit irgendeinem Menschen beherrschte sie unausgesetzt der Gedanke, wie sie wohl dem peinlichen Händedruck entgehen, könnten. Kam es doch dazu, so wuschen und bürsteten sie zu Hause die Hände stundenlang. Die Umgebung nahm übertriebene An- steckungsfurcht an; in Wirklichkeit aber lag ein sich auf Hände heider Geschlechter erstreckender Fetisehhaß vor. Vor einiger Zeit wurde ich von den Eltern eines Mädchens zu Rate gezogen, die wegen tätlicher Beleidigung angeklagt war, weil sie einem 32 I. Kapitel: Fetischismus mit seiner Frau neben ihr stehenden lungenkranken Manne auf der elektrischen Bahn einen schweren Stoß vor die Brust versetzt hatte, der eine Lungenblutung zur Folge hatte. Das Mädchen, das auf einer Bank in Stellung war, gab folgendes an: Seit der Überfüllung der Verkehrsmittel befände sie sich in permanenter Aufregung. Wenn ein Mann dicht neben ihr stände, so daß sie seinen Körper irgendwo an ihrem spürte, fühle sie sich in wörtlichem Sinne „auf das unange- nehmste berührt". Sie hätte die größte Mühe an sich zu halten, um gegen den Mann nicht handgreiflich zu werden. Das Unbehagen, die Qualen wären so groß, daß sie sich habe entschließen müssen, den weiten Weg bis zu ihrem Geschäft zu Fuß zurückzulegen, seit infolge der Kriegsverhältnisse das Gedränge so stark auf den Bahnen zuge- nommen. Wenn eine Frau neben ihr stände, habe sie diese „abscheu- lichen Empfindungen" nicht, im Gegenteil hätte sie die bereits öfter als wohltuend empfunden, einen Mann aber zu fühlen, sei unerträg- lich. Sie glaube gern, daß der kranke Mann, der beim Herausgehen dicht an sie herangedrängt worden sei, unabsichtlich dazu gekom- men wäre, aber sie hätte ihm auch ebenso unabsichtlich den Stoß versetzt; er sei ihr als Abwehr ganz von selbst „herausge- fahren". Das junge Mädchen, welches kurze Haare trug und auch sonst zweifellos neben einer stark neuropathischen eine virile Kom- ponente besaß, wurde freigesprochen. Am peinlichsten ist es wohl, wenn diese sexuelle Berührungs- furcht sich auf die Geschlechtsorgane des anderen Geschlechts er- erstreckt. Ein an sich völlig heterosexueller Mann mußte zur Schei- dung schreiten, weil ihm jede Berührung seines Körpers, auch des Penis, mit dem weiblichen Genitalapparat unmöglich war. Er ver- glich die weibliche Scham mit einer „Kröte, die zu berühren er nicht imstande sei". Auch bei Frauen, und nicht etwa nur bei 'homo- sexuellen, kommt ein analoger auf den Phallus gerichteter Fetisch- haß vor. So suchte mich vor einiger Zeit eine überaus verängstigte und verzweifelte Frau auf, die folgendes berichtete: Sie selbst sei 32 Jahre alt, Mutter eines 10jährigen un- ehelichen Kindes, seit dessen Geburt sie an entzündlichen Vorgängen in den Mutter- bändern litte. Vor einem Jahre hatte 'sich ein 21 jähriger Mann in sie verliebt, dessen Drängen nach Verheiratung sie schließlich nachgegeben habe. Seit der Brautnacht quälte er sie, sie solle mit ihrer Hand sein Membrana erfassen, weil es nur so bei ihm zu einer Erektion käme. Dies sei ihr aber unmöglich; sie verweigere ihm nicht den Beischlaf, aber eine Berührung des Gliedes mit der Hand erfülle sie mit Entsetzen und unbeschreiblichem Ekelgefühl. Sie lebe in dauernder Angst vor diesem Verlangen ihres Mannes, sei deshalb bereits wiederholt einige Tage von ihm gegangen, so auch jetzt; sie möchte wissen, ob seine Berühr ungssucht oder ihre Berührungsfurcht krankhaft sei. Eine Aufrechterhaltung der Ehe sei ihr unter diesen Bedingungen unmöglich, selbst auf die Gefahr hin, daß ihr Mann seine Drohung wahr machte und sie „umbringe", wenn sie nicht bei ihm bliebe. Von der fetischistischen Einstellung eines Menschen ist zum größten Teil seine Geschmacksrichtung im allgemeinen, I. Kapitel: Fetischismus 33 seine ganze Welt- und Lebensauffassung, seine Lebensführung abhängig. Ein Mann, der eine große Vor- liebe für orientalische Typen und orientalische Kleider hat, wird leicht am Orient, seinen Sitten und Gebräuchen Gefallen finden, dorthin reisen; eine Frau, die am Manne eine gewisse ge- diegene Gemütlichkeit schätzt, wird sich für die Tracht und Zeit interessieren, die dies besonders zum Ausdruck brachte, die Bieder- meierzeit. Ein Mann, der in seinem Fragebogen schreibt, ihm lägen vor allem „große mosaische Damen", wird schwerlich Antisemit sein, während jemand, der mitteilt, ihm sei am Weibe alles Kunde, Fette und Dunkle verhaßt, viel eher auf assoziativem Wege dazu ge- langen wird. Von den anziehenden Farben und Formen der Körperteile und Kleidungsstücke übertragen sich wohltuende Em pfindungen auf alles, was auch nur entfernt damit zu tun hat. Die ganze Erde ist so voll von Symbolen. Ich greife aus vielen Beispielen meiner Erfahrung ein beliebiges heraus: Eine vornehme, alleinstehende Holländerin hatte eine leidenschaftliehe Vorliebe für arbeitende Seeleute. Von ihren festen Bewegungen, ihrer breiten Beinstel-' hing, ihren tätowierten Brüsten, von ihrer malerisch schmierigen Schiffertracht, ihren Naturlauten beim Anziehen der Taue, von dem Werfen und Fangen der Ballen beim Ein- und Ausladen, von ihrem Teer- und Tanggeruch strömte ihr ein Magnetismus entgegen, dem sie sich nicht entziehen konnte. Um ihrem Fetischismus zu frönen, lebte sie ausschließlich in Hafenstädten und wohnte in den am Quai gelegenen Hotels. Ihr Bett ließ sie so stellen, daß sie vom frühen Morgen ab die Szenen beobachten konnte, welche sie erotisch er- regten. Oft zog sie abends einfache Kleider an und ging in die ganz gewöhnlichen Tanzlokale der Matrosen, die sie für ein Ladenmäd- chen hielten. Sie tanzte unermüdlich mit den Schiffern, an die sie sich fest anschmiegte; ihre Rolle führte sie mit erstaunlicher Ge- schicklichkeit durch, ohne es jemals zum Äußersten kommen zu lassen. Auch in der Berufswahl spielt die erotische Teilanziehung eine größere Rolle, als sich der Mensch selbst dessen bewußt wird. Ein krasses, aber sehr lehrreiches Beispiel gibt E. T. A. Hoffmann in der Novelle: „Das Fräulein von Scuderi", wo er einen der übrigens bei beiden Geschlechtern keineswegs seltenen Fälle von Juwelen- fetischismus schildert. Dieser Juwelenfetischist, namens Car- dillac, wurde aus Vorliebe für Edelsteine Juwelier. Seine Arbeiten waren berühmt; wer aber bei ihm; arbeiten ließ, mußte sehr lange warten und sich bei der ' Aushändigung Grobheiten gefallen lassen, weil Cardillac sich nicht von den Schmucksachen trennen konnte. Er ging sogar so weit, daß er, von einem Zwang getrieben, seine Kundschaft, nachdem sie ihn mit den Steinen verlassen hatten, Hirsehfeld, Sexualpathologie. III. , 3 34 nächtlich anfiel und ermordete, um wieder in den Besitz seiner Steine zu gelangen. Cardillac hält diese Leidenschaft für ererbt und erzählt folgendes: „Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind von dem wunderbaren Einfluß solch- lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind. Von meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche Geschichte. Als sie mit mir im ersten Monat schwanger ging, schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Höffes« zu, das im Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen Kavalier in spanischer Kleidüng mit einer blitzenden Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht mehr abwenden konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr cm über- irdisches Gut d ünkten. Derselbe Kavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine Mutter noch nicht verheiratet, ihrer Tugend nachgestellt, war aber mit \bscheu zurückgewiesen worden. Meine Mutter erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr. als sei er im Glanz der strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der Inbegriff aller Schönheit. Der Kavalier bemerkte die sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte jetzt glücklicher zu sein als vor- mals" Er wußte sich ihr zu nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen einsamen Ort zu locken. Dort schlang er sie brünstig in seine Anne, meine Mutter faßte nach der schönen Kette, aber in demselben Augenblick sank er nieder und riß] meine Mutter mit sich zu Boden. Sei es, daß ihn der Schlag plötzlich getroffen, öder aus einer andern Ursache, genug, er war tot. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im Todeskampf erstarrten Artaen des Leichnams zu entwinden. Die hohlen' Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich «lit ihr auf dem Boden. Ihr gellendes Hilfegeschrei drang endlich bis zu in der Ferne Vorübergehenden, die herbeieilten und sie aus den Armen des grausigen Liebhabers retteten. Das Entsetzen warf meine Mutter auf ein schweres Krankenlager. Man gab sie und mich verloren, doch sie gesundete und die Entbindung war glücklicher, als man je hätte ahnen können. Aber die Schrecken jenes fürchterlichen Augenblicks hatten mich getroffen. Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den Funken hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und ver- derblichsten Leidenschaften entzündete. Schon in der frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes Geschmeide über alles. Man hielt das für gewöhnliche kindliche Neigung. Aber es zeigte sich anders, denn als Knabe stahl ich Gold und Juwelen, wo ich ihrer habhaft werden konnte. Wie der geübteste Kenner unterschied ich aus Instinkt unechtes Geschmeide von echtem. Nur dieses lockte mich, unechtes sowie geprägtes Gold ließ ich unbeachtet liegen. Den grausamsten Züchtigungen des Vaters mußte die angeborene Begierde weichen. Um" nur mit Gold und Edelsteinen hantieren z ui können, wandte ich mich z u r jG o 1 d s c hm i e d s - P r o f e s s i o n. Ich arbeitete mit Leidenschaft und wurde bald der erste Meister dieser Art. Nun begann eine Periode, in der der angeborene Trieb, so lange niedergedrückt, mit Gewalt empordrang und mit Macht wuchs, alles um! sich her wegzehrend. Sowie ich ein Geschmeide- gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit, Lebensmut raubte. Wie ein Gespenst stand Tag und! Nacht die Person, für die ich gearbeitet, mir vor Augen, geschmückt mit mein'em Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in die Ohren: Es ist ja dein — es ist ja dein — nimm es doch — was sollen die Diamanten dem Toten! — , da legte ich 'mich endlich auf Dicbes- künste. Ich hatte Zutritt in den Häusern der Großen, ich nützte schnell die Gelegen- heil, kein Schloß widerstand "meinem Geschick und bald war der Schmuck, den ich gearbeitet, wieder in meinen Händen. — Aber nun vertrieb selbst das nicht . meine Unruhe. Jene unheimliche Stimme ließ sich dennoch vernehmen und höhnte mich und rief: Ho ho, dein Geschmeide trägt ein Toter! Selbst wußte ich nicht, wie es kam, daß ich einen unaussprechlichen Haß auf die warf, denen ich Schmuck gefertigt. T. Kapitel: Fetischismus 35 Ja, im tiefsten Innern regte sich eine M o r d 1 u s t gegen sie vor der ich selbst erbebte." ' Wenden wir uns nun der Einstellung des Fetischismus nach dm anziehenden Objekten zu, so ist es vor allem ein Unterschei- dungsmerkmal, das allen Erforschern dieser, Erscheinung ins Auge fiel, und zwar derart, daß es eine Einteilung in zwei nahezu gleich große« Gruppen des Fetischismus ermöglicht: Der irritierende Reiz geht entweder von einem Teil des Körpers unmittelbar (»der von einem diesen Teil verhüllenden Kleidungsstück aus. Tu diesem Sinne unterschied schon Kr äfft -Ebing einen K ö r p e r t e i 1 - F e t i - sehismus und einen Gegenstands- oder K 1 e i d u n g s f e t i - sc hi sm us. Ich selbst habe in meinen Naturgesetzen der Liebe, je nachdem der Partialreiz ein mit seinem Träger unmittelbar ver- wachsener oder nur trennbar mit ihm verbundener Teil ist, i n Ii ä - rente und adhärente Partialreize unterschieden. Zwischen diesen beiden Gruppen von Sexualreizen stehen noch die kohä- renten, unter denen wir au dem Körper vorgenommene Verände- rungen und Verzierungen verstehen, etwa Ringe aus Gold Silber oder anderen Metallen, die durch Ohren, Nasen oder über Finger ge- zogen werden, Tätowierungen oder Bemalungen mit Schminke. Puder, Tusche oder Kohle, wie sie ja keineswegs nur bei niederen Volkerschaften üblich sind; selbst Narbenverzierungen der Haut wie die künstlichen Gesichtseinschnitte südaustralischer Urein- wohner oder die ihnen ähnlichen „Renommierschmisse" deutscher Studenten können eine fetischistische Bedeutung gewinnen. Ob nun ein Körperteil mehr in seinem natürlichen oder in ver- änderten oder bekleideten Zustand begehrt wird, hängt zum guten Teil davon ab, wie die Menschen seiner a m meisten a n s ich t i g werden. So ist unzweifelhaft die Hand sehr oft, der Handschuh verhältnismäßig selten fetischistisches Sexualobjekt, während gerade umgekehrt der Schuh ungemein häufig, der bloße Fuß dagegen selten diesen irritativen Einfluß ausüben. Schon Krafft -Ebing sali den Grund dafür darin, daß die Hand meist entblößt, der Fuß meist bedeckt gesehen wird. Wir beobachten auch, daß der Neuerschei- nung und größeren Verbreitung eines Gegenstandes, wie sie die Mode oder ein Zeitereignis, beispielsweise der Krieg, mit sich bringen, als- bald das Auftauchen vieler Fetisch isten entspricht, die nun auf diese ganz neuen Dinge, etwa irgend ein Stück oder Abzeichen der Feld- uniform, ungemein „scharf" sind. So suchte mich vor 'kurzem ein,- Dame auf, für die von dem Verwundetenabzeichen eine hochgradige sexuelle Reizwirkung ausströmte. Daß der Fetischismus nicht, wie vielfach angenommen wird, be- reits immer in früher Jugend vorhanden ist, lehrt die Erfahru'ngs- 36 I. Kapitel: Fetischismus tatsache, daß fast ebenso häufig wie in der Reifezeit eine Sache m vorgerückteren Jahren oder im Alter zum Fetisch wird; so lernen disponierte Personen nicht selten auf Auslandsreisen ihnen bisher gänzlich unbekannte Gebrauchsgegenstände kennen, auf die sie feti- schistisch reagieren, beispielsweise wurde ein mir bekannter femi- niner Mann, der die 50 längst überschritten hatte, auf seiner ersten Reise nach London unbezwinglicher Fetischist auf die kurzen Rohr- stöcke, die fast alle englischen Soldaten bei sich zu tragen pflegen. Alle diese Fälle werfen ein bemerkenswertes Schlaglicht auf die Ent- stehung des Fetischismus, der auf der unterbewußten asso- ziativen Verarbeitung einer Sinnes Wahrnehmung gemäß der individuellen Sexualkonstitution be- ruht Von einem „accident" kann da keine Rede sein, sondern von einer ganz gesetzmäßigen Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und einem bestimmten Objekt. Einen pathologischen Charakter gewinnt dieser in seiner Grund- lage physiologische Vorgang durch zweierlei, einmal durch die fast ausschließliche Konzentration der Vorstellungen auf einen Teil, und zweitens durch einen anderen bedeutsamen .Um- stand: Die sexuelle Entspannung wird meistens nicht durch den Koitus mit dem Fetischinhaber gesucht und gefunden, es wer- den vielmehr allerlei Manipulationen am Fetisch selbst begehrt und vollzogen, der gestreichelt, gedrückt, mit- Lippe und Zunge berührt, in innigste Verbindung mit dem Körper und schließ- lich auch mit den Genitalien gebracht wird, bis der Orgasmus meist ohne Kontakt der beiderseitigen Konjunktions- werkzeuge eintritt. Bei reizbareren Personen kommt es oft schon beim bloßen Liebkosen des Fetisch mit der Hand zu Ejakula- tionen. Dur ch diese e x t r a g e n i t a 1 e Betätigungs- weise stellt der große Fetischismus eine der schwer- wiegendsten Entspannungsstörungen dar. Eigentum- licherweise bespricht Krafft-Ebing nur den Fetischismus des Mannes für die Reize des Weibes; er ist aber beim Weibe für männliche Reize ebenso verbreitet. Wenn wir die Unsummen einzelner Fetischismen weiter sichten nach bestimmten Gesichtspunkten, so gelangen wir zu einer Ein- teilung, die zwar zunächst nicht weniger äußerlich erscheint als die nach Körperteilen und Kleidungsstücken, aber auch ebenso prak- tisch und gut durchführbar ist wie diese: zu einer Einteilung nach Körperregionen. Hier sind drei Hauptgruppen zu unterschei- den: der Kopf-, Rumpf- und E x t r e m i t ä t e n f etischismus. Kopffetischismus. Zu den am häufigsten ein fetischistisches Fluidum ausstrahlen- den Teilen des Kopfes gehört das Haar. Es handelt sich dabei I. Kapitel: Fetischismus 37 in erster Linie um einen optischen Fetischismus, doch sind auch der Geruchs- und Tastsinn stark beteiligt, und ein wenig auch der Gehörssinn, der das feine Geräusch leis knisternder Haare lustbetont "wahrnimmt. Unter den einzelnen Eigenschaften des Haares ge- winnen vor allem die Farbe, Länge und Frisur oft eine feti- schistische, nicht selten aber auch eine , antifetischistische Bedeu- tung-, ferner übt die lockige oder glatte, weiche oder struppige Be- schaffenheit des Haares bald eine übermäßige Attraktion, bald eine starke Aversion aus. Als Typ eines Fetischisten kann der „Zopf abschneider" angesehen werden, der so hochgradig in einen Beständteil des weib- lichen Körpers von ganz bestimmter Beschaffenheit vernarrt ist, daß er nicht davor zurückschreckt, sich gewaltsam in dessen Besitz zu setzen. Ich hatte Gelegenheit, einen der bekanntesten Zopfab- sehneider unserer Zeit, den von verschiedenen Koryphäen begut- achteten Studenten St. persönlich kennen zu lernen. Er war, wie fast alle Fetischisten höheren Grades, trotz guter intellektueller Fähigkeiten, ein erblich schwer belasteter Psychopath. Als er eines Tages wieder in Hamburg festgenommen wurde, fand man in seiner Wohnung 31 abgeschnittene Zöpfe, alle mit bunten Bändern ver- ziert und mit Tag und Stunde versehen, an denen sie abgeschnitten waren. Aus den Akten der Hamburger Polizeibehörde, von denen Staatsanwalt Wulffen in seinem „Sexualverbrecher" Auszüge bringt, seien einige, diese Anomalie gut veranschaulichende Stellen wiedergegeben : „Über sein Sexualleben machte St. folgende Angaben, die einen vollen Einblick in den pathologischen Seelenzustand des Zopfabschneiders gewähren. Was eigentlich ihn zum Abschneiden der Haare bewegt hat, sei ihm früher überhaupt nicht klar ge- wesen. Das Haar allein sei es, was er liebe, nicht auch die Per- son, der es gehörte. So sei es ihm auch erklärlich, daß er seiner Schwester Haare abgeschnitten habe. Von früh an habe er von Haaren und Zöpfen geträumt. Auch jetzt träume er öfters derartiges. Wann zum ersten Male ein sexuelles Fühlen dabei aufgetreten sei, wisse er nicht; es sei ihm das sexuell zunächst auch nicht bewußt gewesen, als er den Zopf abschnitt. Es sei wohl mehr ein körperliches Drängen gewesen, dem er nachgegeben habe, ohne zu wissen, worum es sich handele. Aufgeklärt über sexuelle Dinge sei er erst durch seinen ersten Prozeß ge- worden. Mit einem weiblichen Wesen habe er nie geschlechtlieh verkehrt, er habe sich entfremdet und abgestoßen gefühlt, sobald er von jemand wußte, daß er mit Weibern Umgang habe. Besonders widerwärtig sei es für ihn gewesen, wenn in zotiger Weise über derartiges gesprochen wurde. Deshalb sei er auch in den Sitt- lichkeitsverein Ethos eingetreten. Es handelt sich hier um eine ebenso häufige wie bedenkliche Form, sexualpathologische Regungen durch antisexuellen Fana- tismus zu überkompensieren. Nach seiner Freisprechung in B., fährt St. fort, hätte er den festen Vorsatz gehabt, seinem unnatürlichen Drange nicht mehr nachzugehen. Ein Jahr sei ihm das gelungen, im Juni 1907 sei er aber wieder rückfällig geworden. Er fürchte, diesem unglücklichen Triebe nicht mehr widerstehen zu können, er wolle jede Hilfe annehmen, von wo auch immer sie komme. Hier in der Anstalt fühle er sich geborgen, zur Ruhe sei er aber noch nicht gekommen. Er frage sich immer wieder, wann in seine ringende Seele Friede einziehen werde. Im Sommersemester 38 1907 sei er allein in Br. und ganz auf sich angewiesen gewesen. Dort sei es wieder schlechter mit ihm geworden. Er hätte geahnt, daß er bei dem Trubel aus Anlaß eines Festes leicht wieder einige Zöpfe abschneiden könne, das hätte ihn schon Wochen vorher beschäftigt und gequält. Seit Berlin hätte er keine Schere, auch nicht einmal eine Nagelschere im Besitz gehabt. Etwa 14 Tage vor dem Feste sei er zweimal lange vor einem Laden auf und ab gegangen und habe mit sich gekämpft, obiger eine Schere kaufen solle oder nicht; schließlich habe er sich beherrschen können. Einige Tage später habe er sich aber doch eine Schere gekauft, und das sei sein Verderben gewesen, jetzt sei die Erregung immer stärker geworden. Er habe oft die Schere wegwerfen wollen, habe es aber nicht getan, um zu zeigen, daß er auch trotz Schere seinem Zwange nicht nachgebe. Am Festtage sei er all ein durch die Straßen geirrt, habe nur auf Zöpfe und Haare geachtet, etwaigen Bekannten, die er zufällig traf, sei. er absichtlich aus dem Vtege^ gegangen. Trot z g r p ü e r E r r e g u n g habe er sich an diesem Tage beherrschen können. Aber am nächsten Tage sei er erlegen. Abends sei eine große Ovation vor dem Schlosse gewesen, dort habe er verschiedene, Zöpfe abgeschnitten. Beim ersten sei es ihm nicht völlig gelungen, ihn durchzuschneiden, da er zu dick und tippig war, der zweite sei ihm gleich entfallen. Dann stieß er auf ein größeres Mädchen mit wundervollem gelöstem, auffallend langem Haar, das Haar wallte in wunderbarster Weise bis zu den Knien. Bis zum äußersten war er erregt. Er griff hinein in die Fülle, da zieht das Mädchen ihre -anze Pracht nach vorn über die Schulter. Das sei ein harter Schlag gewesen, und doch habe er sich nicht von der Stelle gerührt, denkend, sie würde das Haar wieder zurück- legen. Als er dann sah', daß es damit doch nichts würde, habe er sich losgerissen und weiter gespäht, doch alle hatten ihr Haar nach vorne genommen. Schließlich riß er einem Mädchen das Haar über die Schulter zurück und schnitt sich eine Locke ab. Gegen Ende der Feier sei er in einer furchtbaren Erregung gewesen, die zum Teil wohl Wut war, daß er das herrliche Haar nicht bekommen hatte. Durch derartige Schilderunge n g e g e n ü b e r dem Sachverständigen wurde St. sichtlich erregt und mitgenommen, er klagte denn auch noch am nächsten Tage, daß er. nachdem die Erinne- rung wieder einmal geweckt sei, unaufhörlich an den langen dicken Zopf denken müsse. Er sähe den Zopf, wenn er zu Bett liege, aus dem Bett baumeln, könnte nicht einschlafen, bekäme Erektionen, überlege sich: „Kann es überhaupt so lange und so dicke Zöpfe geben?" Er messe an seinem Körper aus, wie lang er wohl sein könnte. Er stelle sich die Trägerin schlafend vor, träte an das Bett derselben, fasse den Zopf, fühle die herrliche Dirke, drücke ihn gegen Mund und Nase, sauge den Duft ein, nähme dann schließlich die Schere und schneide ihn ab. Dann Aufstöhnen und Aufächzen, der Kampf, dem körper- lichen Druck nicht nachzugeben, läßt ihn nicht einschlafen; er legt sich auf den Rücken, aul die Seite, alles hilft nichts. Dann kommen in der Dunkelheit von allen Seiten die vielen unendlichen Locken und Zöpfe, die wirklichen sowohl, die er kennt, als die gedach- ten, und die Erregung wächst, eine furchtbare Unruhe überkommt ihn. Er zwingt sich zur Ruhe, zwingt sich still zu liegen. Umsonst. Die alten Phantasien kommen, die alten Bilder: Das Schloß, die Zopfträgerinnen werden herbeigebracht, ganze Städte werden aus- geraubt, Berlin, Hamburg, Braunschweig, London, Stockholm, und immer nur schöne Zöpfe, vom Schulhof, von der Straße werden sie entführt. Die Haare werden sorg- fältig g e k ä m rat und geflochten, je d er Zopf wird unten und oben il u r e h ein Haarband geschmückt und erhält Vermerk mit Name n und Alter der T r ä g e r i n , über Geburtsort und Haarfarbe der Eltern und darüber, ob das Haar schön einmal abgeschnitten. Es entspricht dies ganz der typischen Art, in der Haarfetischisten ihre Sexualsymbole aufzubewahren pflegen. Manchmal habe St. das Gefühl, als ob das ganze Kopfkissen aus Zöpfen bestehe und auf ihm duftige Locken zerstreut seien. Er vergrabe in diese sein Gesicht, und um Brust, Arme und Gesicht spielteD und fächelten Locken. Nachdem er dann durch Onanieren Samenerguß gehabi habe, fühle er sich ganz matt, erst nach und nach könne er dann unter Abklingen der Erregung einschlafen, meist finde er aber erst nach Stunden Schlaf. Wenn er sein Gesicht in das Haar vergrabe, das ihn reizte, sei oft sofort ein S am e n e r g u ß erfolg t." I. Kapitel: Fetischismus 39 Die liier hervorgehobene Entspannung am Fetisch selbst, los- gelöst von der Person, ist es, die in diesem Fall den pathologischen oder „großen" Fetischismus von dem physiologischen unterscheidet. St. wurde sowohl in Berlin als in Hamburg freigesprochen, da neben der hochgradigen sexuellen Triebstörung erhebliche Hemmungs- ■störungen vorlagen, die seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 RStrGB. ausschalteten. Mehrere Jahre nach seiner letzten Aburteilung vor einem deutschen Gericht wurde mir eine spanische Zeitung aus Montevideo übersandt, aus der hervorging, daß der un- glückliche Mensch in Buenos-Aires wieder seinem Drange unter- legen und daraufhin in eine Irrenanstalt überführt sei. Der Artikel mit dem vollständigen fachärztlichen Gutachten der argentinischen Kollegen im „Diario del Plata" vom 28. September 1!>12 enthält so viel bemerkens- weite Einzelheiten, daß ich eine deutsche Übersetzung von ihm wiedergeben möchte: „Der Polizeichef von Buenos-Aires hat heute Nachmittag bestimmt, daß der deutsch1 Ingenieur R. S. in der Irrenanstalt interniert werden soll, in Übereinstimmung mit dem, was in dem Bericht der Psychiater, die ihn in einer Anstalt beobachteten, empfohlen wurde. Wie man sich erinnern wird, hatte S., als er sich in einem Straßenbahnwagen in der Straße „Santa Fe" nahe am Platze „Italia" befand, der Tochter eines in Argentinien akkreditierten Gesandten den Zopf abgeschnitten. Er floh sofort, wurde aber bald darauf auf Verlangen des Bruders der jungen Dame festgehalten. Die Merkmale der Krankheits- erscheinung des S. werden sich am besten aus dem schon erwähnten Sachverständjgen- Bericht beurteilen lassen, den wir nachstehend wiedergeben. Das Urteil der argentinischen Psychiater lautet wie folgt: „Unter den vielen Personen, die der Irrenanstalt zur Beobachtung übergeben werden, gibt es wenige, die ein so großes Interesse gewähren, wie der genannte R. S. — Die Wich- tigkeit der Symptome der Krankheit beruht nicht auf ihrer Seltenheit, oder der Unge- wöhnlichkeit ihrer Wahrnehmung, sondern in dem Umstände, daß es sehr selten vor kommt, unter den der ärztlichen Beobachtung unterstellten Fällen auf einen Kranken zu stoßen, der so wie dieser seine eigene Entartung kennt, sich ihr dennoch ohne Rückhalt hingibt, und zugleich gar keine Schwierigkeiten macht, sich einer langen und strengen Beobachtung und Behandlung zu unterwerfen, wie sie dieser Fall erfordert. In einem interessanten Schriftstück, welches in der Anstalt aufbewahrt wird, be- richtet genannter S., daß. noch bevor er das Alter von 10 Jahren erreicht hatte, seine Auf- merksamkeit durch Zöpfe von Frauenhaar erregt wurde, und zwar war es durch die Zöpfe seiner eigenen Schwestern. Dasselbe Dokument läßt erkennen, wie sehr er moralisch darunter gelitten hat, die tiefe Beschämung, die er erduldete, und die Anstrengungen, die von ihm und seiner Familie gemacht wurden bei verschiedenen vorgekommenen Gelegen- heiten, um seine Neigungen und Triebe zu unterdrücken. R. S. ist Deutscher, im Alter von 29 Jahren, und hat das Ingenieur-Diplom einer Uni- versität seines Landes. Er ist ein intelligenter Mann, ordentlich in seinen Gewohnheiten, verständig und sympathisch in seinem Äußeren. Er kennt seinen Zustand, die Natur- anlage seiner Verirrungcn und ihre Bedeutung, und ist vollkommen mit allen Maßnahmen einverstanden, die die Ärzte bezüglich seiner Behandlung getroffen haben. S. ist in der Irrenanstalt interniert worden auf Grund des Deliktes, dem Fräulein G. M. den Zopf abgeschnitten zu haben. Wir geben nachstehend einige Abschnitte seiner Autobiographic wieder, die besser als unsere Versuche einer Auslegung ein anschauliches Bild über seine ersten Impulse geben werden, über die Unwiderstehlichkeit seiner Nei- gung, über seine Konflikte mit der Polizei, wie über die Entwicklung und die Eigen- tümlichkeiten seiner Krankheit, ihre unausbleiblichen Folgen, und die Heillingsversuche. S. sagt: „Es fällt mir außerordentlich schwer, dies niederzuschreiben, und ich leide sehr unter der Scham über meine Verirrung und dem Schimpf, den sie auf mich ladet. 40 I. Kapitel: Fetischismus Ich war im Alter von etwa 15—17 Jahren, als ich zum ersten Male Frauenhaar abschnitt, und zwar war es das Haar meiner Schwester. Meine Mutter und meine Schwester er- fuhren, daß ich es getan hatte, doch legten sie der Sache keine Bedeutung bei. Schon als Kind folgte ich den Mädchen, die lange Zöpfe trugen, oft lange Zeit durch die Straßen, immer in Furcht, daß sie erraten könnten, warum ich ihnen folgte. Ich studierte in Berlin an der technischen Hochschule, und hier war es, wo ich zum erstenmal verhaftet wurde, nachdem ich einigen Mädchen das Haar abgeschnitten hatte. Meine Familie brachte mich zuerst nach der „Maison de Sante", einem in der Nähe von Berlin befindlichen Hospiz, und dann nach dem Sanatorium Buchheide des Doktors Colla, in der Nähe von Stettin, welcher Versuche machte, mich durch Hypnose zu kurieren, doch ohne irgend einen Erfolg zu haben. Darauf setzte ich meine Studien an der technischen Hochschule in Braunschweig fort. Dann wurde ich während eines Aufenthaltes in Hamburg zum zweiten Male ver- haftet, nachdem ich wieder einigen jungen Mädchen das Haar abgeschnitten hatte. Nun wurde' ich nach der Hamburger Anstalt „Friedrichsberg" gebracht, und dann nach dem in der Nähe von Berlin befindlichen „Kurhaus Westend", wo man mich mit Bädern, Ab- reibungen und gymnastischen Übungen behandelte. Nachher ging ich in Begleitung meiner° Mutter nach Braunschweig zurück und blieb dort, bis ich im Sommer des Jahres 1910 mein letztes Examen als Ingenieur bestanden hatte; nachdem ich noch einige Zeit als Assistent eines Professors jener Schule gearbeitet hatte, begab ich mich nach der südamerikanischen Republik Argentinien." Das Phänomen seiner sexuellen Verirrung beschreibt S. selbst: „Nachdem ich das Haar abgeschnitten habe, gehe ich nach meinem Hause und küsse da fort und fort das reizende Haar, ich drücke es an meine Wangen und Nase, und schlürfe den köstlichen Duft des Haares ein." Es genügt, dieses Selbstbekenntnis des S. zu lesen, um zu verstehen, daß es sich um einen Fall von erotischem Fetischismus handelt. — Darf man nun alle solche Fälle von Fetischismus als eine Abnormität betrachten? Sicher nicht! In einem ge- ringen Grade, mit Mäßigkeit geübt, bildet die Vergötterung der Hand, des Fußes, des Haares oder der Stimme nur eine ganz spezielle, symbolische Form unserer Liebe, die ihr Ideal nur auf ein bestimmtes Element, einen Teil der menschlichen Schönheit beschränkt, und dasselbe dürfen wir von der Gewohnheit sagen, die von der geliebten Person ge- brauchten Gegenstände abgöttisch zu lieben. Die Psychiatrie erkennt den Liebenden dieses Pvecht zu, bei Gefahr allen Menschen pathologische Stigmata zuzuschreiben, und sie dringt auch nicht weiter in das Gebiet der Gewohnheit ein, persönliche Andenken und intime Gegenstände aufzubewahren, was als eine übertriebene Sentimentalität bezeichnet werden darf, wenn einem Taschentuche oder einem Bilde der ganze repräsentative Wert des geliebten Wesens beigemessen wird. Neben dieser Vergötterung, deren fundamentale Ursache doch immerhin die Person selbst bildet, existiert noch ein pathologischer Fetischismus, der mit Normalität unver- einbar ist und bei welchem der Person nur eine sekundäre Bedeutung beigemessen wird, oder die dabei oft gar keine Rolle spielt. Im ersten Falle wirkt die Anziehung teilweise oder ausschließlich durch einen bestimmten Körperteil der geliebten Person, der gewisser- maßen ein Monopol bildet in der Darstellung des ganzen Körpers. Im anderen Falle ist es die Liebe zu einem bloßen Gegenstande, der der geliebten Person angehört, wie z. B. der Fall der Schuhe der Celestina, den Mirbeau beschreibt. Tanzi unterscheidet diese bei- den letzteren Formen des Fetischismus in paraphysiologischen und antiphysiologischen Fetischismus, und nennt diese letztere Liebe außerkörperlich (extraterritorial), eine das Gebiet des Körpers verlassende Liebe, die er als die extremste Form von ab- göttischer Liebe bezeichnet, die die Wissenschaft kennt. Nach dieser Klassifikation könnten wir also den uns vorliegenden Fall folgendermaßen diagnostizieren: 'S t. ist ein erblich belasteter Degenerierter, dessen Verirrung (desequilibrio) als paraphysiologischer Feti- schismus vorgerückten Grades sich kundgibt (fetischismo parafisiologico avanzado). Nach dieser Diagnose erübrigt nun noch, über die Behandlungsweise des Herrn St. sich auszu- lassen. Wir halten uns für berechtigt, seine Internierung zu fordern. Es ist unleugbar, daß die sexuelle Perversität des Herrn St. mit einer ganz hervorragenden Intelligenz zusammen- I. Kapitel : Fetischismus 41 geht, nichtsdestoweniger macht sie ihn ungeeignet zu einem brauchbaren Gliede der Ge- sellschaft, da er außerstande ist, seine Neigung zu beherrschen. Diese Wider- standslosigkeit seiner Neigung gegenüber, die er als unbe- siegbar bezeichnet, hat seinen Namen, seine Karriere und seine Position vernichtet und hatte 20 Verfehlungen gezeitigt bis zu dem Momente seiner Inhaftierung, die erfolgte, nachdem er den 21. Zopf abgeschnitten hatte. Seine Anfälle neigen also ganz evident zu Wiederholungen und machen einen intelligenten Mann unbrauchbar für das Leben. Nur die Absperrung und eine vorsichtige ärztliche Behandlung können ilin der Gesellschaft wiedergeben, oder wenigstens den gegenwärtigen Zustand seiner Perversität verbessern. In diesem Sinne und in Übereinstimmung mit seinen eigenen Wünschen empfehlen wir die Internierung des Herrn St. im Hospicio de las Mercedes." Man hat anläßlich dieses und ähnlicher Fälle die Frage auf- geworfen, ob sich der Zopfabschneider objektiv eines Diebstahls, einer Sachbeschädigung, der Körperverletzung oder Beleidigung schuldig macht. Der bedeutende Kriminalist W u 1 f f e n verneint den Diebstahl und die Sachbeschädigung, da der Zopf als Körper- teil keine „fremde bewegliche Sache", überhaupt keine „fremde Sache" im Sinne der betreffenden Gesetzesbestimmung sei, er bejaht hingegen die Beleidigung und auch die Körperverletzung, und zwar als eine im Sinne des § 223 a StGB, mittels gefährlichen Werkzeugs verübte, da der Zopf mit einem Messer oder einer Schere abgschnit- ten wird. Die Frisur nimmt nicht nur in Zopf form, sondern auch sonst als Fetisch im Liebesleben einen sehr beträchtlichen Raum ein; beson- ders gilt dies vom Scheitel. Vor vielen1 Jahren suchte mich einmal eine ältere Dame auf, die seit Erwachen ihres Geschlechtstriebes lediglich durch den Scheitel in der Mitte in erotische Wallungen versetzt wurde; trotz des daraus gezogenen Lustgewinns empfand sie den sich immer wieder einstellenden Gedanken daran als eine sie peinigende Zwangsvorstellung, deren sie sich schämte. Auf viele Prostituierte, aber keinesfalls nur auf diese, übt das mit Pomade fest an die Stirn angeklebte Haar, die sogenannte „Schmalztolle" einen großen Keiz aus. In Verbindung mit dem „kessen Rundschnitt", wie man in diesen Kreisen den hochausrasier- ten Nacken bezeichnet, bildete er lange in allen Großstädten ein starkes erotisches Lockmittel, dessen sich Zuhälter, Apachen und andere Deklassierte bedienen. Ganz dieselbe Anziehungskraft übt auf eine andere weibliche Gruppe, zu der viele der sogenannten „Backfische" gehören, die „Künstlertolle" aus. Manche Männer legen sich Sammlungen von Nackenhaaren weiblicher Personen an, denen sie in ihrem Leben erotisch nahegestanden haben. Nicht selten rühren diese „Haarsträußehen" auch von Schamhaaren her. Kurzgeschnit- tenes Haar bei Frauen, die als Tituskopf oder Pagenkopf bezeich- nete Haartracht, wirkt auf einige Personen, und zwar auf Männer mit femininem Einschlag, ebenso aber auch auf gewisse homo- sexuelle Frauen fetischistisch, auf andere Individualitäten jedoch, 42 I. Kapitel: Fetischismus und zwar die größere Menschenzahl. antierotisch. Falsche Haare sind oft ein Objekt des F e t i s e h h a s s e s , und zwar in sol- chem Grade, daß sie zu einem erheblichen Ehehindernis werden können. In einem Eheanfechtungsprozeß, in dem ich gutachtlich gehört wurde, gab der Mann an, daß seine junge Gattin nach der Hochzeit plötzlich ihre pompöse Frisur abnahm, an deren Schön- heit er sich als Bräutigam besonders erfreut hatte. Sie sei fast kahlköpfig in das Ehebett gestiegen und hätte er sich, da er keine Ahnung hatte, daß sie eine Perücke trug, erschreckt und entsetzt von ihrem Anblick abgewandt. Sein vorher erigiertes Membrum sei sofort zusammengeschrumpft und jede sexuelle Verkehrsmög- lichkeit von da ab ausgeschlossen gewesen. Er focht, und zwar mit Erfolg, die Gültigkeit der Ehe wegen Verschweigeiis der falschen Haare als eines wichtigen Umstandes an. Eine ungemein selektive Bedeutung hat die Haarfarbe bald sind es recht helle, blonde, bald tiefschwarze, bald kastanien- braune Haare, die irritativ, sei es attraktiv oder negativ, wirken. Ein Mann meiner Praxis, galizischer Kaufmann, war von einem sadistischen Haß gegenüber roten Haaren erfüllt. Gleichwohl heiratete er schließlich eine Frau mit „knallrotem" Haar. Zu seiner Rechtfertigung gab er zwei Gründe an: Er hätte geglaubt, durch die eheliche Gewöhnung wurde er sich seine Abneigung „abgewöhnen" können, außerdem sei seine Frau so vermögend gewesen, daß er um dieses Vorzugs willen das körperliche Defizit in den Kauf genom- men hätte, zumal alle, die er gefragt habe, das feurige Haar eher schön als häßlich gefunden hätten. Um seinen Ekel hypnotisch heilen zu lassen, suchte er mich auf. Ich schlug zunächst der Frau vor, ihr Haar färben zu lassen. Sie lehnte dies energisch ab. Den Widerwillen ihres Mannes faßte sie als persönliche Beleidigung, bestenfalls als eine Marotte auf, die er, „wenn er sie wirklich liebte, aufgeben müsse"; ähnliche Gedankengänge kommen bei der Un- kenntnis und Unterschätzung fetischistischer Zwangszustände im Publikum nur allzu häufig vor. - - Die Ehe wurde getrennt. Selbst graumelierte und weiße Haare kommen als Fetischismen in Frage. Ich hatte einen Patienten, der seiner Gattin beim Koitus eine weiße IV rücke aufsetzte. Die Mode bepuderte r und weißhaariger Perücken dürfte, wie in ihrem Ursprung die meisten Moden, nicht ohne feti- schistischen Beigeschmack entstanden sein. Fast ebenso intensiv wie das weibliche Kopfhaar auf den Mann wirkt das männliche Barthaar auf das Weib, namentlich nimmt „ein schöner Schnurrbart" oft den Charakter einer überwertigen Idee an, wobei der optische tandruck durch den taktilen, die Tastwirkuug nicht unwesentlich erhöht wird. Der kurzgeschnittene Schnurrbart, die sogenannte „Bürste", ist gleichfalls ein ziemlich verbreiteter Fetisch, ebenso der Bartflaum, und zwar dieser nicht nur im mann- I. Kapitel : Fetischismus 43 liehen, sondern auch im weiblichen Gesicht. Fast für jede Bart- tracht finden sieh Liebhaberinnen, verhältnismäßig noch am wenig- sten für den Vollbart, der dagegen als Antifetisch eine nicht ge- ringe Kolle spielt. Ein ganz seltener Fall, den auch Krafft-Ebing anführt, ist der eines Mannes, der auf Frauen mit Vollbärten eingestelU war. Als seine erste Gattin, eine bekannte Barldame, verstorben war, ruhte er nicht eher, bis er wieder ein Weib mit stattlichem Vollbart sein eigen nannte. Liegt hier zweifellos eine' Baritat vor, so ist der umge- kehrte Fall, die Liebe von Frauen zu Männern mit weiblichem, also negativem Gesichtshaartypus, eine um so häufigere Erschei- nung. Die Mode männliche!- Bartlosigkeit stimmt mit der großen Verbreitung dieses Fetischismus uberein, in dem man nicht ohne guten Grund ein Anzeichen dafür hat erblicken wollen, daß die beiden Geschlechter sich nicht nur in physiognomischer, sondern auch in psychologischer Hinsicht einander näher gekommen sind. Sicherlieh ist die jeweils vorherrschende Barttracht als Gradmesse r I' ü r d i e G e sc h 1 e c h t s a k z e 11 hü e r u n g eines Zeitalters von einer nicht zu unterschätzen- den B e d e u t u n g. Ein Fetisch, der infolge Pigmentkorrespondenz häufig mit dem Haarfetischismus parallel läuft und sich mit ihm zu einer Einheit verbindet, ist das Auge. Der zwischen beiden bestellende Zusammen- hang ergibt sich daraus, daß blonde Haare gewöhnlich zusammen mit blauen Augen vorkommen und ebenso auch die braune und schwarze Farbe des Kopfhaares und der Iris übereinzustimmen pflegen. Dunkle Augen bei hellem Haar oder eine blaue Regen- bogenhaut bei schwarzem Haarschmuck gelten infolge ihrer Selten- heit als besonderer Beiz, der aber grade deswegen gelegentlich stark fetischistisch wirkt. Personen, für die das Auge ohne jede ero- tische Bedeutung ist, gibt es auch, sie sind aber Ausnahmen und werden an Zahl weit von solchen übertreffen, für welche das Auge nicht nur als Spiegel der Seele stark anziehend wirkt, sondern eine weit darüber hinausgehende fetischistische Bedeutung gewinnt. Ks kommt dabei nicht nur auf die Augenfarbe an, sondern auf jede einzelne Eigenschaft des Auges, die Größe der Pupillen, auf den von der Absonderung der Tränendrüsen abhängigen Glanz und Schimmej' des Auges, auf die Wimper und Augenbrauen, so sind zu- sammengewachsene Augenbrauen oft ein Fetisch, oft aber auch ein Antifetisch — endlich auch auf die Augenlider, die Lidspalte und die Form des ganzen Auges. Welche subjektiven Täuschungen hier der Fetischzauber herbeiführen kann, zeigte mir vor einiger Zeit eine Antwort, 'welche ein Mann, der in Erpresserhände geraten war, auf Vorbehalt als Zeuge vor Gericht gab: „Wie konnte ich glauben," meinte er, „daß ein Mensch mit so guten, treuherzig 44 I. Kapitel: Fetischismus blauen Augen so schlecht sein kann." Ein unwiderstehlicher Fe- tisch sind für manche Männer die Tränen der Frauen. Sogar Augenfehler, wie Flecken auf der Hornhaut, verzerrte oder unge- wöhnlich enge oder weite Sehlöcher, Glotzaugen, hochgradige Kurz- sichtigkeit, ja seihst Blindheit können als Fetisch auftreten. So suchte mich kürzlich ein 24jähriger Kriegsblinder mit einem ^jäh- rigen, ungewöhnlich schönen Mädchen auf, das sich in ihn verliebt und eine bevorstehende Verlobung mit einem wohlhabenden älteren Manne gelöst hatte. Das Mädchen gab an, daß Blinde in ihrer eigenartigen Hilflosigkeit sie von jeher besonders gefesselt hätten. Die stille mutige Art, wie sie ihr Unglück zu überwinden suchen, hätte „so etwas unendlich Rührendes". Dieser junge, tapfere Bünde — er war von Beruf Musiker — sei ihr ein und alles. Wenn die Eltern auf ihrem Plan, die Verbindung zu trennen, bestehen würden, seien sie entschlossen, ihr Leben gemeinsam zu beschließen. Sie suchten mich mit dem Ersuchen auf, die Eltern von der Un- löslichkeit ihres Bundes zu überzeugen, dessen Folge sich übrigens bereits durch eine dreimonatliche Gravidität bemerkbar machte. ^ Im Vergleich zum Augenfetischisten ist .der Nasenfeti- sch i s t selten, jedenfalls ist er bei weitem nicht so verbreitet, wie man nach der Lage des oft so herausfordernd hervorspringenden „Gesichtserkers" annehmen sollte. Bei der fetischistischen Vorliebe' für große Nasen ist manchmal ein mehr oder weniger unbewußter Phalluskult im Spiel, indem eine alte Volksvorstellung, die freilich wie viele keineswegs organisch begründet ist, dahin geht, daß die Größe der Nase für die des männlichen Gliedes bezeichnend ist; ein alter Spruch der Folklore lautet dementsprechend: „An der Nase des Mannes erkennt man den Johannes, am' Munde des Weibes den 'Spalt ihres Leibes." Von erheblicher fetischistischer Reizwirkung ist neben ihrer Größe die Nasen form, wie die griechische, die Haken- und Adlernase, das „Stupsnäseken". Einen besonderen Fetisch bilden auch die Nasenlöcher und Nasenflügel. In Berlin gab es einen Mann, der den Beinamen „Nasenpaula" führte; um seine Nasenlöcher zu erweitern, stopfte er sich nachts die Nasenöffnun- gen aus oder versah' sie mit Klammern; dieser Mann war auch bei anderen auf große Nasenlöcher versessen, auf die er mehr achtete, als auf jeden anderen Körperteil. Krafft-Ebing zitiert den Fall eines 34 jährigen Gymnasiallehrers, der „den Sitz der weiblichen Geschlechtsorgane in die Nasenlöcher verlegte". Um diese Vor- stellung drehte sich seine sehr lebhafte sexuelle Begierde. Er ent- wirft Zeichnungen von Frauenköpfen mit Nasenlöchern, die so weit sind, daß sie die immissio penis ermöglichen. Eines Tages erblickt er in einem Omnibus ein Mädchen, dessen Nase sich seinem Ideale näherte; er folgte der Person in ihre Wohnung, hält sogleich um ihre Hand an, wird abgewiesen und dringt immer wieder ein, bis I. Kapitel : Fetischismus 45 er verhaftet wird. Geschlechtlichen Umgang hatte der Mann nie- mals gehabt. Auch die Farbe der Nase, die rote und blaue, die Nasenabsonde- nmg, der Nasengeruch, selbst die Ozaena wirken bald fetischistisch, bald antifetischistisch. Fälle von Mundfetischismus führt bereits Krafft-Ebing an, einer der von ihm beschriebenen trat später in meine Behand- lung. Er betrifft einen Juristen, dessen ausschließliche sexuelle Be- tätigung usque ad eiaculationem in Aneinanderdrücken der Lippen alias Küssen bestand. Aufgeworfene, wulstige Lippen zogen ihn derart au, daß sie, gleichviel ob beim weiblichen oder männlichen ■Geschlecht, fast den ausschließlichen Inhalt seiner geschlechtlichen Begierde bildeten; nur bei farbigen Rassen, namentlich dort, wo sie als Rassenmerkmal auftreten, ließen sie ihn kalt. Eine fast noch höhere Bedeutung als die Form und Farbe der Ober- und Unterlippe kommt der zwischen den Lippen sichtbaren Zahnreihe zu, deren physiologische Attraktionskraft sich unter pathologischen Verhält- nissen bis zum hochgradigsten Fetischismus steigern kann. Am Mundfetischismus nehmen sämtliche Sinnesorgane teil. Wie sich das Auge an der Form und Farbenspiel von Lippen und Zähnen ergötzt, so erfreut sich das Ohr an dem Laut der Küsse und das Gefühl an der wechselseitigen Berührung der zarten mit zahllosen Tastkörperchen versehenen Schleimhäute. Aber auch der Geruchs- und Geschmackssinn sind nicht unbeteiligt. So wirkt auf manche Frauen der Tabakduft, ja sogar die alkoholische Ausdünstung des männlichen Mundes sinnverwirrend, nicht selten freilich auch anti- fetischistisch ein. Von großer fetischistischer Bedeutung sind die Mundbewegungen, wie der schmollende Mund („das Maulen"), der sprechende, singende, kauende und vor allem der lächelnde und lachende Mund. Dem melodischen Lachen eines Weibes („ihres Lächelns holdem Zauber") sind viele Männer widerstandslos er- legen. Es würde den uns zur Verfügung stehenden Raum weit über- schreiten, wenn wir, um vollständig zu sein, von einem Körperteil- chen zum andern gehend, alle Fetischreize der ganzen menschlichen Körperoberfläche durchnehmen würden. Wir müssen uns daher in der Folge beschränken, die einzelnen Fetischstellen kurz hinterein- ander aufzuzählen und wollen nur gelegentlich durch ein typi- sches Beispiel den besonderen Fetischismus näher veranschau- lichen. Im Gesicht ist außer den bisher erwähnten Fetischismen noch an- zuführen: der Ohrenfetischismus. Fetischistisch wirken hier die Ohrform, die Ohrfarbe, bald dicke, fleischige, bald dünne, zarte Ohren, ferner große, abstehende, sowie vor allem kleine Ohren; ferner auch angewachsene Ohrläppchen, Knötchen im Ohrrand, be- 46 I, Kapitel: Fetischismus wegliehe Oliren, sowie Einstiche für Ohrring«. Ich hatte einen Fall, in dem jemand an der Zwangsvorstellung litt, die Ohren weih- licher Personen zu ergreifen, an der Ohrmuschel zu ziehen, zu spielen und den Finger in ihren äußeren Gehörgang zu führen. Patient war durch Ausführung dieser ihn zwangsmäßig beherr- schenden Hantierungen wiederholt in Ungelegenheiten gekommen. Die Ohröffuung gehört, ähnlich wie die Mund- und Nasenöffnung, für manche Fetischisten zu den sexuell erregenden Löchern der Körperoberfläche. Es folgt der Kinn- und W a n gen f e t is chism u s. Auch hier kommt vor allem die Form in Frage, das runde, starke, breite Kinn, die Pausbacken und hohlen Wangen, ferner der Teint, die roten Bauernbacken, die bleichen Wangen, auch die abgezirkelte Gesichtsröte der Schwindsüchtigen, die „Kirchhofsrosen", wie sie im Volksmunde heißen, findet ihre schwärmerischen Verehrer. Eines der hauptsächlichsten Fetische dieser Körperpartie aber sind die auf örtlichem Fettmangel beruhenden Grübchen, sowohl die Wan- gengrübchen, als das Grübchen im Kinn. Die Mehrzahl der Grüb- chenfetisc nisten sind physiologischer Art, es gibt aber auch solche, die in pathologischer Weise völlig von ihrer Leidenschaft be- herrscht werden. Es ist bezeichnend, daß bei den Griechen die Be- zeichnung für eine andere grübehenhafte Hauteinsenkung, nämlich die mediale Nasolabialrinne (filrgov lautet, was nichts anderes als Liebeszauber bedeutet. Einige Worte auch über die fetischistische Bedeutung der Ge- sichtssekrete: Das. Sekret der Tränendrüsen ist oft von stark fetischistischer Wirksamkeit. Es gibt Männer, und zwar keines- wegs nur sadistische, die Frauen absichtlich zum Weinen bringen, um ans dem Anblick ihrer Tränen Lust zu schöpfen. Die Flüssig- keiten der Mundhöhle dagegen wirkt häufiger antifetischistisch als fetischistisch. Doch kommen zweifelsohne auch Speichelfetischisten vor, die den heftigen Drang haben, sich von geliebten Personen in den Mund speien zu lassen. In mehreren Fällen meiner Beobach- tung wurden Frauen von Männern, die „kräftig spuckten", ange- zogen. Überwiegend antitropisch wirken die Absonderungen des Gehörgangs und der Nasengäuge, immerhin kann eine übermäßige Leidenschaft auch hier dazu führen, daß im Sinne eines Antifetisch- Fetischismus etwas, was im Grunde abstößt, anzieht. 1 Rumpffetischismus. Die drei fetischistischen Reizstellen von stärkster Wirksam- keit am Rumpf sind Brüste, Hüften und Genitalien. Aber auch von diesen Hauptregionen abgesehen ist der Rumpf fast ebenso reich an Fetischismen wie das Gesicht. Im einzelnen hervorzuheben I. Kapitel: Fetischismus 47 wäre: der Hals fetischismus; sowohl der kurze, dicke, als der lange „Schwanenhals" haben fetischistische Anhänger; ebenso der freie Hals beispielsweise bei Matrosen und vor allem bei dem weiblichen „Dekollete'". Ich hatte einen Patienten, einen Lehrer, der die Xei- gung hatte, seine Hand in den Halsausschnitt von Mädchen gleiten zu lassen, die Matrosenkleider trugen. Er zog sich infolge dieses stark zwangsmäßigen Triebes schließlich eine Anklage wegen tät- licher Beleidigung zu. Ein anderer Patient von mir wurde von der Stelle des siebenten Halswirbels fasziniert. Dieser Hauterhöhung wandten sich seine Blicke zu. wo er ihrer nur immer ansichtig werden konnte. Die seltsame Vorliebe verliert etwas an Sonder- barkeit, wenn man in Betracht zieht, daß allen Vor Wölbungen und Einsenk un gen der Körperoberfläche ein besonderer ero- tischer Magnetismus innezuwohnen scheint. So ist es an der Vor derseite des Halses der Adamsapfel, von dem vielfach eine ganz erhebliche Anziehungskraft ausgeht. Stärker allerdings noch wie die Struktur fesselt die Funktion dieses Organs, „das Organ" ■ — wohl der einzige Fall, in dem dieses Wort nicht im anatomischen, sondern zugleich im physiologischen Sinne gebraucht wird — die Stimme. Die Zahl der Stimmfetischisten ist ungemein groß. Viele überflüssige Telephongespräche beruhen lediglich auf akusti- schem Fetischhunger. Wenn Alexander Dumas in seiner Novelle: „la maison du vent" eine Frau schildert, die ihrem Mann die Treue bricht, weil sie der Stimme eines Tenors unrettbar ver- fallen ist. und Binet angibt, daß so manche Heiraten, welche mit Sängerinnen geschlossen wurden, auf den Fetischzauber ihrer Stimme zurückzuführen sind, so deckt sich dies völlig mit den sexualwissenschaftlichen Forschungsergebnissen neuerer Zeit. Vom Kehlkopf gelangen wir über die „runden" Schultern des Weibes und den „starken" Xacken des Mannes zu den Brüsten beider Geschlechter. Hier kommt für viele Frauen in erster Linie die behaarte Männerbrust in Betracht, umgekehrt für zahlreiche Männer als einer der heftigsten Fetischreize der als sekundärer Ge- schlechtscharakter an Wucht alle anderen Geschlechtszeichen über- ragende weibliche Busen mit allen seinen Einzelheiten, der erek- tilen Brustwarze, dem bald mehr braun gefärbten, bald mehr rosi- gen Warzenhof samt den Montgomeryschen Drüsen. Selbst die feinen Brusthärchen lösen noch fetischistische Lustgefühle aus. So über- aus attraktiv die weiblichen Brüste die Sinne des Mannes, vor allem seine Seh- und Tastnerven beeinflussen können, so kommt aber doch gelegentlich auch eine antitropische Aversion vor, wie der oben beschriebene Fall von Fetischhaß eines Arztes gegen die weib- lichen Brüste beweist. Hängebrüste sind, ebenso wie Hängebauch und Doppelkinn, meist wie alles hypertrophisch Abnormale von antifetischistischer. 48 I. Kapitel : Fetischismus gelegentlich aber auch von fetischistischer Wirkung. Eine spezi- fische Verkehrsform der Brustfetischisten ist der zwischen den an- einandergedrückten Brustdrüsenkörpern ausgeführte Coitus i uter- ina m mal is. Für die Begion zwischen Brustkasten und Becken- gürtel an jeder einzelnen Partie, namentlich für die Gegend, der °Taille", gibt es gleichfalls viele Fetischisten. Einen antifetischisti- schen Keiz übt manchmal der Nabel aus. Ich hatte in meiner Praxis mehrere Fälle, in denen der Anblick des weiblichen Nabels bei Männern Übelkeit bis zum Erbrechen verursachte. Vielfach wird ein . starker Leib zum Fetisch sowohl beim Weibe als beim Manne. Daß auf dem Gebiet des Fetischismus das, was wirklich vorkommt, alles, was man sich vorstellt, weit übertrifft, zeigt, daß selbst von den Darmgasen attraktive Wirkungen ausgehen können. So sah ich in einem Montmartrelokal in Paris ein Mädchen auftreten, die sich la femme petomane nannte und ihr zahlreiches Auditorium dadurch teils erheiterte, teils erregte, daß sie von Zeit zu Zeit unter witzigen Bemerkungen Flatus von verschiedener Stärke und Länge produzierte. Diejenigen, welche ihrem Olfactorius mehr Lust ver- schaffen wollten, saßen in den vorder.en, die sich mit dem akustischen Keiz begnügten, in den anderen Keinen. Der Hüftfetischismus ist weit verbreitet, und zwar sind es sowohl sehr breite, als sehr schmale Hüften, die in Verbindung mit einem entsprechenden stark oder schwach entwickelten Gesäß Männer an- ziehen, die ihrerseits metatropisch oder feminin veranlagt sind, während Hüften von mittlerem Umfang den sogenannten nor- malen Mann am meisten zu reizen scheinen. Eine gewisse Rolle spielt auch das besonders im Orient und bei wilden afrikanischen Völkerschaften häufig vorkommende übermäßig ausgebildete Hin- terteil, der Fettsteiß oder die Steatopygie, die den Eindruck einer natürlichen „Tournüre" (eines „cul de Paris") macht, sehr verschie- den freilich von dem Ideal, das sich die hellenischen Bildhauer von der schönhintrigen Liebesgöttin, der „Venus kallipygos" bildeten. Über dem Gesäß wirken die Rückengrübchen des Weibes — man findet sie nicht selten auch bei femininen Männern — als fetischistische Reizstellen; sie werden von manchen den Gesichts- grübchen als ästhetisch gleichwertig an die Seite gestellt. Im übrigen ist es am Rücken hauptsächlich noch die Einsenkung zwischen den Schulterblättern, auf die einige Fetischisten versessen sind. Nicht ohne Bedeutung ist auch die Rückenform als Ganzes mit den ihr eigenen „Verbeugungen", welcher manche erhebliche Be- achtung schenken ; sogar der krumme Rücken, der Buckel, hat seine Liebhaber und Verehrerinnen. Wir kommen zum Genital fetischismus. Natürlich ist darunter nicht der zum genitalen Endeffekt führende Treppenreflex zu verstehen, das ganz normale Drängen zu den Geschlechtsorganen T. Kapitel : Fetischismus 4t) als Sexualziel, sondern die primäre und nahezu ausschließliehe Fesse- lung- an den männlichen oder weiblichen Genitalapparat. Von eini- gen, wie Kr äfft- Ebing, wird ein derartiger Genitali'etischisrnus für sehr selten gehalten, ja sein Vorkommen nahezu in Abrede ge- stellt, andere, wie Bloch und Hirth, sind entgegengesetzter An- sicht, und W eininger geht sogar soweit, zu behaupten: Der Mann existiert für das Weib nur als Geschlechtsteil, alle übrigen Eigen- schaften träten demgegenüber völlig in den Hintergrund ; zwar finde die Frau das Glied keinesfalls schön oder auch nur hübsch, es übe aber, wie auf die Menschen von ehedem das Medusenhaupt, eine hypnotisierende, faszinierende, bannende Wirkung aus. Eine ähn- liche Meinung scheint auch Goethe in den Paralipomena zum ersten Teil des Faust (Weimarer Ausgabe Band XIV, S. 307) den Teufel vertreten zu lassen. Auf Grund eigener Studien und Erfahrungen halte ich in dieser Frage die eine extreme Meinung für ebenso verfehlt wie die andere.- Zweifellos besitzt die normalempfindende Frau ein lebhaftes Inter- esse für das männliche Glied, wie dies im Phallus- und Lingamkultus deutlich in die Erscheinung tritt, es ist aber kaum stärker wie das Interesse des normalen Mannes für die weibliche Scham und kommt keinesfalls regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise als das primäre sexuelle Anziehungsobjekt in Frage; wenn, dann allerdings gewöhn- lich in fetischistischer Steigerung-. Auch unter den Männern gibt es Gliedfetischisteu, wie unter Frauen Vaginal- und Vulvafetischisten. Man sollte zunächst annehmen, daß solche Männer homosexuell sein müßten. Aber die Erfahrung zeigt, daß diese Voraussetzung in ihrer Allgemeinheit irrig ist. So suchte mich vor einigen Jahren ein Süd- deutscher auf - - und dieser Fall blieb nicht vereinzelt — , der sich stundenlang in Bedürfnisanstalten aufhielt, um des Anblicks männ- licher Glieder, namentlich erigierter, teilhaftig zu werden. Er trug Bohrzeug bei sich, um nach Art der Voyeure kleine Löcher in die Zwischenwände öffentlicher Klosetts zu bohren, oder schüttete dort, wo die Zwischenwände nicht bis zum Boden reichten, Flüssigkeiten aus, in denen sich die Genitalien spiegelten. Dieser Mann, der über seine Zwangsvorstellungen, die ihm viel Zeit kosteten, sein- unglück- lich war, lebte in harmonischer, kinderreicher Ehe und wies die An- nahme homosexueller Neigungen weit von sich. Kürzlich suchte mich ein Pfarrer auf, ein verheirateter Mann, Vater dreier Kinder, der mehrmals im Jahre aus seinem Dorfe nach Berlin fuhr, von der Sehnsucht getrieben, sich dort als Phallusvoyeur umzutun. Ei- be- tonte immer wieder, daß ihn schon der bloße Gedanke mit Abscheu erfülle, jemals mit einem Manne in geschlechtlichen Verkehr zu treten, dagegen beherrschte ihn unausgesetzt in ge- radezu dämonischer Weise die Vorstellung eines möglichst stark entwickelten männlichen Gliedes. Auch der Fetischhaß, der Hirschfeld, Sexualpatholog-ie. in. , a 50 I. Kapitel: Fetischismus sich auf die Genitalien des anderen Geschlechts erstreckt, beruht durchaus nicht immer auf konträrer Sexualempfindung. Wieder- holt konsultierten mich Männer, die sich in jeder Hinsicht zur Trau hingezogen fühlten und dennoch vor der Vulva und dem Schei- deneingang eine ihnen ebenso unerklärliche wie unüberwindliche Aversion verspürten; sie sagten, daß ihnen die Berührung dieses Teils ebenso heftig widerstehe, wie die eines „schleimigen Tieres". Auch bei Frauen besteht dem Phallus gegenüber öfter eine überaus heftige Berührungsfurcht. So sachte mich vor einiger Zeit ein Mann auf, der sich von seiner Ehefrau getrennt) hatte und die Scheidung beabsichtigte, weil sie sein Glied durchaus nicht „anfassen" wollte. Bei sonst normaler Triebrichtung sind solche Zustände hypnotischer Behandlung oder anderweitig geschickter Psychotherapie sehr wohl zugänglich. Von Unterarten des Genitalfetischismus sind noch zu nennen: •der Hodenfetischismus; die beweglichen Testikel bilden für viele Frauen ein „Spielzeug", das sie unwiderstehlich anzieht; ferner der Vorhautfetischismus; ein Urning bekundete, daß die freiliegende Glans penis ihm jeden Umgang unmöglich machte, er bezeichnete das Aussehen eines von der Vorhaut unbedeckten Penis als „imper- tinent". Fetischismus für die Klitoris, die großen und kleinen Labien, namentlich in etwas hypertrophischem Zustand sind! häufig. Die meisten Klitorisf etisehisten sind Anhänger der K u n n i 1 i n k - t i o n. Einen seltsamen Fall beobachtete ich seit fast 20 Jahren, einen Herrn aphröditenf etisehisten. Ich verdanke seinem fetischistischen Spürsinn mehr als einen wichtigen Fall von Herm- aphroditismus, den er veranlaßte, sich mir vorzustellen. In meiner Bildersammlung besitze ich eine Photographie, auf der dieser Patient sich auf dem Leibe eines Weibes sitzend so abnehmen ließ, daß sein Oberkörper in den Unterkörper der Frau überzugehen scheint, wodurch die Illusion, er sei selbst ein Pseudohermaphrodit, hervorgerufen wird. Der Genitalfetischismus ist nicht nur an den ersten und fünften, sondern sehr oft auch an den dritten und vierten Sinnesnerv ge- bunden; namentlich die intensiven Ausdünstungen der beid- geschlechtliehen Genitaldrüsen werden von einigen mit einer sich zu fetischistischer Höhe steigernden Lust, von anderen mit antitro- pischer Unlust wahrgenommen. Diese starke Mitbeteiligung des Ol- faktorius gilt auch für die letzte Form des Rumpffetischismus, den A n a 1 f e t i s chis m u s. Die Analschnüffler, die den Geruch ihrer Lieblingsregion auch noch in den Kleidungsstücken, die mit diesen Teilen in Berührung kommen, zu erhaschen suchen, leiden unter ihrer Neigung vielfach um so mehr, als sie im übrigen äußerst penible Leute sind; ihre Vorliebe für die regio analis kann so enorm werden, daß das Abnorme ihres Triebes ihnen zwar völlig bewußt I. Kapitel : Fetischismus 51 wird, sie dies aber nicht hindert, den doch gerade an dieser Steile be- sonders verachteten Lambitionsakt mit Leidenschaft auszuführen; es ünden sich im erotischen Jargon aller Sprachen für diese „Tour" Benennungen, die von ihrer Verbreitung und Stärke Kunde geben. Ich will diesen Abschnitt mit einem Gutachten schließen, das ich über einen Genitalfetischisten abzugeben hatte, der sich eine An- klage wegen Abtreibung zugezogen hatte. Sein Motiv war nicht Gelderwerb oder Hilfsbereitschaft, sondern der zwangsmäßige Drang, die weiblichen Organe besserer Frauen zu besehen und zu betasten, ein Verlangen, das er am be- quemsten dadurch stillen zu können meinte, daß er Frauen ver- sprach, er würde ihnen die Leibesfrucht entfernen. Der Fabrikant Karl Seh., geboren den 7. Dez. 1867 in X., befindet sich mit kurzen Unterbrechungen seit längerer Zeit in Beobachtung und Behandlung des Instituts für Sexualwissenschaft. Auf seinen Wunsch geben wir folgendes Gutachten über ihn ab, dem neben eigenen Beobachtungen auch das Gutachten des Prof. Pf ister vom 29. Juli 1919 zugrunde liegt. Der Untersuchte ist wegen versuchter und durchgeführter Beihilfe zur Abtreibung in insgesamt 3 Fällen, die im Jahre 19.. ausgeführt worden sein sollen, be- straft. Er gibt an, daß ihm bei der Ausführung jener Fälle dieAbsichtderAbtrei- bung völlig ferngelegen habe, daß er vielmehr den Frauen diese Absicht nur vorgespiegelt habe, um bestimmte geschlechtliche Zwecke bei ihnen zu erreichen, nämlich das Besehen und Betasten ihrer G e s c h 1 e c h t s t e i i e. Er habe sich in allen Fällen eines völlig ungeeigneten Instrumentes bedient, habe dieses ferner nicht in einer Weise benutzt, daß es eine Abtreibung bewirken konnte, und habe in zwei der genannten Fälle gar nicht mit schwangeren Frauen zu tun gehabt, sondern mit völlig gesunden. Im dritten Falle sei zwar ein Abort eingetreten, aber nicht durch seine Mani- pulationen, denn er habe die benutzte, völlig ungeeignete Mutterspritze nur an den Scheideneingang' gehalten, und zwar so, daß er ihren Inhalt, der aus einem Zwarrzigstel- liter klaren Wassers bestand, gar nicht entleeren konnte: er hielt das Spritzenrohr mit der rechten Hand umklammert, während die linke auf dem Leibe der Frau lag. Das Wesent- liche seiner Darstellungen ist, daß in allen drei Fällen das Mittel, in zweien auch das Ob- jekt der' versuchten Abtreibung ein völlig untaugliches war. Es habe bei ihm in keinem Falle die Absicht der Abtreibung oder der Vorsatz zu einer solchen, und erst recht nicht ein auf Verwirklichung dieses Vorsatzes gerichtetes planmäßiges Handeln vorgelegen, sondern er habe die Frauen mit der Behauptung, er werde ihnen zur Abtreibung ver- helfen, getäuscht in dem klaren Bewußtsein, daß er weder abtreiben könne, noch dieses wolle. Er habe die Täuschung begangen zu dem Zweck, die Frauen ohne deren Wissenseinengeschlechtlichen Neigungengefügig zu machen. Diese geschlechtlichen Neigungen seien besonderer Art: sie beständen lediglich im Be- sehen, Betasten und Her um spielen an weiblichen Geschlechts- teilen. Er habe seinen Zweck auch in allen Fällen erreicht; jedesmal sei Samenerguß eingetreten. Im normalen Geschlechtsverkehr sei er völlig impotent. Für seine Manipulationen habe er von keiner der Frauen Geldbeträge gefordert oder erhalten. Es muß betont werden, daß Sch.s Angaben, die bis ins einzelne gehen, und völlig gleichartig von ihm wiederholt werden, der Glaubwürdigkeit nicht entbehren. Er gibt an, in der Urteilsbegründung als gewerbsmäßig und gefährlich bezeichnet worden zu sein; würde das zutreffen, und mehr die Untauglichkeit des von ihm angewandten Mittels fest- stehen, so würde dieser Teil der Urteilsbegründung irrig und demgemäß das Strafmaß zu beanstanden sein. Aus diesem Grunde erachtet das ärztliche Gutachten es für ange- zeigt, die Tatbestandsfrage des Abtreibungsversuchs einer erneuten Prüfung zu unter- 4* 52 ■ziehen, unter ärztlicher Würdigung der Eignung- der angewandten Mittel zu dem inkri- minierten Zweck. • Audi die von Sch. erst jetzt gegebene Motivierung seines Tuns stellt nach unserem gutachtlichen Ermessen einen neuen Tatumstand von so einschneidender Bedeutung dar, daß auf Grund derselben eine Wiederaufnahme des Verfahrens — soweit dem ärztlichen Gutachter ein Urteil über einen Tatbestand zusteht, der nur unter Voraus- setzuno- fachärztlieher Feststellungen richterlich gewürdigt zu werden vermag — der Rechts- lage zu entsprechen scheint. Diese Motivierung hat der Untersuchte seinerzeit aus Scham- o-efühl den Frauen gegenüber vor Gericht verschwiegen. Sie klingt dennoch, unter Würdi- gung des gesamten ärztlichen Befundes der Beobachtungen Sch.s, außerordentlich wahr- scheinlich. Hinsichtlich dieser Beobachtung können wir uns dem Vorgutachten des Prot. Pfister im ganzen wie im einzelnen nur völlig anschließen. Wir verweisen auf dieses Gut- achten un.f behalten uns die Wiedergabe unserer einzelnen Beobachtungen für den ge- gebenen Fall vor. Ihr Ergebnis fassen wir dahin zusammen: Sch. ist eine erblich be- lastete, von Haus aus imbezille und p sy cho-p a thi s che Persönlichkeit. Die krankhafte Neigung seines Gefühls und Trieblebens erstreckt sich auf die mannigfachsten Gewohnheiten umf Triebe. Sie berührt auch das Geschlechtsleben. Hier besteht Impotenz beim normalen Geschlechtsakt, welche mit einer hochgradigen reizbaren Schwäche des Nervensystems einhergeht. Letzteres hat sich seit der sogenannten Involutionszeit des Mannes 'zu dieser Stärke entwickelt. Gleichzeitig traten die seit der Pu- bertät v o r h a n d e n e n , während der J a h r e kräftigen Mannes t um s aber zurückgedrängten Züge eines perversen Sexuallebens in- fantiler Ar t wieder in den Vordergrund. Diese bestehen in feti- schistischem S c h a u t r i e b und Spieltrieb, der sich auf das weib- lich e G e n i t a 1 e b e i. i e h t. Dieser Trieb wurde das direkte Motiv der Handlungen, welche zu dem Verfahren wegen versuchter Abtreibung gefühlt haben. Die Frage, wieweit Sch. für diese Handlungen verantwortlich sei, soll an dieser Stelle noch nicht berührt werden. Sie wird für später vorbehalten. Zur Zeit ist die Fest- stellung der Tatsachen genügend, daß nach unserem fachärztlichen Ermessen diejenigen Umstände, welche der psychologische Sachverständige festzustellen berufen ist, nicht vor- handen gewesen sind, aus denen sich die seelischen Vorbedingungen des Versuchs der Abtreibung tatsächlich zusammensetzen. Damit ist nach unserer Meinung eine neue wesentliche Tatsache gegeben, welche für die richterliche Auffassung der Handlungen, wegen deren Sch. verurteilt worden ist, von Bedeutung ist. Wir fassen unser Urteil dahin zusammen: Die Handlungen, wegen deren Sch. ver- urteilt worden ist, entspringen nicht aus Motiven, die den Schluß auf ein tatsächliches Vorliegen von Abtreibung oder versuchter Abtreibuitg zulassen. Bei der krankhaften Geistesartung des Sch. ist die Feststellung der Motive seines Handelns Sache fachärzt- licher Begutachtung. Diese charakterisiert Sch.s Handlungsweise als eine^ Form perverser Sexualbetätigung, und zwar eines eigenartigen G e n i t a 1 f e t i s c h i s m u s bei einem Psychopathen, Extremitätenfetischismus. Sowohl die Arme als die Beine enthalten für Fetisehisten eine Anzahl höchst wichtiger Fixationspunkte. An erster Stelle sind hier an den oberen Extremitäten die Hände, an den unteren die Waden zu nennen. Danehen sind zu erwähnen die schwellenden Oberarme der Frau, die sich bei der Beugung so stark vorwölbende Oberarm- muskulatur des Mannes, der „Bizeps", der für zahlreiche Frauen eine Attraktion ersten Banges bildet, Ellenbogen und Unterarm kommen seltener als Fetische vor, um so häufiger aber die Hand und vor allem die Finger. Ein Patient schreibt: „Ich habe eine unbändige Leidenschaft für schöne, schlanke, edelgeformte, nicht fleischige I. Kapitel : Fetischismus 53 Hände, die zart liniiert, gepflegt und sauber sind. Solehe Hände zu liebkosen ist für mich ein nicht zu unterdrückender Wunsch. Das Berühren eine r m i c h f aszinierenden H a n d b ringt mir große Erleichterung, im Gege njs atz z u m Coitus, nach de m i c h m ich sehr ermattet f ü h 1 e." Bald ist es mehr das zarte, feine, weiche, schmale und durchsichtige „Händchen*', bald mehr die derbe, knochige, grobe Arbeiterhand, die anziehend wirkt. Dementsprechend wird auch bald mehr der sanfte, leichte Hände- druck, bald der feste, umklammernde erotisierend empfunden. Fetische für sich bilden die Finger, die ungeschminkten sowohl als die reich gezierten. Ich hatte einen Fall, in dem jemand gegen Fingerringe ebenso wie gegen Fingerhüte eine unbeschreibliche Idiosynkrasie empfand. Hauptsächlich a u s F u r c h t v o v d e m Anlegen des V e r 1 o b u n g s - und Eheringes bei sich u n d s e iner Frau konnte er s i e h nicht z u r Heirat entschließen. An den Fingern sind es wiederum die Nägel mit allen Details, die ein fetischistisches Kapitel für sich bilden. Vor Jahren suchte mich einmal ein! Ausländer auf, der nichts so heftig liebte, wie schmutzige Nägel. Er fiel dieser abnormen Leidensehaft, die ihn, den vornehmen Aristokraten, in die niedersten Wohnwinkel trieb, schließlich zum Opfer, indem ein Straßenmädchen, das seinem Verlangen entsprach, ihn mit ihrem Zuhälter ermordete. Am Bein kommt als Fetisch zunächst der Oberschenkel in Frage, dessen Oberhaut ebenso wie die des Knies viele Tastkörperchen ent- hält, deren Berührung geschlechtliche Sensationen auslöst. Es gibt eine recht beträchtliche Anzahl männlicher und weihlicher Personen, für die der Oberschenkel der absolute Mittelpunkt ihrer sexuellen Begehrungsvorstellungen ist. Vor einiger Zeit suchte mich einmal ein Kniekehlen feti- schist auf, der durch Küsse, Betasten der weiblichen Kniekehlen, und wenn irgend möglich durch den ziemlich schwierigen Genital- taktus einer weiblichen Kniekehle sich zu befriedigen suchte. Ungemein groß ist die fetischistische Bedeutung der weiblichen Waden und Unterschenkel. Es gibt Männer, die bei schlechtem Wetter Frauen sehr weite Strecken nachgehen, in der Hoffnung, daß sie ihre Böcke raffen und dadurch ihre Waden den gierigen Blicken ihrer Verfolger preisgeben. Es soll hier schon darauf hingewiesen werden, daß dieser Anblick besonders auf Exhibitionisten als auslösender Anreiz zu wirken scheint. In meiner umfangreichen Ge- richtserfahrung auf diesem Gebiet konnte ich sehr häufig hören, daß der äußere Anlaß zum Exhibitionieren von den Waden halbwüch- siger Mädchen ausging. Näheres darüber findet sieh in der Kasuistik, welche ich im Kapitel Exhibitionismus beibringen werde. Der Fußfetischismus ist im Gegensatz zum Handfetischis- mus selten. Daß die Hand gewöhnlich nackt, der Fuß hingegen be- 54 I. Kapitel: Fetischismus kleidet begehrt wird, dürfte auf den Unistand zurückzuführen sein, daß erstere in der Jugend meist entblößt, letzterer dagegen fast immer nur bedeckt beobachtet wird. Immerhin ist die Anzahl der Fußfeti- sohisten, namentlich auch der Knöchelfetischisten, nicht unbeträcht- lich. Die Erfahrungstatsache hingegen, daß der nackte Fuß sehr oft anti fetischistisch wirkt — ich kannte mehr als einen Mann, dessen Libido völlig in das Gegenteil umschlug, wenn eine Frau sich Schuhe und Strümpfe auszog — hängt sicherlich größtenteils mit der p*o s i - tiv fetischistischen Wirkung der B e i n b e k 1 e i d u n g zu- sammen, über die wir uns weiter unten auslassen werden. Als Fetisch erster Ordnung ist auch noch die Bewegung der Extremitäten, so- wohl der Arme, als vor allem der Beine anzusehen, die Gestik und insonderheit der Gang. Der trippelnde Gang des Weibes ist für viele Männer, ebenso verhängnisvoll, wie der stramme Gang des Mannes für viele Frauen. Während des Krieges ging ich einmal durch den Haag, dessen Straßen Tausende englischer Soldaten in kleidsamer Uniform belebten, die durch ihren eigenartig schnellen und leichten Schritt überall ins Auge fielen. Als ich mit meinem Begleiter, einem alten holländischen Gelehrten, über diese Erscheinung sprach, meinte er: „Durch diesen Gang sind schon verschiedene hundert holländische Mädchen zu Müttern geworden." In erhöhtem Grade geht dieser Fetischzauber vom Tanz aus. In fast allen größeren Tanzlokalen hat der sachverständige Beobachter Gelegenheit, Tanzvoyeure ausfindig zu machen, die dadurch kenntlich sind, daß sie fast niemals selbst tanzen, dagegen kein Auge von den tanzenden Paaren lassen; es sind meist ältere Männer oder Frauen, deren Aufmerksamkeit entweder dem weiblichen oder männ- lichen Partner gilt, seltener beiden zugleich, doch erinnere ich mich eines Tanzfetischisten, den ganz ausschließlich der Gegensatz zwi- schen den kräftigen Männer- und zierlichen Weiberschuhen fesselte, so daß er stundenlang deren. Bewegungsspiel folgte, bis er schließ- lich zu einer orgastischen Sexualentspannung kam. Diesen Mann zogen lediglich Menuett- und Gavottetänze au, wie denn überhaupt jede Tanzart, vom Ballett und der Quadrille bis zum Solotanz, vom ruhigen Walzer bis zum wildesten Galopp fetischistische Verehrer hat, deren distantielle Sinnesorgane, Seh-, Hör- und Kiechsinn auf diesem Wege ihre höchste Befriedigung finden. Kohärenz- und Adhärenzfetischismus. Ehe wir nun zum Bekleidungs- oder Adhärenzfetischismus über- gehen, noch einige wenige Worte über den Kohärenzfetischismus. Darunter verstehen wir eine weit über das Durchschnittsmaß hinaus- gehende Anziehung, die auf manche Personen von Stoffen und G egen- ständen ausgeübt wird, die nicht als Gewandungen lose um- oder I. Kapitel: Fetischismus 55 angelegt, sondern ganz unmittelbar auf die Körperoberfläche ge- bracht werden. Dazu gehören Farbstoffe, die auf die Haut gerieben, gestrichen oder in sie hineingeätzt werden, wie Schminken, Puder, Tätowierungstusche; auch die namentlich in der Rokokozeit so über- aus beliebten aufgeklebten ..Schönheitspflästerchen" sind hier zn nennen, ferner zahlreiche Metalle und Edelsteine, die als Ringe, Ketten und Spangen durch Ohren, Nasen, Lippen, über Finger, Arme und Beine gezogen, um den Hals gelegt oder im Haar befestigt werden. In dieses Gebiet fallen auch die künstlichen Nachhilfen fetischistisch stark in Betracht kommender Körperstellen, wie falsche Haare, künstliche Waden, Brüste und Hüften, die Tournüre, falsche Zähne, Goldplomben. In der Mehrzahl der Fälle bilden sie freilich einen Antifetisch. Es ist wiederholt und meines Erachtens nicht ohne Berechtigung als Ehescheidungsgrund geltend gemacht worden, daß eine Eigenschaft, auf die sieh ein Ehemann besonders freute, sich bei „näherer Bekanntschaft" als „falsch" erwies. Wei- terhin sind hier die Verstärkungsniittel der Sinnesorgane, wie Brille, Hörrohr zu nennen. Die verschiedenen Arten der Augengläser rufen bald eine erotische, bald eine antierotische Wirkung hervor. Einen Fall von Brillenfetischismus habe ich in meinen Naturgesetzen der Liebe geschildert, ein anderer, der sich nur auf uneingefaßte, runde Gläser erstreckt, wurde neuerdings von mir beobachtet, während im allgemeinen die Brille mehr als Antifetisch gelten kann, im Gegensatz zum Kneifer , der vielfach bei Männern und sogar bei Frauen anzieht. Viele Männer sind allerdings gegen weibliche Augengläser geradezu von Fetischhaß erfüllt, doch ver- sicherte mir vor einigen Jahren eine der vornehmen Halbwelt an- gehörige Frau, die stets ein Monokel trug, daß sie dadurch bei den Männern, an denen ihr gelegen sei, die größten Erfolge erziele. Daß auch das männliche Einglas von Gecken vielfach lediglich zu feti- schistischen Reizzwecken getragen wird, ist bekannt. Über die feti- schistische Bedeutung von Stöcken und Schirmen ließe sich gleich- falls ein ganzes Kapitel schreiben. Ich kannte eine Dame, für die jeder Mann, der einen Schirm trug, „geschlechtlich unmöglich" war. fast ebenso stark war ihr Fetischhaß gegen Krückstöcke, während Säbelrasseln sie in die höchste sexuelle Ekstase versetzte. Auch der Parfümfetischismus gehört zu den kohärenten Formen des Fetischis- mus. Er ist sehr verbreitet, Werden doch manche Parfüms aus- drücklich unter Hinweis auf ihre sinnliche Reizwirkung in den Handel gebracht. Es gibt Personen, die einem bestimm- ten Geruch gegenüber jede sexuelle Selbstbeherr- schung verlieren. So kannte ich mehrere Frauen, die vom Stallgeruch beim Manne dermaßen berührt wurden, daß sie jeden geschlechtlichen Widerstand aufgeben mußten. Bei anderen wirkt Bier- und Karbolgeruch, bei wieder anderen der Duft und Anblick 56 I. Kapitel: Fetischismus bestimmter Schmuckpnanzen im Haar, im Knopfloch oder Gürtel des Mannes oder Weibes erotisierend. Daß der Fetischismus, so wie er uns in seiner unendlichen Viel- gestaltigkeit entgegentritt, unmöglich als solcher angeboren ist, sondern daß nur eine bestimmte Reaktionsfähigkeit angeboren sein kann, zeigt die weitverbreitete Gruppe, der wir ;jetzt unsere Auf- merksamkeit zuwenden wollen; sie erstreckt sich nicht auf Lebendige Bestandteile des menschlichen Körpers, sondern auf leblose ad- härente Stücke, die zur Bedeckung oder Bekleidung einzelner Körper- teile bestimmt sind. Gleichviel ob diese Gewänder ursprünglich zum Schutz, als Schmuck oder aus Schäm angelegt wurden, eins steht fest: in den Urzeiten und Urtrieben des Menschengeschlechts waren sie unbekannt. Jahrtausendelang strebten Mannes- und Weibeskörper unbekleidet einander zu und erst in» unmittelbarer Gefolgschaft der allmählich auftretenden und sich bis zum heutigen Tage stetig ver- ändernden Kleidung entwickelte sich die physiologische und aus ihr die pathologische gesteigerte Sexualfreude an der Farbe, Form und dem Gewebe der Kleidung. Ist auch bei der Bekleidungswahl meist mehr der eigene Geschmack als der anderer Personen ausschlag- gebend und ist auch die Eitelkeit im wesentlichen narzißtischer Natur, so tritt doch auch die Bedeutung der Kleidungsstücke als Lockmittel, das Gefallen w o 1 1 e n durch sie klar in die Erscheinung. Jedenfalls kann man nach dem ganzen wechselnden Charakter der Mode und ihrer individuellen Ausgestaltung nicht zweifeln, daß wir es bei dem Kleidungsfetischismus mit einer Triebstörung zu tun haben, bei der wie im ganzen Sexualleben der spezi- fischen Reizbarkeit eine spezifische konstitutio- nelle Reizstelle als endogen gegebene Voraus- setzung exogener W i r k s a m k e i t .e n t s p r e c h e n muß. Wie beim Körperfei isehismus würde es nun auch bei der Liebe zu den unbelebten Gegenständen, für die Chevalier9) den Ausdruck „amour azoophilique" vorgeschlagen hat, die Aufgabe eines gewissen- haften Forschers und Darstellers sein, die Kleidung vom Scheitel bis zur Sohle, oder genauer, von der Hutspitze bis zur Stiefelspitze, Stück für Stück durchzugehen, um zu erkennen, daß von diesen Stücken kein einziges, wenn auch in sehr verschiedenem Grade, o h n e fetischistische Bedeutung ist. Umgekehrt allerdings wie bei dem unbedeckten Körper bildet bei dem bedeckten nicht das Haupt mit allen seinen Einzelheiten, sondern das Bein die Hauptattraktionsstelle. Führen wir nun auch hier einige der wichtigsten Fetischismen in gegebener Reihenfolge nacheinander an, so ergibt sich folgendes: Was die Kopfbedeckungen betrifft, so gibt es Kappenfetischisten, ») De l'in version de l'instinct sexuel au point de vue medicolegal. Paris 1885. I I. Kapitel : Fetischismus 57 Fetischisten für große und kleine Hüte, für Mützen aller Art von der eleganten Uniformmütze und kostbaren Pelzmütze bis zur Schlaf- und Zipfelmütze; auch der Mützensitz, die schiefe, grade, nach hinten ins Genick oder nach vorne in die Stirn gezogene Art sie zu tragen, spielt eine Rolle. In Berlin tauchten unmittelbar nach der Revolution eine ganze Menge Fetisch ist innen für rote Kokarden auf; sie reichten aus den Kreisen der Prostitution Iiis in Hofkreise. Man findet Fetischisten für Zylinderhüte, Filzhüte, Panamahüte und andere Strohhüte mit Bändern in allen nur erdenklichen Anordnun- gen und Farben, Fetischisten für alle Formen weiblicher Hüte, mit und ohne Schleid-, vom vornehmsten Pleureusen-Federbul bis zum schlichtesten Herrendanienreithut. Aber alle diese Gegenstände können auch Aritifetische sein. So hatte ich einen Patienten, dem jeder Schleierhiit bei einer Frau ein unerträglicher Anblick war. ein anderer hatte einen ähnlichen Fetischhaß gegen schirmlose Mützen, von deren Trägern er sich mit Schaudergefühl abwandte. Einen typischen Fall von Haubenfetischisnius berichten Charcot u. Mägnan (in den Archiven de neurologie 1882): Ein Herr, der einer Familie exzentrischer Originale entstammte, bekam mit 5 Jahren die erste Erektion, als er einen 30 Jahre alten Verwandten, der mit ihm in demselben Zimmer schlief, eine Nachtmütze aufsetzen sah. Die gleiche Wirkung trat ein, als er kurz darauf die alte Häusmagd heim Umbinden einer Nachthaube beobachtete. Seitdem genügte zur Erektion die bloße Vorstellung eines alten mit einer Nachthaube bedeckten Frauenkopfes. Bei Berührung einer Nachtmütze stei- gerte sich die Erektion zuweilen bis zum Samenerguß. Patient hielt sich von Masturbation fern und übte auch nickt den Koitus aus bis zum 21. Jahre, wo er mit einem schönen Mädchen von 24 Jah- ren die Ehe einging. In der Brautnacbt blieb die geschlechtliolie Potenz aus, auch in den folgenden Nächten, bis Patient in seiner Not darauf verfiel, sich bei dem Akt statt seiner jungen Frau eine Alte mit Schlafmütze vorzustellen. Hierdurch gehing ihm die Kohabitation. Seitdem, er ist jetzt 5 dabre verheiratet, bedient er sich stets dieses Hilfsmittels. Er leidet seelisch sehr unter dieser ihm ebenso lästigen wie zum Beischlaf notwendigen Zwangsidee, du i ch die, wie er sagt, seine Frau und seine Ehe „profaniert" wird. Bei der Halsbekleidung kommen als Fetisch zunächst Halstücher aller Art in Betracht. Von einem Fetischisten für feine seidene Hals- tücher hei älteren Herren besitze ich ausführliehe Aufzeichnungen, ebenso von mehreren Fetischisten für „möglichst hohe" Stehkragen. Ferner gibt es Fetischisten beiderlei Geschlechts für weiche Kragen, für schmutzige Kragen, für Matrosenkragen und für Schillerkragen. Über einen Matrosenkragenfetisch isten hatte ich ein Gutachten ab- zugeben. Er hatte sich jungen Mädchen mit sogenannten „Kieler Kragen" in verdächtiger Weise genähert. Ein homosexueller Feti- gg I. Kapitel: Fetischismus schist, forensischer Praxis, den ich während des Krieges zu begut- achten hatte, wurde besonders durch die Halsbinde von Soldaten ge- reizt, daneben durch ihre Halsbeutel sowie durch Amulette, die sie an Halsschnüren trugen. . Ein höchst seltsamer Fall meiner Beobachtung betritit ein* Dame, die an Kragenknopf f etischismus leidet. Ihre Grund- empfindung ist ein intensiver Fetischhaß gegen diesen Toiletten- gegenstand, dessen Anblick am Halse, einschließlich der Druck- stellen, die er vielfach in der Haut hinterläßt, sie stark irritiert. Erweckt aber jemand in ihr eine starke geschlechtliche Begierde - o-ewöhnlich sind dies, wie sie sich ausdrückt, „stilreine" Lebe- männer, so verwandelt sich diese mit Berührungsfurcht emher- o-ehende Aversion bei ihr in heftige Neugierde, das sonst ver- abscheute Objekt zu sehen, in den Mund zu nehmen und, wenn möglich, zu zerstören. Für den Gefühlsumschlag eines negativen in einen positiven Tropismus und umgekehrt sind solche Falle über- aus lehrreich. Ein häufiger Antifetisch wird von Gummikragen gebildet, wie mir überhaupt Gummi unter den antifetischistischen Stoffen des Körpers an erster Stelle zu rangieren scheint. Für viele ist der -Kontakt mit diesem Körper ganz unerträglich, während mir auf der anderen Seite allerdings auch Fälle bekannt geworden sind, in denen Gummigeruch und -gefühl wie ein Aphrodisiakum wirkte, ■ ohne dessen Vorhandensein für die Betreffenden eine Potenz zu er- zielen unmöglich war. Beim Krawattenfetischismus spielt neben dem Stoff, wie Atlas, Seide, und der Farbe, die Bindeart eine sehr große Rolle. Während die genial gewundene Künstlerschleife, die Marinekrawatte, die langen Regats nebst allen Arten von Schlipsnadeln, die als Fetischis- men etwa den Broschen der Frauen entsprechen, nicht selten eine übergroße Anziehung ausüben, stehen viele Damen den „geleimten" Krawatten mit lebhafter Antipathie gegenüber, ähnlich wie etwa den „Röllchen" genannten Manschetten und den Chemisetts, die viel- fach von Frauen als Antifetische empfunden werden, weil sie in ihnen Symbole kleinbürgerlicher S p i e ß e r 1 i c h k e i t erblicken. Wir nähern uns damit dem so vielgestaltigen Fetischismus für Unterkleidung und Wäsche. Diese intimen Kleidungsstücke nehmen als Fetische keine geringe Stelle ein. Auf die Frage, ob der nackte, bekleidete oder halbbekleidete Körper anziehender wirkt, antworten unter mehr als 1000 Personen 40%, daß sie der halb verhüllten, 35%, daß sie der völlig entkleideten und 25%, daß sie der ganz be- kleideten Gestalt den Vorzug geben. Entsprechend ihrer anziehen- den Bedeutung legen deshalb fast alle Prostituierten auf „Reiz- wäsche" großen Wert, und die Lebemänner geben ihnen wenig darin nach. Namentlich sind Hemden bei Männern und Spitzenwäsche bei 59 Frauen häufige Fetischismen, doch auch weißgestärkte Oberhemden von Herren, wie seidene Leibwäsche eleganter Frauen werden von vielen mit einer das Durchschnittsmaß weit überragenden Leiden- schaftlichkeit begehrt. Ich will einige hierhergehörige Fälle aus meiner Geriehtspraxis anführen: In einem Ehescheidungsfall gab eine Frau an, ihr Mann hätte vom Beginn der Ehe von ihr verlangt, sie solle beim Geschlechtsverkehr Barchent-Unterbeinkleider an- ziehen. Sehr widerstrebend hätte sie diesem Wunsche nachgegeben, darin aber eine Erniedrigung ihrer Person erblickt; „hätte er doch wenigstens seidene Wäsche beansprucht", meinte sie, „aber ausge- rechnet einen so gewöhnlichen Stoff wie Barchent". Da der Ehe- mann mir bereits vor der Ehe einmal seine seltsame Fixierung an Barchent vorgetragen und dies seiner Frau mitgeteilt hatte, wurde ich als sachverständiger Zeuge geladen. Die Ehe erwies sich als unhaltbar. Aus den sehr instruktiven Mitteilungen, welche die Frau in dem Ehescheidungsverfahren zu Protokoll gab, sei folgen- des hervorgehoben: „Nach meiner Entbindung ging ein paar Wochen alles seinen alten Gang, bis eines Tages mein Mann mich bat, ich solle mir doch eine weiche Barchenthose oder Unterrock während des Eheaktes anziehen, und wenn ich keins hätte, mir solches kaufen. Unten bei uns im Hause war ein Geschäft, dort hingen die Artikel im Schaufenster. Ich fragte natürlich, warum und weshalb, worauf mir mein Mann sagte, das sei so schön weich. Worauf ich ihm nur mit einem Achselzucken und „das verstehe ich nicht" ant- wortete. Damals habe ich mir sein so mürrisches Wesen oft nicht deuten können. Heute weiß ich, daß nür meine Weigerung ob seiner vorerwähnten For- derung der Grund gewesen sein kann. Eines Tages kam er dann selbst mit einem solchen weichen Barchent-Frauen-Beinkleid an, und ich sollte es während des besagten Aktes anziehen. Ich verstand mich nicht dazu, und so zog es mein Mann selbst an. Dies ging wohl ein Jahr hindurch. Jedesmal drückte ich ihm meinen Unwillen über das seltsame Treiben aus. Er wurde stets mürrisch und übel gelaunt, daß ich immer etwas darüber zu äußern hatte. Bis ich eines Tages das Beinkleid einfach versehenden ließ. — Er machte ein furchtbares Gesicht, wie ich solches sagte; aber daran kehrte ich mich nicht. Was mir soeben beim Schreiben einfällt, daß ich als Weihnachtsgeschenk, welches mein Mann selber einkaufte, auch Barchentstoff für Matinees und dito Anstandsrock bekam. Ich habe dem weiter kein Gewicht beigelegt: denn ich glaubte, mein Mann hätte es aus Fürsorge der Kälte wegen getan, fand es nur komisch, daß er die Einkäufe selbst be- sorgt hatte. Welchen Zweck dieses Geschenk hatte, sollte ich später erfahren; denn eines Abends verlangte er, daß ich den Unterrock anziehen sollte im Bett, — und was mir schon sonderbar vorgekommen war, er hatte täglich geforscht, wie lang ich mir die Matinees machte. Ich solle sie nur mindestens bis zum Knie machen, worauf ich lachend zur Antwort! gab: „aber so lang kann ich doch kein Matinee arbeiten". Auch die Matinees sollte ich im Bett tragen. Nun muß ich offen gestehen, ich habe eines getragen für die Nacht, wenn es ganz besonders kalt war. Unser Schlafzimmer hatte Außenwand, heizen konnte ich es nicht, und da waren mir meine leinenen Nacht-, hemden oft zu kalt. Als ich natürlich sah, wozu es dienen sollte, hab' ich es nicht mehr getragen für die Nacht. Während der nächsten drei Jahre trat stets der vor- erwähnte Unterrock während des Geschlechtsaktes in Aktion, und wie es vorher bei dem Beinkleid, so war es jetzt bei dem Unterrock, ich gab nach wie vor meinen Unwillen dagegen kund, er aber war nur beleidigt, wenn ich etwas sagte. Bis ich auch dieses Kleidungsstück verschwinden, ließ. Nachdem ich sieben Wochen in Hamburg war bei 60 I. Kapitel: Fetischismus meiner Mutter, kam ich nach Hause und fand eine groß.- ßaichentdecke auE dem Bette meines Mannes, worin ja nun an und für sich nichts zu sehen ist. — Ich selbst glaubte, seine Mutter, die inzwischen ihn besucht hatte, habe die Decke vielleicht vergessen. Als ich ihn einmal fragte, gab er mir zur Antwort, er habe sie sich gekauft. Eigentlich sehr überflüssig denn es waren zwei „Wolldecken" vorrätig. Aber die sind natürlich nicht so weich wie Barchent. Bald nach meiner Rückkehr wurde dann wieder ein Frauen- beinkleid und Unterrock gekauft, in Barchent, für den bewußten Zweck. Möchte an dieser Stelle noch erwähnen, daß taein Mann mir seiner Zeit immer das Ansinnen stellte, daß er beim Eheakt die Lage der Frau einnehmen wollte, er sagte mir, ein Arzt habe ihm das gesagt. Einmal habe ich ihm hierin den Willen getan. Aber ich war am Morgen so zerschlagen, daß ich weder sitzen noch stehen konnte. Zu dieser Zeit kaufte mein Mann mir einen bunten Barchent-Morgenrock. Auch den sollte ich im Bett tragen, überhaupt immer im Hause. Mein Mann erzählte mir, daß schon als ganz kleiner Junge das Befühlen von Barchentsachen seine größte Wonne gewesen sei und d a ß s e 1 n e Mutter um diesen Zustand gewußt hätte. Bei Weihnachtsbescherungen bekam das Dienstmädchen auch solche Barchent-Unterröcke, selbige wurden mit auf den Weihnachtstisch gelegt. Mein Mann sagte mir auch, daß er als lediger Mensch mit einem der Dienstmädchen im Hause verkehrt habe. .Ii.- immer solch Zeug währenddem getragen. Ich weigerte mich nach wie vor, die Sachen anzuziehen, also zog er sie an. Dieses war im Oktober. Bis Weihnachten waren die Sachen nicht mehr weich genug und es sollten neue sein. Mein Mann wünschte sich eines Abends, als wir an einem Laden vorbeigingen, wo diese Barchentsachen wiel üblich im Fenster hingen, von mir solches zur Weihnacht. — Er brauchte diese Sachen nur zu sehen, dann zitterte er am g a nun Lei b e. — Tch tat, als hätt' ich nichts gehört und machte mir mit dem Bub' zu schaffen. Die Folge war natürlich wieder große Verstimmung seinerseits. Er bat auch am Weihnachtsabend darum, als ich noch ging. Besougiine-en zu machen. Ich brachte es natürlich nicht mit; habe überhaupt gar keine Notiz davon genommen, im Gegenteil, ich war den Abend doppelt aufmerksam gegen meinen Mann, ich ignorierte seine verdeckte schlechte Laune, wußte ich doch den Ursprung. — Bald nach Weihnachten kam mein Mann noch einmal mit einer Barchent- Schlafdecke an, dieselbe sollte ich über mein Deckbett breiten, damit er sie fühlen konnte. Auch das war mir entgegen; denn ich hatte stets das Gefühl, er meint bei einer Annäherung doch nur das Zeug, aber nicht mich. „Elen d'' habe ich mich stets nach der ehelichen Zusammenkunft ge- fühlt, von Anfang bis Ende meiner Ehe. So elend, daß ich von einem Arzt zum anderen lief, fs hieß immer: „Sie sind nervös-' usw. Bis ein Arzt mich einmal fragte, ob ich denn glücklich verheiratet sei. Von Anbeginn unserer Ehe habe ich stets das Empfinden gehabt, während einer Zusammenkunft ohne das bewußte Zeug, daß mein Mann seine Gedanken wo anders hat und äußerte solches zu ihm auch, indem ich ihm sagte, ich müsse glauben, er habe eine andere, denn bei mir habe er sein.- Gedanken nicht. — Seit 9. Dezember 1914 stehen wir nicht mehr im ehelichen Verkehr. Im Februar 1915 haben wir uns dahin geeinigt, uns nach dem Krieg scheiden zu lassen. Und habe ich es für selbstverständlich angesehen, daß unser ehelicher Verkehr nicht mehr er- folgte. Einmal im April d. J. näherte sich mein Mann mir mit seinen ehelichen An- sprüchen; ich war sprachlos und fragte ihn. wie sich denn das mit unserem Überein- kommen reimt? Worauf er mir sagte, er wolle mich ja auch gar nicht belästigen, i c h solle ihm nur gestatten, bei mir liegen zu könne n. Ich sagte, das sei doch direkt Unsinn und lehnte ab. Dann ist mein Mann ein zweites Mal im Juli d. J. mit seinen Ansprüchen an mich herangetreten; ich lehnte ein zweites Mal ab. Des öfteren hatte ich bemerkt, daß mein Mann morgens längere Zeit auf dem Korridor ohne Licht zubrachte. Eines Morgens wollte ich mich überführen, welcher Grund vorlag und sah nun, daß er sich bei der Garderobe zu schaffen machte, unter der meine Matinee hing. Er braucht den Stoff ja nur anzufühlen, das genügt ihm schon. Ist es da nicht ganz erklärlich, daß ich immer mehr Widerwillen gegen ihn I. Kapitel: Fetischismus Q\ verspürte? Ich meine, daß es unter diesen Umstanden ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß der Junge unter meines Mannes Erziehung stellen soll." Dieser ganze Bericht ist überaus bezeichnend für den naiven Unverstand, mit dem die meisten Frauen einem selbst verhältnis- mäßig- harmlosen Fetischismus ihres Gatten gegenüberstehen, und zwar durchaus entgegen ihrem eigenen Eheglück. Die Frau beriet sich in ihrem Ehescheidungsprozeß darauf, daß Ärzte ihr geraten hatten: um ihren Mann von seiner Unnatürlichkeit zu kurieren, müsse jedes Stück Barchent aus der Wohnung entfernt werden. Sollte ein solcher Bat tatsächlich gegeben worden sein, was ich be- zweifle, so wäre es der denkbar schlechteste. Im Gegenteil würde sich das F Ii e leben wahrscheinlich für alle Beteiligten sehr harmonisch g e s t a 1 1 e t Ii a b e n , wen n die Gattin ihrem Manne hinsichtlich seiner feti- schistischen B e s o n d e r h e i t e n t g e g em g e k 0 m m e n w ä r e. Becht schwierig lag ein anderer Fall von U n t e r kleidungs- f etischismus , der einen Eisenbahnbeamten betraf. Dieser Mann war ertappt worden, als er im Hause eines höheren 'Polizeibeamten einbrach, um Frauenhemden zu entwenden. Essteilte sieh heraus, daß er in periodischen Abständen nachts durch die Straßen seines Wohn- orts irrte, um irgendwo durch einen Spalt im Fenstervorhang ein Stück von einer sich entkleidenden Ehefrau zu erspähen. Bier schlich er sich dann später ein, um Wäsche zu stehlen, die er im Dienst ständig auf seinem Körper trug. Von einem partiellen Transvestiten unterschied er sich dadurch, daß es niemals unge- tragene Wäsche sein durfte. In der Hauptverhandlung vertrat ich den Standpunkt, daß bei dem erblich schwer .belasteten Mann zum mindesten die freie Willensbestimmung nicht mit der Sicherheit bejaht werden könne, wie es das Gesetz erforderte. Mein Gegengut- achter, ein Universitätsprofessor, legte dem Gericht dar, daß es für die Beurteilung des Diebstahls völlig unerheblich sei, ob der Täter sich bereichern oder sexuell befriedigen wolle. In beiden Fällen suche er doch nur seinen Vorteil. Der Gerichtshof schloß sich dieser Beweisführung an und verurteilte den Mann wegen Einbruchs ohne mildernde Umstände. Wenige Tage später fand man ihn in seiner Zelle tot vor; er hatte sich erhängt. Fast stets in falschen Verdacht geraten Taschentuchfetisehisten. Man hält sie für Taschendiebe. Ich hatte einen Mann zu begutach- ten, der Jura studiert hatte. Dieser war bereits viermal wegen Taschendiebstahls vorbestraft. Die wahre Ursache hatte er sich nicht zu sagen getraut, auch nicht ohne Grund angenommen, man würde ihm doch nicht glauben. Jetzt endlich, beim fünften Mal, hatte er die Gründe seiner strafbaren Handlungen angegeben. Dar- auf erfolgte meine Ladung als Sachverständiger. Das Gericht schloß 62 sich dem Endergebnis meines Gutachtens - - „Zweifel an der freien Willensbestimmung" - - an und sprach frei. Bei den Taschentuch - fetischisten ist, wie bei den Wäschefetischisten überhaupt, oft der Geruchssinn das leitende Sinnesorgan. Wiederholt sah ich auch Fetischisten, die nur parfümierten Frauentaschentüchern nach- stellten. Häufige Fetische sind männliche Unterhosen; weibliche Unter- heinkleider wirken häufiger antifetischistisch als fetischistisch, wäh- rend Trikots, namentlich fleischfarbene, zu den Fetischen erster Ordnung gehören. Ich kannte einen bisexuellen Künstler, den sexuell nichts so erregte, als weibliche Unterwäsche bei Herren und Männerhemden bei Damen. Zum Rumpfbekleidungsfetisehisnms gehört endlich auch der K o r s e 1 1 f e t i s c h i s m u s. Für die an dieser Anomalie leidenden Personen bilden die Auslagen eleganter Korsettgeschäfte den In- begriff alles Schönen, deren Betrachtung allerdings für sie die Überwindung erheblicher Schamschranken notwendig macht. Ich habe aber auch Fälle von intensivem Korsetthaß gesehen; einige objektivierten ihre im Sexuellen wurzelnde Idiosynkrasie, indem sie den Schnürleib als höchst gesundheitsschädliches „Marterwerkzeug" lebhaft bekämpften. Ich will als Beispiel ein Gutachten anführen, das ich über einen hochgradigen Korsettfetischisten abgegeben habe; es handelt sich um eine Ehescheidungssache eines in Paris lebenden Ehepaares. Ich gebe hier die Hauptstellen des Gutachtens, aus denen alles Nähere ersichtlich ist, wieder: „Wertvoll für die Entscheidung der Frage, ob der Ehemann R. tatsächlich an einem pathologischen Fetischismus leidet, sind in erster Linie die Briefe des franzö- sischen Arztes Dr. P„ der den Ehemann längere Zeit behandelt und beobachtet hat. Aus dem ersten Brief vom 31. Oktober geht hervor, daß. auch der neue Spezialarzt, der den Ehemann R. untersucht hat, Dr. V., die Auffassung seines Kollegen teilt. _Nach den beiden Briefen des Dr. P. vom 30. und 31. Oktober 1905 bezeichnet dieser Arzt den Herrn R. als einen Kranken, und zwar nennt er seine Krankheit eine „obsession morbide", es handelt sich dabei nicht um eine bloße Neurasthenie, welche wahrschein- lich auch vorhanden gewesen ist und noch vorhanden sein mag, sondern es besteht kern Zweifel, daß der Arzt die mit dem Sexual akt zusammenhängende „ob- session" des R. meint. Die Bezeichnung „obsession morbide", krankhafte Zwangsvorstellung, ist hier für den krankhaften Fetischismus gewählt. Zwar verbinden die 'deutschen Spezialforscher mit diesem Begriffe im allge- meinen nicht die sexuellen Anomalien, aber an und für sich ist auch der Fetischismus eine Art Zwangsvorstellung, und es ist besonders hervorzuheben, daß in Frankreich die Ärzte oft die sexuelle Anomalie einfach unter die obsession morbide rechnen. Indem aber die französischen Ärzte, welche den R. beobachtet und behandelt haben,, eine eigentümliche Sucht nach einer schmalen Taille seiner Frau als obsession morbide bezeichnen, sagen sie, daß es sich nicht um normale Vorliebe für besondere! Eigenschaften, sondern um die charakteristische pathologische Anomalie .des Fetischismus handelt. Auch der mit der Familie gut bekannte Dr. W„ welcher einen näheren Einblick in die Verhältnisse der Eheleute erhalten hat, nennt dies Begehren des R. nach einer schmalen Taille eine „idee fixe", eine fixe Idee, eine Zwangsvorstellung. Aus dem Ein- gang dieses Briefes, wo der Arzt von dem sexuellen Unvermögen des Herrn R. spricht, I. Kapitel: Fetischismus 63 darf man auch den Schiuli ziehen, daß die Impotenz des R. in Zusammenhang mit seinem Fetischismus zu bringen ist, d. h. daß er eben nur potent ist, wenn die Taille seiner Frau möglichst verengt, möglichst schmal gemacht wird. In den Briefen der Ehefrau Ii. wird das Verhalten ihres Cannes derart geschildert, daß ihre Mitteilungen auf einen charakteristischen Fetischismus pathologischer Art deuten. Darnach behauptet die Ehefrau R., daß ihr Mann fortgesetzt verlangt habe, sie solle sich möglichst eng schnüren, daß er sich immer wieder um ihr Korsett, ihre Leibeszucht bekümmert, und beim Verkehr alles Gewicht auf ihre Taille gelegt habe. In dem1 Brief an ihn vom 30. April 1906 schreibt sie einen Satz, der mit wenigen Worten die sexuelle Anomalie ihres Mannes treffend schildert und mit absoluter Deut- lichkeit zeigt, daß bei R. eine sexuelle Anomalie vorhanden ist. Sie schreibt: „Solange wirst Du krank sein." Diese Äußerung m dem Munde einer Frau, welche wohl sicher- lich von sexueller Anomalie wenig weiß und keine medizinischen Bücher hierüber studiert hat, trägt den Stempel der Wahrheit und es ist undenkbar, daß sie nicht lediglich die im sexuellen Verkehr mit ihrem Mann empfangenen Eindrücke wiedergibt. Dieses Impotentsein ohne das Einschnüren der Taille zeigt aber deutlich, daß eben die schmale Taille conditio sine qua non für die sexuelle Libido des R. ist, also daß wirklicher Fetischismus vorliegt. Auch die Briefe des R. selber bestätigen völlig diese Annahme. Wie so man- cher sexuell Anomale sucht er seine Anomalie durch allerlei ästhetische, ja sogar hygienische Motive zu beschönigen und zu erklären. An und für sich gibt er seine Vorliebe, seine Passion für die schmale Taille zu, imi Brief vom 31. Oktober erkennt er an, daß ihn die Fragen der Taille be- schäftigt haben, und er ihnen entsagen wolle. Nur findet er seine krankhafte Sucht natürlich. Im Brief vom 27. Oktober sagt er selber, er habe seiner Frau geraten, den Leib gut zu schnüren, es sei dies aber eine gute hygienische Maßregel. Im Schreiben vom 18. November scheint er jedoch seine Anomalie selber krankhaft zu emp- finden. Im Brief vom 21. April gibt er seine sexuelle Impotenz zu und aus dem folgenden Satz „il est des mets qu'on aime" (es gibt Speisen, die man liebt) gibt er zu erkennen, daß seine Impotenz von der Art der Speisen, die er liebt, d. h. von dem Vorhanden- sein der engen Taille, des Schnürens abhängig ist. In dem gleichen Brief will er seine Frau durch Mitteilung der Ansichten des Dr. U. über seinen Fall zu überzeugen suchen, daß sie ihm; in seinem Fetischismus entgegenkomme, indem er ihr beweisen will, daß sowohl nach Dr. U.s Ansicht als auch nach seinem in Wirklichkeit nicht abzuändernden, in seiner Natur eingepflanzten sexuellen Trieb eben nur der sexuelle Verkehr in der von ihm gewünschten — d. h. tatsächlich fetischistischen, krankhaften, wenn auch von R. als natürlich empfundenen — Weise möglich ist. Der Brief vom 7. Mai zeigt die Angst des R., seine Frau könne noch dicker werden, und am Schlüsse sagt er deutlich, daß seine Krankheit darin bestehe, daß es ihm unmöglich ist, seine Frau in einem „physischen", d. h. dickeren Taillenzustand zu sehen, der ihm nicht gefällt. Dieses Nichtgefallen ist aber nicht ein gewöhnliches ästhetisches Nichtgefallen, sondern, wie auch der Brief vom 6. Juni besagt, die stärkere Taille verhindert, daß er seine Frau (sexuell) begehrenswert findet. Wie schon bei ihm sich beim sexuellen Verkehr alles auf die schmale Taille konzentriert, geht aus dem gleichen Brief vom 6. Juni und dem vom 11. Juni, und zwar aus der Tatsache hervor, daß er die Be- dingung seiner Frau im Brief vom 1. Juni und im Brief vom 10. Juni, wonach an ein weiteres Zusammenleben nur zu denken sei, wenn er ihr schriftlich und in aller Ehr- lichkeit erkläre, die Taillenfrage bei dem sexuellen Verkehr sei ihm gleichgültig ge- worden (Brief der Frau vom 1. Juni), einfach für ganz unmöglich erklärt. Endlich gibt er auch in dem Brief vom 12. April an Dr. U. seine fixe „Idee", seinen Fetischismus" zu und zweifelt an der Möglichkeit, von ihm lassen zu können. Auch die weniger wich- tigen Briefe der sonstigen Familienmitglieder zeigen, daß die Familie allmählich zum Bewußtsein kam, daß bei R, eine mit der festen Taille der Ehefrau R. zusammenhän- 64 1. Kapitel: Fetischismus ..•ende sexuelle Anomalie bestellt. Die sexuelle Anomalie, mit der R. behaftet ist, kommt dem R selber nicht als etwas Krankhaftes — wenigstens nicht in allen Briefen — zum Be- wußtsein Es ist wahrscheinlich, daß nach andere krankhafte Symptome, insbesondere neurasthenischer Art, bei R. vorhanden sind, wenn auch die sexuelle Anomalie (las wenigstens nach außen hin allein oder das doch am deutlichsten sich bemerkbar machend, krankhafte Symptom darstellt. ' Auf keinen Fall aber darf man die sexuelle Anomalie leugnen aus dem brunde, weil R im übrigen intelligent, vielleicht auch ia manchen Beziehungen sehr begabt ist, oder weil von' eigentlicher Geisteskrankheit bei ihm keine Rede sein kann. Denn tat- sächlich haben die sexuellen Anomalien mit Psychosen im gewöhnlichen Sinne de« Wortes nichts zu tun. sie führ e n so gut wie nie zu wirklichen Geistes- krankheiten, sie finden sich auch oft sogar bei geistig hoch- begabten Leuten, trotzdem bilden Anomalien wie der in Rede stehende Fetischismus ei n e k r a n khafte Erschein u n g. Für diese Anomalie an und für sich ist 1!. auch nicht verantwortlich zu machen. Es handelt sich nicht um eine Marotte, um eine Sucht nach neuen Reizen, um eine Eigentümlichkeit, die er nach seinem W 1 1 1 en ablegen könnte, vielmehr um einen seiner Natur eingepflanzten eigen- artigen Trieb. Dabei ist es auch gleichgültig, wie man sich die Entstehung des Triebes denkt, ob man ihn für angeboren hält oder infolge zwingender Assoziation m der Jugend entstanden. Jedenfalls hat sich dieser Fetischismus bei R. eingepflanzt, und dies sicherlich schon lange. Eine derartige willkürliche und infolge von Exzessen ent- standene Anomalie wird überhaupt in Forscherkreisen, nachdem jetzt ein ausgedehntes Gebiet durchstudiert und geprüft ist, kaum noch für möglich gehalten. Aus dem Wesen und der Neigung des R. folgt, auch, daß die Heilbarkeit so gut wie ausgeschlos- sen ist. Daß R. durch die Behandlung bei den Ärzten Dr. V. und V. nicht geheilt werden würde, war zu erwarten. Das Gegenteil wäre nur zu verwundern gewesen. Brom, Bäder' u. dgl. können den Geschlechtstrieb im allgemeinen herabsetzen, können den R. dazu bringen, weniger häufig mit seiner Frau verkehren zu wollen. Auf die psychische Notwendigkeit für R., daß beim sexuellen Verkehr die Bedingung der engen Taille vorhanden sein muß, kann diese Art der Behandlung keinen Einfluß haben. Wenn er auch ohne diese Voraussetzung, sei es durch die bloße Vorstellung einer Frau mit einer engen Taille — eine Vorstellung, die ab er durch eine damit in Widerspruch stehende Realität leicht ihrer erregenden Kraft beraubt wird — sei es1 durch manuelle Manipulationen zur Erektion und Ejakulation fähig werden sollte, so würde dies doch niemals eine ihm adäquate Be- friedigung darstellen, und auf die Dauer würde er sich kaum hiermit begnügen. Er muß eben seinen Fetisch bei dem sexuellen Verkehr haben. Daß einer Frau ein Verkehr in der geforderten Weise nicht zuzumuten ist, bedarf keiner Ausführung. Was die Verantwortung des R. für seine sexuelle Anomalie anbelangt, so ist das Bestehen der Anomalie von deren Betätigung zu unterscheiden. Für das Bestehen der Anomalie kann R, nicht verantwortlich gemacht werden. Es handelt sich nicht um eine von seinem Willen abhängige Eigentümlichkeit, sondern um eine eingepflanzte, gegen Willen und Vernunft sich geltend machende Empfindungsweise. Demnach ist für mich kein Zweifel, daß die Anomalie des R, nicht etwa erst seit seiner Verheiratung entstanden ist, sondern schon vorher und sicherlich schon längst seiner Natur eingepflanzt gewesen ist. An einer Stelle der Korrespondenz findet sich auch direkt eine Andeutung, daß Ii. schon längst in der sexuell anomalen Weise emp- funden haben muß, es wird dort von dem seit seiner Jugend vorhandenen Ideal von ästhetischen, schmalen Frauen gesprochen, ein Ideal, das sich aber bei R. nicht begnügte ein Ideal zu sein, wie man ihm bei vielen ästhetisch empfindenden Männern begegnet, sondern — wie der Verkehr mit seiner Frau gezeigt hat — ein in sexuellen Fetischismus ausgeartetes Ideal darstellt. Für therapeutische Erfolge ist bei R. schon I. Kapitel: Fetischismus 65 aus dem Grunde wenig Hoffnung vorhanden, weil aus seinen Briefen hervorgellt, daß er die Bedingung seiner Frau, „seine Korsett- und Taillcnideen" aufzugeben, glatt zurückweist, also sich psychisch einer Gegensuggestion gegenüber schon in einem ungünstigen Renitenzzusland befindet. Was nun das weitere, die Verantwortung des R. für die aus seiner Anomalie fließenden sexuellen Handlungen angeht, so macht das Vorhandensein eines anomalen Triebes den davon Betroffenen nicht ohne weiteres unverantwortlich für die Betätigung des Triebes. Es läßt sich vielmehr sehr wphl behaupten, daß R. versuchen kann den Verkehr mit seiner Frau durch bloße Vorstellung einer Frau mit enger Taille zu ermöglichen, ohne seine Frau mit Schnüren, Korsettragen, Quälen und Drängen zu be- lastigen. Man kann auch ihn vielleicht insofern verantwortlich machen, als er über- haupt, anstatt seiner Frau einen qualvollen sexuellen Verkehr aufzudrängen lieher auf solchen ganz verzichten sollte. Da R. aber nur bei möglichster Einschnürung der Taille seiner Frau eine wirk- liche sexuelle Befriedigung empfindet, und er ohne diese Vorbedingung entweder über- haupt nicht potent wird oder nur einen als onanieartigen Akt empfundenen Verkehr vornehmen kann, ist sein Widerstand, seine „Idee" zu lassen, erklärlich: Nur kann selbstverständlich einer Frau nicht zugemutet werden, unter dieser Anomalie zu leide,, und einen sexuellen Verkehr mit ihrem Manu unter den für sie peinlichen und peini- genden Umständen zu dulden. Daß der Fetischismus und insbesondere die konkrete Anomalie, mit der R. behaftet ist. das Fehlen einer persönlichen Eigenschaft, nämlich der sexuellen Nor- malität und der Fähigkeit, normalen sexuellen ümnn« /u pflegen, darstellt, bedarf kaum der Hervorhebung Daß die Frau, wenn sie diesen Fehler gekannt hätte, dadurch von der Ein- gehung der Ehe abgehalten worden wäre, daran wird man nicht zweifeln können, ebensowenig daran, daß das Nichteinsrehen der Ehe des R in diesem Falle aus der Würdigung des Wesens der Ehe hervorgegangen wäre. Schließlich ist auch die Frage zu bejahen, ob die Ehefrau erst allmählich und erst nach ärztlicher Behandlung ihres Mannes seine Anomalie als solche erkennen konnte Eine Frau, die wie die Klägerin in sexueller Hinsicht vollständig unwissend ist konnte unmöglich das Perverse, Krankhafte solcher Triebe aus sich selbst erkennen um so mehr, als am Anfang, da ihre Taille noch eng war, die Forderungen, welche ihr Mann stellte, nicht übermäßig waren. Sie war hierzu erst imstande, als trotz der Behandlung bei Dr. P. in Paris, bei dem Besuch des Beklagten im Januar und April 1906 bei ihren Eltern es sich herausstellte, daß das alte Übel immer noch vorhanden war Ich fasse daher mein Gutachten wie folgt zusammen: I. Auf Grund der mir mitgeteilten Schriftstücke bin ich der Überzeugung .lall Herr R. tat einem dauernden, unheilbaren oder schwer heilbaren sexuellen Fehler behaftet ist, nämlich mit einer hochgradigen Form des Feti- schismus, dessen Vorhandensein das Wesen der Ehe in der Weise beeinträchtigt daß man einem Ehegatten nicht zumuten kann, die Ehe weile,- fortzusetzen, wenn °er das Vorhandensein dieser Perversität als solche erkennt. II Aus den ^chriftstÜckeB und aus der Natur der Krankheit ist zu schließen, daß der Fehler seit Eingehung der Ehe vorhanden war. HI. Die Ehegattin war entsprechend ihrer Erkenntnisfähigkeit „ml der eigen- artigen Natur der Krankheit nicht imstande, ihren Irrtum binnen G Monaten nach Eingehung der Ehe zu entdecken. Es konnte dies erst ganz allmählich und zwar erst nach jahrelangem Zusammenleben erfolgen. Neuerdings steht ein analoger Fall von Taillenfetischismus in meiner Beobachtung, der dadurch eine besondere Färbung erhält daß er sich ausschließlich auf Bluts ver w a n d t e richtet. Diese erotische Fixation an Verwandte, vor allem die so verbreitete Hirschfeld, Sexualpatholog-ie. III. r'' 0 66 Cousinenliebe, wurzelt gewöhnlich in einem narzißtisch-fetischisti- schen Komplex, einer Vorliebe für gewisse familiale Eigen- schaften körperlicher, häufiger noch psychischer Art. Meist ist damit Verminderung der sexuellen Agressivität, wenn nicht gar eine Agressionsin version vergesellschaftet. Patient, ein 30jähriger Marineoffizier, schreibt: „Bis zu meinem 15. Lebensjahr bemerkte ich nichts von meiner eigentümlichen Veranlagung. In der Zeit sprach einmal eine meiner Tanten verächtlich von der „W e s p e n t a i 1 1 e" meiner Schwester. Ich betrachtete meine Schwester daraufhin und fand ihre Taille himmlisch. Von dieser Stunde an bekam ich stets eine Erektion, wenn meine Schwester ihr Korsett anzog, be- sonders 'heftig, wenn ich ihr dabei behilflich sein konnte. Einen Geschlechtstrieb kannte ich jedoch in dieser Zeit noch nicht. Im 16. Lebensjahr, als ich zur See ging, verschwand die erwähnte Anlage für Jahre. Im 27. Jahre heiratete ich meine hübsche, sehr schlanke Cousine. Einige Jahre nach meiner Verheiratung, vor etwa 10 Jahren, kam meine Vorliebe für übcrschlanke Personen mit ganz dünner Taille wieder stärker zum Vorschein. Dieser Trieb hat sich bis heute bei mir erhalten. Wenn ich ein solches Wesen, überhaupt wenn es noch elegant gekleidet ist, sehe, so bekomme ich ein so- fortiges Wollustgefühl. Im Verkehr -mit meiner Gattin, die eine vortreffliche, seelens- gute, praktische Frau ist, begnüge ich mich mit der Vorstellung, daß sie ganz eng geschnürt sei, denn es würde mir außerordentlich leid tun, wenn ich ihr weh täte, was sicher der Fall wäre, wenn sie von meiner Preßsu'cht erführe.. Ich glaube bestimmt, sie würde mich mit meinem Jungen sofort verlassen. Ich habe es aus diesem Grunde auch nicht gewagt, mit ihr perversen Geschlechtsverkehr zu treiben. Was mich jetzt dazu treibt, energische Schritte gegen meine geschlechtliche Neigung zu unternehmen,! und der Grund ist, weshalb ich mich an Sie wende, ist die Begierde, welche mich seit Juni für 'meine 15jährige Nichte erfaßt hat. Als ich im Juni Urlaub hatte und dieses Mädchen seit längerer Zeit wiedersah, so ganz gekleidet, wie es meinem Ideal entspricht, war ich durch den Anblick so gebannt, daß icli mich sofort verliebte. Ich suchte fortwährend mit dem Mädchen allein zu sein und hatte täglich Samenerguß, wenn ich nur eine Viertelstunde in seiner Nähe weilte. Mit äußerster Energie gelang es mir, mich zu beherrschen und keine Handlung zu be- gehen, welche mir hätte verhängnisvoll werden können. Das Bild, welches ich von der heimlich Geliebten erhielt, dient mir jetzt dazu, mich bei Selbstbefriedig-ung zu erregen. Ich bin sonst kerngesund; alle meine Bekannten, welche mich seit längerer Zeit nicht gesehen haben, sagen mir stets, daß ich ein blühendes Äußere habe. Und doch . . . ." Korsettfetischisten sind meistens auch Gürtel- und vor allem Strumpf bandfetischisten, die dem „Strumpfband ihrer Liebeslust" als Symbol und Reliquie größte Verehrung zollen. Erotisch bedeu- tungsvoll sind „Reizstrümpfe" aller Art, von den feinsten bis weit über die Knie reichenden Florstrümpfen bis zu den kurzen wollenen Socken. Ein mir bekannter Arzt erklärte, daß für ihn, wenn eine Frau ihre Strümpfe auszöge, jeder Reiz verschwunden sei. Wie häufig dieser Fetischismus ist, dafür bietet die große Beliebtheit einen Fingerzeig, deren sich gerade die Photographien erfreuen, welche weibliche Personen darstellen, die nichts als lange schwarze Strümpfe anhaben, vielfach allerdings in Verbindung mit Schuhen. Diese beiden Fetische — Schuhe und Strümpfe — ■ bilden für viele, wenn auch keineswegs für alle Fetischisten eine Einheit. Die sich im Kriege über alle Länder verbreitenden Wickelgamaschen ge- I. Kapitel: Fetischismus 67 wannen durch ihre sieh der Form des Unterschenkels eng anpas- sende Führung in kurzer Zeit für viele Frauen eine hohe feti- schistische Bedeutung, nicht weniger die Ledergamaschen. In Laienkreisen ist der „S c h u h f r e i e r" neben dem „Zopf- abschneider" wohl der am meisten bekannte Typus eines Fetisebisten, und in der Tat stellt er wohl die häufigste Form des Be- kleidungsfetischismus dar. Es gibt keine Art von Schuh- werk und an diesem nicht eine einzige Stelle, die nicht als Fetisch böchst erregend und aufreizend wirken kann. Bald sind! es die Hacken, bald die Knöchelfalten, bald die Schnürsenkel, bald der Spann und bald der Schaft, bald die Sohlen und bald die Schuhnägel, die als Fixationspunkte in Betracht kommen. Sehr viel be- achtet wird die Form des Schuhes. Einige reagieren nur auf Halb- schuhe, andere nur auf Reitstiefel, wieder andere auf. Zug-, Stulpen-, Schaft- oder "Schnürstiefel, manchen kann der Schuh nicht elegant und zierlich, manchen nicht derb und unförmig genug sein. Dieselbe sich bis zum Fetischismus steigernde Geschmacksversehiedenhcit besteht hinsichtlich des Stoffes. Zeugschuhe bilden für viele einen Antifetisch, während Lackschuhe wiederum auf der Fetischseite obenan stehen; dazwischen liegen Kalb-, Rind-, Wild- und andere Ledersorten. In den Mitteilungen einer in sexuellen Dingen völlig unwissenden jungen Frau, die nach einjähriger Ehe mit einem Offizier gegen diesen die Scheidungsklage einreichte, findet sich folgende Stelle: „Meine Stiefel sollten stets schwarz sein, mit recht hohen Schäften und hohen Absätzen, außerdem mit kleinen, runden, schwarzglitzernden Knöpfchen, die er sich gern ins Gesicht drücken ließ. Strümpfe und Beinkleider sollen ebenfalls schwarz sein. Er hat es gern, wenn ich mich eng schnüre und zieht sogar selbst Gürtel und Bänder bei mir fest an. Beim Akt mußte ich stets Korsett, hohe Stiefel und Strümpfe anhaben, sonst konnte er nicht mit mir verkehren. Dabei lag er stets unten. Bevor er zu mir kam, sollte ich ihm sein Glied mit einem kleinen Riemen umschnüren und mit Eau de Cologne einreiben, dann es mit den Stiefelabsätzen treten. Für mich waren das starke Zumutungen, die ich schließlich, meiner Mutter anver- traute, welche sich darüber geradezu entsetzte." Sehr deutlich tritt bei diesen Sukkumbisten die metatropische Bedeutung der Fußbeklei- dung hervor. Den Schuh lieben, heißt sich unterwerfen wollen, wobei das Merkwürdige ist, daß, wie im letzterwähnten Fall, der Schuhfreier förmlich einen Zwang ausübt, um zu erzielen, daß gegen ihn ein Zwang ausgeübt wird — eine der für das Liebes- leben so charakteristischen sadomasochistischen Gegensatzüberwin- dungen. Es gibt Fetisehisten, die sich in Hotels abends heftig an den zur Reinigung herausgestellten Schuhen und Stiefeln erregen. 6g I. Kapitel: Fetischismus Einer -ab an, daß er sich (marxistisch betätige, wenn er ein Paar starke große Männerstiefel, am liebsten Soldatenstiefel mit Sporen, neben zierlichen Frauenschuhen vor der Zimmertür stehen.! betrachte; er schleiche sich im Dunkel der Nacht zu den 4 Schuhen, um sie zu streicheln, zu beriechen und zu küssen. Dieser Mann - er war seines Zeichens Geistlicher - hatte auch schon wiederholt Hausdiener bestochen, damit sie ihm gestatteten, die Schuhe der Hotelgäste früh zu säubern. Trotzdem ihm dieser ganze Zustand äußerst peinlich war, konnte er seine Stiefelleidenschaft nicht beza , inen In Konstantinopel wurde mir in der Perastraße ein alter, sehr ernst und würdig aussehender Stiefelputzer gezeigt, der m seiner englischen Vaterstadt früher als vornehmer, reicher Mann gelebt haben sollte und vor mehreren Jahrzehnten lediglich aus den, Grunde nach der Türkei übersiedelte, um dort unerkannt und un- behindert seinem seltsamen Drang für Stiefel frönen zu können Was die eleganten Levantinerinnen für sorgsames Glatten und Glänzen hielten, war in Wirklichkeit eine erotische Liebkosung ihres Schuhzeugs. Ein Patient von mir litt sehr unter einer Passion tur hohe geschweifte Absätze. Er fuhr aus dem kleinen Orte, wo er m sehr abgesehener öffentlicher Stellung lebte, monatlich einmal nach der Großstadt, suchte dort stundenlang nach den höchsten Hacken, deren er bei einer Dame ansichtig werden konnte und veranlaßte diese _ es handelte sich immer um Prostituierte — , ihm den Korper so lange mit den Hacken zu bearbeiten, bis Ejakulation erfolgte. In London wurde vor einigen Jahren ein berühmter Maler ermordet, dessen ganzer Körper mit frischen Wunden und älteren Narben be- deckt war, die von Sporen herzurühren schienen. Die Nachfoschun- o-en ergaben, daß sein letzter Besucher ein Kavallerist gewesen war. Der unglückliche Mann hatte offenbar ebenfalls der ausgedehnten Klasse der Keitstief elf etischisten angehört. In meiner Praxis habe ich zu wiederholten Malen derartige Narben am Körper von Sporenfetischisten feststellen können. Daß aber auch auf diesem Gebiet antifetischistische Kegungen vorkommen, zeigte mir vor Jahren ein Fall, zu dem ich gutachtlich zugezogen war. Ein Mann war wegen Sachbeschädigung angeklagt, weil er in einem der ersten Hotels der Hauptstadt von einem Gast ertappt wurde, wie er gelbe Lederschnürschuhe mit einem Messer zerschnitt. Uberhaupt liegt scheinbar völlig grundlosen Sachbeschädigungen, beispielsweise Zerstörung bestimmter Kleidungsstoffe durch Bespritzen ätzender Säuren, viel häufiger als man annimmt ein antifetischistisches Motiv zugrunde. Wie der Reitstiefelfetischismus von seinem eigentlichen Zielpunkt nicht nur auf den Reitersmann ausstrahlt, sondern auch auf sein Roß, und damit dem Gebiet der Zoophilip nahekommt, möge der folgende Bericht zeigen, der mir vor vielen Jahren von einem einfachen Mann aus Süddeutschland zuging. Er schreibt: „Mein Fetischismus 69 bezieht sich auf Reitstiefel. Anderes Schuhzeug läßt mich kalt, auch die gewöhnlichen Stiefel, bei denen der Schaft aus 2 Teilen besteht. Diese Verirrung ist mir angeboren. Meine längsten Erinnerungen, die sich hierauf beziehen, gehen weit zurück. Die älteste Erinnerung ist: ich war kaum 5 Jahre alt und erinnere mich noch ganz gut, wie ich mich in unserer Schlaikammer in die hohen Stiefel meines Vaters steckte, ich hatte dabei damals schon ein unbewußtes Wollustgefühl und auch ein erigiertes Glied dabei, über dieses kam dann meine Mutter herein und sagte: „Was tust du denn?'' — Dies ist mir ganz unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben. Einmal suchte ich nach den schon abgetragenen Rohrstiefeln meines ältesten Bruders (damals auch mich Schüler), ohne daß ich einen Anlaß dazu gehabt hätte, aus einem unbewußten Antrieb, fand sie zwar nicht, ich fragte deshalb nach den Stiefeln, meine Mutter spülte gerade und mein Vater war auch in der Küche, die Eltern sagten, was ich denn mit den alten Stiefeln wolle, was mir denn einfalle, oder so etwas Ähnliches; ich fand die Stiefel also nicht, und ließ den Gedanken wieder fallen, ich war damals vielleicht erst 7 Jahre: alt. Ich glaube, ich hätte die Stiefel eben angezogen, wenn ich sie gefunden hätte. Einmal durfte ich mir Stiefel anmessen lassen, ich freute mich und meinte, der Schuhmacher würde mir rechte Kohrstiefel machen (nach Art der Reitstiefel), er machte aber nur gewöhnliche zweinähtige Schaftstiefel, ich fühlte mich deshalb sehr enttiiuscht darüber; als ganz neu erregten sie mich aber doch etwas und ich berührte sie auch mit "meinem erigierten Gliede; damals war ich etwa ü Jahre alt. Einmal, etwa 14i/2 Jahr alt, sprach ich mit einem Freund von sexuellen Sachen, da sagte ich: „Du, Reitstiefel gefallen mir auch so gut"; er sagte: „Wie kommst Du denn auf einmal an Reitstiefel?" — ich sagte: „Ich weiß es nicht"; er meinte, sie gefallen ihm auch, aber man spreche doch jetzt von etwas ganz anderem, ich hielt es dann auch für eine dumme Rede von mir. In der Zukunft äußerte ich mich dann auch nie mehr auffällig über Reitstiefel. Einmal (etwa Jahre alt) bekam ein älterer Bruder (Metzger) neue Reitstiefel; als es mir gelungen war, dieselben allein zu erwischen, hatte ich eine ungemeine Wollust daran, ich drückte sie fest an mich, zog sie an und onanierte darin (hatte dabei schon Samenerguü). Ks gelang mir dann wäh- rend der Lehrzeit nur noch einige Male die Stiefel meines Bruders zu erwischen: ich zog sie dann jedesmal an und onanierte darin, im übrigen hatte ich während der Lehr- zeit sonst nie Gelegenheit mit Reitstiefeln in Berührung zu kommen, und ich wollte mir „diese dumme Idee" auch immer aus dem Kopfe schlagen. Als icli dann mit IT Jahren nach Tübingen kam, da schaute ich aber trotz meiner Vorsätze erst recht auf Reitstiefel. Die Studenten gefielen mir ganz überaus gut in den hohen Reitstiefeln. Ich hätte selbst immer sehr gerne Reitstiefel getragen, aber es hätte sich nicht geschickt, ich brauchte keine und nur so wegen diesem dummen Gefallen an Reitstiefeln welche anzu- schaffen, hielt ich für noch dümmer, so gerne ich Reitstiefel gehabt hätte. Ich suchte mir den Gefallen an Reitstiefeln immer aus dem Kopfe zu schlagen, hatte auch während des fast dreijährigen Aufenthalts in Tübingen nie Gelegenheit, meine Lust an Reitstiefeln zu befriedigen; nur einmal, als ich in meiner Heim.it auf Besuch war, hatte ich Gelegenheit, die Stiefel eines- mir bekannten Artilleristen zu er- wischen. Derselbe hatte sie bei einer turnerischen Aufführung ausgezogen. Ich nahm sie, zog sie an, ging in denselben wie zum Spaß davon und onanierte darin; er hat mich zwar nachher darob ordentlich gerügt. So wie es damals war, ist es immer ge- blieben. Ich muß auch jetzt, wie früher, immer noch im geheimen nach Männern mit Reitstiefeln schauen, sie erscheinen mir eben in Reil stiefeln so überaus männlich und begehrenswert. Mit meinem Fetischismus hängt auch meine bestialische Leidenschaft zu- sammen, die sich auf Pferde bezieht. Über dessen Entstehung ist mir als erstes An- zeichen folgender Fall in Erinnerung: Ich glaube ich war etwa 13 Jahre all und gins noch in die Schule. Beim „Blättlesaustragen" kam ich einmal zum Güterbeförderer in seinen Pferdestall. Auf dem Heimweg kamen mir dann Gedanken, wie schön es wäre, wenn ich so ein Pferd berühren könnte. Besondere Unruhe machten mir diese Gelüste 70 I. Kapitel: Fetischismus weiter nicht; ich vergaß sie wieder, aber wenn ich dein Güterbeförderer sein Wochenblatt brachte, kam mir noch öfters der Wunsch in den Sinn, seine Pferde streicheln und be- rühren'zu können, fand aber kaum einmal den Mut, ein Pferd zu streicheln. Von der Pubertät an wurde dann diese merkwürdige Liebe zu Pferden immer mehr ausgeprägt: ich hätte sie oft so gerne kosen, küssen und streicheln mögen. Ich hatte aber erstens nie Gelegenheit, mit Pferden in Berührung zu kommen; zweitens nährte ich diesen Gedanken nie und suchte ihn zu verdrängen. Ge- schlechtlich träume ich seit "meiner Reife öfters oder manchmal auch von Pferden, doch bei weitem nicht so viel wie von Reitstiefeln. Daß ich mit einem Pferde koitiert hätte, hat mir noch nie geträumt. Als ich schließlich über meine geistig weibliche Natur und über meinen Fetischismus Aufklärung fand, da nahm ich auch an, daß diese übergewöhnliche Liebe zu Pferden etwas Abnormes sei. Über das tatsächliche Bestehen von "krankhaftem Bestialismus bei Menschen habe ich erst -vor etwa i/2 Jahre einige Fälle gelesen in einem Werke von Professor Krafft-Ebing. Dies waren anscheinend aber auch moralisch minderwertige Personen, doch ich glaube, daß man mich nicht für moralisch minderwertig bezeichnen kann. Bei Pferden liebe ich in gleicher Weise männliche und weibliche Tiere oder Wallachen. An einer Stute könnte ich mit der größten Wollust einen Koitus voll- ziehen (dagegen lieber sterben als mit einem Mensehenweibe koitieren). Ebenso würden mir Manipulationen an den männlichen Geschlechtsteilen des Pferdes die gleiche Woll- lust bereiten, besonders wenn ich dabei noch hohe Reitstiefel angezogen hätte. Meine geschlechtliche Liebe zu Pferden habe ich noch n i c betätigt und glaube, daß es auch nie soweit kommen wird: erstens habe ich noch immer soviel moralischen Halt, um mich zurückhalten zu können, zweitens fehlt mir hierzu jede Gelegenheit, drit- tens hält mich die Furcht, mit dem Strafgesetz in Konflikt zu geraten, ab und endlich vor allen Dingen noch die Ängstlichkeit bei Pferden selbst. Zu anderen Tieren als Pferden habe ich keine außergewöhnliche Liebe, bin zwar großer Tierfreund. Einen besonderen- Reiz übt das Reiten auf mich aus; ich glaube, daß ich nach längerem Reiten im Trab Samenerguß im Sattel bekommen würde, bis jetzt habe ich erst eine Reitstunde mitgemacht. Meine Liebe zu Pferden wird man kaum als unmoralisch bezeichnen können, soweit ich sie sexuell nicht betätige, gilt doch das Pferd allgemein als das edelste und schönste Tier, am meisten Mitleid verdient es gewiß auch, denn es ist nur Sklave der Menschheit. Arbeit ist sein Los, Undank sein Lohn. In Geduld und Leiden ist es einzig bewunderns- wert, denn es 1 e i d e t o h n e z u k 1 a g e n. Es tut mir unsagbar wehe, wenn ich oft sehe, wie roh und gefühllos Pferde behandelt werden. Was mein sexuelles Begehren bei Pfer- den betrifft, so glaube ich, daß es mir nicht schwer fallen würde, mich von einem straf- baren Verkehr mit Pferden zurückzuhalten, erstens aus den schon gesagten Gründen, zweitens weil es mir schon genug Freude und Wonne wäre, wenn ich Pferde pflegen könnte, reiten und fahren dürfte und dabei natürlich immer flotte Reitstiefel tragen könnte. Ich habe mir jetzt wohl selbst verschiedene Reitstiefel und auch Reithosen angeschafft, auch schon öfters Reitstiefel getragen, trotzdem ich mich dabei immer sehr genierte, es ist ja gewiß auch lächerlich, wenn so eine kommune Schreiberseele in Reitstiefeln daher- kommt, aber ich wurde mich als ganz anderer Kerl fühlen, wenn ich ungeniert flotte Reitstiefel tragen könnte und dabei womöglich noch Leder- oder le der besetzte Reithosen. Ich hatte früherer Zeit immer den einzigen Wunsch zur Kavallerie zu kommen, aber ich wurde ganz frei vom Militär (wegen Herzfehler) und wäre doch so ungemein gern zur Kavallerie; wie es mir dabei mit meiner armen weichen Seele gegangen wäre, weiß ich nicht, aber' ich glaube, daß es schon gegangen wäre, ich glaube, daß ich nicht schmäh- licher behandelt worden wäre als von meinen Dienstherrschaften, und bei allem hätte ich eine nicht geringe Freude und Stolz gehabt, Kavalleriesoldat zu sein. Was mich am höchsten '•ntzückt, ist ein schöner, strammer Reiter mit flotten Reitstiefeln und ein schönes Pferd dabei. Ich habe deshalb eine besondere Vorliebe für alle reitenden Stände, L Kapitel: Fetischismus insbesondere vor allein für 0 f f i zi c r e und Kavallerie, z. B. Oardekiirassierc gefallen mir über alles (kenne sie zwar fast nur durch Bilder). In Summa ist mir mein ganzes verkehrtes Wesen ein unlösbares Rätsel; warum ich so bin, das weiß ich nicht, aber das weiß ich gewiß, daß ich an meinem Zustand unschuldig bin, daß ich einfach von der rätselhaften Mutter Natur so geschaffen bin. wie ich bin. Ich bin mir oft selbst nicht klar über mich und stehe vielfach im Widerspruch mit mir selber. Auf der einen Seite möchte ich ein reines ideales Leben führen, möchte ein gebildeter und anständiger Mensch mit guten Sitten sein, möchte mit gebildeten Leuten verkehren, auf der anderen Seite ertappe ich mich oft wieder auf ganz niederen Gedanken, möchte z. B. Pferdeknecht oder Gestütsknecht sein, und die gewöhnlichsten Arbeiten bei Pferden wären mir ein Vergnügen. Als Erklärungsversuch für meinen Fetischismus möchte ich noch erwähnen, daß mein Vater und Großvater Rotgerber waren und deshalb immer mit Leder zu tun hatten, mein Großvater war aber gegen seinen Willen Gerber und mein Vater mußte die Ger- berei aufgeben, weil das Geschäft schlecht ging. — i Als anderen vielleicht besseren Er- klärungsversuch dachte ich schon, ob vielleicht meine Mutter in einem eventuell für Prä- disposition geeigneten Moment an Reitstiefel, an ein Pferd, an einen Reiter mit Pferd oder ähnliches gedacht oder solches gesehen hat. Sei es wie es wolle, ich bin nun ein- mal so und kann mich nicht ändern, aber beherrschen will ich mich." Einige Zeit nach Empfang dieses Selbstbekenntnisses erhielt ich die Nachricht, daß der Verfasser „wegen Unerfüllbarkeit seiner Liebessehnsucht" Suicid verübt hatte. Eine Untergruppe in der Kategorie der Beinbekleidungsfeti- schisten bilden noch die Retroussefetischisten, Männer, die mit Be- gierde darauf achten, daß eine Frau den Bock anhebt und dabei sonst bedeckte Teile erblicken läßt, elegante Stiefeletten, feine Flor- strümpfe, „leichte Wolken weißer Spitzenwasche oder gar die schil- lernde Seide eines farbigen Unterrocks".' Bloch (Teil II, Ätiol. d. Psych, sex., S. 352) meint, daß „Paris von jeher das Paradies der Retroussefetischisten gewesen sei". Falls dies zutrifft - — im all- gemeinen sind solche Mitteilungen über nationale Spezialitäten auf sexuellem Gebiet mit großer Vorsicht aufzunehmen — so dürfte es darin seinen Grund haben, daß in Paris mehr wie 'anderswo viele Damen die Gewohnheit haben, die Böcke bis zur halben Höbe der Waden emporzuheben, ohne daß es für anstößig gilt. Übrigens wirkt es auch auf viele Frauen fetischistisch, wenn Männer ihre Bein kleider recht hoch anziehen, namentlich beim Sitzen mit über- geschlagenen Beinen, und dabei ihr sonst größtenteils den Blicken entzogenes Schuhzeug bis zum oberen Rande mit einem Teil ihrer Strümpfe und Unterwäscbe sehen lassen. Die Liebhaber des Re- troussee sind meist zugleich auch Auskleidungsfetischisten, die im Anblick des Entkleidens von Frauen ihre volle sexuelle Befriedigung finden. In einem französischen Roman ruft eine Frau einem solchen Fetischisten zu: „Was für eine ausgezeichnete Kammerfrau würdest du abgeben!" Auch von dem Bett geht ein fetischistischer Reiz aus. Damit ist nicht die alltägliche Erfahrung gemeint, daß eine im Bett liegende Person einer Person des andern Geschlechts besonders be- gehrenswert erscheint. Mehr in das fetischistische Gebiet schlägt es 72 schon, wenn, wie es in einem bayrischen Passionsdorf vorgekommen ist, eine Dame ans Amerika dem Darsteller des Christas eine hohe Summe bietet, um eine Nacht in seinem Bejtte ruhen zu dürfen, natürlich allein. Hier ist es fraglich, ob es sich nicht um religiösen Fetischismus oder Fanatismus handelt, während ein anderer von mir beobachteter Fall eindeutiger ist, in dem jemand in einem Hotel eine Stellung annahm, um sich in stärkster Ekstase zwecks sexueller Entspannung über Betten zu weiden, in denen sich die während der Nacht getragene Leibwäsche einer schönen Frau befand. Vor kurzem suchte mich ein Kaufmann aus Westdeutschland auf, der sich aus- schließlich für schlafende Frauen interessierte. Nur solche, die liegen und der Ruhe pflegen, reizten ihn, stehende und gehende Frauen waren ihm gleichgültig, gegen sitzende empfand er Fetisch- haß. Bei der Exploration ergab sich neben dieser Sonderheit noch eine andere, daß ihm unerklärliche Erektionen auftraten, wenn er bei ihm in- Stellung befindliehe Mädchen anfuhr oder schalt. Das Verbindungsglied zwiscdien beiden Anomalien dürfte in einem lar- vierten Sadismus, Erotisierung durch Wehrlosigkeit als Passivität s- steigernng zu suchen sein. Wir haben nun noch kurz die beiden Oberschichten der Klei- dung zu betrachten, den Anzug im engeren Sinne und seinen Straßen- überzug, den Mantel. Vom Kostümfetischismus, der ungemein ver- breitet ist, will ich einige selbstbeobachtete Fälle herausgreifen. Ich hatte Patienten, die nur mit Frauen in schwarzen Kleidern, am liebsten mit Witwenschleier, den Beischlaf vollziehen, konnten. An- dere wurden durch den Anblick weiblicher Personen in Brautklei- dern mit Myrtenkranz und Brautschleier so erregt, daß sie sogar ohne onanistische Beihilfe zur Ejakulation kamen. Unter den anschei- nend nur neugierigen Frauen und Männern, die sich vor Kirchen- und Rathanstreppen drängen, um herein- und herausgehender Braut- paare ansichtig zu werden, befinden sich viele erotische Voyeure mit fetischistischen, triolistisehen, hypererotischen und anderen Sexualkomplexen. Garnier (in les fetischistes, S. 59) be- richtet von einem jungen Mann, der einen großen Teil seiner Zeit im Bois de Boulogne vor Restaurationen verbrachte, in denen Hochzeitsmähler stattfanden. Vielfach findet man fetischistische Vorliebe für Schwestern- und Nonnentracht. Es gibt Prostituierte, die eigens in dieser Reiztracht ausgehen, um Männer an- zulocken. Mädchen in Ammentracht, Bonnen, Köchinnen wirken gleichfalls nicht selten hypererotisierend, von ähnlichem Einfluß können Schleppkleider, Ballkleider, Reitkostüme, alle möglichen Nationaltrachten, ältere Moden, wie Biedermeiertracht und Krino- linen sein. Während des Krieges hatten Frauen in männlicher Be- rufsart viel Verehrer, wie überhaupt Frauenkleider mit männlichen Einschlägen metatropische Männer oft heftig reizen. I. Kapitel: Fetischismus 73 Von nicht geringem Belang ist die Farbe des Kleidungsstückes; auf manche. Personen wirken blaue Anzüge besonders erregend, auf andere weiße Kleider, aber auch die grüne, graue und schwarze, wie schließlich überhaupt jede Farbe kann eine fetischistische oder anti- fetischistische Bedeutung gewinnen. Ein Oberlehrer schreibt: „Ich empfinde beim Schauen von chromgelben und lilagrauen Farben sexuelle Rauschzustände. Ich onaniere in diesen Farben und träume von ihnen, wenn ich Pollutionen habe." Mir ist der Fall einer Dame in Erinnerung, die durch den roten Besatz der Uniform stark mitgenommen wurde; selbst die rote Biese im Beinkleid ihres Mannes versetzte sie in Ekstase. In der weiblichen Sexualität steht überhaupt die Soldatenuniforin, das zweierlei Tuch, als Fetisch obenan. Dieser Uniformf e t i sehismus kann einen solchen Grad erreichen, daß die Zuneigung mancher Frauen sich in heftige Abneigung verändert, wenn der Mann, in den sie sich verliebten, als er Soldat war, eines Tages in Zivil erscheint. Ich habe in dieser Beziehung verschiedene sehr merkwürdige Fälle zu beob- achten Gelegenheit gehabt. Alle Arten von Uniformen kommen hier in Betracht, am häufigsten vielleicht die der Kavallerie und der Marine. Der Matrosenauzng fasziniert namentlich homosexuelle, aber auch viele normale Personen. So hatte ich einen verheirateten Mann zu begutachten, der dadurch Anstoß erregt hatte, daß er ver- schiedentlich Mädchen mit Matrosenanzügen sich sexuell zu nähern versucht hatte. Die Ehefrau dieses Patienten mußte stets, ebenso wie seine 12jährige Tochter und sein lljähriger Sohn, Matrosen- anzüge tragen. Der männliche Gesellschaf tsanzng, Frack, Ober- hemd usw. wirkt ebenso oft antifetischistisch wie fetischistisch. Es gibt eine Novelle „Fetischhaß", in der nach dem Leben geschildert wird, wie eine Frau gegen ihren Geliebten das Messer zückte, als er ihr eines Abends tinmittelbar nach dem Geschlechtsverkehr in dem ihr so sehr verhaßten Frackanzug entgegentrat. Die Tracht der Geistlichen, die Robe des Richters, wie überhaupt jede männliche Bernfs- und Arbeitstracht kann zum Fetisch werden. Nicht selten sind Fälle, in denen sich auf den Mantel ein starker Fetischhaß konzentriert, so war für eine Dame der Ber- liner Gesellschaft jeder Herr mit Überzieher, Hut und Stock ein Gegenstand heftigster Aversion, doch sind die Fälle bei weitem häu- figer, in denen sowohl der Damenmantel als der Herrenüberzieher zum erheblichen Fetisch werden. Ich hatte eine Patientin, die durch den Havelock besonders erregt wurde, eine andere, der es die kühn geworfene Offizierstoga angetan hatte. Unter den Damenmänteln hat jede Form und Farbe, jeder Schnitt und jeder Stoff fetischistische Verehrer, vor allem ist aber der Pelzmantel ein Fetisch erster Ordnung, und zwar nicht erst seit Sacber-Masoeh ihn in seiner „Venus im Pelz" verherrlicht hat. Krafft-Ebing hat den Fetischismus für ^4 I. Kapitel: Fetischismus Pelz gemeinsam mit dem für Leder, Samt und Seide als Stofffetischis- mus behandelt, zweifellos steht hier auch der Stoff als Anziehungs- mittel voran, doch nicht so sehr, um ihn als eine ganz besondere Gruppe für sieh herauszuheben, er gehört zum Kleidungsfetischis- mus bei dessen verschiedenen Arten einschließlich des Wäsche- fetisehismus neben Farbe und Form stets der Stoff eine gewisse Bolle spielt. . • Von besonderem Interesse ist der Fetischismus für tierische Felle, wie Pelz und Leder insofern, als er uns das Verständnis einer sexuellen Anomalie erleichtert, die noch jetzt in das Bereich der gerichtlichen Medizin fällt und schon seit alten Zeiten zu vielen abenteuerlichen Behauptungen und abergläubischen Annahmen An- laß gegeben hat, wie die, daß Sphinxe, Centauren und ähnliche Mischwesen aus der Vereinigung von Menschen mit Tieren hervor- gegangen sein sollen. Wenn Krafft-Ebing die Zoophilie, die von anderen auch Bestialität oder Sodomie genannt wird, im Anschluß an den Feti- schismus behandelt und sie sogar direkt als Tierfetischismus bezeichnet, so scheint nur die hier zutage tretende Auffassung- wesentlich mehr für sich zu haben, als die von Paul Garnier, der in seinem großen Werk „Onanisme" die von Menschen mit Tieren vor- genommenen Geschlechtsakte lediglich als besondere Formen . der Onanie wertet, da bei diesem Verkehr ausschließlich eine sinnlich periphere Eeizung ohne seelische Mitbeteiligung in Betracht käme. Dies entspricht jedoch keineswegs immer den Tatsachen. Eich- tig ist allerdings, daß diese Akte von Personen, die viel mit Tieren zu tun haben, Hirten, Stallburschen, Kavalleristen nicht selten als Surrogathandlungen vorgenommen werden, was jedoch keineswegs gegen ihren fetischistischen Charakter spricht. So hatte ich während des Krieges einen bayrischen Feldwebel zu begutach- ten, der in Eumänien einer Sau beiwohnte. Die Mannschaften hatten beobachtet, wie er sich wiederholt in den Schweinestall schlich und dort einschloß. Die mißtrauischen Soldaten bohrten nun kleine Gucklöcher in die Stalltür und stellten zu ihrer Verwunderung fest, wie ihr Vorgesetzter an der Sau einen regelrechten Koitus vollzog. Auf ihre Anzeige verhaftet, gab er zu seiner Eechtfertigung an: Die h e 1 1 e H a u t des Schweines hätte ihn immer so sehr an die zarte Haut seiner Frau erinnert. Er hätte seit 2 Jahren seine Frau, an der er mit größter Liebe hing und die ihm sieben blü- hende Kinder geschenkt hätte, nicht mehr gesehen; um ihr die Treue zu bewahren, hätte er sich mit dem Tier eingelassen. Trotz dieser treuherzig vorgebrachten Entschuldigung, die aus einer nicht unerheblichen geistigen Schwäche des Angeschuldigten her- vorging, trotz sonst musterhafter Führung im Dienst und vieler Kriegsauszeichnungen wurde der Mann von dem Kriegsgericht zu I. Kapitel : Fetischismus 75 einer sehr erheblichen Freiheitsstrafe verurteilt. Die naive Art, wie dieser Angeklagte seine strafbare Handlung erklärt, findet sich bei ähnlichen Vorkommnissen auffallend häufig und ist bezeichnend für den Schwachsinn der Täter. So beantwortete ein Hauer, der eines ähnlichen Vergehens mit einer Sau bezichtigt war, die Frage des Richters, wie er denn zu solcher ' Untat käme, mit der kurzen Erklärung: „meine Frau war verreist"; ein anderer, von dem in Groß' Archiv (Bd. 34, S. 265) berichtet wird, brachte zu seiner Rechtfertigung vor: „die Sau sei ihm immer nachgegangen und habe ihn so rührend angesehen, darum habe er ihr den Willen getan". Daß der übertriebenen Tierliebe vieler, namentlich alleinstehender und kinderloser Männer und Frauen ein unbewußt erotischer Charakter innewohnt, scheint mir /weifellos. Erkundigungen, die ich bei Tierärzten über das Verhalten der Tierbesitzer einzog, be- stätigten mir dies im weitgehendsten Maße, namentlich erzahlte mir ein Berliner Spezial- arzt für Hundekrankheiten viele Beispiele von den alle Vorstellungen übersteigenden Zärt- lichkeiten und Liebkosungen, mit denen manche Hundebesitzer ihre Tiere überschütten. Personen, von denen schon Wullen im „Sexualverbrecher" sagt, daß sie ihren Dienstmäd- chen minderwertige Kost geben, während sie ihren Hunden Koteletts und Beefsteaks vor- setzen. Vor vielen Jahren wurde ich einmal zu einer Offiziersdame gerufen, deren Gatte soeben einem Schlaganfall erlegen war. Als ich ihr von dem Ableben ihres Mannes Kennt-, nis gab, sagte sie: „Ach, Herr Doktor, was ich in diesem Jahre schon habe durchmachen müssen, im April starb unser Hund, im Sommer mein Kanarienvogel und jetzt auch noch mein Mann." In einem anderen Fall ersuchte mich eine Frau um ein Zeugnis, daß es not- wendig sei, daß ihr Kater in ihrem Bette schliefe; als Grund gab sie ihr Reißen an, das nur durch das warme lebende Katzenfell beseitigt würde. In Wirklichkeit lag aber sicher- lich eine sexuelle Fixierung an den ungewöhnlich großen und schönen Kater vor, den sie mir vorstellte. Der Wirt und die Hausbewohner hätten auf die Entfernung des ihre Buhe störenden Tieres gedrungen; sie würde sich trotz der herrschenden Wohnungsnot aber lieber von ihrer hübschen Wohnung, als „dem geliebten Vieh" trennen. War es in diesem Fall von Katzenliebe zweifelhaft, ob sich die Besitzerin über den. erotischen Charakter ihrer sehr heftigen Leidenschaft im klaren war, ebenso wie aucli viele Damen in der schwärmerischen Zuneigung, die sie für ihre „Schoß"hündchen hegen, nicht das sinnliche Moment wahrnehmen oder nicht wahrhaben wollen, so war in einem anderen Falle, der mir unterbreitet war, das Motiv ganz offenkundig. Ein 25jähriges schönes kräftiges Mädchen ließ ihre Verlobung rnit ihrem ausgezeichneten Mann, einen Architekten, zurückgehen aus Liebe zu ihrem Kanarienvogel; sie könne die Liebe zu dem Vogel nicht mit einer anderen teilen; wenn sie die weichen Federn des Tieres mit ihren Händen und Lippen berühre, verspüre sie eine sinnliche Erregung, die bis zur höchsten Befriedigung gehe. Dagegen bliebe sie bei den Liebkosungen ihres Bräuti- gams völlig kalt. Einen ähnlichen Fall berichtet Rohleder. Nur daß bei ihm der Gegen- stand der heißen Liebe eines 30jährigen Mädchens ein männlicher Papagei war; sie ließ sich von diesem am Kopf, Kinn und Busen so lange „krabbeln", bis sie in ein Stadium höchster sexueller Erregung kam. ' In der Mehrzahl der Fälle genügen die hier angeführten Be- tastungen nicht, um eine Entspannung herbeizuführen, es kommt vielmehr zu Akten an den Geschlechtsteilen. Man muß hier Hand- lungen unterscheiden, die Männer an Tieren vornehmen und die Frauen von Tieren an sich vornehmen lassen. Männliche zoophile Täter pflegen weibliche Tiere, weibliche männliche Tiere vorzu- ziehen. Erstere pflegen auf dem Lande, Frauen mit solcben Nei- 76 I. Kapitel: Fetischismus gungen in der Stadt häufiger vorzukommen. Daneben kommen auch Akte von Homosexuellen mit Tieren vor; so ließ sich nach Merzbach ein homosexueller Gutsbesitzer von einer abgerichteten Dogge von hinten bespringien und per anum gebrauchen. Die häufigste Be- tätigungsform zoophiler Frauen ist der passive Lambitus: sie lassen von den Tieren, wobei in erster Linie Hunde in Frage kommen, ihre Genitalien cum Lingua bestreichen; bei Männern ist dies seltener. Immerhin hatte ich einen Fall zu begutachten, in dem ein Schlächter sich gewohnheitsmäßig von Kälbern so lange an seinem Glied saugen ließ, bis Samenerguß erfolgte. Er brachte Vieh von auswärts nach dem Berliner Zentralviehhof und ließ dies namentlich im Zuge an sich vornehmen, bis er schließlich ertappt und vor Gericht gestellt wurde. Häufiger als orale Fälle sind solche gerichtskundig ge- worden, in denen Männer in die Vagina, den Anus oder die Kloake der Tiere eindrangen. In der Fachliteratur finden sich besonders folgende Tiere angegeben, bei denen Handlungen dieser Art vorgekommen sind: Pferde — als dem alten Fritz eines Tages zwecks Aburteilung in Potsdam gomeldet wurde, ein Kavallerist der dortigen Garnison •sei beim Geschlechtsverkehr mit einer Stute überrascht worden, schrieb er statt der er- warteten schweren Freiheitsstrafe kurz und bündig unter das Protokoll: „Versetzt das Schwein zur Infanterie" — ; Kühe, bei denen meist wie bei Stuten ein Schemel angestellt wird, Ziegen (von denen es heißt, daß sie namentlich im Orient und in Italien Fremden von Kupplern auf der Straße vielfach angeboten werden), Schweine, Schafe, Hunde, die besonders oft von weiblichen Personen, die an Pruritus vulvae leiden, benutzt werden. Federtiere, wie Hühner, Enten, Gänse, Puten, Tauben werden nicht ganz selten von Männern in der Weise gemißbraucht, daß das Glied in die Kloake eingeführt wird und gleichzeitig das Tier erwürgt oder ihm der Hals abgeschnitten wird, wobei dann durch0 die krampfartigen Todeszuckungen des Tieres die Ejakulation befördert wird. Analoge zoosadistische Handlungen kommen auch an anderen Tieren vor und legen die Vermutung nahe, daß dem äußerst intensiven Interesse, das viele weibliche und männliche Personen am Schlachten der Tiere, an Stierkämpfen und ähnlichen Grau- samkeitsakten mit Blutvergießen nehmen, wenn auch meist wohl unbewußt, sexuelle Wünsche zugrunde liegen. Thoinot erzählt in seinem „Perversions du sens genital" (S. 268) von' einem Manne, der in einem Pariser Bordell sich in der Weise betätigte, daß ein Mädchen ein Kaninchen halten mußte, dem er mit einem Schnitt den Bauch auf- schlitzte. Während er seifte Hände in den blutüberströmten Eingeweiden des Tieres ver- grub trat Befriedigung ein. Von einem noch ungeheuerlicheren „Triolismus" wird in Groß' Archiv für Krimmalanthropologie (1903. S. 320) berichtet; ein Mann war ange- klagt, weil er einen großen Hund abgerichtet hatte, seine Frau zu koitieren. Er hielt die weinende und sieh heftig sträubende Krau unter Drohungen fest, entblößte ihren Leib und führte das Glied des Hundes in die Vagina, Der Hund verstand, was gewollt würde und vollzog die Kohabitation, wobei der Mann zusah. Der Angeklagte,^ der diese Straftat wiederholt begangen hatte, wurde wegen ..Sodomie und gewaltsamer Unzucht an seiner Ehefrau" verurteilt. Nach Mantegazza und Krauß sollen in südlichen Ländern auch Esel und Eselinnen gelegentlich als Sexualobjekte verwandt werden. Krauß erzählt auch, daß er einmal eine Chrowotin beobachtet hätte, die sich völlig entkleidet mit einem Kater abgab. Sie geriet dabei in einen überaus heftigen Orgasmus. Ob die vielen aben- irnrrlirlu.il Geschichten, die von Geschlechtsverkehr ' zwischen Affen und Weibern und auch von Männern mit Affenweibchen in Umlauf sind, der Wahrheit entsprechen, bleibe dahingestellt. Bemerkenswert ist es jedenfalls, daß nach einer alten Sage der Peruaner lie Syphilis ursprünglich eine A f f e n k r a n k h e i t gewesen wäre, von denen sie 77 durch sodomi tische Akte aur den Menschen übertragen sei. Daß durch sexuelle Akte mit Tieren Krankheiten erworben werden können, wie Erysipel, Anthrax, Tetanus, ist sicher- lich möglich, obwohl wir in der Literatur kaum etwas darüber finden. Die bekannteste und wohl auch häufigste Erkrankung, die Menschen durch Zärtlichkeiten, vor allem Küssen von Tieren akqui deren, ist zweifellos der Hundewurm (Echinokokkus). Ich be- obachtete den Fall einer Echinokokkengeschwulst in der Leber, die später erfolgreich ope- riert wurde. Der Patient, ein überaus femininer Mann, war von seinem „Nero", einem männlichen Hunde, der in seinem Denken und Handeln die giößte Rolle spielte, ohne daß aber ein eigentlicher Sexualverkehr stattfand, infiziert worden. Es ist natürlich auch denkbar, daß Menschen Tiere anstecken. Obwohl Fälle dieser Art nicht bekannt ge- wesen sind, ist ein kurzer Hinweis am Platze, weil bei manchen Völkern der seltsame Aberglaube besteht, man könne sich durch ] Sei schlaf mit einem Tier — die Südslawen bevorzugen hierzu Hennen — von einer Geschlechtskrankheit befreien. Um die Liste der in Frage kommenden Tiere zu vervollständigen, sei noch bemerkt, daß die alten Ägypter im Rufe standen, Krokodilweibchen zu koitieren, während sich vornehme Römerinnen Favoritschlangen hielten, die sie zum Zwecke geschlechtlicher Reizung mit ins Beti nahmen. Von einer Schlangentänzerin wurde mir mitgeteilt, daß ihre leidenschaftliche Zuneigung für Schlangen nicht frei von erotischen Empfindungen sei. Auch religiöse Sodomie kennt die Geschichte der Menschheit. So erfolgte die Verehrung des heiligen Bocks im alten Ägypten seitens der Weiber durch geschlechtliche Verbindung. Mit Kecht hat Forel in seiner so überaus klaren und vorurteils- losen Behandhing dieser Fragen sieh dahin ausgesprochen, daß es vom eugenetischen Standpunkt vielleicht besser sei, ein Idiot oder Schwachsinniger vergreife sich an einer Kuli, als er schwängere ein Mädchen. Jedenfalls sei die Sodomie als eine der harmlosesten Formen der pathologischen Verirrungen des Geschlechtstriebes zu beurteilen, da durch sie niemand Sehaden erleide. Ans diesem Grunde hat man auch in dem letzten Entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, wie in den meisten anderen Ländern, die Unzucht zwischen Mensch und Tier straflos gelassen, ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen man Menschen zusammen mit Tieren, beispielsweise Frauen gemeinsam mit Hunden, verbrannte, wenn zwischen ihnen ,, unkeusch getrieben" worden war. Mitbestimmend war dabei wohl auch die irrtümliche Auffassung, es könnten aus solchem Verkehr Nachkommen entstehen. Diese Meinung ist auch' jetzt noch keineswegs ausgestorben, wie ich aus mir wiederholt unterbreiteten Anfragen ersehe. Vor einigen Jahren kursierte in Charlottenburg ein mit großer Bestimmtheit auftretendes Gerücht, es wurden sogar Name und Straße angegeben, eine Frau habe fünf Hunde zur Welt gebracht. Es ist biologisch gänzlich ausgeschlossen, daß tieri- scher Samen sich mit einem weiblichen Ovulum verbindet, ebenso auch, daß menschliche Spermatozoon in tierische Eier dringen. Können ebenso wie Tiere Pflanzen zu Gegenständen geschlecht- lichen Fühlens werden? Diese Frage möchte ich bejahen. Eine Brücke vom physiologischen zum pathologischen Fetischismus ist auch hier vorhanden. Sie besteht in dem nicht seltenen Blumenfeti- schismus. Eine Blume im Haar oder Gürtel des Weibes, im Knopfloch des Mannes, und zwar meist eine ganz bestimmte, wird für den Ge- 78 sichts- und Geruchssinn zum Fetisch. Audi die Zärtlichkeit, die viele alleinstehende Frauen und feminine Männer ihren Blumen atigedeihen lassen, scheint nicht immer frei von einer, wenn auch den Blumenliebhabern selbst meist verborgenen Erotik zu sein. Daß die „Dendrophilie" sich auch auf Bäume erstrecken kann, scheint das von Bloch angeführte Beispiel des Xerxes zu lehren, welcher einer Platane in Lydien die Verehrung und die Ehren einer Frau entgegenbrachte, bei ihr wie bei einer Geliebten ver- weilte und sie reich mit Schmuck und anderen Geschenken versah. Vor einigen Jahren vertraute sich mir ein Herr an, der „ein Ver- hältnis mit einer alten Eiche" in Machnow bei Berlin hatte. Er hatte für sie eine, wie er sagte, „abgöttische Verehrung" und drückte oft in der Dunkelheit, wenn er sich ganz sicher vor Beobachtung fühlte, sein entblößtes Glied an den „ehrwürdigen Stamm", bis Ejakulation erfolgte. Von der Liebe zu den im Altertum als Dryaden und Najaden per- sonifizierten Bäumen und Quellen führt nur noch ein kleiner Schritt zur erotischen Fixierung an Probionten und leblose Dinge wie Kristalle, Diamanten, Perlen und andere Edelsteine. Einen von Körber und mir beobachteten Fall von Kristallfetischismus habe ich bereits in meinen „Naturgesetzen der Liebe" ausführlicher be- schrieben. Der Fall betrifft ein junges Mädchen, welches sich in eine große, schöne Kristall- schale verliebt hatte. Sie ging täglich vor das Schaufenster, hinter dem die Schale stand, um sich an ihrem Anblick zu weiden. Eines Tages war das Gefäß verschwunden, ein Käufer aus dem Auslande hatte es erworben. Dem Mädchen aber war es, als sei ihr jemand gestorben, und lange schmerzte sie eine Sehnsucht, der sie kaum Herr werden konnte. Der Fall scheint mir so merkwürdig, daß ich auch hier der briefliehen Schilderung der jungen Dame, die angibt, Menschen gegenüber anerotisch zu sein, selbst Kaum geben möchte. „Schon in meiner frühesten Kindheit", schreibt sie mir, „gab ich mich den Wonnen des Kristalls hin. Wie diese Liebe in mir erwachte und wodurch, kann ich nicht sagen; ehe sie sich auf die Kristallgegenstände unseres Hauses verschlug, verleitete sie mich schon zu kühnen Träumen von Kristallpalästen, die es irgendwo auf der Erde geben mußte. Ich saß dann später stundenlang vor Bildern, die ich in Büchern gefunden-, wo Grotten von Eis und phantastische Gebilde mich fesselten, und ich verlor mich in der Vorspiegelung der Spiele von Licht in den kristallenen Formationen. Der Einsatz mit Essig und Öl war eine Zeitlang für mich das Schönste, was auf dem Tische stand. Ich freute mich während des ganzen Mittagessens auf das Kompott, da es solches von Kristalltellern gab — und wenn ich es endlich vor mir hatte, konnte ich vor Aufregung nicht essen, denn es war so etwas Unfaßbares, die Brechung von all' dem Licht und dann der sonderbare Lichtrand, den die Sauce da hervorrief, wo sie den Teller berührte. — Zum Geschmack vieler Dinge, sowohl eß- wie trinkbarer, hat das' Kristall immer viel beigetragen, und es gibt manches, das mir nur von Kristall genießbar wäre. — Einmal fand ich auf der Wiese an unserem Hause in ein Papier eingewickelt ein Prisma von einem Kronleuchter. Als ich das Papier aufrollte und die Sonne sieh funkelnd in dem Kristall brach, wurde i c h heftig e r regt und m a s t u r b i e r t e. — An einem Kronleuchter mit Kristall- prismen versenkte ich mich immer wieder in die Brechungen des Lichts und ließ mich von dem Farbenspiel betören. — Ich studierte den Kronleuchter während der verschiedenen Beleuchtungen des Tages; ich wußte, wann die Sonne sich darin fangen würde, und ich L Kapitel: Fetischismus 79 unterließ es nie, um die Stunde meinen Besuch bei ilini zu machen. Das strahlende Licht, was zu allen Seiten sprühte, bereitete mir einen außerordentlichen Genuß — ■ es war, als wenn es wie feiner Goldstaub durch mein Blut sickerte — , ich fühlte es heiß durch meinen ganzen Körper rieseln bis zur Ermattung. — Oftmals ging ich in Geschäfte und fragte nach den Preisen verschiedener Kristallschalen, Gläser, Karaffen usw., nur ein Vorwand, die verschiedenen Gegenstände in die Hand nehmen zu können, mit ihnen in B e r ü h r u n g zu kommen, über den Schliff streichen zu können, aber vor allem ihre Schwere zu spüren; die Schwere kostbarer Kristalle bereitet mir eine ganz besondere Freude. — Im Alter von 20 Jahren hatte ich an dem Schaufenster eines Ge- schäftes eine Kristallschale von außerordentlicher Schönheit entdeckt. Sie schien mir mit ganz besonders nrysteriösem Schleier das vielfache Licht diskret zu verhüllen, um desto verlockender anzuziehen. Jeden Tag mußte ich einmal an dieses Fenster, das Wunder anzusehen, ich träumte von Räumen, wo sie stehen müßte, von eigenartigen Tischchen mit einer Platte aus Edelgcstein als Untergestell für sie, von farbigen Seiden, auf denen sie ruhte und die sich mit ihren 'matten Tönen vielfach darin schmeichelten. Am liebsten aber dachte ich sie mir auf einer Platte aus dunklem Silber, einfach und ruhig, wo keine Farbe sich, in ihr Farbenspiel mengen würde. Dann stellte ich sie mir in der Mitte eines Raumes auf einem hohen, schlanken Unterbau vor. Es mußte halbdunkel dort sein, an den Wänden nur einige Kerzen aus Wachsleuchtern. Ich würde dann Ol hineinschütten — ein wasserklares Öl, aber schwer und dickflüssig, daß der Schliff eigenartiges Licht flimmern und es unten in der Schale strahlen würde wie von Sternen. Dann wollte ich einen Rubin in das Öl werfen, und ich konnte mir nicht Genüge tun an den Träumen über die Wunder, die sich mir all enthüllen müßten. Ich ging in das Geschäft und fragte nach dem Preis — ich wußte im voraus, daß er unerschwinglich für mich sei — , aber ich durfte bei dieser Gelegenheit das kostbare Stück in die Hände nehmen und seine Schwere fühlen. Ich überlegte hin und her, wie ich doch noch in seinen Besitz gelangen könnte — eines Tages war die Schale aus dem Fenster verschwunden, und ich war sicher, daß sie verkauft sei; ich ging hinein und fragte nochmals nacli ihr und bei der Bestätigung grämte ich mich sehr . . ." Zu den Steinen und Metallen mit erotisch-fetischistischer Neben- wirkung gehören auch Marmor und Bronze. Man hat aus diesem Grunde auch in der Statuenliebe, dem Py gmalionisinus, eine Form des Fetischismus erblicken wollen. Andere Autoren haben diese Anomalie mehr mit der Liebe zu toten Körpern, der Nekro- philie, in Beziehungen gesetzt. Beiden Triebstörungen gemeinsam ist eine gesteigerte sexuelle Reizbarkeit, die über das Lebendige hin- ausgehend sich auf nachgebildete und entseelte Körper erstreckt, Ich werde daher auf diese sexuellen Extravaganzen und Ekstasen im nächsten Kapitel zurückkommen, das den Hypcierotismus be- handelt. Hier sei nur erwähnt, daß eine ähnliche Verbindung wie vom Pelzfetischisnius zur Zoophilie, von der erotischen Fixierung an Steine und Marmor zu jener seltsamen Zuneigung führt, die sieh auf Bildsäulen und Leichen erstreckt. II. KAPITEL Hypererotismus Die q u a n t i t a t i v e n Abweichungen des Geschlechtstriebes — Die sexualpatholögische Plus- und M inus gruppe — Die innersekretorisch bedingte Stärke des Erotismus — Wo fangt das geschlechtliche Über m a ß an? — Das Sexualtemperament — Sexuelle Athleten — Verhältnis der T r i e b r i cht un g zur Trieb stärke — Ungleichheit der auf das eine und das andere Geschlecht gerichteten Libido bei Bisexuellen Triebbeh e r'r sc h barkeit Präpubische und post- klimakterische Geschlechtslust — Innersekretorische Bedeutung der Prostata- Involution — Verhältnis von Libido und Potenz — Sexuelle Eindrucksfähig- keit und A u s d rucksmögli c h k e i t — Die „Leichenbraut" — Der Sexualrhyth- mus — E b 1) e und Flut der sexuellen Hormonwellen — Geschlechtliche A n - fechtungen — Einfluß der Nahrungs-, Genuß- und Arzneimittel auf die Triebstärke — Hormon t h t r a pie — Liebesraserei, Satyriasis, Nymphomanie und Mannstollheit — Fausts: „im Genuß verschmacht ich nach Begierde" — Polygame und monogame Form des Hypererotismus — Der Polyerotiker - ■ Menschen mit Genitalien und Genitalien mit Menschen — i Sexuelle Polypragmasie — Einfluß des Hypererotismus auf den körperlichen und seelischen Gesundheitszustand — Fall eines verheirateten Polyerotikers ■ — i Oraler Genitalverkehr — Prostituierte aus Leidenschaft - - Hypererotische Gebärden — Sexuelle über bedürftigkeit beim Weibe — Lüsternheit infolge Pruritus vulvae — Koitus Halluzinationen — Die natürliche Koitusform des Menschen — Coitus a posteriori — . Succubation — Sexuelle Ersatzor g a n e — Die Kontakttendenz erogeuer Zonen — Figurae veneris — Digita- tionen als infantilis tische Betätigungsart — Differentialdiagnose zwischen Finger und Glied — Orale Betätigungsform — Cunnilinctio, Penilinctio und Anilinetio - Überwindung des Ekels als ein Hauptmerkmal der Liebe — Die monogame Form des Hypererotismus — ■ Don Juan- und Toggenburgtypen — Liebe als Krankheit - Erotische S u p e r f i x a t i o n neurotischer Frauen während der Gravidität — Pathologische Liebe zu Prostituierten — Überflutung des Gehirns| mit erotischen Rauschstoffen — Narkotische Wirkung des Andrins und Gynäcins — Sehnsucht und Eifersucht — Der gesteigerte Liebes aktivismus und -Passivismus ■ — Ge- schlechtlicher Unterwerfungsdrang und sexuelle Hörigkeit — Gelähmter Ge- schlecht s w i 1 1 e — Doppelselbstmord infolge sexueller Überfixation — Metatropismus und Hypererotismus — Der erotische Unterwerfungsdrang des Weibes als Wurzel ihrer früheren Entrechtung — Sadismus und Hypererotismus • — Verstärkte Inkretion als Ursache des Sadismus — Die quantitative und qualitative Erklärung des Virilismus durch die innere Sekretion - tnkretorisc h verursachte Gewaltakte und Verbrechen — Sexuelle Intoxikation — Triebwiderstand und Willehs- widerstanu - Vergewaltigungs w ü n s c h e — Physische und psychische Beugung des Geschlechtswillens — Koitus an einer Hypererotischen — Liebeskünstler — Unter- drückung sexueller Gegenwehr — Sexuelle Siegerp ose — Einfluß des Alkohols, der Erschöpfung und Musik auf den sexuellen Widerstand — . Sadistische Stufenleiter — 1 in a g i n ä r e r Sadismus — Pollutionen bei Erzählung der Passionsgeschichte Passiophilie — Beobachtungen in der Berliner Spartakuszeit — Lust- % IL Kapitel: Hypererotismus gl Steigerung durch Schadenfreude und Mitleid — Wach trau m eines Hypererotikers — Die Zotomanie — Sexueller Wortrausch — Hypererotische Schreibwut — Obszöni- täten in Bedürfnisanstalten — Physiologischer und pathologischer Visionismus — Trieb zu schauen und sich zur Schau zu stellen — Fetischvoyeure — Triolisten — Wechselwirkung zwischen materieller und sexueller Gewinnsucht — Ein Voyeurroman von Barbusse — i Kuppelsucht — Brachiale Sexualexzesse — Der Lust- mord — Mitteilungen angeblicher Lustmörder — Plötzliche Todesfälle im sexuellen Affekt — Absoluter und relativer Hypererotismus — Anscheinende Lustmorde aus Raubgier und Eifersucht — Echte Lustmorde zur Entspannung der Geschlechts- lust — Geschlechtsrausch — Sadistische Verstümmelungen — Affekttaumel Schwachsinniger — Epileptische Lusttöter — Schließen Planmäßigkeit und Erinnerungsmöglichkeit Unzurechnungsfähigkeit aus? — Lustmord und Aber- glaube — Geißler und Mädchenstecher — Sexualpathologische Stereotypie — Bösartigkeit als Überkompensation von Gutartigkeit — Weiche Fanatiker — Sadisten und Spartakisten — Antifetischistischer Sadismus (Bild) — Bilder- schändung — Statuostupration und Statuophilie — Sexuelle Urmotive von Bilder- diebstählen — Hyperfixicrung an Personen im Film — Nekrophilie — Imbezille und hysterische Leichenschänder — Salome-Typen — Körperliche Hypererotismus- formen — Der Priapismus — Erektionen ohne Mitbeteiligung des Geschlechtstriebes — Johannestrieb und Wasserstanzen — Gonorrhoische Priapismen — Aphrodisiaca — Anale Erektionswirkung — Periphere Reizung der Wollustkörperchen — Erektionen und Eja- kulationen bei Erhängten und Geköpften — Erschöpfungspriapismen — Leukämische Priapismen — Toxische Priapismen — Priapismus durch Dauer- reizung des Erektionszentrums — Die Polyspermie — Pollutionismus und Spermaturrhöe — Samenplethora und Samenkoller — Krankhaftigkeit unfreiwilliger Samenverluste — Tagespollutionen — Frottage — Miktions- und Defäkationsspermatorrhoe — Prostatorrhoe — Verwechslung zwischen Spermatorrhoe und „Gonorrhoea simplex" — Regurgitierendcr Samen — Begriff der sexuellen Überreizung. • Der im vorigen Kapitel behandelte Fetischismus leitet zu den quantitative n Abweichungen des Geschlechtstriebes über, denen wir in den beiden nächsten Kapiteln unsere Aufmerksamkeit zu- wenden wollen, der ebenso umfangreichen Plus- wie Minusgruppe der Sexualfunktion, dem Hyper- und Hypoerotismus, der Libido- steigerung und der Impotenz. Auf der positiven Seite kann eine Sinrieswabrnehmung eine jedes normale Maß überschreitende Lei- denschaft hervorrufen, auf der negativen Seite kann eine Summe von Eigenschaften so abstoßend wirken, daß jede Lust und Fähig- keit zum sexuelle^ Verkehr erlischt. Freilich sind diese exogenen Ursachen für die Trieb stärke nicht allein bestimmend, von ebenso hoher Bedeutung ist der endogene Faktor, der innersekre- torisch bedingte Stärkegrad des Erotismus und die von ihm ab- hängige Reaktions- und Affekthöhe sexueller Attraktion und Aversion. In diesem Kapitel soll zunächst von dem geschlechtlichen Üb e r - maß die Rede sein. Um dieses als solches zu erkennen, ist es aller- dings erforderlich, daß man sich darüber klar ist, was im Ge- schlechtsleben als Maß anzusprechen ist. In dieser Hinsicht liegt keineswegs eine Übereinstimmung der Anschauungen vor; 150 Ko- habitationen im Jahr, 3 in der Woche, die dem einen Autor als zu Hirschfeld, Sexualpathologie. III. ß I II. Kapitel : Hypererotismus viel erscheinen, sieht ein anderer während der Blüte des mensch- lichen Lebens als mäßig- oder jedenfalls nicht unmäßig an. Die Trieb stärke ist an und für sich sowohl unter Männern als unter Frauen ungemein verschieden, in einem Grade, daß hier nur unter noch größeren Schwierigkeiten, als sonst auf sexuellem Gebiete, die Stelle normiert werden kann, an welcher das Physiologische aufhört und das Pathologische beginnt. Es gibt Personen, die überhaupt gar kein oder nur ein ganz geringes Bedürfnis nach geschlechtlicher Betätigung haben. Mindestens ebenso häufig aber finden sich bei beiden Geschlechtern Individuen, bei denen der kaum befriedigte Trieb bald immer wieder neu erwacht; vor kurzem beklagte sich bei mir eine Frau, 'daß ihr Mann in den 8 Jahren ihrer Ehe,; von kurzen Zwischenzeiten abgesehen, jeden Tag vier- bis fünfmal den Akt mit ihr; vollziehe; in einem andern Fall berichtete mir ein un- verheirateter Mann glaubwürdig, daß er während eines einzigen Jahres über tausendmal in normaler Weise koitiert habe. In einer Gerichtsverhandlung, der ich vor einiger Zeit beiwohnte, gab der Ehemann im Beisein seiner Frau an, daß sie während der Flitter- wochen durchschnittlich 18 mal innerhalb 24 Stunden verkehrt hätten. Die bekannten Lebemänner und Kurtisanen der Geschichte, deren Namen zum Begriff geworden sind, wie die Casanovas, Don Juans, Phrynen und Messalinen, stehen auf dem einen Flügel, Män- ner wie Immanuel Kant und der Maler Menzel, von denen behauptet wird, daß sie weder die Liebe, noch den Geschlechtsverkehr kannten, und Frauen wie Cornelia Goethe, von der ihr Bruder Wolfgang sagte, daß in ihrem Wesen keine Spur von Sinnlichkeit lag*, am anderen Ende. Zwischen diesen beiden Grenzen gibt es alle nur erdenklichen Gradstufen. Diese indivi- duelle Triebstärke erhält sich dabei, von gewissen Ausnahmen und Schwankungen abgesehen, durch mehrere Jahrzehnte auf ziemlich konstanter Höhe, mit anderen Worten: frigide' Männer und Frauen pflegen einen niedrigeren Grad, temperamentvolle einen höheren Grad der Libido als das ihnen zugehörige Sexualtemperament zu behalten. Die Triebrichtung als solche hat mit der Triebstärke nichts zu tun. Es können also gleichgesehlechtlÄh gerichtete Men- schen ebenso wie Heterosexuelle ungemein leidenschaftlich sein oder einen nur schwach entwickelten Geschlechtstrieb besitzen. Handelt es sich um Bisexuelle, so pflegt gewöhnlich die Heftig- keit, mit welcher es eine Person zu dem einen oder anderen Ge- schlecht zieht, äußerst verschieden zu sein, die Patienten selbst drücken dies oft zahlenmäßig aus, etwa so. daß es sie zu 90 Proz. zum weiblichen und zu 10 Proz. zum männlichen Geschlecht ziehe oder umgekehrt. Für die Frage der Trieb b e h e r r s c h b a r k e i t ist die Unter- suchung der Triebstärke im Einzelfall von erheblicher Wichtigkeit. Antifetischistischer Hypererotismus. Tafel II. Statuenschändung durch Bespritzen mit tintenartiger ätzender Flüssigkeit aus erotischen Motiven, begangen am Nymphenbrunnen in Dresden am 15. IX. 1909 ; siehe S. 128. II. Kapitel: Hypererotismus 83 Sicherlich spielt hier die Erotisierimg der Blutflüssigkeit und der von ihr gesättigten Gehirnzentren durch die Menge i 11 kretori- s c h e r Sexualhormone eine ausschlaggebende Rolle. Nur besitzen wir bisher kein Mittel und keine Methode, diesen E r otis ierungs- grad objektiv zu messen, namentlich im Verhältnis zu dem Gra'de der Widerstands k r ä f t e , ein Verhältnis, das sieh naturgemäß in Berührung mit dem von dem Sexualobjekt ausgehenden Attrak- tionsgrad beträchtlich verändert. Der Sachverständige vor Gericht wird nicht selten gefragt, ob in einem konkreten Falle der Geschlechtstrieb beherrschbar war (§ 51 EStGB.). Ich habe mich in solchen Fällen wiederholt bemüht, auseinanderzusetzen, daß, als der Angeklagte sich mit seinem Sexual- objekt einließ, möglicherweise nur das Bestreben bestand, sich mit dem lustbetont empfundenen Beieinandersein zu begnügen, ohne daß die Absicht einer strafbaren Handlung, der Dolus, vorlag, welchen die Staatsanwälte und Richter meist schon in der bloßen Annähe- rung an eine Person erblicken. Erst durch die unwillkürliche Wir- kung der Nahreize könne sich die Erregung nach und nach gestei- gert haben, bis dann plötzlich ein Moment gekommen sei, in dem der Verstand mehr und mehr nachließ und der Betreffende, ohne nun noch nach den Konsequenzen seiner Handlung fragen zu können, unter Ausschluß seiner freien Willensbestimmung die Tat bedan- gen hätte, die ursprüglich nicht in seinem Plane lag, über deren Tragweite und Folgen er sich aber schließlich nicht mehr völlig, klar war. Um hier ein Beispiel anzuführen, so berichtete mir ein Mediziner von 25 Jahren: „Er sei einem Mädchen begegnet, das ihn sexuell sehr angezogen habe und sei mit ihm in seine Wohnung gegangen; dort habe er verdächtige Flecke an ihrem Körper bemerkt, die er für syphilitische gehalten habe. Er habe sich daher vor dem Koitus zurückgehalten und nur mit ihr gescherzt, sei aber nach einigen Stunden dieses Kosens soÖ erregt geworden, daß er, trotzdem er die Ansteckungsgefahr noch erkannte, dennoch den Koitus vollzog, durch den er sich tatsächlich infizierte." Ähnliche Fälle, in denen hypererotische Männer mit Frauen verkehren, die ihnen als gonorrhoisch oder luetisch bekannt, sind, sind nicht gar so selten; für die zeitweise Mächtigkeit des Geschlechtsdram.: s sind diese Beispiele triftige Beweise. Daß der Geschlechtstrieb sich auch noch nach der Lebensakme bis lange nach dem 50. Jahr auf ansehnlicher Höhe hält, ge- hört durchaus nicht zu den Seltenheiten. Ich habe in meiner Praxis eine große Anzahl von Frauen, besonders aus dem Witwenstande, gesehen, die noch viele Jahre nach dem Klimakterium über hoch- gradige sexuelle Erregungszustände Klage führten. Namen tlicb tritt auch bei Männern häufig eine ausgesprochene Alterslibido in die Erscheinung. So sah ich in Rom einen deutschen Maler von über 85 Jahren, der mir versicherte, daß er noch jede Woche einmal mit Mädchen den Beischlaf, wenn auch mit halbsehlaffem Membrum, vollziehe. Wie viele alte Leute war er, in Übereinstim- 6* mung mit der biblischen Geschickte von König David, da dieser bei Abisag von Snnem sehlief, der Meinung, daß von dem jugendlichen Körper ein magnetisches Fluidum, eine Art Jugendkraft, ausstrahle, die ihn verjünge. In einem anderen Falle suchte mich ein Greis auf, der im 72. Jahr seine erste Gonorrhoe akquiriert hatte. Krafft- Ebing hat diese Libido sexualis senilis oder postclimacterica mit dem in der Vorpubertät auftretenden Sexualverlangen zusammen- gestellt und beide als sexuelle Paradoxie bezeichnet. Ich halte diese Zusammenfassung für wenig glücklich. Die präpubische Geschlechtslust fällt in das Gebiet der im ersten Bande der Sexual- pathologie beschriebenen Frühreife, während die postkli- makterische meines Erachtens überhaupt nur dann als patho- logisch angesprochen werden kann, wenn sie besonders stark auftritt. Vor allem auch beim weiblichen Geschlecht steht eä außer Frage, daß die innere Sekretion keineswegs mit der äußeren aufhört. Die Beispiele von George Elliot, die im Alter von 60 Jahren den um 30 Jahre jüngeren Mister Groß heiratete, von Nmon, m dir sich drei Generationen verliebten, deren Liebe sie erwiderte, stehen nicht vereinzelt da. Ninon , verführte" — so wird verbürgt berichtet — mit 34 Jahren den Herrn v. Sevigne, mit 50 Jahren seinen Sohn, mit 76 Jahren seinen Enkel. Dieses letzte Verhältnis hatte sie kurz, nach der großen Tragödie ihres Lebens, die darin bestand, daß ein junger Edel- mann von Liebe zu der großen Amoureuse ergriffen wurde. Sorgfältig hatte man ihm wie einst Oedipus verborgen, daß sie seine Mutter war. Als Ninon, erschreckt über seine Leidenschaft, ihm das Geheimnis seiner Geburt enthüllte, erdolchte er sich vor ihren Augen. Auch beim Manne hat man nach dem 5. Lebensjahrzehnt eine dem weiblichen Klimakterium1) entsprechende Kückbildungszeit mit Nachlassen der sexuellen Bedürfnisse konstatieren wollen. Organisch stellt sich in dieser Zeit sehr häufig eine charakteristische Vergröße- rung der Prostata ein, die auf Sekretionsstauung zu beruhen oder mit ihr verbunden zu sein scheint. Sollte dies zutreffen, so würde die verminderte Absonderung des Prostatasaftes die verminderte Er- regbarkeit des Sexualzentrums erklären können. Wir nehmen an, daß wahrscheinlich gerade auch in dem Sekret der Prostata, von dem Fürbringer -) bereits nachwies, daß es „in spezifischer Weise das in den starren Spermatozoen schlummernde Leben auszulösen vermag", eine synergetische Komponente für die als An drin be- zeichnete Substanz enthalten ist, die für die Belebung aller in der Reifezeit sich entwickelnden Sexualcharaktere von ausschlaggeben- der Bedeutung ist. In sehr vielen Fällen bleibt jedoch die keineswegs immer hyper-, sondern nicht selten auch hypotrophische Prost atainvolution aus, und selbst dort, wo sie eintritt, sehen wir, daß sowohl Libido als Potenz von ihr oft relativ unbeeinflußt bleiben. Die Dauer i) Mendel. Kurt, Die Wechseljahre des Mannes (Climacterium virile). Neurol. Zentralbl. 1910, Nr. 20. -') In der ..Berliner klinischen Wochenschrift", 1886, S. 476 und in seinen „Störun- gen der Geschlechtsfunktionen des Mannes". Wien 1895, S. 7 ff. 85 dieser beiden Eigenschaften, des Mögens und Könnens, unterliegt beim männlichen Geschlecht ebenso erheblichen Schwankungen wie beim weiblichen. Loewenf eld3) meint auf Grund seiner Erfah- rungen, daß beim Manne die Potenz zumeist zwischen dem 60. und 70. Lebensjahre, vorwaltend erst Ende der 60' erlischt, daß aber Fälle nicht selten sind, „in denen geschlechtliche Bedürfnisse und Potenz noch in den siebzigerJahren sich recht deutlich kundgeben". Ich bemerkte bereits, daß mir in der Praxis eine Anzahl Personen zwi- schen 70 und 80, und auch noch ältere, begegnet sind, die betonten, „daß ein schönes Weib heute noch denselben Keiz auf sie ausübe, wie ehedem". Auch hier fehlt es nicht, ebensowenig wie unter den Frauen, an historischen Beispielen berühmter Männer. So wäre an Goethe zu erinnern, der noch nach seinem 80. Lebensjahre in Liebe entbrannte. Rubens war weit in den Fünfzigern, als er 1630 Helene Fourment heiratete, die ihm in den 10 Jahren bis zu seinem Tode noch 5 Kinder gebar. Vor nicht langer Zeit wurde aus Heidelberg gemeldet, daß sich dort ein berühmter Professor der Rechte im 84. Lebensjahr mit einer „bekannten Schönheit" .vermählt habe. Über einen anderen Fall berichtet die Zeitschrift f. Sexualwissenschaft (Dez. 1919): „Ein Mann, der im Januar nächsten Jahres 80 Jahr alt wird, klagt gegen seine 44jährige Ehefrau auf Ehescheidung wegen hartnäckiger Verweigerung der ehelichen Pflicht. Die Ehe- frau erklärt mir in überzeugender Weise, daß der Mann, der den Eindruck eines 60 jährigen Mannes mache, in einer Weise geschlecht- lich potent und bedürftig sei, daß er täglich den Beischlaf von! seiner Frau verlange und trotz seines hohen Alters tatsächlich in der Lage sei, in durchaus normaler Weise den Koitus auszuführen. Die Frau verweigert die eheliche Pflicht, weil der Mann sieh sonst garstig und lieblos zeigt, vor allem aber, weil sie befürchtet, von dem Manne ein Kind zu bekommen, da er sich weigere, irgendwelche Vorsichtsmaßregeln zu gebrauchen. Die Frau versichert auch, da Ii der Mann nie anders als in ganz normaler Weise ohne irgendwelche perverse Handlungen seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen pflege". Nach dem, was wir über die Sonderbarkeiten fetischistischer Neigun- gen wissen, können so alte Personen sogar um ihrer selbst willen begehrt werden; so lebte in München vor Jahren ein junges Weib, das den Beinamen: „die Leichenbraut" führte, weil man sie nur mit ganz alten Männern sah, die meist die siebzig schon Übersoll ritten. „Andere kamen", wie sie sagte, „überhaupt nicht in Frage". Im allgemeinen dauert allerdings die sexuelle Ein - drucksfähigkeit länger an als die sexuelle Aus- drucksmöglichkeit. Das Alter, in dem die Keimzellen und das Sexualzentrum in und außer Funktion treten, beides durch den- 3) Loewenfeld, loc. cit. S. 22. IL Kapitel: Hypererotismus selben chemischen Reiz, welcher auch die anderen bis zur Reife nur in Vorstufen vorhandenen Sexualcharaktere erweckt, und ab- schwächt, schwankt unter den Menschen nach Klima, Rasse, Fami- lie, Umgebung und Lebensweise nicht unbeträchtlich. Im Durch- schnitt fällt das Erwachen des Geschlechtstriebes in unserer Breite bei beiden Geschlechtern etwas vor die Mitte des zweiten Lebens- jahrzehnts. Dieser Zeitpunkt ist nächst dem der Befruchtung der wichtigste im individuellen Leben, bedeutsamer vielleicht als der der Geburt, welche, streng biologisch genommen, kaum etwas an- deres als ein Wechsel des Milieus ist. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Beurteilung der Triebstärke ist der Sexualrhythmus. Periodisch beobach- ten wir bei Männern und Frauen eine zeitweise Zu- und Abnahme des Triebes in einem, sämtlichen anderen Funktionen des Körpers vollkommen analogen Wechsel zwischen Ruhe und Erregung. Wie der gesunde Organismus nicht längere Zeit in völliger Ruhe ver- harren kann, ohne daß schon nach kurzer Zeit ein unwiderstehlicher Bewegungsdrang auftritt, wie unser Herz das halbe Leben arbeitet und die andere Hälfte ruht, Gehirn und Nerven ein Drittel des Lebens schlafen und zwei Drittel wachend tätig sind, wie Nahrungs- bedürfnis und Sättigungsgefühl, Lufthunger und Atempause ein- ander ablösen, kurz, wie der rhythmische Wechsel alles im Men- schen, ja alles in der Natur beherrscht, so unterliegt auch der un- beeinflußte Geschlechtstrieb dem rhythmischen Anwachsen und Schwächerwerden, bestimmt von Ebbe und Flut der Sexualhormone. Die okkasionellen Beeinflussungen der Triebstärke sind, abgesehen von der sexuellen Spannung, von der Stärke der Versuchung ab- hängig; wer allen erotischen Exzitationen und Attraktionen aus dem Wege gehen will, müßte sich in die Einsamkeit zurückziehen, und selbst hier liefe er noch „Gefahr", bei dem periodischen Aufwallen seines Triebes durch sexuelle Vorstellungen „angefochten" zu werden. Anderweitige Einflüsse auf die Stärke des Triebes sind, wie einige Nahrungs-, Genuß- und Arzneimittel, nur vorübergehend und nieist nur indirekt wirksam; entweder führen sie, wie der Alkohol, zu einer Verminderung der Widerstände, oder, wie einige Gewürz- stoffe (Koffein), zu einer Erhöhung der allgemeinen Nervensensitivi- tät„ oder sie erregen, wie das Asparagin, die Nervi erigentes auf diuretischem Umwege. Im allgemeinen kann man sagen: je stärker der chemische Innenreiz auf das Sexualzentrum wirkt, eines um so geringeren nervösen Außenreizes bedarf es zu seiner Erregung, und umgekehrt: je geringer der erotische Chemismuseffekt, um so inten- sivere Außenreize sind erforderlich. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man auch der jetzt so viel angewandten Organtherapie eine theoretische Berechtigung nicht absprechen; sie stellt gewisser- II. Kapitel: Hypererotismus 87 maßen durch die Einführung der gleichen Produkte in die Blutbahn, welche der Körper selbst zur Erzielung- der bei den behandelten Personen fehlenden Eigenschaften an das Blut abführt, eine Art moderner Homöopathie dar. Ob freilich den theoretischen Er- wägungen die praktischen Resultate in geplanter Weise entspreche;!, und nicht selbst dort, wo der gewünschte Erfolg eintritt, die Wirk- samkeit suggestiv zu erklären ist, bleibe dahingestellt. Es ist an- zunehmen, daß sich Ausfallserscheinungen mit größerer Wahr- scheinlichkeit beseitigen ließen, wenn die Überpflanzung lebendigen Organgewebes derselben Spezies in solchen Fällen in Anwendung gebracht werden könnte. Legen wir das in obigen Ausführungen über die sexuelle Be- wegungskurve Gesagte als durchschnittlichen Maßstab zugrunde, so können wir als Übermaß oder Hypererotismus jenen Grad der Libido ansehen, in dem das Verlangen nach geschlechtlicher Be- tätigung unmittelbar oder sehr kurz nach geschehener Entspannung erwacht, im Sinne etwa des faustischen: „Und im Genuß verschinacht' ich nach Begierde." In der Fachliteratur finden sich für diese ge- steigerte Geschlechtslust Bezeichnungen vor, die vom exakten wissen- schaftlichen Standpunkt aus ziemlich überflüssig eise he inen. Dazu rechne ich auch den Ausdruck Erotomanie, der zudem von den ver- schiedenen Autoren keineswegs einheitlich definiert wird; so sieht Fere in ihr eine Art Andromanie, „Mannstollheit", Jagd nach einem Gatten oder nach dem Besitz eines Individuums des anderen Ge- schlechts, die nach seiner Auffassung nicht selten als Nebenerschei- nung der Hysterie auftrete und geeignet sei, schwere seelische Lei- den mit Angstgefühlen zu verursachen, die sich bis zur Psychose steigern und zum Selbstmord führen können. Esquirol beschrieb 1838 die Erotomanie als eine Liebesraserei, die sich sowohl auf lebende Wesen als unbelebte Dinge richten könne, wobei der Erotomane völlig „zum Spielball seiner Einbildung" herabsinke. Garnier wiederum nennt den Erotomanen „un psychique, qui plane dans les regions ideales de l'amour mystique". Deutsche Autoren fassen die Erotomanie bald als eine allgemeine Sucht nach ge- schlechtlicher Betätigung, bald mehr als eine übermäßige Fixierung an eine einzige Person auf. Bei Mannern hat man solche erotomanischen Zustände, namentlich wenn sie sich nicht nur auf die Leidenschaft als solche beschränken, sofidern in Hand- lungsexzesse umgesetzt werden, auch als Satyriasis, bei Frauen als Nymphomanie bezeichnet, Die tiermenschlich, namentlich bocksartig dargestellten Satyre galten in der alten Mythologie als sehr geile Wesen, die mit Vorliebe Nymphen und Dryaden verfolg- ten und verführten. Die Nymphomanie leitet ihren Namen aller- dings weniger direkt als indirekt von diesen antiken Nymphen ab, da ja die weiblichen kleinen Schamlippen ebenfalls Nymphen heißen gg II. Kapitel: Hypererotismus und bei der Frau tatsächlich ein© heftig gesteigerte Libido oft mit örtlichen Reizerscheinungen der Genitalien einhergeht. Nicht zu verwechseln mit Satyriasis und Nymphomanie ist der Priapismus und Vaginismus. Unter dem weiter unten behandelten Priapismus versteht man übermäßig häufig auftretende und lange andauernde Erektionen, die oft ganz ohne Wollustempfindung verlaufen, wäh- rend der Vaginismus, auf den wir im Kapitel Sexualneurosen ein- gehend zurückkommen werden, einen Reflexkrampf der Scheiden- muskulatur darstellt. Stellen letztgenannte Bezeichnungen immer- hin noch umschriebene Begriffe dar, so würde es sich doch aus Gründen wissenschaftlicher Klarheit empfehlen, die Ausdrücke Saty- riasis, Nymphomanie und Erotomanie fallen zu lassen und dafür den zusammenfassenden Begriff des Hypererotismus einzuführen, der dann wiederum in eine Reihe von Unterabteilungen zerfallen würde. Wir beginnen mit einer Einteilung des Hypererotismus in seine polygame und monogame Form, den Polyerotismus und die Superfixation. Der polygame Hypererotiker lebt fast ausschließlich in der sexuellen Sphäre. Man kann sagen, daß sein Organismus und be- sonders seine Psyche nur Anhangsgebilde des genitalen Mittel- punktes sind, es ist so zu sagen nicht ein Mensch mit einem Ge- schlechtsorgan, sondern ein Geschlechtsorgan mit einem Menschen. Dementsprechend ist er unausgesetzt auf der Jagd nach Ob- jekten einer maßlosen Libido. Er läßt nicht locker, bis er, viel- fach unter allerlei Vorspiegelungen, sich die Person, welche ihn anzieht, zu eigen gemacht hat. Er übt den Geschlechts- verkehr meist, jahrzehntelang täglich, oft sogar mehrmals täg- lich, aus. Vor einiger Zeit suchte mich ein Ehepaar auf, dessen weibliche Hälfte bittere Klage führte, daß der Mann, ein Offizier der Kavallerie, sie seit Jahren bis 8mal täglich „gebrauche"; wenn sie sich weigere, sei er wiederholt in heller Wut auf die Straße gelaufen und habe sich eine Prostituierte heraufgenommen, die er dann in ihrem Beisein koitiert hätte. Solche Männer pflegen neben der Kohabitation oder statt dieser gewöhnlich noch andere Akte vorzunehmen. An erster Stelle steht hier der aktive und passive orale Genitalverkehr, der Lambitus, zu dem es solche Leute oft förmlich zwangsmäßig hindrängt; ein Patient schreibt: „Ich habe einen derartigen Drang zum Lambitus, daß ich größte Willenskraft anwenden muß, ihn nicht bei meiner Frau zu vollführen." Es kommen aber auf dem Gebiete sexueller Poly- praginasie auch alle anderen Abarten vor bis zu den für einen nor- mal empfindenden Menschen kaum vorstellbaren Hinunterschlucken aller Exkrete. So hatte ich vor kurzem einen vornehmen Psycho- pathen zu begutachten, mit dessem stutzerhaften, überaus peniblen > IL Kapitel: Hypererotismus 89 Auftreten seine von zwei Zeuginnen bekundete Leidensehaft, Kot zu essen, seltsam kontrastierte. Es ist zu bemerken, daß der organische Gesundheits- zustand dieser Personen unter ihren Exzessen meist verhältnis- mäßig wenig leidet, abgesehen von einer ziemlich hochgradigen Sexualneurose und geschlechtlichen Infektionen, die auf die Dauer fast niemals auszubleiben pflegen. Entspricht die auch jetzt noch viel verbreitete Ansicht, daß schwere organische Erkrankungen des Nervensystems, vor allem Kückenmarksschwindsucht und Gehirnerweichung, als Folgen sexuel- ler Ausschweifungen auftreten können, keinesfalls den Tatsachen, so habe ich mich doch des Eindrucks nicht erwehren können, daß metaluetische Erkrankungen bei Personen häufiger sind, die ihre durch die Syphilis widerstandsunfähiger gewordenen Nerven relativ zu oft sexuellen Ekstasen aussetzen. Die berufliche Leistungsfähig- keit der . Hypererotiker ist fast immer herabgemindert, trotzdem es sich oft um recht talentierte, namentlich künstlerisch be- fähigte Leute handelt. Viele von ihnen neigen außer zu den sexuellen auch noch zu anderen Extravaganzen, wie zu Aufregungen im Glücksspiel und Rauschmitteln aller Art. Häufig kommt es bei Polyerotikern zu schweren, gesellschaftlichen Konflikten, beispiels- weise glauben mehrere Frauen, gleichzeitig von ihnen geliebt zu werden oder Anrechte auf sie zu haben, wodurch dann oft zwischen den Beteiligten erbitterte Eifersuchtsdramen entstehen. Es fällt dies um so mehr ins Gewicht, wenn hypererotische Männer ver- heiratet sind. So suchte mich einmal eine Frau in folgender An- gelegenheit auf. Ihr Mann, der Sohn eines sehr reichen Fabrikan- ten, hatte sie gegen sehr heftigen Widerstand seiner Eltern als ganz armes Fabrikmädchen aus leidenschaftlicher Liebe geheiratet, als sie 18 Jahre alt war. In vier Jahren gebar sie ihm vier Söhne. Dann erkrankte sie an einem Unterleibsleiden, was eine starke geschlecht- liche Abkühlung auf Seiten des Mannes zur Folge hatte. Sie litt sehr unter der Vernachlässigung des Gatten, bis sich eines Tages herausstellte, daß er in einer von der seinigen nur wenige Minuten entfernten Wohnung noch eine zweite Frau unterhielt, die von ihm ebenfalls 3 Kinder hatte. Er hatte dieser die Ehe versprochen. Es kam nun zur Ehescheidung, in deren Verlauf es ans Licht kam, daß beide Frauen Schicksalsgenossinnen waren, indem die stärkste augenblickliche Zuneigung des Mannes einem dritten Weibe galt, das auch schon zwei Kinder von ihm besaß. Für sämtliche Kinder sorgte der Vater, der es sich allerdings wirtschaftlich leisten konnte, mit gleicher großer Opferwilligkeit. Der Grund, der die Frau zu mjr führte, war übrigens zunächst nicht dieser eheliche Zwiespalt, sondern das Schicksal und die Zukunft ihrer Kinder. Diese führten, obwohl erst im Alter von 14 bis 18 Jahren, sämtlich schon ein reges 90 sexuelles Leben; die beiden ältesten und der jüngste hatten feste Freundinnen, der jüngste war zur Zeit gonorrhoisch infiziert. Der vorjüngste, ein sehr femininer Jüngling, unterhielt mit einem gleich- altrigen und gleichgearteten Freund homosexuelle Beziehungen. Beim weiblichen Geschlecht kommen analoge Zustände gestei- gerter geschlechtlicher Keizbarkeit ebenfalls sehr häufig vor. Han- delt es sich um Mädchen aus minderbemittelten oder zerrütteten Familien, so verfallen diese fast stets binnen kurzem der Prosti- tution, der auch Mädchen aus besseren Ständen nicht entgehen, wenn eine ungezügelte Libido sie polygam zur Auskostung mög- lichst vieler Männer drängt. Mehr als eine Dame der vornehmen Gesellschaft suchte mich im Laufe der Jahre auf, deren Tochter auf dieser Grundlage der, Prostitution anheimgefallen war, so vor kur- zem eine geistig hochbedeutende Frau, die sich vergeblich die größte Mühe gegeben hatte, ihr Kind aus einem Hamburger Bordell zu be- freien, in dessen erotischer Atmosphäre sie behauptete, sich aus- schließlich wohlfühlen zu können. Andere nymphomanische Frauen geben sich auf der Straße wahllos und widerstandslos jedem Manne hin, der sie begehrt. Vor einiger Zeit, konsultierte mich ein^ Ge- schäftsmann wegen seiner Schwägerin, eines wohlgestalteten jüdi- schen Mädchens, die in einer kleinen Stadt verschiedentlich beim Nachstellen von Urlaubern überrascht wurde. „Einem Soldaten mit Sporenstiefeln gegenüber fühle ich mich machtlos" sagte sie selbst. Die eingehende Untersuchung ergab bei dieser Patientin einen hohen Grad von Schwachsinn; sie hatte keine Ahnung, ob und mit welchen Staaten Deutschland im Kriege lebte, und vernachlässigte sich völlig in ihrer Kleidung und Frisur. Imbezille Züge von allerdings sehr verschiedener Stärke findet man bei vielen hypererotischen Männern und Frauen der polygamen Gruppe, während die monogam über- fixierten sehr selten schwachsinnig, dagegen oft hysterisch, stark neuropathisch oder manisch sind. Während der echte Exhibitionismus, von dem im letzten Kapitel dieses Bandes die Bede sein wird, bei Frauen verhältnismäßig selten ist, findet man bei solchen, die an diesen hypererotischen Zuständen leiden, manchmal den Drang, durch unzüchtige Gebärden, wie Ent- blößung der Geschlechtsteile, Zeigen der Mammae, des Gesäßes, wetzende oder bauchtanzartige Hüftbewegungen, schnelles Hin- und Herfahren mit der Zunge an der Oberlippe, sogenanntes Züngeln, Männer anzulocken. Dazu gesellen sich oft zotige Kedensarten. Krafft- Ebings Bemerkung, daß die Akte der Lüsternheit nicht selten durch periphere Juckreize bei Pruritus vul- vae, Oxyuren oder Pediculi pubis hervorgerufen werden, entspricht auch meinen Erfahrungen. Daß sexuelle Überbedürftigkeit bqfrm Weibe oft aber auch nur auf bloßer Hemmungslosigkeit beruht, lehren die historischen Beispiele aus dem Altertum, wie das der 91 Messalina, welche deu Beinamen „iiivicta" erhielt, als sie sieh „aus den Umarmungen von 14 jungen Athleten erhöh" oder das der Cleo- patra, von der Marens Antonius an seinen Arzt Soranus schreibt, sie hahe in einem Prostitutionshaus mi 106 Männern verkehrt. Ähnlich rühmte sich mir gegenüber 1917 ein Weib in Lodz (Polen), daß an einem einzigen Tage „zwei kriegsstarke Züge" mit ihr den Geschlecht s- verkehr vollzogen hätten. Dem Beispiel einer Cleopatra, Agrippina, Livia und Poppaea folgten die römischen- Damen, wenn sie sich bei den Festen der Bona Dea, des Priapus und den Saturnusfesten an sexuellen Exzessen nicht genug tun konnten. Auch der Be- richt von Herodot, daß die Cheopspyramide mit dem Gelde erbaut worden sei, „welches die Tochter dieses Königs von ihren Liebhabern für unzählige Male wiederholte Hingabe ihres Körpers erworben hatte", gehört in dieses Kapitel und ist zugleich bezeichnend! für den Wandel der Anschauungen und Sitten auf diesem Gebiet. In seltenen Fällen kann ein unbefriedigter Hypererotisnius sich bei Frauen bis zu K o i t u s h a 1 1 u z i^ti a t i o n e n steigern. Fast immer sind es höchst hysterische Frauen, die sich in brünstiger Ek- stase förmlich begattet glauben, dabei gerät ihr Uterus in Wallungen und Zuckungen und stößt wie bei regulärem Verkehr auch tatsäch- lich Schleim Vinter orgastischen Sensationen aus. Im Schlaf und Rausch, in hypnotischen und narkotischen Zuständen kommen solche Paroxysmen vor. Sie haben nicht selten zu objektiv falschen Be- schuldigungen unsittlicher Berührungen oder gar Vergewaltigungen gegenüber Ärzten. Vorgesetzten oder anderen Personen geführt, so daß erfahrene Praktiker geraten haben, hysterische Frauen mög- lichst nicht ohne Gegenwart von Zeugen zu hypnotisieren oder narko- tisieren. Oft werden auch perverse Akte behauptet. Tatsächlich spielen die von den Alten als „figurae veneris" vielfach auch bildlich' dargestellten Absonderlichkeiten bei den meisten Hypererotikern eine große Bolle. Ich will einige kurze Belege aus der Ehescheidung.«^ praxis geben; in dem einen Fall reichte eine Dame aus der Berliner Hofgesellschaft kurz vor dem Kriege folgende Schilderung der von ihrem Gatten an sie gestellten sexuellen Anforderungen ein: „Mein Schamgefühl hat es mir bisher nicht erlaubt, auf den perversen Geschlechts- trieb meines Mannes, welcher der Hauptscheidungsgrund für mich ist, einzu- gehen. Ein Aufrechterhalten der Ehe ist mir als gesunde Frau nicht möglich, da ich eine unüberwindliche Abneigung und Ekel vor den unnormalen Neigungen meines Mannes empfinde, einen Widerwillen, der sich im Laufe der Jahre bis zur Unlcidlichkeit steigerte. Mein Mann verlangte schon gleich in der ersten Zeit unserer Ehe, daß ich beim Baden ihm sein Glied einseifen solle, angeblich, um ihm den Verkehr mit mir reizvoller zu gestalten. Er äußerte sich voller Mißfallen, daß ich keine Spiegel im Schlafzimmer anbringen wollte welche es ihm ermöglichten, seinen Verkehr mit mir zu beobachten. Er rückte dann den allein vorhandenen Toilettenspiegel so an das Bett, daß er unsere bei- den Körper darin sehen konnte. Er wunderte sich, daß ich keinen Pteiz darin fände. Er fragte mich öfter, ob ich nicht eine Bekannte 'mitbringen könnte, daein Verkehr zu dritt v i e 1 r e i z v o 1 1 e r w ä r e , da sicli dann die Freundin durch Lecken meiner Geschlechts- IL Kapitel: Hypererotismus teile beteiligen könnte. Wohl seine größte Befriedigung war, wenn er mir befahl, Namen von Herren zu nennen, und zwar in dem Augenblick, wo sein Verkehr mit mir den Höhepunkt erreicht hatte. War ich ihm hierin nicht zu Willen, so wurden seine Bewe- gungen so stürmisch, daß er mir heftige Schmerzen verursachte. Er verlangte auch öfter, daß ich während des Verkehrs sein Glied küssen solle, stand auch, vollkommen* entkleidet, im Stadium der höchsten Erregtheit vor mir und wollte, ich solle sein Glied bewundern. Er hat auch öfter einen Verkehr verlangt, indem er meinen Geschlechtsteil küßte und wollte, daß ich gleichzeitig sein Glied in den Mund nehmen solle. Selbst im täglichen Leben war seine Unterhaltung voller Zoten. Er verlangte auch von mir Schilderungen un- anständiger Art, weil ihn dies in Erregung versetze. Vor Bilderläden, wo nackte Frauen- körper zu sehen waren, ging er. mit Absicht öfter vorüber, um sie zu betrachten und sich zu erregen. Es wird wohl verstanden werden können, daß ich Mittel und Wege so man- chesmal ersonnen habe, um diesem Verkehr, zu entgehen. So schützte ich meine Periode vor oder blieb länger als erforderlich auf der Toilette, nur um mich diesen fortwährenden Zumutungen und Quälereien, die für/ mich nichts als eine Marter waren, zu entziehen. Erst allmählich wurde mir klar, daß die Ansinnen meines Mannes, gleichviel ob sie, wie ich annehme, auf krankhaften Neigungen beruhen oder nicht, für mich eine Erniedrigung und Demütigung bedeuteten, die ich bei meiner Abstammung und meinem Stande als höchst schimpflich empfinden mußte. Jetzt ist bei mir der Ekel vor den geschilderten Handlungen ein solcher, daß mir die Rückkehr zu meinem Manne eine physische und see- lische Unmöglichkeit ist. Daß mein jMann, wie ich lange hoffte, sich darin ändert, halte ich nicht für möglich, nehme vielmehr an, daß auch seine erste Gattin aus dem gleichen Grunde wie ich die eheliche Gemeinschaft nicht aufrechterhalten konnte." Bedauerlicherweise enthüllen uns ja die Ehescheidungsakten, seit im Jahre 1900 in unbegreiflicher Verkennung der Ehe als Liebes- gemeinschaft die Bestimmung aufgehoben wurde, daß „unüberwind- liche Abneigung" als Scheidungsgrund unter gewissen Voraussetzun- gen genügen konnte, in geradezu zynischer Weise Einzelheiten des Ehelebens, die früher schamhaft verschwiegen wurden, während jetzt der eine Ehepartner den anderen in der Hervorholung solcher Bett- geheimnisse zu übertrumpfen sucht, erstens, um ein Auseinander- kommen auch wirklich zu erreichen und zweitens, um dem anderen Teil die größere Verschuldung zuzuschieben. Wie in dem eben er- wähnten Fall sich die Frau über den Mann beschwert, so in dem folgenden der Mann über die Fran. Das Nähere ist aus dem erfor- derten Gutachten ersichtlich: Bei mir erschien vom 8. Mai bis zum 13. Mai täglich Herr M. F., um ein fachärzt- liches Gutachten zu verlangen und mir das Material dafür zu unterbreiten. Er machte fol- gende Angaben: Er lebe nach einer nur sechswöchentlichen Ehegemeinschaft von seiner Frau ge- trennt, und habe sowohl Ehescheidung als Eheanfechtung beantragt. Der Grund der Trennung liege — und zwar ausschließlich — darin, daß seine Frau einen übermäßigen perversen Geschlechtsverkehr von ihm verlange, daß sie verständigen Vorstellungen nicht zugänglich sei, daß sie bei der Weigerung des Ehemannes, die geforderten maßlosen ge- schlechtlichen Leistungen zu vollziehen, in Wut gerate, und ihn durch Drohung und Ge- walt dazu nötige, und schließlich, daß er durch diese übermäßigen geschlechtlichen An- forderungen seitens seiner Frau in seiner Gesundheit in hohem Maße gefährdet werde. In bezug auf ärztlich und gutachtlich wesentliche Einzelheiten ergibt sich folgendes: F. ist ein in sexueller Hinsicht durchaus normal gerichteter und empfindender Mann, nicht etwa von herabgemindertem oder aufgehobenem Triebleben. Aber er ist von de- zenter Empfindung und natürlicher Schamhaftigkeit und empfindet die an ihn seitens 93 der Frau gerichteten geschlechtlichen Zumutungen als um so unwürdiger und peinlicher, als er schon im reifen Alter, 48 Jahre, steht, Vater von zwei erwachsenen Kindern erster Ehe ist, und durch das jeder verständigen Änderung unzugängliche geschlechtliche Ver- halten seiner Frau völlig des Gefühls den Achtung und Wertschätzung für diese beraubt wird und mit Abneigung, ja Abscheu erfüllt wird. Nur mit Selbstüberwindung war er fähig, Einzelheiten über die von seiner Frau geforderten geschlechtlichen Leistungen an- zugeben. Danach hat diese Frau — eine Frau von 43 Jahren — die Eigenschaften einer außerordentlichen sexuellen Erregbarkeit und sexuellen Begierde, ohne aber durch die natürliche Art der Befriedigung, wie ihr Mann sagt, selbst bei stundenlanger Trieb- betätigung „fertig zu werden", d. h: zu 'derjenigen physiologischen Entspannung der Drüsen- und Blutgefäßtätigkeit der Geschlechtsorgane zu gelangen, welche sonst Ziel und Erfolg der Geschlechtsbetätigung ist. Wenn der Ehemann nach anstrengender Tagesarbeit sich zur' Ruhe begebe, beginne die Frau ihn durch alle möglichen Praktiken sexuell zu reizen, ■ wobei sie selbst von körperlicher Agressivität, ja vor der Reizung seines Genitale per os nicht zurückschrecke; sie zwinge ihn zu stundenlangem natür- liehen Verkehr; ist derselbe dem Ehemanne durch mehrfache Sämenverluste unmöglich geworden, so fordere sie mehrstündige digitale Betätigung des Ehe- mannes an ihrem Genitale, bis ihm „die Arme lahm werde n". Und dann versuche sie aufs neue mit allen Mitteln, selbst mit den schamlosesten, auch ihn sexuell wieder zu erregen. Auf die Müdigkeit und das natürliche Ruhebedürfnis des Mannes nehme sie nicht die geringste Rücksicht; tatsächlich sei der Ehemann während der sechs Wochen des ehelichen Zusammenlebens allnächtlich höchstens eine Stunde zum Schlafen gekommen, da die Frau ihn durch sexuelle Manipulationen am Einschlafen immer wieder zu verhindern wußte, so daß er morgens müde und matt von starken Samenverlusten zu einer anstrengenden Tätigkeit ging, während die Frau dann bis in den Mittag hinein schlief. Wenn ihr Mann ihr die geschlechtlichen Leistungen verweigert hatte, so habe sie sich auf ihn gewälzt, habe/ ihn nicht einschlafen lassen und wider Willen, versucht, ihn sexuell zu reizen. Verständigungen, Vorhaltungen bei Tage war sie ganz unzugänglich, sei in heftigen Zorn geraten, habe die Befriedigung der von ihr ge- stellten geschlechtlichen Ansprüche als ihr gutes eheliches Recht erklärt und mehrmals sogar mit Selbstmordversuchen gedroht. Einen Versuch des Ehemannes, durch Einrich- tung eines besonderen Schlafzimmers für sich allein, seine Nachtruhe und Nerven zu retten, habe sie dadurch vereitelt, daß sie den Schlüssel dazu entwendete. So war ihm bloß die völlige Trennung übrig geblieben. Soweit die Angaben des Herrn F. Tatsächlich bietet' dieser einen Zustand nicht unerheblicher Nervosität dar, der durch die ehelichen Konflikte ausgelöst sein dürfte; ein Zeichen dafür, wie tief diese Konflikte -gegangen sein müssen. Wenn die Angaben des Herrn F. auf Wahrheit beruhen, woran zu zweifeln kein Grund vorliegt, so muß gutachtlich allerdings gesagt werden, daß nach ärztlichem Ermessen die Aufrechterhaltung der Ehe- gemeinschaft ohne weiteren Schaden für den Ehemann undurchführbar ist. Es liegt mir fern, über das nicht rein ärztliche Moment ein Urteil abzugeben, aber aus meiner an Zahl weit größeren Praxis umgekehrt gelagerter Fälle, in welchen die Frau wegen sexuell perverser Praktiken und Anforderungen des Mannes die Ehescheidung oder Anfechtung begehrte, kann ich annehmen, daß von seiten des Gerichtes in solchen Fällen die Ehe Gemeinschaft als unstattbar erachtet wurde, obwohl diesen Fällen ein entscheidendes Mo- ment fehlte, welches dem hier vorliegenden Falle in hohem Grade zukommt, nämlich die Möglichkeit grundsätzlicher Gefährdung und Schädigung des Ehemannes durch den u n - gewöhnlichen Hypererotismus der Frau. Daß diese Möglichkeit gegeben ist und sich bei längerer Ehegemeinschaft sicherlich bald realisieren würde, daran ist nach meinem fachärztlichen Ermessen nicht der leiseste Zweifel. Ständige Behinderung an der notwendigen Nachtruhe und allnächtliche mehrfache Samenverluste müssen für das Nervensystem und die allgemeine körperliche Konstitution eines Mannes in diesem Alter zweifellos von verhängnisvollen Folgen sein. Diese Folgen würden sich schon nach einigen Monaten in Symptomen allgemeiner Erschöpfung und hochgradiger nervöser Überreiztheit mit Arbeitsunfähigkeit zeigen. 94 II. Kapitel: Hypererotismus Vom arztlichen Standpunkt komme ich zu der Überzeugung, daß unter Voraus- setzung der Richtigkeit der Angaben des Herrn F. die Aufrechterhaltung der Ehe infolge^ des unbezähmbaren Hypererotismus der Ehefrau und seiner Erscheinungsformen eine un- ausbleibliche schwere Schädigung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit des Ehemannes hervorrufen würde. Im Zusammenhang hiermit sei einiges über gewisse sexuelle Ent- spannungsformen gesagt, die insofern auch in das Gebiet des Hyper- erotismus fallen, als sie Exzesse siijd, die von der gewöhnlichen Bei- schlafsform abweichen. Sie, wie es meist geschieht, als „Perversi- täten" oder „Raffinements'' aufzufassen, entspricht nicht ihrem eigentlichen Wesen, das vielmehr oft unter psychologischer Zwangs- haftigkeit steht. Für den praktischen Sexualpathologen haben diese Besonderheiten auch darum Bedeutung, weil von Ehefrauen nicht selten die Frage aufgeworfen wird, wie sie sich solchem Be- gehren ihrer Männer gegenüber verhalten sollen. In Ehescheidungs- fällen wird vielfach dem Ansinnen der Gatten, in anderer als der gebräuchlichen Form zu kontieren, eine sie schwer1 belastende Aus- legung gegeben. Wenn wir von geringfügigen Abweichungen der Kohabitation ), wie etwa der seitlichen Lage, absehen, so sind zunächst drei von der Norm abweichende Arten zu nennen, die unsere Aufmerksamkeit be- anspruchen: Der Coitus a posteriori, die Sukkubation und der Coitus in statione. Der Coitus interruptus und prolongatus ist hier nicht zu nennen, der sich zwar auch von dem normalen Beischlafsverlauf unterscheidet, aber nicht in der Stellung, sondern nur durch künst- liche Unterbrechungen der natürlichen Ausführung. Ob diese aller- dings die natürliche Form ist, ist vielfach in Zweifel gezogen. Be- kanntlich sind die Menschen nahezu die einzigen Geschöpfe, die den Beischlaf Bauch an Batich vollziehen, in einer Körperstellung, die für recht viele, namentlich fette und ungeschickte Personen, die Tech- nik des Aktes erschwert, so daß viele damit gar nicht zu Rande kom- men. Für Menschen, deren Trieb ohnehin von der Norm abweicht und die daher dem Koitus an sich mit Scheu und Ängstlichkeit gegen- überstehen, wird die Situation dadurch keinesfalls erleichtert. Im Gegensatz zum Menschen verkehren fast sämtliche Säugetiere in der Weise, daß der männliche Partner den weiblichen von hinten besteigt, und sobald er Halt gewonnen hat, sein Glied in die so äußerst be- quem zugängliche, sichtbare und in dieser Stellung meist etwas klaf- fende Vagina einführt. Es wird nun behauptet, und wie mir scheint, nicht mit Unrecht, daß diese Form „ritu bestiarum" auch für den Menschen diejenige ist, die dem genitalen und allgemeinen Körperbau beider Geschlechter am meisten entspricht, Vor vielen Jahren kam mir ein ganz gelehrtes Werk eines Arztes namens «) Man kaiin vier Grundformen unterscheiden: Coitus superior, inferior, anterior und posterior. 95 Klotz in die Hand, das ausschließlich über diesen Gegenstand handelte und viele Beweise dafür beibrachte, daß die Men- sehen „falsch koitieren"; sogar die Länge der weiblichen Haare, an denen sich die Männer festhalten sollen, wurde „her- angezogen". Mag hier auch manches übertrieben sein, so sind sicherlich die der Moraltheologie entstammenden Vorurteile, nach denen diese Akte ganz besonders zu verpönen sind, nicht richtig. Ich habe wiederholt Ehepaaren, die verzweifelt zu mir kamen, weil sie nicht mit dem Koitus zurechtkommen konnten, geraten, zunächst in dieser Stellung die Defloration und die ersten Beiwohnungen vor- zunehmen, und mit diesem Vorschlag Erfolge erzielt. Im Wider- streit zwischen falscher Scham und ehelichem Glück sollte die Entscheidung nicht schwer fallen. Zweifels- ohne gibt es aber auch Männer, namentlich sind es Gesäßfetischisten, die dieser Form überhaupt den Vorzug geben, ja sogar solche, die von der Zwangsvorstellung beherrscht sind, das Weib in dieser Weise zu benutzen. Hier scheint oft eine sadistische Wurzel in Fi-age zu kommen. In einem Ehescheidungsfall, zu dem ich zugezogen wurde, behauptete eine Frau, ihr Mann habe vom Beginn der Ehe an mit ihr nur ..von hinten" verkehren wollen, sie sagte aus, er habel sogar immer wieder versucht, in ihren After einzudringen und dies auch teilweise zuwege gebracht. Der Mann, bestritt dies auf das entschiedenste. Ledig- lich die Vagina sei das Ziel seiner Wünsche gewesen, die er allerdings a posteriori zu erreichen suchte, weil er aus Erfahrung wußte, wie viel „bequemer und angenehmer" dies sei. Es stellte sich schließlich heraus, daß seitens der Frau lokale Gefühlstäuschungen vor- lagen, die übrigens in dem ganzen vaginalen, perinealen und analen Bereich bei den rlechtwerkartig anastomosierenden Neuronen der zahlreich hier verstreuten Nervenend- körperchen nicht zu den Seltenheiten gehören. Noch häufiger wie der obenerwähnten liegt der nun zu bespre- chenden Abart ein psychologisches, über bloße Willkür hinausgehen- des Bedürfnis zugrunde: der Inkubation des Weibes und der Sukkubation des Mannes. Ich habe bereits an früherer Stelle dieses Werkes (im Kapitel Metatropismus) ciarauf hingewiesen, daß der mehr oder weniger starke Trieb, in dieser Weise zu verkehren, aus einer intersexuellen Konstitution hervorgeht, beim Manne aus einer femininen, beim Weibe aus einer virilen Komponente. Es gibt drei Unterformen, in denen dieser Akt vorgenommen wird, entweder, und das scheint das weitgehendste Stadium der Aggressionsinversion zu sein, beide Partner liegen, die. Frau oben, der Mann unten, oder beide sitzen, die Frau auf dem Schoß des Mannes membrun eins in vagina sna habens, dies geschieht vielfach, beispielsweise auf Bänken in Parks, um möglichst unmerklich des Geschlechtsgenusses zu pflegen, ohne ausgesprochenen Sukkubationsdrang des Mannes, während die dritte Unterform, bei welcher der Mann sich liegend, die Frau sitzend verhält, sozusagen auf ihm reitet, hinsichtlich ihrer Wesensart zwischen den beiden anderen Untergruppen steht, indem der Grad der triebhaften Aggressionsinversion nicht ganz so groß wie bei der ersten, jedoch bedeutend größer wie' bei der dritten Unterform zu sein pflegt. 'Dem Charakter dieser letzteren nähert sich eine weitere Abart des normalen Beischlafsaktes, der Coitus in statione. Man kann 96 II. Kapitel : Hypererotismus von diesem Wohl sagen, daß er im allgemeinen „mehr der Not ge- horchend als dem eigenen Triebe" vollzogen wird, wenngleich ganz vereinzelt auch Individuen anzutreffen sind, die eine ausgesprochene Neigung für ihn haben, wie man gelegentlich auch Menschen findet, die eine heftige Vorliebe haben, den G eschlechtsverkehr nicht in ge- schlossenen Räumen, sondern „in Gottes freier Natur", vor allem in Wäldern und auf Feldern vorzunehmen. Der Akt im Stehen ist bei der niederen Prostitution sehr verbreitet, weil er den geringsten Auf- wand von Ort und Zeit verlangt; eine Stütze zum Anlehnen des Rückens, Mauer, Wand, Baum ist leicht gefunden, ohne daß ein zeit- raubender Weg zu machen ist. Auch ist die Prostituierte im Freien, wo sie schließlich Hilfe rufen kann, relativ weniger gefährdet als in ihrer Behausung. Die gewohnheitsmäßige häufige Ausführung des Verkehrs in mangelnder und ohne' folgende Ruhelage stellt an das Nervensystem beider Geschlechter stärkere Anforderungen als der in Rückenlage vollzogene Beischlaf. Fallen die bisher genannten Abarten der Kohabitation vom en- ge n i s c h e n Gesichtspunkt insofern nicht sehr ins Gewicht, weil die männlichen Keimzellen immerhin an die Stelle spediert werden, wo sie ihre Aufgabe der Eibefruchtung noch zu erfüllen vermögen, so gilt diese Voraussetzung nicht für die folgenden ebenfalls weit ver- breiteten Verkehrsformen. Hier treten andere erogene Zonen und Or- gane an die Stelle der Genitalapparate, und zwar nicht prälimi- nierend, sondern als vollbefriedigende Äquivalente für einen oder beide Partner. Als solche sexuellen Ersatzorgane kommen für den Mann im wesentlichen der Finger und die Zunge in Betracht, für die Frau neben der Hohlhand die Mundhöhle, sowie das Cavum rectale, intei-mammale und axillare. -Diese Stellen sind für ihren Gebrauch bzw. Mißbrauch nicht allein nur durch ihre dem Penis und der Vagina ähnelnde Gestalt prädestiniert, sondern vor allem durch ihren Reich- tum an feinempfmdenden Nervenkörperchen. Es besteht bei vielen Personen eine instinktive Neigung, diese erogene n Stellen mit einander in Kontakt zu bringen, seien es die identischen, wie Mund mit Mund, Lippe auf Lippe, lingua an lingua, Hand in Hand, oder seien es die nicht korrespondierenden Reizstellen, wobei die Kontakttendenz die Tastkörperchen hauptsächlich auf die Genitalien hinlenkt. So- lange diese Oberflächenstrebungen nur präludierend zu dem Koitus selbst drängende Vorstufen sind, wird man in ihnen etwas rein Phy- siologisches zu sehen haben, anders aber, wenn diese Akte als voll- ausreichende r bis zur Ejakulation weitergeführter Ersatz be- nutzt werden. In solchen Fällen sind sie meist ein psychisch be- dingtes Zeichen nicht durchgeführter seelischer Geschlechtsem pfin- düng. Wir sind jedenfalls nicht berechtigt, die (von den Alten als figurae Veneris bezeichneten) Akte, welche namentlich von einigen indischen und griechischen Autoren mit großem Ernst ausführlich II. Kapitel: Hypererotismus 97 behandelt sind, als von jedermann beliebig- wahlbare Willkürakte oder gar als Obszönitäten schlechthin anzusehen, vielmehr müssen wir sie auf psychologische Sonderzustände zurückführen, deren moto- rischer Ausdruck sie sind, womit allerdings nicht gesagt werden soll, daß ihre willkürliche Unterdrückung nicht in den meisten Fällen möglich ist. Andererseits gehört aber auch ihre instinktwidrig gewollte Vornahme beispielsweise im Verkehr mit sogenannten Halb- jungfrauen, die darauf aus sind, wenigstens ihr Hymenbis zur Braut- nacht dem rechtmäßigen Deflorator zu reservieren, nicht zu den Seltenheiten. Was zunächst die Digitationen betrifft, so finden sie sieh als vollbefriedigender Akt in der Mehrzahl der Fälle nur bei solchen Erwachsenen vor, die mehr oder weniger infantil istisches Ge- präge an sich tragen. Ich hatte wiederholt Gelegenheit, Ehepaare zu sehe,,, die berichteten, daß sie in langjähriger Ehe niemals den Vollakt ausgeführt haben, sondern sieh lediglieh dadurch befriedigten, daß der Mann mit den Fingern an den Genitalien der Frau spielte auch den Pinger in die Vagina einführte, und die Frau in dieser Weise an- und aufregte bis sie dann bei ihm masturbierte. Einen eigentlichen Grund für diese Befriedigungsform wußten beide nicht anzugeben. Scheu vor Schwängerung schien nicht vorzuliegen, da- gegen war der Mann leicht schwachsinnig und auch die Frau sehr kindhaft. In einem anderen lalle sah ich bei einem Mann, der in ähnlicher Weise sich nur mit Prosti- tuier, zu betätigen pflegte, einen Primäraffekt an ,1er Endphalanx des Zeigefingers. Vielfach findet sich auch ein starker Drang, ebensowohl aktiv wie passiv allerdings, und zwar nicht nur im homosexuellen, sondern auch im heterosexuellen Verkehr, die Finger mit der Analgegend in Berührung zu bringen. Selbst das tiefe Einbohren eines oder zweier Einger durch den Sphmcter ani hindurch gehört nicht zu den Seltenheiten. Es kommt vor daß hier eine Differentialdiagnosc zwischen Membrum und Hand gestellt werden muß. So tauchte diese Frage in einem Gerichtsfalle auf, in welchem ich als Sachverstän- diger zu tun hatte. Der eine Angeklagte behauptete, er hätte zwei Finger in den Anus des anderen gebohrt, während dieser aussagte, er 'wäre im Schlafe cum metnbro paodi- ziert worden. Dieses Moment war von ausschlaggebender Bedeutung, weil der Gebrauch dei Hand straflos, der des Gliedes strafbar gewesen wäre. Eine ganz besonders hohe Bedeutung beanspruchen die o ralen Betaügnngsformen. Hier ist zuerst die Cunnilinctio zu nennen die rhythmische Bestreichung der Klitoris und anderer Wollust- regionen der Vulva und Vagina mittels der lingua des Mannes oder auch der eines virilen Weibes. Neben fetischistischen Momenten scheint hier ein metatropischer Unterwürfigkeitsdrang (Submissio- nismus) eine Bolle zu spielen, doch ist die letzte Ursache dieser Form der sexuellen Entspannung keineswegs geklärt. Wie ich aus Ebe- scheidungsprozessen ersehen habe, empfinden viele Frauen die Zu- mutung und Ausübung dieses Aktes als Herabwürdigung ihrer Per- son, während es andererseits viele Frauen gibt, namentlich unter den Prostituierten, die diesen Akt, nachdem sie ihn einmal kennen ge- lernt, stark begehren; sicher ist, daß er bei vielen Frauen einen vollen Orgasmus mit Schleimausstoßung, sogar während längerer Cunnihnction zu wiederholten Malen, auslöst. Ich wurde wiederholt Hirschfeld, Sexualpatholog-ie. III. ^ 98 II. Kapitel: Hypererotismus von Frauen konsultiert, die niemals bei der Kokabitati on, dagegen immer ganz leicht beim Lambitus ad orgasmum kamen. Ebenso häufig wie der cum oro hominis ist der cum ore feminae vorgenommen.- \kt, bei dem allerdings mehr die Tastkörperehen der Lippen als der Zunge beteiligt sind. Bei' dieser auch vielfach zwischen Männern untereinander vorkommenden Verkehrsform ist es fraglich, ob die Einführung des Gliedes in die Mundhöhle mehr eine aktive oder passive Handlung darstellt. Erst kürzlich setzte ein Urning, der ausschließlich in dieser Weise verkehrte, eingehend vor Gericht auseinander, daß er in diesem Verkehr einen Vusdruck seines Feminismus erblicke; er würde es, wie er meinte, bei weitem vor- ziehen, den Phallus des von ihm begehrten Mannes in eine Vagina aufzunehmen. Nur in Ermangelung dieser ließe er sich usque ad eiaculationem in os koitieren. Zweifellos kon- kurrieren beim Coitus oralis tatsächlich positive und negative Anlässe miteinander, unter den negativen Momenten steht häufig genitale Frigidität, unter den positiven, der erogene Charakter der in Frage kommenden Schleimhäute voran. Auch der wechselseitige, im Volksmund nach der Zahl 69 benannte Lambitus, bei dem die Lagerung so gewählt wird, daß gleichzeitig Os und Genitale beider Personen in Berührung kommen, ist ein nicht nur in Prostituiertenkreisen ausgeführter Verkehr,, dem man nicht mit bloßer sittlicher Entrüstung gerecht wird. Der Lambitus anderer erogener Zonen ist nicht nur ein im Sexualleben der Tiere häufiges Vorkommnis, namentlich auch an solchen Stellen, die Sekrete absondern, welch«' nach allgemeiner Vorstellung objektiv abstoßend sind. Gerade diese spontane Ausschal- tung und Uberwindung aller Ekelempfindungen beweist das Vorhandensein eines vom Willen unabhängigen Gefühls. Ist doch selbst die Analzone sowohl beim Manne wie beim Weibe keineswegs selten das Ziel der nicht nur mit Tast-, sondern auch mit Geschmacks- wärzchen reichlich versehenen apex linguae. Es sei erwähnt, daß diese Kegion des Weibes auch für das Membrum virile durchaus kein noli me tangere ist. Die Annahme, daß die Paedicatio mulieris nur aus prophylaktischen Gründen, zur Verhütung der Schwanger- schaft,, vorgenommen wird, entspricht nicht den Tatsachen, ebensowenig die Vermutung, daß es sich hier um eine Kaliberfrage handelt, vielmehr liegen meist tiefere Gründe, die in das Gebiet des Hypererotismus und Sadismus fallen, vor. Daß auch die passive Pädi- kation des Mannes durch die Frau begehrt wird, hätte ich für wenig wahrscheinlich ge- halten, wenn mich nicht ein Fall eines besseren belehrte, in dem ein Patient, ein sehr femininer Transvestit, den nahezu unwiderstehlichen Drang in die Tat umgesetzt hatte, sich von seiner ziemlich männlich gearteten Frau mittels eines umgegürteten Godmiches pädizieren zu lassen. Die monogame Form des Hypererotismus hat mit der poly- gamen das sexuelle Übermaß gemeinsam, unterscheidet sieh aber sonst wesentlich von ihr. Bei der polygamen Form er- streckt sich die gesteigerte Libido auf den Typus, bei der monogamen auf das Individuum. Schwerer noch wie bei dem polygamen lassen sich bei dem monogamen Hypererotis- mus die Grenzen zwischen physiologischen und pathologischen Fällen ziehen. Es kann natürlich nicht davon die Rede sein, selbst heftige Fälle von Verliebtheit als krankhaft anzusehen, wie es einige aus- ländische Autoren getan haben, die die Liebe schlechthin als Krank- heit bezeichnet haben, zweifellos gibt es aber Fälle, in denen die Fixierung einer Person an eine andere so sehr alles Maß und alle Gegenargumente überschreitet, daß die Breite des noch einigermaßen normalen als nicht mehr innegehalten angesehen werden muß. Greifen wir Beispiele aus dem Leben heraus, zunächst eines, das an die Flucht der letzten Kronprinzessin von Sachsen erinnert, die seiner Zeit so großes Aufsehen in der 9*) Welt erregte. Eine Dame meiner Praxis von lebhaftem Temperament ist mit einem etwas brutalen, dem Alkohol stark ergebenen Manne verheiratet, den sie kaum noch mag, wäh- rend er sie immer noch heiß begehrt. Aus den Ehe sind vier Kinder hervorgegangen. Mit dem fünften geht sie schwanger. Da wird für die ältesten Söhne ein Erzieher angenommen, ein sprachenkundiger Ausländer, von ungewöhnlich rissigem Aussehen und freundlich ruhigem Wesen. Vom ersten Tage an steht die Frau völlig im Banne dieses Lehrers, dessen. Nähe für sie ein nicht mehr zu überwindendes Bedürfnis wurde. Der Gatte, dem diese Leidenschaft nicht entgehen konnte, will den Hauslehrer entfernen. Die Frau schwankt keinen Augenblick zwischen Mann und Liebhaber, sie flieht mit ihm, läßt alles im Stich, Kinder, Häuslichkeit, gesellschaftliche Stellung, scheut nicht das Aufsehen und die Schande und bleibt bei dem Hauslehrer, seinen kärglichen Verdienst durch mühselige Anfertigung' von Handarbeiten mehrend. Wie vermutlich bei der oben erwähnten Louise von Toscana liegt hier eine erotische Superfixation auf neurotischer durch die Gravidität beeinflußter Grundlage vor, gefördert wohl auch durch die antifetischistische Einstellung gegen den Alkoholismus des Ehemannes. Beim männlichen Geschlecht kommen Superfixation en von ebenso starker Intensität nicht weniger häufig vor. Einer der ge- wöhnlichsten Fälle ist der folgende: Ein Jüngling im Anfang oder der Mitte der Zwanzig, wohlgeraten, aber von neuropathischer Kon- stitution, hat ein Mädchen kennen gelernt, das ihn ungemein fesselt; es steht im Stande tief unter, im Alter oft über ihm, ist gar eine Pro- stituierte. Er kann nicht von ihm lassen. Sein Leben bekommt eine völlige Wendung. Er hat keinen anderen Gedanken als diese Frau, lebt völlig in ihr, opfert ihr alles, was er besitzt, Einwendungen der Freunde, Bitten der Eltern prallen an ihm ab; vor die Wahl gestellt, im väterlichen Hause sorgenfrei oder mit dem Mädchen sorgenvoll zu leben, besinnt er sich nicht einen Moment und nimmt alle äußeren Schwierigkeiten um der Geliebten willen auf sich. Mehr als ein junger Mann aus guter Familie ist durch pathologische Liebe zu einer Prostituierten zum Zuhälter geworden. Da diese; Überfixierung meistens von der Umgebung, Eltern, Ehehälfte und auch Ärzten nicht in ihrer eigentlichen Wesenheil als das erkannt wird, was es ist. nämlich in der Grundlage als eine spontane Überfüllung und Überflutung des Gehirns mit erotischen Reizstoffen infolge übermäßiger Reizwirkung, vielmehr angenommen wird, daß es sich um eine der Willkür unterworfene Abkehr oder Untreue handelt, empfiehlt es sich, über Vor- gang und Wesen einer heftigen Liebesleidensehaft in ihrer Entstehung und Entwicklung ein klares Bild zu geben. Zunächst stellen sich alle Sinnesorgane zielstrebig auf den Ausgangspunkt der lustbetonten Eindrücke ein. Da die ganze Körperoberfläche physio- logisch ein Sinnesorgan ist, ausgestattet mit Milliarden Empfangsstationen von eigen- artiger Empfindlichkeit, gibt es kaum eine Partie unserer Peripherie, von der aus diese sexuelle Reizung nicht erfolgen könnte. In den meisten Fällen steht bei dem Menschen das Auge an führender Stelle. Bald mehr von der ganzen Persönlichkeit, bald mehr von irgendeinem ihrer Teile gefesselt, entdeckt die Sehsphäre immer neue Reize, bei jeder Stellung und Bewegung des Objektes, jeder Veränderung durch hinzutretende Kleidungs- und Schmuckstücke, bewußt und unbewußt prüfend, ob sie eine Bereicherung oder Ver- minderung der inneren Sinneswahrnehmung zur Folge haben. Mit nicht minder großem Lustgefühl wie das Auge den Anblick, nimmt das Gehör die Stimme der geliebten Person auf. Ihr Klang kann so sympathisch empfunden werden, daß nicht selten über dem Wohllaut des Organs der Inhalt der Worte vernachlässigt wird. Auch andere von dem Objekt ausgehende Geräusche, sein Schritt, selbst Dissonanzen, wie sein Schnarchen, wer- den von Liebenden nicht selten als Harmonien perzipiert. Der Geruchsinn steht dem Ge- 100 IT. Kapitel: Hypererotismus s ich1 und Gehör wenig nach. Hypererotische berühren nicht selten stark aussehen ende 1 „ Stellen mit ihren Händen, ziehen den anhaftenden Dutt ein sich an Gerüchen form- ' , e die andere als unangenehm abstoßen. Nicht bloß im Tierreich, sende™ , "e Ln großen Teil der Menschheit spielt das Beschnüffeln und Beriechen als Sktorischer Kuß" neben dem „taktilen" im Liebesleben eme hervorragende Rolle " st ük en von allen Sinnesorganen wird der Hautsinn erotisch positiv gereizt ^ aufs neu sucht der Verliebte die feinen Nervenendkörperchen seiner Hautpapülen . mit geliebten Menschen in Kontakt zu setzen, streichelt die Wangen, fahrt üL d e Haare, drückt die Hände, strebt danach, mit seiner an Tastwarzchen besonders Sen chleimhant die des anderen zu berühren und hat das Bedürfnis durch Im chlinouno- einen möglichst großen Hautbezirk der fesselnden Person mit sich m SSre^Kontakt zu bringen. Von den sensorischen N ^sprangt ,lie sexuelle Erregung reflektorisch auf die vasomotorischen Ner n über. Diese ^Efizierung des Blutkreislaufes durch die Liebe ist so m die ?u"n pringend, daß frühere Beobachter den Sitz der Liebe in da, Zentrum der Zirkn- laüon n das Herz, verlegten. Wenn die Dichter schreiben: „errötend folgt er ihren Spiren" X „mit' klopfendem Herzen lauscht er auf ihre Schritte", so sind das im wissenschaftlichen Idiom Zirkulationsveränderungen und Kongestionserscheinungen auf ^ ^vasomotorischer Basis, welche auch in einem allgemeinen aul Hauthyperanne be- ruhenden Wohlbehagen, sowie in der Blutfüllung der corpora cavernosa be„n Manne und Weibe zum Ausdruck gelangen. Diese Mitbeteiligung des Herzens tritt aber auch den schweren Herzbeklemmungen und Angstzuständen in Erscheinung die sich bei ungestillter Liebessehnsucht höchst qualvoll bemerkbar machen Auch die anderen Or- gane des Körpers werden, wenn auch nicht so offensichtlich, unter Nerveneinfluß v on der Liebe affiziert. Fun einen exakten Physiologen verlohnte es sich wohl der Muhe, stark Verliebte, und zwar sowohl glücklich wie unglücklich Liebende, körperlich zu unter- suchen, nicht bloß psychologisch-experimentell, sondern auch unter ZuhiHenahme der physikalisch-chemischen Analyse, um festzustellen, wie der Verdauungsapparat (beispiels- weise die Salzsäureausscheidung), der Respirationstraktus (Zahl, Tie e der In- und Ex- spirationen, Atmungskoeffizient), die Nierentätigkeit (Harnuntersuchung) d.e Zusam- mensetzung des Blutes von dieser so fühlbaren Nervenalteration beeinflußt werden Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß feinere Untersuchungsmethoden vielleicht im Verfolg dn- Abderhaldenschen Abbauvers uche) uns später einmal Reaktionen linden lassen^ die uns ermöglichen, die Diagnose „Liebe" schwach oder stark positiv objektiv zu stellen Dir durch den Hautsinn hervorgerufenen Lustempfindungen, welche am leich- testen und stärksten vasomotorische Reflexe im Körper auslösen, bilden gewöhnlich die Ubergangsstelle, an der die Beherrschungskraft und Widerstandsfähigkeit der sich aus den Gefühlswahrnehmungen in Bewegungen und Handlungen umsetzenden Triebe am häufigsten nachläßt. Mit den körperlichen verbinden sich hei der erotischen Fixation eine ganze Reihe geistiger Sensationen, von denen die wichtigsten folgende sind: Vermissen die Sinnesorgane nur kurze Zeit, etwa einige Tage, ja oft nur Stunden, die sie so stark lusterregenden und befriedigenden Impressionen, so stellen sich bei dem Liebenden De- pressionen des nervösen Zentralorgans ein, wie sie ganz ähnlich bei der Entziehung narkotischer Reizmittel, etwa des Morphiums, be- obachtet werden. Die Sehnsucht ist in der Tat ein der Morphium - Mich! verwandter Zustand des Nervensystems. Hier wie dort handelt es sich um Delektempfindungen im inneren Chemismus. Wir dürften kaum fehlgehen, wenn wir uns die Wirkung des An- ,1,-ins und Gynäcins ganz ähnlich wie die eines Opiats vorstellen, eines sich im Organismus bildenden, fein differenzierten Narkoti- 101 kuins, daß je nach seiner adäquaten oder inadäquaten Zersetzung be- ruhigend wirkt oder Unbehagen und Unruhe hervorruft. Das Unlust- gefühl bei der Entbehrung macht oft erst die große echte Liebe mani- fest; es können hier bei gewaltsamer Trennung furchtbare Zustände grenzenloser Leere, namenlosen Jammers und verzweiflungsvollsten Verlangens eintreten, welche das ganze Seelenleben in Mitleiden- schaft ziehen und nicht selten zum völligen Lebensüberdruß führen. Dieses heftige Sehnen ist ein wesentlicher Unterschied der echten Liebe von dem gewöhnlichen Geschlechtstrieb, bei dem mit dem eigentlichen sexuellen Akt die Sehnsucht nach der Person zumeist erloschen ist. INI 1 1 dem Drang, eine leidenschaftlieh geliebte Person zu sehen, zu hören und zu fühlen, ist gewöhnlich der Wunsch verknüpft, diese Genüsse allein zu besitzen, ein Wunsch, der sich bei Nichtbefriedigung und Zweifel in dem starken seelischen Affekt der Eifersucht äußert. In höheren Graden — unsere Tagespresse berichtet ja immer wieder von solchen Fällen — führt diese Leidenschaft, und zwar „Leiden" — „schaff im LUsinn des Wortes, namentlich bei jüngeren, nicht ganz selten aber auch bei älteren Leuten, zur Körperverletzung und Tötung des geliebten Objekts und der eigenen Person. Zu diesen beiden mehr negativen Gefühlen — der Sehnsucht und Eifersucht — gesellen sich zwei positive Empfindungen, die jedoch, wie die meisten positiven, weniger stark in das Bewußtsein dringen, als die negativen. Das eine ist das große geistige Interesse für die geliebte Person, zu deren Besten man alles mögliche tun möchte. Zur echten Liebe gehört die Opferwilligkeit des Werbenden. Hierzu kommt dann noch die große Steigerung und Erhebung der eigenen Persönlichkeit durch die Liebe, deren bloßes Yorhandcnsein die höchsten Seiten des menschlichen Empfindens zum Ertönen bringt. Aus den Entzückungen und Seligkeiten einer großen Liebe strömt dem Nervensystem ein Reichtum an Kräften zu, aus dem mit erhöhter Harmonie und Lebens- lust auch eine vermehrte Lust am Schaffen und Gestalten quillt. Auf der Kehrseite be- einträchtigt aber auch die unglückliche Liebe in stärkstem Grade die Leistungsfähigkeit und Lebensfreudigkeit. Wer demi Menschen seine Liebe raubt, verstümmelt ihn. Das Übermaß sexueller Leidenschaft führt auf der aggressiven Seite zu einem gesteigerten Aktivis'mus, nach der entgegen- gesetzten Richtung zu einem so hoben Grad von Passivismus, Ab- hängigkeit und Unterwürfigkeit, daß ein Individuum zu einem willen- losen Werkzeug in der Hand der von ihm geliebten Person werden kann. Man hat in solchen keineswegs seltenen Fällen von ge- schlechtlicher Hörigkeit gesprochen. Ich kann mich hier nicht der Meinung von Krafft-Ebing anschließen, der die sexuelle Hörigkeit in das Gebiet des Masochismus rechnet, habe vielmehr die Überzeugung gewonnen, daß es sich hier im wesentlichen um einen quantitativen Exzeß handelt, bei dem die Hingabe an das geliebte Wesen zu einem völligen Aufgeben der eigenen und gänzlichem Auf- gehen in die fremde Persönlichkeit führt. Man hat bei diesen starken Fixationen vielfach an suggestive oder hypnotische Einflüsse ge- dacht und in manchen Kriminalfällen, in denen eine Person Ver- brechen auf Befehl einer anderen ausführte, Erteilung von Suggestio- nen angenommen, während in Wirklichkeit nur sexuelle Hörigkeit vorlag. 102 Ich habe mich wiederholt in solchen Fällen gutachtlich äußern müssen; einer der markantesten war der Fall eines Bankdefrau- danten, der, selbst ganz feminin, ganz im Bann eines energischen Voll- mannes stand, zu dessen gefügigem Instrument er wurde. Noch als beide nebeneinander auf der Anklagebank saßen, konnte man be- obachten, wie der jugendliche „Stehler" machtlos und widerstandslos am Munde seines „Hehlers" hing. Einen ganz ähnlichen Fall hatte ich kürzlich auch zwischen zwei Frauen zu begutachten, von denen die eine auf Befehl der anderen Lebensmitteldiebstähle begangen hatte. In extremer Weise trat diese Hörigkeit auch bei jener jungen Frau zutage, die, den besten Gesellschaftsklassen entstammend, sich mit ihrem jungen Gatten in ihren allervertrautesten Gesehlechts- beziehungen vor zahlenden Gästen zur Schau stellte. Als bei der wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses stattfindenden Verhand- lung der Gerichtsvorsitzende die Angeklagte bei ihrer Vernehmung fragte, wie sie denn dazu gekommen sei, sich als vornehme Dame in dieser schamlosen Weise den Augen Fremder preiszugeben, entgeg- nete sie : „aus Lieb e z u m eine m M a n n" und verharrte bei dieser Erklärung, auch als ihr Gatte, der Hauptangeklagte, herausgeführt wurde, um jede Rücksichtnahme auf ihn auszuschalten. Offenbar lag sexualpsychologisch bei beiden Partnern ein hy pererotischer K o m p 1 e x vor, bei dem Manne eine zum Sadismus neigende sexuelle Aktivitätssteigerung', bei der Frau eine fast an Schwachsinn gren- zende Passivität, die ihren Geschlechtswillen nahezu lähmte. Meist setzt solche suggestive Beeinflußbarkeit eine mehr oder weniger bewußte erotische Unterwürfigkeit voraus, ebenso wie letztere den Rapport und die Beeinflußbar- keit ungemein erleichtert, doch sind beide Erscheinungen seelischer Unfreiheit keineswegs als identisch zu erachten. Besonders häufig kommt es vor, daß Zuhälter auf Prostituierte so stark im Sinne einer Willenslähmung wirken, daß diese völlig „Wachs in ihrer Hand" sind. So werden Beischlafsdiebstähle oft genau nach den Anweisungen des „Gebieters" ausgeführt. Am häufigsten! finden wir sexuelle Hörige unter Frauen, und zwar im Ver- hältnis Zum Manne, doch gibt es auch genug Männer, die der ebenso geliebten wie ge- fürchteten Gattin „aufs Wort gehorchen", auch hypersexuelle Frauen und Männer unter- einander stehen oft im Hörigkeitsverhältnis. So begingen kürzlich zwei Frauen einen Doppelselbstmord, von denen die jüngere, eine Schauspielerin von 20 Jahren, ganz und gar im Banne der älteren, einer sehr virilen Urnincle w§a 45 Jahren, stand. Diese, eine waghalsige Spekulantin, wie man sie unter dieser Gruppe häufig findet, hatte schwere geschäftliche Verluste gehabt und wurde noch dazu von einem Strafverfahren bedroht, so daß sie den Entschluß faßte, sich zu erschießen. Als die Freundin von dieser Absicht erfuhr, erklärte sie, daß sie eine Loslösung von der Geliebten nicht ertragen würde und quälte diese so lange, bis sie mit der gemeinsamen Tötung einverstanden war. Dieser Fall steht nicht vereinzelt da, nach meiner Erfahrung will es mir vielmehr scheinen, daß unter den Gründen der Doppelselbstmorde sexuelle Überfixation an erster Stelle steht. Wie komplizierte, für einen Laien schwer verständliehe Bezie- hungen hier oftmals vorliegen, möge das folgende Ehescheidungs- gutachten zeigen , das ich mit meinem Kollegen Kronfeld er- stattete. Die von uns vorgenommene Klärung des Falles führte zur II. Kapitel: Hypererotismus Wiederherstellung und völligen Harmonisierung der durch das Da- zwischentreten einer männlichen Frau stark gefährdeten Ehe. Frau Anna M., 35 Jahre alt, steht seit 10. November in unserer ärztlichen Beobach- tung. Sie wünscht von uns ein Gutachten über ihren seelischen Zustand und ihre ge- schlechtlichen Neigungen, welches sie zur Aufklärung der von ihrem Gatten in ihrer Ehe- scheidung erhobenen Anschuldigungen eines ehewidrigen Verhaltens • im Sinne des § 1568 BGB. verwenden will. Dies Gutachten stützt sich auf die Aussagen und die Be- obachtung der Untersuchten, sowie auf Aussagen der Zeugin in der Ehescheidungssache Fräulein Eleonore A. Die Mutter von Frau M. ist nervös, leidet an Migräne und Magen- krämpfen, eine Schwester der Mutter leidet seit 30 Jahren an Hypochondrie. Sonstige Zeichen nervöser Belastung bestehen nicht. Die Untersuchte erlitt als Kind eine Alkohol- vergiftung, war stets ein sehr zartes Kind, und litt vom 5. bis zum 9. Jahre an ver- schiedenartigen nervösen Zuständen. So berichtet sie von Zuständen von hysterischer sog. Mikropsie und Hyperakusis — alle Gegenstände des Gesichtsfeldes werden winzig klein, alle Geräusche durchdringend laut — mit großer Angst aus" jener Zeit. Sie litt ferner als Kind an, Sprechen und nächtlichem Umherlaufen im Schlaf mit geschlossenen Augen; einmal wurde sie in einem solchen Zustande außerhalb des Hauses auf der Düne, ein anderesmal auf dem Balkon gefunden. Sie war sehr reizbar, schreckhaft, litt an Alp- drücken, an Kauen an den Fingernägeln, vor allem aber — was bis heutigen Tages un- verändert bestehen geblieben ist — war sie mondsüchtig. Während der Vollmond- nächte tritt erhöhte Mattigkeit, völlige Schlaflosigkeit und starke Herabsetzung der Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft ein, die bis zur völligen Wi 1 1 e n 1 <Ts i g - k e i t gehen kann. Sonst ist aus der Vorgeschichte der Untersuchten Krankhaftes nicht zu berichten. Die Untersuchte ist eine weiche, sensitive, beeindruc'kbare, Suggestionen zugängliche Frau von starkem- Phantasieleben, intensiven und labilen Gefühlen, großer Willensschwäche und Haltbedürftigkeit. Sie ist in jeder Hinsicht eine passive Natur und zeigt alle Vorzüge und Schwächen einer solchen. Diese Eigenarten ihres Charakters machen sich auch geltend in der Ausgestaltung ihres Liebes- und Ehelebens. Sexuell früh erregbar, aber ohne jegliche Kenntnis der geschlechtlichen Beziehungen, schwelgte das junge Mädchen in phantastischen Vorstel- lungen, in denen sie die Unterjochte oder Sklavin eines gra.usamen Königs war. Von irgendwelcher homosexueller Neigung ist aber in dem Triebleben der Untersuchten von Anbeginn an nichts nachzuweisen. 190!) verheiratete sie sich: die Ehe war anfangs glücklich; die Untersuchte hatte zwei Kinder. Uber ihre Ehe gibt sie an: gerade ein etwas harter und brutaler Zug ihres Mannes sei es gewesen, der sie gewissermaßen in seinen Bann gebracht habe. Im Laufe der Ehe jedoch hätte sie unter . dem Mangel an Zartsinn seitens ihres Gatten oftmals gelitten; ihr großes Bedürfnis nach Zärtlichkeiten sei ganz unbefriedigt geblieben; dafür hätte ihr Mann ihre Sinn- lichkeit in einer Weise geweckt, die ihr ursprünglich ganz fern gelegen habe. Die Art. wie er das getan habe, entspricht vollständig derjenigen, welche später die Zeugin Fräu- lein A. angewendet hat. Trotz dieser leichten Wolken am ehelichen Horizont blieb die Ehe eine glückliche. Die Untersuchte vertraute ihrem Manne in allen Dingen blindlings; sie stand so sehr — ihrem ganzen passiven und beeinflußbaren Wesen entsprechend — in dem Bann des Mannes, daß sie ohne jedes Zaudern und Uberlegen alles -tat und hin- nahm, was ihr Mann sagte. Zuweilen gab sie sich zwar über die Stärke ihrer inneren Abhängigkeit von ihrem Gatten Rechenschaft, aber ohne die Macht und den Wunsch, das zu andern. Im Gegenteil erwuchs ihr aus dieser Unterwürfigkeit ein besonderer Reiz. Im März 1916 kam der Gatte nach Warschau; dort blieb er mit einer Unterbrechung von zwei Tagen bis zum Juni 1917. Inzwischen lernte die Untersuchte im April 1917 das Fräulein A. kennen. Diese machte durch ihre gesamte geistige und menschlich inter- essante und überlegene Persönlichkeit einen großen Eindruck auf die ziemlich verein- samte Frau. Es tat letzterer wohl, daß Fräulein A. sich in einer ihr ungewohnten Weise freundschaftlich näherte und sich ihrer annahm. Sie glaubte bei Fräulein A., und wohl 104 1 [. Kapitel : Hypererotismus mit Hecht, eine tiefere Zuneigung zu ihr zu bemerken, ohne diese aber im mindesten für erotisch zu halten. Anfangs Mai trennte sie sich von Fräulein A. wie von einer neuen, sehr wertvollen Freundin, um nach Hause zurückzukehren. Noch war ihrerseits nicht der leiseste erotische Beiklang in dieser Freundschaft; und dementsprechend war — bis auf einen Kuß — auch nicht das leiseste vorgekommen, was erotisch deutbar wäre oder von ihr hätte erotisch aufgefaßt werden können. Dies ändert sich, als Fräulein A., einer gemeinsamen Verabredung zufolge, Ende Mai 1017 auf etwa 14 Tage nach Berlin kam und ihre neue Freundin hier aufsuchte. ; Die verhaltene Zärtlichkeit Fräulein A.s erschien der Untersuchten' etwas merkwürdig, weckte aber noch keinerlei Verdacht. Da begab es sich, daß Fräulein A. eines Abends ihre Zärtlichkeit auch körperlich in über- schwenglicher Weise ausdrückte, und es kam zu einer Berührung geschlechtlicher Art. deren sich die Untersuchte durch Fräulein A. ausgesetzt sah. Die Untersuchte emp- fand natürlich geschlechtlich nicht das Geringste; andererseits taten ihr die Zärtlich- keiten und die Hingabe, die sie nicht gewohnt war, wohl; demgegenüber war sie sich des Gewagten und ^Peinlichen der Situation nicht voll bewußt; andererseits war ihr selbst jetzt noch nicht ganz klar, daß Fräulein A. in geschlechtlicher Hinsicht abnorm empfindend war und es sich um eine Art von geschlechtlicher Hingabe handelte. In dem Ansturm der verschiedenartigsten Gefühlsregungen vermochte die willensschwache Frau sich weder über sich selbst noch über ihre Freundin klar zu werden; sie kam überhaupt gar nicht darauf, dieser Freundin, die sie als weitaus stärkere und beherrschende Per- sönlichkeit empfand, irgendwelchen Widerstand entgegenzusetzen. So paradox dies er- scheint, so ist es deshalb nicht weniger glaubhaft, daß sie die Umarmungen ihrer Freim din duldete aus Scheu, diese durch Weigerung zu verletzen. Erst nach der Abreise ihrer Freundin wurde sie sich allmählich klar, darüber, daß es sich um bloße Freundschaft doch wohl nicht gehandelt haben könnte. Zwar trat ihr die geschlechtliche Seite ihrer Beziehung noch nicht klar ins* Bewußtsein, wohl aber die erotische Färbung der Gefühle Fräulein A.s für sie. Sie selber stand in ihrem eigenen Gefühlsleben der Sache so harm- los gegenüber, daß sie ihrem Gatten ganz offen von ihren Erlebnissen mit Fräulein A. erzählte und hinzufügte, diese Freundschaft sei erotisch geworden. Ein weiterer per- sönlicher Verkehr mit Fräulein A. trat dann nicht mehr ein. Wichtig ißt wohl noch, daß jene erotische Beziehung End. Mai 1917 in die Vollmondszeit fällt, von deren Ein- fluß auf das Nervensystem und die Willenskraft der Untersuchten schon die Rede war. Der Gutachter in dieser Angelegenheit hat folgende Fragen zu entscheiden: 1. Handelte die Untersuchte bei diesen geschlechtlichen Beziehungen mit freier Willensbestimmunp oder nicht? 1. Handelte sie aus einem perversen geschlechtlichen Triebleben? War sie sich des geschlechtlichen und damit ehrwidrigen Charakters bei ihrem Verhalten voll bewußt? Diese erste dieser Fragen beantworten wir folgendermaßen: Zweifellos ist die Untersuchte im allgemeinen völlig zurechnungsfähig. Sie ist aber eine psychopathisch" Persönlichkeit von haltloser Willensschwäche, außerordentlich gesteigerter Beeinflußbai - keil und überwucherndem Gefühlsleben. Zudem ist, sie mondsüchtig. Für Handlungen. « eiche sie unter dem Einfluß eines andern begeht, insbesondere, wenn dies keine plan- mäßigen, überlegten Handlungen sind, sondern mehr ein Ausdruck ihres Gefühlslebens, und wenn diese Handlungen mehr in einem Dulden als in einem Tun bestehen, wie im vorliegenden Falle, läßt sich eine weitgehende Herabsetzung und Einschränkung der eigenen freien Willensbestimmung durch die psychopathische Artung denken. Hinzu kommt der Einfluß des Vollmondes, der bei dazu disponierten Menschen immer in einer Steigerung der nervösen Erregbarkeit und einer Einengung des Bewußtseins besteht. Wir neigen also dazu, anzunehmen, daß der Untersuchten bei der in Fragö stehenden Angelegenheit die freie Willensbestimmung in erheblichem Umfang gefehlt hat. Die zweite Frage wurde schon durch die bisherige Darstellung des Falles ge- nügend beantwortet. Von einem perversen geschlechtlichen Triebleben der Untersuchten im Sinne einer geschlechtlichen Übererregbarkeit oder homosexueller Veranlagung im all- II. Kapitel: Hypererotismus 1Q5 gemeinen ist nicht das Geringste nachweisbar. Du- Untersuchte stand in jener, infolge ihrer langen Vereinsamung und Trennung vom Gatten sowie der Vollmondstage sehr kritischen Zeit, besonders unter dem Einfluß ihrer labilen, von außen her bestimmten Gefühlserregbarkeit; sie stand ferner gleichsam völlig im Banne der dominierenden Per- sönlichkeit ihrer neuen Freundin — wie dies ihrer ganzen willensschwachen Artung ent- sprach. Lediglich aus dieser Situation ist jene geschlechtliche Episode herausgewachsen. Derartige Falle von ..Hörigkeit" sind in der Fachliteratur mehrfach beschrieben, ohne daß bei ihnen auch nur im geringsten ein perverses geschlechtliches Fühlen in Frage kam. So wurde noch in diesem Jahre der forensische Fall einer jungen Dame beschrieben, welche sich in völliger Hörigkeit von einem französischen Kriegsgefangenen befand, den sie auf sein Geheiß acht Monate in ihrem Zimmer versteckt hielt und von dem sie sich willenlos in der perversesten Weise geschlechtlich mißbrauchen ließ; und dabei wurde geriehtsärztlieherseits festgestellt, daß die Betreffende geschlechtlich überhaupt frigide war und gar nichts empfand (Zeitsehr. f. Med.-Beamte, 1919). Der vorliegende Fall ist in seiner psychologischen Struktur dem zitierten völlig analog. Nicht ein perverses Triebleben, sondern krankhafte Willensschwäche und gesteigerte sug- gestible Beeinflußbarkeit sind die seelischen Grundlagen für das Verhalten der Unter- suchten. Damit ist auch die gutachtliche Beantwortung der dritten Frage gegeben. Nach unserer Überzeugung war sich Frau M. eines geschlechtlichen Charakters jener in Rede stehenden Handlung zur Zeit derselben noch nicht bewußt. Erst hinterher sind ihr Zweifel im Hinblick auf sie gekommen. Zur Zeit der Handlung be- fand sie sich in einem Widerstreit mannigfachster Gefühle, die über sie hereinbrachen, als sie gerade besonders wenig widerstandsfähig war. Der Grundzug derselben war eine warme, freundschaftliche Bewunderung und Hingabe an Fräulein A. Erst die Handlungsweise dieser Freundin stürzte sie in jene Zweifel über die Art ihrer Neigung zu ihr, die sich dann zu der Überzeugung verdichteten, es handle sich um eine erotische Freundschaft. Daß die Untersuchte zur Zeit jener geschlechtlichen Beziehung tatsächlich nicht gewußt haben kann, daß es sich um einen Geschlechtsakt handele, dafür lassen sich auch neben ihrer glaubhaften Darstellung ihres inneren Erlebens noch allgemeine medizinische Erfahrungen geltend machen. Wir finden gerade bei Frauen nicht selten, daß sich ihnen die Grenzen des Sexuellen und des allgemein Affektiven bis zur Un- kenntlichkeit verwischen. Gefühle der Freundschaft und Zuneigung entladen sich bei ihnen in stürmischen körperlichen Zärtlichkeiten und Liebkosungen, die manchmal jedes Maß überschreiten, ohne daß diese Liebkosungen den Betreffenden als geschlechtlich oder erotisch bedingt ins Bewußtsein kämen. Im normalen Leben finden wir dies häufig bei den sogenannten Pensionsfreundschaften junger Mädchen. Wohl liegt derartigen stürmi- schen körperlichen Äußerungen objektiv ein erotisches Gefühl zugrunde, aber die be- treffende Person gibt sich keine Rechenschaft darüber, sie weiß es nicht; und noch weniger braucht sich diejenige Person darüber klar zu sein, die von derartigen Zärt- lichkeiten bloß passiv betroffen wird. Ganz Ähnliches findet sich zuweilen auch in bezug auf eigentliche geschlechtliche Handlungen: so onanieren junge Mädchen lange, bevor sie vom Wesen der Geschlechtlichkeit auch nur eine Ahnung haben, unter allen mög- lichen ungeschlechtlichen Vorstellungen erregender Art. Auch die Untersuchte gibt von sich ein ähnliches Stadium an. Somit kommen wir auch hinsichtlich der dritten Frage zu der Uberzeugung, daß der Untersuchten zur Zeit jenes Ereignisses das Bewußt- sein der Geschlechtlich keit ihres Handelns oder Erduldens gefehlt hat. Der geschlechtshörige Mensch sucht oft zielstrebig nach einem tyrannischen und empfindet es allmählich immer lustbetonter, wenn er unter der Fuchtel des Stärkeren steht, von ihm gedemütigt und geknechtet wird. Es kommen hier alle jene merkwürdigen Praktiken der Erniedrigung vor bis zur Nachahmung eines tierischen Wesens II. Kapitel: Hypererotismus und leblosen Gegenstandes, die ich in dem letzten Kapitel des zweiten Bandes unter der Bezeichnung: Metatropismus beschrieben habe, doch ist es ein wichtiger Unterschied, ob diese Handlungen von einer Frau einem Manne gegenüber oder von einem Manne gegen- über einem Weibe begangen werden. Liegt in letzterem Falle vor allem eine Aggressionsinversion vor, indem der an sich überlegene Mann nicht der aktive, sondern der leidende Teil sein will, so ver- bleibt das sich unterwerfende Weib in der ihm eigenen passiven Triebrichtung, nur daß diese exzessiv ausartet und damit in das Gebiet des Hypererotismus fällt. Aus unendlich vielen psychologischen und soziologischen Tat- sachen läßt sich der Beweis erbringen, daß der Goethesche Satz: „Dienen lerne beizeiten das Weib nach seiner Bestimmung" oft in Verbindung mit dem Shakespeareschen Wort: „Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand", sich von den ältesten bis in die neuesten Zeiten als Leitmotiv durch die Geschichte der Frauenliebe zieht. In dieser erotischen Unterwerfungslust wurzelte auch die frühere wirtschaft- liche, gesellschaftliche und politische Entrechtung des Weibes. Erst die letzten Jahrzehnte haben hier Wandel geschaffen, und deutlich läßt sich die Wechselwirkung verfolgen, in der die Anschauungen über eine größere Sexualfreiheit des Weibes mit der Erlangung ihrer Gleichberechtigung auf allen Gebieten stehen. Dennoch besteht das Naturgesetz unverändert zu Recht, daß dem Weibe als der passiven Empfängerin und Trägerin männlicher Keimzellen eine ungleich größere organische Abhängigkeit vom anderen Geschlecht innewohnt als dem Manne. Ist demnach die dem Weibe eigenste Form des Hyper- erotismus die Steigerung dieses Grundtriebes, so haben wir als analoge Erscheinung beim Manne umgekehrt einen sich bis zur sadistischen Gewalttätigkeit erhebenden Überschuß von Aktivismus anzusehen. Zunächst kommt es hier auf das Quantum, dann auf das Quäle an. Beides kann in pathologischer Gestaltung nur durch Rückverfolgung auf physiologische Vorstadien begriffen werden. Im Besitzergreifen des Weibes durch den Mann, wie in der Be- gattung selbst, liegt an und für sich eine gewisse Heftigkeit, die sich im Fassen, Umschlingen und festen Andrücken des geliebten Körpers äußert, im Hineindrängen in die Öffnungen seines Körpers, vor allem die erst zu sprengende Scheidenöffnung, im Einsenken der Hände in die Haut des Partners, das sich bis zum Kneifen und Kratzen steigert, schließlich in dem nicht nur bei sehr vielen Tieren, sondern auch beim Mensehen noch in Resten nachweisbaren Liebesbiß: alles das und mehr sind Anzeichen psychophysiologischer Machtgelüste, die nur zu leicht einen grausamen sadistisch tyrannischen Charakter an- nehmen. Es ist keineswegs nötig, hier mit Lombroso atavistische 106 II. Kapitel: Hypererotismus 1Q7 Akte als Erklärung anzuziehen, womöglich gar bis zu den Protozoen zurückkehren, die ihren Partner #aus Liebe verschlingen und ver- zehren, es genügt vielmehr vollkommen die Begründung der Er- scheinung, die dahin geht, mit Robert Müller die Ursache des Sadis- mus „in einer ungewöhnlichen Verstärkungderinneren S e k r e t i o n" zu suchen, hervorgerufen durch eine übermächtige Beeindruckung des Sensorkims. Krafft-Ebing spricht hier mit vollem Recht von einer ,,W eckung' seelischer Dispositionen aus ihrer Latenz durch äußere Anlässe, die für den Normalen bedeutungslos und af- fektlos verlaufen". Im logischen Verlauf dieser Gedankengänge er- klärt Krafft-Ebing geradezu, daß das sadistische Empfinden immer angeboren sei, es könne im Leben nicht erworben, sondern nur ge- weckt werden. Schrenck-Notzing und Binet nehmen dagegen auch hier zufällige Assoziationen in der Jugend an unter Ausschaltung der sexuellen Konstitution. Diese aber ist, wie wir nach dem gegenwärtigen Stande der Sexualwissenschaft annehmen müssen, in erster Linie von der Be- schaffenheit der Geschlechtsdrüsen abhängig, durch deren innersekre- torischen Anteil nicht nur die Sättigung des Zentralnervensystems mit erotisierenden Substanzen und damit der Grad der Libido bestimmt wird, sondern je nach dem Absonderungsverhältnis von Andrin und Gynäcin auch die mehr aktiv aggressiv männliche oder passiv rezeptiv weibliche Eigenart des Geschlechtstriebs. Wir haben demnach aus doppeltem Grunde quantitativ und qualitativ in dem sogenannten Sadismus einen verstärkten endogen und zwar inkretorisch verursachten Virilismus anzunehmen. Wulffen geht noch einen sehr beträchtlichen Schritt weiter. Er glaubt, daß fast alle gewaltsamen Eingriffe in die Rechtsgüter eines Menschen, also fast alle Verbrechen, mit Störungen der in- neren Sekretion zusammenhängen. Er gelangt infolgedessen zu einer Anschauung, die sicherlich einiges für sich hat, in ihrer Verallgemeinerung aber kaum zutreffen dürfte, jedenfalls eines überzeugenden Beweises ermangelt, daß nämlich alle Gewaltakte, körperliche Züchtigungen, Demütigungen, Mißhandlungen. Grau- samkeiten im Krieg und Frieden, ja sogar Beleidigungen, Erpres- sungen, Eigentumsvergehen, Brandstiftungen, Sachbeschädigungen, Tierquälereien, ebenso aber auch ihre Verfolgungen und Bestrafun- gen letzten Endes im Sadismus wurzeln. Indem er di e Wirkung der Sexualhormone auf das Nervensystem mit der des Alkohols vergleicht, sagt Wulffen . wörtlich: „Wird die Sexualspannung, wie wir in der Biologie gesehen haben, durch eine „innere Sekretion" hervorgerufen, so kann diese auf die in- dividuelle latente Kriminalität wie eine Intoxikation wirken. Es handelt sich dann um ganz dasselbe psychophysiologische Er- eignis wie bei der Alkoholvergiftung, nämlich um 'erleichterte Be- 108 wegungsauslösungen, um verstärkte Willensantriebe und anderer- seits um eine Hemmung der psychischen Leistungen. Ahnliche In- toxikationen finden ja auch bei der Lungentuberkulose und wahr- schemlich auch bei der Epilepsie statt. Die menschliche Kri- minalität ist also mit als Folge der sexuellen, von den Keimdrüsen ausgehenden Intoxikation auf- zufassen. Und wenn der vielgeschmähte Lombroso das Ver- brechen in Ursache und Wirkung mit der Epilepsie verglich, so war er,' von einer gewissen Überspannung dieser Meinung abgesehen, m seinem genialen Instinkte der Wahrheit vielleicht näher, als man- cher seiner Widersacher zu begreifen imstande war." Es will uns scheinen, als ob die Uberspannung, die hier Wulften bei Lombroso hinsichtlich der Epilepsie konstatiert, bei ihm selbst in foezug auf den Sadismus als kriminellen Faktor vorhanden ist. Daß letzten Endes alle Eigenschaften und Strebungen sämtlicher Geschöpfe einschließlich des Menschen sexuelle Wurzeln haben, ist für philosophierende Theoretiker sicherlich von Belang, nicht in gleichem Maße für den Praktiker, der, will er sich nicht ins Unge- messene verlieren, den Begriff des Geschlechtlichen nicht gar zu weit über das erotische Bewußtsein ausdehnen darf. Immerhin ist für das volle Verständnis des Sexualpathologischen die Kenntnis des Phy- siologischen nicht nur phänomenologisch, sondern auch ontogene- tisch und phylogenetisch von Wert. So mußten wir uns, um den sadistischen Hypererotismus zu begreifen, erinnern, daß im Wesen des sexuellen Angriffs an sich schon etwas Gewalttätiges liegt. Ist doch die erste Eroberung jedes Weibes geradezu mit einer physio- logischen Körperverletzung, der «Durchbohrung des Hymens, ver- knüpft, und stellt doch auch jede weitere Kohabitation einen mehr oder weniger energischen Einbruch in eine Körperhöhle dai% wie auch die Stoßbewegungen beim Beischlaf bis zu einein gewissen Grade den Charakter eines tätlichen Angriffs tragen. Frauen zu rauben und gewaltsam zu entjungfern, war in alten Zeiten gang und gäbe. Die Hochzeitsreise soll ein Rest dieser vormaligen Entfüh- rungssitte sein. Auch alte Redewendungen, wie, man könnte jeman- den vor Liebe umbringen, mau hat jemanden zum Fressen lieb, legen von verwandten Urinstinkten Zeugnis ab. Im Tierreich sind Gewaltakte im Liebesleben gleichfalls sehr verbreitet. Wenn der Hahn die Henne tritt, bearbeitet er oft mit heftigen Schnabelhieben ihren Kopf und Kamm, und der Kater gräbt beim Bespringen der Katze seine Zähne oft tief in ihren Nacken hinein, ja Insekten neigen vielfach dazu, ihre Weibchen im Liebes- rausch zu vernichten. „Wie ein Wahnsinniger, schreibt Bölsche, stürzt sich der Frosch auf ein beliebiges Froschweib, er packt es mit solcher Gewalt um Kit) den Leib, daß es nicht selten daran stirbt; ein Karpfen wird beritten, daß die Schuppen fliegen." Durch alle diese Beobachtungen hat man sich veranlaßt ge sehen, im Sadismus eine Art Atavismus zu erblicken, einen Rück schlag in primitivere Zeiten und Zustände. Überwunden sind diese sexuellen Grausamkeits- und Roheitsinstinkte vor allein durch die Entwicklung von Hemmungs- und Sublimierungsmechanismen. Die Wirksamkeit dieser antierotischen Faktoren hängt jedoch nicht nur von ihrer eigenen Stärke, sondern ebenso sehr von dem Grade der Erotisierung selber ab. Die Triebe stoßen nicht nur auf einen Wil lenswiderstand, vielmehr, und zwar oft in noch höherem Grade, der Wille auf einen Triebwiderstand. Hinzu kommt, daß viele Männer sich bewußt sind, wie anziehend ihre Brutalitäten auf Frauen wir- ken. Es gibt da eine im Kriege viel belächelte Geschiebte, die. wenn sie nicht wahr ist, sicherlicb von einem guten Psychologen herrührt. Es wären in vielen Ortschäften die Frauen und Mädchen angewiesen, sich während des Durchzugs der Feinde nicht blicken zu lassen, da sie sonst vergewaltigt werden könnten; die Bewohne- rinnen hätten sich dann auch hinter Türen und Fenstern versteckt gehalten, seien aber, als die letzten feindlichen Truppen die Stadt verlassen hätten, ganz enttäuscht mit dem Rufe hervorgestürzt : „Wo bleibt die Vergewaltigung!" Eine 25jährige Gerichtspraxis hat mir gezeigt, daß keiner Angabe auf sexuellem Gebiete ein größeres Mißtrauen entgegengebracht zu werden verdient, als der von un- endlich vielen, namentlich auch geschwängerten Mädchen vorgebrachten, sie seien ver- gewaltigt oder genotzüchtigt worden. Schon der Einwand, sie seien durch Verführung widerstandslos oder willenlos gemacht worden, ist stets mit einer gewissen Vorsicht aut- zunehmen. Wirkliche Sachkenner sind sich darüber einig, daß eine Entjungferung oder Schwängerung durch Anwendung bloßer physischer Gewalt ungemein schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist', ausgenommen die Fälle, in denen das Weib von anderen an Armen und Beinen gehalten oder, wie es in dem letzten Kriege öfter vorgekommen sein soll, auf einer Unterlage angebunden wurde. Die Phantasie neigt häufig dazu, sich solche Vorfälle grausig auszumalen und verhältnismäßig geringfügige Angriffe allmäh- lich in schwere Eingriffe zu verwandeln. Gerade auf geschlechtlichem Gebiet wachsen oft die Gerüchte durch Übertreibung ins Ungeheuerliche, und man ist bei Nachprüfung überrascht, aus wie geringein Anlaß sich höchst umfangreiche Geschichten entwickeln. Auch die Behauptungen vieler junger Mädchen, sie seien im Schlaf überfallen und ver- gewaltigt worden, verdienen selten Glauben, ebensowenig die keineswegs seltene Be- hauptung* junger Männer, es sei an ihnen, während sie schliefen, ein coitus in anum vollzogen worden, sie wären erst aufgewacht, als eine Ejakulation in recto erfolgte. Wäh- rend des Feldzuges wurden mir von Kriegsgerichten mehrere Fälle zur Äußerung unter- breitet, in denen Soldaten fest dabei blieben, sie seien in solcher Weise, während sie fest schliefen, von Vorgesetzten oder Kameraden gemißbraucht worden. In Wirklich Iteit war zwar dem Vorgang meist ein alkoholischer Exzeß voraufgegangen, doch lag keinesfalls eine Bewußtlosigkeit vor; die Ausführung des analen Verkehrs setzt stets auch von der Seite der Passiven einen gewissen Grad von Bereitwilligkeit voraus. Aus- sichtsvoller jedenfalls wie physische sind psychische Zwangsmittel, als welche 'haupt- sächlich in Betracht kommen die Beugung und Ausschaltung des sexuellen Willens durch Hypnose, durch Wachsuggestionen, Drohungen und Betäubungen, vor allem durch die Alkohol- und Chlorofurmnarkose. 110 Vor einer lieihe von Jahren wurde ich in einem Fall zu Rate gezogen, in dein sich ein Arzt in der Hypnose an einer Patientin vergangen hatte, ein wiederholt in der Literatur berichtetes Vorkommnis. Die Patientin war eine verheiratete Frau, die an hochgradiger, reizbarer Nervenschwäche und hysterischen „Krämpfen" litt. Sie hatte, wie die Hysterischen so oft, zu ihrem Arzt ein „unbegrenztes"' Vertrauen, seine Stimme übe auf sie einen so beruhigenden Einfluß aus. allerdings ermüdete sie auch dabei, und zwar so, daß, wenn der Arzt lange mit ihr gesprochen hätte, ihr fast die Augen zu- fielen. Wegen verschiedener Neuralgien, Kardialgie und Schlaflosigkeit wurde von dem Arzt eine hypnotische Kur begonnen. Die Patientin war ein unübertreffliches Medium. Ein bloßes Senken der emporgehobenen Hand des Arztes bewirkte bei ihr schnellen Augen- lidschluß. In dem gerichtlichen Verfahren, welches auf Veranlassung des Ehegatten gegen den Arzt eingeleitet wurde, legte dieser ein volles Geständnis ab, indem er. die erteilten Siig'.'i-.-1ii>iien, denen die Frau völlig automatisch nachgab, wie folgt schilderte: er hätte ihr befohlen, sie solle ihre Blöcke heben, sich niederlegen, die Beine spreizen, sein Membrum hervorholen, es in ihre Vagina einführen, dann solle sie beim Koitus so- lange Mitbewegungen vollziehen, bis beiderseits Orgasmus eintrat, der bei ihr wie im Wachkoitus erfolgte. Die Frau wurde gravid. Der impotente Gatte, der schon längere Zeit gegen den Arzt Verdacht hegte, wandte sich an einen Detektiv, der das Paar über- führte. Der Arzt gab an, die Frau „aus therapeutischen Gründen" koitiert zu haben; sie hätte mit ihrem Manne sehr unglücklich gelebt, ihre Depression sei schließlich so hochgradig geworden, daß sie ihrem Leben ein Ende hätte bereiten wollen: durch den Geschlechtsverkehr mit ihm sei sie körperlich und seelisch genesen. Der Angeschuldigte wurde nach § 176, Ziffer 1 des KStrGB., der denjenigen bedroht, welcher eine „in einem willenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche oder geisteskranke Frauensperson zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht", mit 1 Jahr Zuchthaus bestraft. Können wir in solchen Fällen von Willensbeugung schon von Hypererotismus reden ? Ich möchte diese Frage verneinen. Im all- gemeinen handelt es sich hier mehr um eine hemmungslose Aus- nutzung sich darbietender Gelegenheiten, als um eine abnorm ge- steigerte Libido. Von dieser würde erst gesprochen werden können, wenn sich jemand gewohnheitsmäßig durch hypnotische Manipula- tionen gefügige Werkzeuge seiner Lust verschafft.- Hierzu bedarf es für gewisse Sexualtypen allerdings keiner künstlichen Einschläfe- rungsanethoden, es genügen methodische Wachsuggestionen, Wil- lenserschöpfungen durch Bitten und Betteln, oder allerlei Über- raschungskünste, Einschüchterungen, Vorspiegelungen, alles Mittel, die, mit genügender Geschicklichkeit angewandt, ihre Wirkung auf den größeren Teil des weiblichen Geschlechts selten verfehlen. Hier begegnen wir den Liebeskünstlern vom Typus Casanovas, deren Ge- danken- und Empfindungssphäre ausschließlich von sexuellen Vor- stellungen erfüllt ist, denen sie in atisschweif ender Weise nach- geben. Von Bedeutung für das Verständnis des Hypererotismus ist allerdings, daß viele Männer, um überhaupt zur Erektion zu ge- langen, einen Widerstand überwinden müssen. Der hauptsächlichste Reiz liegt für sie in der Beseitigung und Unterdrückung der Gegen- wehr, ohne welche sich, wie sie zu sagen pflegen, der Akt für sie kaum von der Verrichtung anderer intimer Bedürfnisse und Ent- leerungen unterschiede. Es ist das Verhängnis vieler Ehen, daß II. Kapitel: Hypererotismus 111 Frauen, die in stiller Bescheidenheit und Hingebung- ihren Männern jederzeit zur Verfügung- sind, gerade wegen dieser steten Bereit- schaft nicht Begehrt werden, weil der betreffende Mann sich eben nur in der Pose des sexuellen Siegers oder Helden gefällt. Um Gegenmotive zu besiegen, ist eins der gewöhnlichsten Mittel im Geschlechtsleben die Betäubung der Willenszentren, wofür in Europa in erster Linie der Alkohol in Betracht kommt, anderswo die landesüblichen Berauschungsinittel. Die Rauschmittel steigern nicht sowohl den Geschlechtstrieb selbst, sondern entfalten ihre folgenschwere Wirksamkeit auf die abwägende Überlegung, die Kritik, die das Narkotikum mehr oder weniger ausschaltet, so daß die wesentlichste Hemmung gegenüber sexuellen Antrieben in Weg- fall kommt. In meinen Schriften „Alkohol und Geschlechtsleben" und ,,Die Gurgel von Berlin" habe ich" mich über diesen verhängnisvollen Zusammenhang eingehend verbreitet. Ganz ähnlich schwächt auch die Erschöpfung die Widerstandsfähigkeit ab, beispielsweise die durch das Tanzen hervorgerufene Ermüdung, wobei aber auch noch die durch die Berührung der Körper angehäufte Vorlust und der erotische Einfluß der Musik das ihrige tun. Von sehr vielen unehelich geschwängerten Mädchen, auch von vielen der Prosti- tution Anheimgefallenen kann man immer wieder die gleiche Ätio- logie ihres Schicksals hören: ihr durch Alkohol und Musik um- nebelter Verstand habe nicht mehr die Kraft besessen, sich den immer heftiger werdenden Liebkosungen zu widersetzen. Differen- tialdiagnostisch ist oft die Entscheidung schwierig, ob für das Zu- standekommen eines Geschlechtsaktes mehr ein Übermaß der Libido oder ein allzu geringes Maß von Widerstandsfähigkeit verantwort- lich zu machen war. Eine gesteigerte Libido im sadistischen Sinne werden wir über- all da anzunehmen haben, wo die Neigung besteht, einem Weibe mit dem Akt körperliche Mißhandlungen oder Schmerzen beizubringen. Es führt hier eine ganz allmähliche Stufenleiter vom Bißkuß, Kneifen, Würgen, Kratzen, allzu starkem Anpressen bis zu direkten Körperverletzungen leichterer und schwererer Art, wie Stichen mit Nadeln und Lanzetten, Einschnitten mit Messern, Beibringung von Brand- und anderen Wunden, bis zum sogenannten Lustmord und sexueller Anthropophagie. In sehr vielen, ja man kann wohl sagen in den weitaus meisten Fällen bleibt es bei einem Vorstellungssadismus (sadisme imagi- naire). Bloße Phantasien von Grausamkeitsakten oder auch deren Anblick lösen hierbei sexuelle Empfindungen aus, die sich bis zu Erektionen und Ejakulationen steigern können. Ich habe eine An- zahl von Personen zu sehen Gelegenheit gehabt, die berichteten, daß in der Schule bereits die Erzählung der Passionsgeschichte Christi 112 II." Kapitel: Hypererotismus bei ihnen unwillkürliche Genitalerregungen und Pollutionen hervor- gerufen hätte, die sie sich nicht erklären konnten. Andere empfan- den Ähnliches beim Lesen der Heeresberichte oder bei Schilderung der Metzeleien, wie Krieg und Revolution sie so mannigfach mit sich bringen. Das Berauschen an diesen Schauergeschichten führt nur zu leicht zu Übertreibungen, wobei beispielsweise im Hand- umdrehen aus einem auf der Flucht getöteten Schutzmann sechzig an die Wand gestellte und grausam hingeschlachtete Schutzleute werden. Es finden sich dann auch stets Leute, die erregten Gruppen ausführlich den Vorfall in allen Einzelheiten ausmalen, den sie selbst mit eigenen Augen angesehen haben wollen. Ich habe solches in den Berliner Revolutionszeiten oft miterlebt, Als vor einiger Zeit im Osten Berlins große Spartakusunruhen stattfanden, bei denen in schweren Straßenkämpfen viele Hunderte meist unschuldiger Männer und Frauen ihr Leben ließen, suchte mich eine Witwe auf, deren einziger Sohn von einem Besuch bei mir -•• ich beobachtete ihn wegen einer seltsamen im Dämmerzustande begangenen Straftat — nicht heimgekehrt war. Ich begleitete die Frau nach dem Leichenschauhaus wo wir unter vielen Hunderten zum Teil zerrissenen und entsetzlich verstümmelten Leichen — auch solche mit durchschnittener Kehle befanden sich darunter — auch ihren durch Kopfschuß getöteten Sohn fanden. In der Schauhalle zog vor den noch nicht fest- gestellten Luten eine ununterbrochene Menschenreihe, meist aus Frauen bestehend, vor- über. Ein mir bekannter Wärter machte mich auf Mädchen aufmerksam, die sich seit mehreren Tagen immer wieder an das Ende der Reihe angestellt hätten, weil sie sich offenbar nicht von dem Anblick der völlig entblößt daliegenden Männer, meist Matrosen, Soldaten und Spartakisten, trennen konnten; ihr Auge sei meist starr auf die durch Hämorrhagien und die beginnende Verwesung erheblich vergrößerten Geschlechtsteile der Leute gerichtet gewesen. Für den Kenner unterlag es keinem Zweifel, daß hier in hohem Grade "sexuelle Motive mit im Spiele waren. Einen ähnlichen Gesichtsausdruck habe ich in Madrid und Sevilla bei den Frauen gesehen, wenn sie mit leidenschaftlicher Gier die Gefahren verfolgten, denen sich die Stierkämpfer aussetzten. Als ich vor vielen Jahren der Hinrichtung eines Raubmörders beiwohnte, stand neben mir die Gattin des Staats- anwalts, die der überaus entsetzlichen Exekution — der Delinquent schrie und wehrte! sich gegen die ihn aufs Schaffet schleppenden Henkersknechte mit Händen und Füßen — ■ mit jagendem Atem und stöhnenden Lauten folgte, die einen geradezu brünstigen Eindruck machten. Als das Fallbeil den Kopf abschlug, benahm sie sich wie eine Frau im Orgasmus. Üb hier sadistische oder masochistische Empfindungen vorherr- schen, mehr Lust an der Ausübung oder Erduldung der Grausam- keiten, Sympathie mit dem Henker oder Gehenkten, Schadenfreude oder Mitleid, oder beides vereint, läßt sich ohne genauere Analy- sierung der lustheischenden Frauen nicht beurteilen. Die sadisti- schen Phantasien tragen gewöhnlich den Charakter von Zwangsvor- stellungen, die sich von vielen anderen Zwangsvorstellungen aller- dings insofern wesentlich unterscheiden, als sie deutlicher von ero- tischen Empfindungen begleitet sind; gemeinsam mit ihnen haben sie dagegen, daß sie nur ganz ausnahmsweise in Handlungen über- gehen, wovor sich die Patienten oft ganz besonders fürchten. „Könnte es nicht vorkommen, daß sich unsere Gedanken eines Tages in die Wirklichkeit umsetzen, und wir dann Taten begehen, die uns und andere in Gefahr bringen?" — das ist eine oft von Vorstcl- II. Kapitel: Hypererotismus jjg lüngssadisten aufgeworfene Frage, die für die weitaus größere Mehrzahl der Fälle glücklicherweise verneint werden kann. Von der Idee bis zu ihrer Ausführung ist noch ein sehr weiter Weg, der selten zu Ende gegangen wird, nicht allein wegen in Wirk- samkeit tretender Gegenvorstellungen, sondern weil für den Hyper- erotiker eine ganze Reihe von Vor- und Zwischenstufen in Betracl.1 kommen, die bereits eine gewisse Befriedigung gewähren. Um den sexuellen Wach träum zu verstärken, bedient sich der Hypererotiker vor allem dreier Mittel: der Rede, der Schrift und des Bildes. Der so ungemein verbreitete Drang, •sich in mehr oder weniger versteckter Form von Liebesgeschichten und geschlechtlichen Vorgängen zu unterhalten;, steigert sich bei manchen Personen zu einer wahren Sucht, unanständige Worte zu gebrauchen und unflätige Zoten zu erzählen. Es gibt Leute, und zwar sind es meist solche, die, abgesehen vom Erotischen, sehr zu- rückhaltend und feinfühlend sind, für welche das Aussprechen ge- meiner Ausdrücke eine Vorbedingung sexueller Erregung ist. Ich •wurde einmal von einer Frau konsultiert, die in geschlechtlicher Ekstase ihren Gatten, einen sehr dezenten und seriösen Gelehrten, bestürmte, ihr obszönste Worte zuzurufen. Vielfach besteht bei -dem Sprecher dieser sexuelle Wortrausch noch stärker als bei dem Hörer. Ich hatte einige Fälle zu begutachten, in denen Männer wegen Beleidigung angeklagt waren, weil sie Frauen auf der Straße die verpöntesten Bezeichnungen für die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile und den Geschlechtsakt zugerufen hatten. Die ein gehende Untersuchung ergab, daß es sich hier meist um exhiB.i- tionistische Äquivalente handelte. In einer größeren Stadt Ostdeutschlands fanden sich in den Schultaschen der Schülerinnen der I. Klasse einer höheren; Lehranstalt Jahre hindurch kleine weiße Zettel, auf denen ganz obszöne Worte und Sätze wie „f.... ist das schönste auf der Weif geschrieben waren. Alle Bemühungen, den Täter dieses groben Unfugs zu ermitteln, er- wiesen sich als vergeblich. Da stellte sich eines Tages heraus, daß der Klassenlehrer, welcher sich am meisten an den Nachforschungen beteiligt halte und über diese Vorgänge ata empörtesten schien, selbst der Schuldige war. Die Untersuchung seines Geistes- zustandes ergab einen erblich stark belasteten schweren Neuropathen, der an vielen Zwangsvorstellungen und Zwangstrieben litt, unter denen siel! auch der befand, Mädchen durch diese Laszivitäten zu erschrecken. Trotzdem mehrere Sachverständige überein- stimmend einen krankhaften Zustand bekundeten, der. wenn auch keinen Ausschluß, so doch starke Verminderung der freien Willensbestimmung bedingte, wurde der im Fach sonst sehr tüchtige Lehrer nicht nur seines Amtes ohne Pension entsetzt, sondern erhielt außerdem eine recht erhebliche Freiheitsstrafe. Über einen ähnlichen Fall unterrichtet folgendes Schreiben, das mir ein Justizrat in M. sandte: „In einer Strafsache, in der am 8. Februar in E. Termin ansteht, bitte ich ergebenst um Ihre Ansicht. Der Angeklagte, ein verheirateter Mann von 35 Jahren, hat im vorigen Herbst an ein dreizehnjähriges Mädchen einen Brief geschrieben, in dem er diese auf- fordert, „es mit ihm französisch zu machen". Der Brief lautet etwa folgendermaßen: Hirschfeld, Sexualpathologie. III. g 114 Mein liebes Diekehen! Du kommst nun bald aus der Schule, und dai kann man Dir schon 'etwas lernen. Hast Du schon einmal von geschlechtlichem Verkehr gehört, speziell lern französischen. Dieser Verkehr ist für das Mädchen ganz ungefährlich. Der Mann leckt am Geschlechtsteil des Mädchens, bis der höchste Akt, die Wollust, kommt. Für das Mädchen ist das ein himmlisches Gefühl. Also wenn Du einverstanden bist, so komme morgen Nachmittag 4 Uhr an die verlängerte .... straße, Ecke . . allee. Wenn Du nicht allein kommen willst, so bringe eine Freundin mit, die muß aber verschwiegen sein'- Diesen Brief hat der Angeklagte durch seine eigene zehnjährige Tochter dem dreizehnjährigen Mädchen in der Schule übergeben lassen. Er ist deshalb wegen ver- suchter Verleitung eines Kindes zur Duldung unzüchtiger Handlungen unter Anklage ge- stellt J«^^ Frage prklärte fer mir> er könne keine Erklärung dafür geben, wie er zu dem Brief gekommen sei. .' , .... , In dem Ermittelungsverfahren hat eine Frau bekundet, sie habe öfters gesehen, wie der An-eklaote in seinem Garten in der Laube die Hose aufgeknöpft und ata Geschlechts- teil herumhantiert habe, so daß sie es habe sehen müssen. Das habe er öfters getan, wenn sie von ihrem Fenster aus nach dem Garten gesehen habe. Der Angeklagte erklärt, er habe einen sehr starken Geschlechtstrieb. Wenn er als Reisender in Hotels gekommen sei, so habe er öfters beim Eintritt des Zimmermädchens diesem ohne weiteres seinen Geschlechtsteil gezeigt. Ich wäre Ihnen für eine baldige kurze Auskunft sehr dankbar, ob nach Ihrer An- sicht hier eine abnorme Veranlagung, die strafmildernd in Betracht kommt, vorliegt, und in welchen Werken ich etwas darüber rinden kann." In einem weiteren Fall, den ich zu begutachten hatte, waren von einem Mann aus besten Ständen an vornehme Damen Zettel verteilt worden, auf denen geschrieben stand: „Empfehle mich Frauen, deren Mann krank ist oder verreist, sowie ledigen Damen — garantiert ohne Folgen." Diese Beispiele führen uns zu jener schriftlichen Aus- drucksform sexueller Hyperästhesie, die Bloch als Erotographo- manie, Merzbach als Pornograph ömanie bezeichnet. Bloch erblickt in dieser Neigung nur eine besondere Abart der Onanie, wahrend die Fälle, die ich von dieser Störung beobachten konnte, mir durch- weg einen hypererotischen Eindruck von meist exhibitionistischer Färbu'ng machten. Diese Anomalie zu kennen, ist darum von Wich- tigkeit, weil Unwissende in solchen schriftlichen Dokumenten nicht selten Beweisstücke erster Ordnung sehen; die aus gesteigerter Ero- tik hervorgegangenen Aufzeichnungen sind ihren Schreibern hauüg genug zum Verhängnis geworden, indem man ihre Beteuerungen, der Inhalt ihrer Briefe und Tagebücher beruhe auf freier Erfindung, für unglaubhaft hielt. Einer der von mir beobachteten hierher- o-ehörio-en Fälle betraf einen Bildhauer von hohen künstlerischen Qualitäten, der sich unmittelbar, nachdem er auf Grund derartiger Selbstbekenntnisse verurteilt war, das Leben nahm. Die R^Mer waren nicht davon zu überzeugen, daß es sich bei seinen schritt- lichen „Geständnissen" in Wirklichkeit nur um sexuelle Phantasie- Gebilde handelte. Die Briefe, welche zur Anklage führten, waren von der Wirtin, bei der der Künstler wohnte, in seiner Bocktasche gefunden, gelesen und der Polizei übergeben worden. Der Schreiber schilderte ausführlich strafbare Handlungen, die er mit Kadetten II. Kapitel: Hypererotismus ^15 vorgenommen haben wollte; „erinnerst Du dich noch, lieher Kurt," hieß es beispielsweise, „wie Du in meinem Bette lagst, und ich meinen Arm um Deinen süßen Körper schlang". Er fuhr dann fort, alle möglichen Geschlechtsakte in Einzelheiten zu schildern, Die Briefe erreichten ihre Adressaten niemals, auch bekundeten die als Zeugen geladenen Kadetten, diaß der Angeklagte nur leichte Lieb- kosungen an ihnen ausgeübt habe; auf Antrag des Staatsanwaltes wurde aber ihre Vereidigung wegen Verdacht der Mitschuld abge- lehnt. Orte, an denen sich die erotische Schreib- und Zeiehenwut ganz besonders stark breit macht, sind die Bedürfnisanstalten. Die Ge- wohnheit, an diesen einsamen Stätten seiner geheimsten politischen und sexuellen Gesinnung Ausdruck zu verleihen, ist uralt. Es gibt kein Land in der Welt, in dem man nicht diesen primitiven Erzeug- nissen begegnete, die (ganz abgesehen von ihrem künstlerischen Wert oder — was das häufigere ist - - Unwert) tiefe Einblicke in sonst verhüllte seelische Regungen gestatten und daher für den unbe- fangenen Forscher ein nicht zu unterschätzendes Material dar- stellen. Uns interessiert hier vor allem, daß es Personen gibt, bei denen dieser Drang, Wände mit phallischen und andern sexuellen Symbolen zu versehen, mit einer fast unbezähmbaren Heftigkeit auftritt. Manche geben sich dieser Sucht auch im stillen Kämmer- lein hm. Vor einigen Jahren erlitt ein Gelehrter einen Schlaganfall an seinem Schreibtisch, während er mit bunten Farben Beischlafs- akte zeichnete, von denen man Tausende selbstverfertigter Abbil- dungen in seinen Schubfächern fand. Der Mann, der als Muster keuscher Zurückhaltung galt, so daß niemand in seiner Nähe sexuelle Fragen zu berühren wagte, hatte auf einen Zettel, der auf einer seiner Zeichenmappen lag, geschrieben, daß er sich während seines ganzen Lebens nie einer anderen Geschlechtsbetätigung als der Selbstbefriedigung, dieser aber in exzessiver Weise hingegeben hatte; wenn er allein gewesen sei, hätte stets eine seiner Hände mit seinen Genitalien gespielt. Es ist noch zu erwähnen, daß hypererotische Zustände zn ihrer Auswirkung keineswegs die Anwesenheit einer zweiten Person zur Voraussetzung haben, sondern daß es sich mindestens ebenso häufig um s 0 1 1 1 ä r e A u s s c h w e i f u n g e n handelt. Ich habe im Kapitel Jpsation bereits kurz darauf hingewiesen; bei beiden Geschlechtern kommen hier gelegentlich Fälle vor, die jede Vorstellung des Mög- lichen weit übertreffen. Einen der ungeheuerlichsten Fälle dieser Art finden wir bei Hammond erwähnt: Ein Schäfer begann im 15. Lebens- jahr zu onanieren, und zwar durchschnittlich 15mal am Tage. Oft kam es dabei vor, daß infolge der exzessiven Beizungen statt des Spermas sich schließlich Blut entleerte. Bis zu seinem 26. Lebens- jahr bediente er sich bei der Onanie nur der Hände. Dann gelangte 8* 116 II. Kapitel: Hypererötismus er dazu, sich Holzstäbchen in die Harnröhre einzuführen. Er tat dies sehr oft und zwar 16 Jahre lang, bis die Harnröhre ganz schwie- lig und gefühllos geworden war. Gegen den normalen Geschlechts- verkehr hatte Patient eine unüberwindliche Abneigung. Er war sehr niedergeschlagen, vernachlässigte jede Arbeit und beschäftigte sich fast ausschließlich damit, wie er seinen Geschlechtsdrang befrie- digen könne. Eines Tages begann er damit, mit einem kleinen Messer einen kleinen Einschnitt in die Eichel zu machen. Diese Operation rief eine wollüstige Erregung mit Samenerguß hervor. Von nun ab wiederholte er regelmäßig diese Einschnitte und zwar mit gleichem Erfolg Nachdem der Patient diese Selbstverstümmelung an die lOOOmal ausgeführt hatte, zeigte sich sein Penis von der Spitz© bis zur Wurzel in zwei gleiche Teile geteilt. Blutungen stillte er da- durch daß er das Glied durch ein Band fest unischnürte. Nach völ- liger Durchtrennung des Penis verschaffte er sich weitere geschlecht- liche Erregungen und Samenergüsse dadurch, daß er die Aus- stoßungsgänge der Ductus ejaculatori mit Holzstäbchen rieb Nach- dem er diese Manipulation wieder etwa 10 Jahre ausgeführt hatte, passierte es ihm, daß ihm ein Holzstäbchen in die Harnblase ent- glitt Der große Schmerz, der sich darauf einstellte, veranlagte ihn endlich, einen Arzt aufzusuchen, der die Laparotomie ausführte und- das Holzstäbchen entfernte, welches seit 3 Monaten m der Blase lag. Drei Monate später starb der Patient. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß es sich hier, wie bei vielen anderen exzessiven Ipsations- fällen um Symptome einer schweren psychopathischen Veränderung und zwar meist um Zwangszustände hochgradig debiler Hysteriker handelt. , . . , n Es gibt nun aber auch viele Hypererotiker unter beiden Ge- schlechtern, die weniger Neigung haben, das Obszöne selbst m Bede, Schrift oder Bild von sich zu geben, als es auf sich wirken zu lassen, mit anderen Worten, die ein Bedürfnis haben, Pornographisches zu hören zu lesen, zu sehen oder zu sammeln. Zielstrebig fahnden sie nach diesen Dingen und finden sie; es ist ein Fehlschluß, und zwar ein oft gezogener, daß von der Lektüre oder dem Bilde an und für sich eine modifizierende Wirkung ausgeht; allen diesen Erzeug- nissen kommt, gleichviel ob sie aktiv produziert oder passiv kon- sumiert werden, nie eine primäre, sondern immer nur eine sekun- däre Bedeutung zu. Ich kannte Erotobibliophilen, die nahezu ihr ganzes Vermögen in erotischer Literatur anlegten, andeie, die nicht vor Diebstählen zurückschreckten, um sich in den Besitz geschlecht- lich erregender Bücher und Bilder zu setzen. Der erotische Sammeltrieb ist innerlich dem sexuellen Schautrieb nahe verwandt. Auch hier gibt es, wie bei den letzt- erwähnten und fast allen sexuellen Anomalien, ein Gegenstuck aktiver Richtung, den Zeigetrieb. Dieser darf aber nicht ohne 117 weiteres dem Exhibitionismus gleichgesetzt werden, der nur eine ganz bestimmte, und zwar besonders zwangsmäßige und patholo- gische Abart des Zeigetriebes ist, der viel gewöhnlicher und um- fangreicher ist. Dem Trieb, sich zur Schau zu stellen, entspricht der Schautrieb, der in zahllose» Varianten auftritt; Haben jene Personen den Wunsch, gesehen zu werden, so legt der echte Voyeur („Spanner") gerade Wert darauf; daß man ihn beim Betrachten dis kreter Vorgänge nicht sieht, ja er wünscht vielfach, daß der Be- obachtete überhaupt nicht merkt und ahnt, daß stille Zeugen bei . seinen geheimsten Verrichtungen zugegen sind. Auch der Visionismus hat, wie jede sexuelle Anomalie, einen physiologischen Ausgangspunkt. Fast jeder Mensch ist un- willkürlich und unbewußt Fe ti Sc h v o y e u r , indem er, sobald die Gelegenheit dazu gegeben ist, beispielsweise auf der Straße, anaus gesetzt Jagd macht auf Eigenschaften und Dinge, die Lustgefühle in ihm zu erwecken geeignet sind; namentlich geschieht dies, wenn er allein ist. Eine Steigerung dieser physiologischen Visionisten sind die pathologischen. Sie sind allerdings nicht nur gekenn- zeichnet durch die Intensität ihrer Schaulust, sondern durch das dem Voyeur eigentümliche Vorgehen und das Beherrschende ihres Triebes. Ein Mann meiner Praxis ließ zehn halbwüchsige« Mädchen in i t aufgerafften Böcken so lange vor sich auf und abgehen, bis bei ihm Samenerguß eintrat. Es gibt zwei Hauptgruppen unten den Voyenren. von denen die eine nur zur Er- regung und Befriedigung: gelang!, wenn sie- sieh völlig im Verborgenen half, während die andere, zu denen vor allem die Triolisten gehören, den Dran- haben, sich selbst mit zur Schau zu stellen. Hier tritt der Schau- und Zeigetrieb verbunden auf. Zwischen beiden Gruppen stehen als Übergang Personen, die weder unsichtbare Zuschauer noch aktiv Mitbeteiligte sind, sondern den hauptsächlichsten Lustgewinn aus dem Anblick obszöner und lasziver Szenen ziehen, denen sie als Beobachter beiwohnen. Hierzu ge- hören die Besucher der Tableaux vivants und ähnlicher Veranstaltungen, wie sie nicht etwa nur in Neapel und Paris, wohin sexuelle Reiseberichte sie mit Vorliebe verlegen, sondern in fast allen Großstädten vorhanden sind. So existierte in Berlin vor dem Kriege ein hauptsächlich aus Artisten und Zuhältern bestehender Klub Roland, der auf der Bühne nicht mehr zu überbietende Nuditäten vorführte. Schon stundenlang vor Be- ginn der Vorstellung fanden sich die Habitues dieser Darbietungen ein, um sich die ersten Sitzreihen zu sichern, von denen sie in hochgradigster erotischer Spannung die teils in natura, teils mit künstlichen Genitalien vollzogenen Sexualakte verfolgten. Ein anderer hierher gehöriger Fall aus letzter Zeit erregte besonderes Aufsehen, weil es sich um ein jung verheiratetes Ehepaar, einen Offizier mit seiner Gallin, handelte, die sich in ihrer Wohnung vor einem zahlreichen Publikum, Damen und Herren, in allen ihren Liebesakten zur Schau stellten. Es scheint, als ob nicht ausschließlich materielle, sondern auch sexuelle Gewinnsucht diesem Vorgehen zugrunde lag, sei es im Sinne eines sadistisch gefärbten Hypererotismus, um das geschlechtshörige Weib bloßzustellen, sei es in dem unbewußt metatropischen Empfinden eigener Demütigung. Die echten Voyeure bohren mit Vorliebe Löcher in die Wände und Türen von Aborten, Gastzimmern, Nebenräumen von Schlaf- zimmern, durch die sie heimlich Liebespaare belauschen und alle 118 II. Kapitel: Hypererotis'mus Vorgänge belauern, die dem Geschlechtsgenuß im weitesten Sinn ge- widmet sind, auch andere intime Handlungen, wie Entkleidungs- szenen, Harnentleerungen und Defäkationen in Augenschein nehmen, ohne daß die Beobachteten eine Ahnung haben, wie jede ihrer Regungen und Bewegungen verfolgt wird. Würden die Belauerten etwas bemerken, wäre der Reiz für den Beschauer verschwunden. Wir besitzen einen hochkünstlerischen Roman von Barbusse „Die Hölle", in dem das Voyeurtum in überaus plastischer Weise ge- schildert wird. Von den vielen hierhergehörigen Fällen, die ich in meiner Praxis kennen zu lernen Gelegenheit hatte, seien einige her-, vorgehoben: Ein Arzt, sehr beschäftigter Spezialist für Geschlechts- krankheiten, konsultierte mich, weil er den unwiderstehlichen Drang verspürte, öffentliche Klosetts aufzusuchen, um durch feine Löcher, die fast stets schon von anderen Voy euren gebohrt waren, zuzusehen, was in dem benachbarten Abort vorging; besonders erregte es ihn, wenn die nichtsahnenden Insassen sich in onanistischer Weise an ihren Genitalien zu schaffen machten, was übrigens nach überein- stimmenden Mitteilungen von Voyeuren in öffentlichen Aborten sehr häufig vorkommen soll. Das Merkwürdigste an dem Fall ist, dal.! diesem Mann, der beruflich jeden Tag so viele Membra zu sehen Gelegenheit hatte, nur der außer beruf liehe Phallus- anblick erregte. In einem anderen Fall warf ein Patient un- gebrauchte Präservativs über die Zwischenwand in ein Nachbar- klosett und lag nun auf der Lauer, um zu sehen, was der Finder mit dem Gegenstand begann; am meisten regte es ihn auf, wenn die Person das Präservativ über ihr eigenes Glied streifte. Ein anderer Fall, mit dem ich forensisch zu tun hatte, spielte sich folgender- maßen ab: in einigen der vornehmsten Berliner Hotels erhielten während geraumer Zeit junge Ehepaare mit Schreibmaschine ge- schriebene Briefe, in denen mit allen Einzelheiten Vorgänge höchst delikater Natur geschildert waren, die sich zwischen den Gatten einige Abende vorher abgespielt hatten. Mehrere der sehr empörten Adressaten wandten sich an die Hoteldirektoren, welche die Polizei verständigten. Trotz größter Mühe gelang es dieser nicht, den Täter zu ermitteln, bis eines Nachts ein Gast, als er unerwaret im Nacht - gewand sein Zimmer verließ, zwischen den Doppeltüren einen kleinen Mann mit schwarzer Larve und schwarzem Trikot eingeklemmt vor- fand, *den er mit festem Griff packte. Der Mann wurde verhaftet und durchsucht, wobei man in seinen Taschen Bohrinstrumente fand, die sofort den Verdacht erweckten, daß man den heimlichen Brief- schreiber erwischt hätte. Die Annahme bestätigte sich. In dem anschließenden Gerichtsverfahren wegen Beleidigung gab der erb- lich sehr belastete, etwa 40 Jahre alte Mann an, daß er sich immer nur durch den Anblick sexueller Akte, niemals durch eigene Ausübung solcher befriedigt habe. 119 In fast allen Großstädten finden sich Lieblingsplätze für Voyeure, beispielsweise unter Brückenbogen an Kanälen und Flüssen oder Parks, an denen sich allmählich zwischen ihnen und der niederen Prostitution eigenartige Verbindungen herstellen; sie holen ihnen sogenannte Freier heran, Soldaten, Matrosen, Arbeiter, Schüler, denen sie das Angebot machen, sie wollen für sie einen Koitus bei einem hübschen Mädchen be- zahlen, wenn man ihnen dafür gestatte, zuzusehen. Es scheint, als ob dieses Anerbieten viel häufiger angenommen als zurückgewiesen wird. Gefürchteter sind die Voyeure, die sich an Liebespaare in Parks heranschleichen, um sie zu überraschen und zu erschrecken. Nicht selten bedienen sie sich dabei plötzlich aufflammender Taschenlaternen. Der Anblick des sich bewegenden Gesäßes, des hinein- und herausgehenden Membrums, das Behorchen des ächzenden Mannes und der stöhnenden Frau, alles dies versetzt viele Voyeure („Spannemänner", wie sie sich in Berlin selber nennen) in hypererotische Ekstase. Es ist naheliegend, daß Lustgefühl an der Lust anderer, der Drang, sexuellen Akt#n leichteren oder stärkeren Grades beizu- wohnen, Veranlassung gibt, solche zielstrebig herbeizuführen, womit die Neigung zu jenen erotischen Vereinbarungen gegeben ist, die man gemeiniglich als Kuppelei bezeichnet. Wenn wir von der in der Rechtspflege e i n z ig dastehenden Merkwürdigkeit ab- sehen, daß hier die Beihilfe zu einer an und für sich straffreien Handlung unter Strafe gestellt wird, so ist vom sexual Wissen- schaft Ii eben Standpunkt aus zu betonen, daß, vorausgesetzt, daß keine pekuniäre Ausbeutung des Geschlechtsverkehrs dritter, und auch keine gesundheitliche Schädigung stattfindet, nichts an- geführt werden könne, was eine Erleichterung und Förderung ge- schlechtlicher Beziehungen als Crimen im landläufigen Sinne einer Benachteiligung erscheinen läßt. In vielen Fällen ließe sich eher das Gegenteil behaupten. Uns interessiert hier vor allem, daß die gewohnheitsmäßige Kuppelei vielfach als eine triebhafte Nei- gung- von pathologischer Färbung auftritt. Namentlich kommt dies bei weiblichen Personen vor. So schrieb mir eine Dame, die sich zwecks Eheberatung an mich wandte: „Ich streichle sehr gern Menschen, die mir sympathisch sind, und kann sie ohne Widerwillen- küssen und liebkosen — doch sobald sie mehr von mir begehren, steigt ein mir selbst ganz unerklärliches Gefühl des Entsetzens und Widerwillens in mir auf, und ich bin ganz fassungslos, daß meine Liebkosungen gemein aufgefaßt worden sind, so, als ob ich für mich Geschlechtslust gesucht hätte. Ist das Hyperästhesie? Dann müßte mir doch aber zwischen andern Menschen geschlechtlicher Verkehr unsauber und entsetzlich vorkommen. Das ist absolut nicht der Fall, im Gegenteil freue ich mich w i >> ein König, wenn ich zwei Menschen, die sich lieb haben, zu- sammengebracht habe, oder ihnen Gelegenheit geben kann, sich ungestört zu sehen (ein Bekannter von mir bezeichnet das als „K u p p e 1 1 r i e b"). Es ist gewissermaßen eine seelische Wollust für mich, zu wissen: Du hast zwei Menschen ein paar Stunden ungestörten Glückes verschafft. Ofl richte ich in meiner Phantasie wundervolle, phantastische Gemächer ein für Liebes- paare, die darin träumen und genießen sollen — aber der Gedanke, mich selbst mit einem Manne darin zu denken, käme mir verrückt vor. Kann es wohl sein, daß man einr glühende Seele und einen eiskalten Körper hat?" Ein noch viel markanteres Beispiel von Kuppelsucht bietet der folgende Fall: Vor längerer Zeit konsultierte mich eine Dame aus einer rheinischen Großstadt. Sie sei seit Jahren verheiratet. Bald nach der Eheschließung sei der Mann mit folgendem 120 II. Kapitel: Hypererotismus Ansinnen an sie herangetreten, dem sie auf sein heftiges Bitten und Betteln nach langem Sträuben nachgegeben hätte: Ihr Mann lade einen seiner auswärtigen Geschäftsfreunde zum Abendessen ein. Sie müsse diesen in leichtem, verführerischen Gewände empfangen und ihren Mann entschuldigen, er sei durch ein dringendes Telegramm nach außerhalb ab- berufen. — Nach reichlichem Mahl, bei dem auf guten, alten Moselwein besonderer Nach- druck gelegt würde, spiele sie dem Gast etwas auf dem Klavier vor und mache ihm dann „Avancen". Alles dies schrieb ihr der GemaM im einzelnen vor, der in Wirklichkeit nicht verreist, sondern aus einem dunklen Nebenzimmer durch eine in der Türritze ge- schickt angebrachte Spalte die ganze Szene genau verfolgte. Die Hauptsache sei, daß der Fremde nicht die geringste Ahnung davon haben dürfe. Allmählich würden beide Teile zärtlich, und schließlich käme es auf einem vor dem geheimen Beobachter stehenden Divan zum Koitus. Unmittelbar müsse dann die anscheinend beunruhigte Frau den Gast bitten, jetzt aber sofort zu gehen, es sei spät geworden, und möglicher- weise könne ihr Mann doch noch heimkommen. Kaum ist die Haustür1 hinter dem Ge- schäftsfreund ins Schloß gefallen, so stürzt der Mann äussern Versteck hervor, umi nun selbst in leidenschaftlicher Zärtlichkeit mit seiner Frau den Verkehr zu vollziehen. _ Aus dieser Ehe ist ein 15j ähriger Sohn hervorgegangen. Lasse sie sich auf das von ihrem Manne geforderte Verfahren ein, erzählt die Dame, so sei ihr Gatte — ein wohlhabender Geschäftsmann — „der beste Mann von der Welt", täte sie es nicht, hätte sie „die Hölle auf Erden". Die Frau, die seelisch sehr leidet, wollte von mir wissen, ob das Vorgehen ihres Mannes, hinter dessen Rücken sie zu mir käme, auf Krankheit beruhe, und ob es wahr sei, daß, wenn es zur Scheidung käme, die allerdings für sie als fromme Katholikin kaum möglich sei, sie als Ehebrecherin für den schuldigen Teil erklärt werden könne, was ihr Mann ihr gedroht hätte. Die erstere Frage mußte -bejaht, die zweite verneint werden. Alle bereits angeführten Sexualexzesse unterscheiden sich von der Gruppe, der wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, dadurch, daß während bei den bisherigen der sexuelle Widerstand im wesentlichen psychisch überwunden wurde, dies bei den nun- mehr zu erörternden durch physisch-brachiale Willensbeugung ge- schieht. Wir wiesen bereits darauf hin, daß im Tierreich ein der- artiges Vorgehen als -Kegel sehr weit verbreitet ist, und vieles spricht dafür, — wir erinnern nur an die ursprüngliche Form der Raub- ehe — , daß auch im menschlichen Liebesleben die Besitzergreifung des Weibes durch den Mann anfänglich das körperliche Übergewicht den Ausschlag gab. Auch jetzt noch kann die Überwindung eines gewissen, wenngleich oft nur scheinbaren Widerstandes des Weibes als naturgemäßer Zustand erachtet werden; ich habe in meiner Praxis viele Männer gesehen, deren Potenz um so schwächer wurde, je mehr man ihnen entgegenkam, und die ihren Ehefrauen gegenüber aus diesem Grunde fast völlig versagten. Je mehr sich dagegen eine Frau sträubte, um so mehr steigerte sich ihre Aggression und Potenz. Bei manchen traten dann Anfälle von Liebesraserei auf, die leidenschaftlichen Wut-, Gier- und Zornausbrüchen um so ähnlicher sind, als es sich hier wie dort um die stärksten motorischen Ent- ladungen eines Affekttaumels handelt. Ich hatte vor kurzem in einem Fall ein Gutachten abzugeben, in dem ein Soldat in einem geschlechtlichen Erregungszustand einer Frau mit seinem Seiten- gewehr sehr schwere Hiebe versetzte, so daß er selbst glaubte, sie ge- II. Kapitel: Hypererotismus 121 tötet zu haben; die Frau kam schließlich mit dem Leben davon. Mit diesem Fall, der anfänglich als Lustmord aufgefaßt wurde, hatte es folgende Bewandtnis: Der Angeklagte hatte nach zweijährigem Auf- enthalt an der Front Heimatsurlaub erhalten. Er hatte zweiund- einenhalben Tag auf der Bahn gelegen, seit 24 Stunden kaum noch etwas gegessen, als er Berlin erreichte, um sich hier bis zum mich sten Morgen auszuruhen und dann nach seinem noch einige Stunden entfernten Heimatsort zu fahren. In der Nähe des Bahnhofs geriel der nicht nur hinsichtlich seiner Ernährung, sondern auch sexuell gänzlich ausgehungerte Mann in eine Animierkneipe, in der ihm die weibliche Bedienung fast seine ganze Barschaft für mehrere Flaschen schlechten Wein abnahm. Die Wirtin, die ihm am meisten gefiel, spielte ihm an den Genitalien. Als er dann aber mit ihr, in ein anderes Zimmer gehend, den Beischlaf ausüben wollte, weigerte sie sich, wie dies in derartigen „Nepp"lokalen häufig ist. Da schlug er ihr blindlings mit seiner Waffe über den Schädel; offenbar hatte sein total erschöpfter, noch dazu von Alkohol ge- lähmter Verstand nicht mehr die Kraft, den durch die gescblc-ht liehen Erregungen nach zweijähriger Abstinenz aufgestachelten Drang einfach niederzudrücken; so kam er zu der nicht bloß impulsiven, sondern explosiven 'Fat, die ihm trotz aller von uns Sachverständigen vorgebrachten Argumente eine schwere Freiheitsstrafe zutimg. Dieser Fall ging wie viele ähnliche namentlich an Prostituierter] vorgenommene Tofsehlagsfälle unter der Bezeichnung Lustmord durch die Presse, auch das Gericht sah ihn zunächst als solchen an; die meisten Fälle von Lustmord stellen sich bei näherer Betrachtung und Nachforschung als auf anderen als sexuellen Lust motiven beruhend heraus. Nicht selten handelt es sich um un- beabsichtigte Tötungen; so versicherten die Knabenmörder Heider und Ritter, die ich zu beobachten Gelegenheit hatte, daß sie keineswegs, als sie sich mit ihren Opfern einließen, geplant hätten, sie ums Leben zu bringen. Während sie sich au ihnen vergingen, hätten die Knaben sich heftig gesträubt und geschrien. Dadurch hätten sich zu der geschlechtlichen Erregung Zorn- und Angstaffekte gesellt, die ihnen die Überlegung genommen und sie fast reflek- torisch bewogen hätten, die Gefahr der Entdeckung abzuwenden und dem Geschlechtsdrang eine mit Gewalt herbeigeführte Ent- ladung zu verschaffen; dabei hätten sie ihnen den Hals so fest gewürgt, daß der Erstickungstod eintrat. Auch die Zerstückelung der Leiche, wie sie in diesen und vielen ähnlichen Fällen vorge- nommen wurde, wäre nicht zum Zwecke geschlechtlicher Lust er- folgt, sondern hätte lediglich dazu gedient, den toten Körper leich- ter beiseite zu schaffen und die Spur zu verdecken. Diese Angaben, wie sie fast gleichlautend auch der mir ebenfalls persönlich be- 122 II. Kapitel: Hypererotismus kannte Mörder der kleinen Lneie Berlin machte, klingen keinesfalls unglaubwürdig und dürften sicherlich oft den Tatsachen entsprechen. In einem anderen Fall war ein Mädchen, dessen Identität nicht festgestellt werden konnte, - -.es meldete sich niemand, der sie Ver- mißte — , in der Kajüte eines Flußdampfers von Schiffern, die mit ihr den Geschlechtsakt vollzogen hatten, getötet worden. Sie hatten darauf den Körper der Toten in einen Sack gebunden und in die Spree geworfen. Auch hier wurde Lustmord angenommen. Die Ver- handlung, der ich als Gutachter beiwohnte, ergab aber, daß es sich auch hier um einen unvorhergesehenen Unglücksfall handelte; das Mädchen war herzleidend und war anscheinend durch die nachein- ander erfolgten Kohabitionen so stark mitgenommen, daß sie von einer Herzlähmung betroffen wurde, als ihr ein sehr brutaler und robuster Schiffer, dem sie nicht ohne weiteres zu Willen war, den Mund zudrückte. Derartige Todesfälle im sexuelle n A f f e k t gehören keineswegs zu den Seltenheiten, namentlich beim männlichen Geschlecht. Dr. Lipa Bey in Kairo hat eine große Reihe hierhergehöriger Fälle zusammengestellt. Ein Fall, der viel Aufsehen machte und in seinem Verlauf typisch war, trug sich vor einigen Jahren in einer großen deutschen Hafenstadt zu und betraf den König eines nordischen Staates. Wie mir der Kollege, welcher den unbekannten Toten zuerst sah, berichtete, hat sich dieser Fall wie folgt "abgespielt: Der alte König hatte ohne Begleitung sein Hotel verlassen, vorgeblich, um vor dem Schlafengehen noch etwas frische Luft zu schöpfen. In Wirklichkeit begab er sich in ein Bordell, um dem seit alters verbundenen Götterpaar Bacchus und Venus zu huldigen. Mitten im Kosen bemerkten die Freudenmädchen, daß der schweigsame Greis völlig verstummt war. Eine Herzlähmung hatte sein Leben beendet. Damit es nicbt hieße, er sei im Bordell gestorben, trugen sie den Unbekannten, der keine Ausweis- papiere bei sich trug, auf die Straße, setzten ihn auf eine Bordschwelle und lehnten ihn an eine Laterne. Hier lasen ihn Schutzleute auf und beförderten ihn in das Hafen- krankenhaus, wo er im Totenkeller zwischen andern eingelieferten Leichen Platz fand. Inzwischen wartete die Umgebung des Königs im Hotel vergebens auf seine Wiederkehr: man machte sich auf den Weg, ihn zu suchen, bis man ihn schließlich am andern Vormittage unter den unbekannten Toten der Straße entdeckte. In den meisten Fällen, in denen der Tod beim Beischlaf erfolgt, liegt Arteriosklerose oder Endokarditis vor; die heftigen Schwankungen der Blutfülle und des Gefäßtonus führen ein Platzen der rigiden Arterienwandungen (Apoplexie) oder ein Losreißen und Fortschleudern endarteritischer Gewebsstücke (Embolie) herbei. Der Tod tritt also nicht durch einen absoluten, sondern nur durch einen relativen Hypererotismus ein, indem der in seiner Elastizität in- folge Verkalkung beeinträchtigte Körper sich nicht mehr der sexuellen Durchschnittserregung gewachsen zeigte. Die genaue Kenntnis solcher Fälle ist für den Sachverständigen nötig, um in der Differential diagnose bei Verdacht gewaltsamer Todesherbei- führung einer Person durch die Schuld einer anderen Berücksichti- gung zu finden. Neben Kindern und Jugendlichen sind es besonders häufig weib- liche Prostituierte, die in oder nach Geschlechtsakten ermordet II. Kapitel: Hypererotismus 123 werden, während männliche Prostituierte nicht selten ihrerseits die Personen töten, von denen sie begehrt wurden. Hier handelt es sich aber auch meist nicht um Morde zwecks sexueller Luststeige- rung, sondern um Raubmorde, die durch das intime zeugenlo.se Beisammensein so ungemein begünstigt werden! Ich habe mich zu dieser Frage in meinem Buch „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes'' (Seite 873 u. f.) eingehend geäußert und verweise hinsichtlich der ver- schiedenen hier in Frage kommenden Motive namentlich auf die Darlegungen, die ich in einem Mordprozeß abgab, zu dem ich von seiten der Staatsanwaltschaft in Trier ge- laden war; ich führte aus: „Morde im Zusammenhang mit einer Chantage erscheinen zunächst unwahrscheinlich, da mit der Tötung die sonst immer noch vorhandene Aus- sicht, Geld aus dein Opfer herauszupressen, schwindet. Es liegen jedoch eine ganze Reihe derartiger Fälle vor. Ich habe mit Bezug auf die heutige! Verhandlung die vor- handene Literatur durchstudiert und könnte ca. 20 hierhergehörige Fälle anführen. Allein in Berlin sind in den letzten Jahren von homosexuell Veranlagten getötet: ein Butter- händler E., ein Kaufmann L., einer inamens B., ein Militärinvalide R., ein französischer Kammerdiener Gaudin; in Paris wurde im Februar d. J. ein Schriftsteller namens Paul B. von zwei Burschen ermordet, mit denen er homosexuell verkehrt hatte. Die Motive, die bei diesen und ähnlichen Verbrechen in Frage kommen, sind folgende: Entweder handelt as sich um einen Raubmord; der Chanteur bringt sein Opfer, das ihm gutwillig nichts mehr geben will, um. Aus diesem Grunde tötete beispielsweise der Italiener Arcangeli in Triest den homosexuellen Kunsthistoriker Joh. Joach. Winckelmann. Ein anderes, selteneres Motiv, das nach Sachlage des vorliegenden Falles auch hier nicht vollkommen ausschaltet, ist die Furcht des Chanteurs, der Erpreßte könne ihn der Staatsanwaltschaft übergeben. Zeugen der Bluttat sind bei dem geheimen Charakter der sich zwischen dem Erpresser und dem Erpreßten abspielenden Vorgänge kaum vor- handen oder zu fürchten. Daher ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß die Tötung eher ungesühnt bleibt als eine Körperverletzung. In Wirklichkeit werden auch die Mörder alleinwohnender Homosexueller fast nie ausfindig gemacht. Ein drittes Motiv ist Rache, im Falle der Erpreßte jede weitere Zuwendung ablehnt. Ein viertes Motiv war die Ausführung einer, weil einmal ausgesprochenen, oft fast autosuggestiv wirkenden Drohung. Im allgemeinen setzen zwar die Chanteure ihre noch so bestimmt vorgebrachten Einschüchterungsversuche nicht in die Tat um, doch kommt auch das Gegenteil vor. So erhielt beispielsweise vor einigen Jahren ein Stockholmer V. von einem Berliner Chanteur, mit dem er in geschlechtlichen Beziehungen gestanden hatte, eine ihm in Aussicht gestellte Höllenmaschine tatsächlich zugesandt. Daß ein Chanteur sein Opfer im Affekt, in einer Aufwallung von Jähzorn oder Wut tötet, ist nicht sehr wahrscheinlich, da sich gerade diese Verbrecher, der ganzen Art ihres Vorgehens •entsprechend, dadurch auszeichnen, daß sie wohlüberlegt vorgehen. Wortwechsel zwischen Chanteuren und ihren Opfern spielen sich gewöhnlich äußerlich verhältnismäßig ruhig ab, mehr nach Art eines gegenseitigen Feilschens. Jeder sucht dem andern durch scheinbare Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit zu imponieren. Eher würde ich es für möglich halten, daß die Tütung fahrlässig erfolgte, indem der Forderer dem Geld- geber den Revolver zur Einschüchterung vorhielt und dabei etwa sagte: „Wenn du mich jetzt im Stich läßt,, mir das Verlangte nicht gibst, dann knalle ich dich nieder", und die Waffe, dann losging. Für letztere Möglichkeit würde die Behauptung B.s sprechen, daß ei mit der Handhabung der Browningpistole nicht Bescheid gewußt haben will, sowie die Aussage eines Zeugen, daß der Angeklagte sich über den Leichnam gebeugt und weinend gerufen hätte: „Fredi, du bist doch nicht tot?" Die schwierige Entschei- dung, ob und welche von den Straftaten, die ich als Sachverständiger nach meiner Er- fahrung und psychologischen Kenntnis der hier in Frage kommenden Verhältnisse für möglich halte, im Falle B. tatsächlich vorliegt, diese Entscheidung wird der Ge- richtshof auf Grund der Beweisaufnahme zu fällen haben." 124 II. Kapitel : Hpyererotismus Es gibt auch Verbrechen, die teils als Lustmord, teilweise aber auch als Raubmord zu beurteilen sind. Beispielsweise kommt es vor, daß jemand in sexueller Raserei sein Opfer umbringt und es hinterher beraubt. Eine andere Mordart, die' zweifellos meist in das Gebiet des Hypererotismus fällt, gleichwohl aber nicht als Lust-, sondern eher als U n 1 u s t m o r d anzusehen ist, ist der Mord aus Eifersucht, aus Rache und verschmähter Liebe. Auch hier habe ich eine ganze Reihe einschlägiger Fälle persönlich zu beobachten und zu begutachten Gelegenheit gehabt. Als echten Lustmord be- zeichnet Wulffen im „Sexualverbrecher" nur einen solchen, in dem das Motiv zur Tötungshandlung in einem entarteten Geschlechts- trieb liegt. Genauer wäre es zu sagen, in dem die Geschlechtslust durch die körperliche Verletzung oder Tötung einer Person be- friedigt oder entspannt wird. Da diese Handlung meist im hoch- gradigen Affekt vorgenommen wird, fehlt ihr gewöhnlich die Über- legung als Voraussetzung des Mordes (§ 211 RStGB.) ; ihrer ganzen psychologischen Beschaffenheit nach kennzeichnet sich die Tat viel- mehr als eine nicht von vornherein geplante, sondern als eine in geschlechtlicher Raserei, wenn nicht gar im geschlechtlichen Rausch verübte, so daß sie objektiv als Totschlag angesehen werden muß (§ 212 RStGB.). Von wesentlicher Bedeutung sind bei einem als Lustmord zu bezeichnenden Verbrechen die Art der Ver- letzungen; in erster Linie kommen hier Verstümmelungen der Geschlechtsteile, wie Herausschneiden derselben in Frage, dann Aufschlitzen des Leibes, Herausreißen der Eingeweide, Hineinstoßen von Stöcken, Schirmen und anderen Gegenständen in Scheide und' After, Abreißen der Haare, Abtrennen der Brüste, Zudrücken des Halses. Mit Recht betont Wulffen an Hand zahlreicher von ihm analysierter Lustmordfälle, daß die bloße Koitushandlung mit der ihr physiologisch innewohnenden Wollust und Gewalttätigkeit als solche im Täter sadistische Gefühle auslösen kann, die zur Tötung des Opfers führen. Besonders gilt dies für degenerativ schwach- sinnige Menschen mit schwacher Potenz, wobei es ebenso oft Wut über eigenen Erektionsmangel, als Zorn über Widersetzlichkeit des Opfers - - beiden Vorgängen gemeinsam ist Erschwerimg der Akt- ausführung und des Lustgewinns - - sein kann, die den verhängnis- vollen Affekttaumel auslösen. So bekundete nach Wulffen der für geisteskrank erklärte Lustmörder, Lederarbeiter Paul Diet- rich, wenn er auf eiusamem Wege mit Frauenspersonen zusammen- treffe, gerate er in große Aufi-egung. Sein Herz fange an so stark zu klopfen, daß er kaum noch zu atmen und klar zu denken ver- möge; er bekomme reichlichen Schweißausbruch und fliegende Hitze, und dieser Zustand steigere sich selbst bis zur vollkommenen Bewußtlosigkeit, wenn ihm bei Erreichung seines Zwecks, nämlich des Geschlechtsaktes, irgendwelcher Widerstand geleistet werde; IT. Kapitel : Hypererotismus 125 in solchem Falle kehre seine Besinnung erst dann wieder, wein, seine Opfer tot vor ihm lägen. Beim eigentlichen Lustmord tritt d i e Tötung an Stelle des Koitus. Es findet also überhaupt kein Ge- schlechtsverkehr statt, vielmehr ruft das Zerschneiden und Zerfetzen des Körpers, das Bauchaufschlitzen und Wühlen in den Eingeweiden, das Herausschneiden und Mitnehmen der Schamteile, das Würgen des Halses und Aussaugen des Blutes sexuelle Lust hervor; diese entsetzlichen Grausamkeiten, die alles übertreffen, was von Menschen sonst an furchtbaren Gewaltakten selbst im Banne der Kriegspsychose verübt wird, bilden sozusagen patholo- gische Äquivalente des Koitus. Die größere Anzahl der Lüstmörder sind, wie Jack der Bauchaufschlitzer, der von 1887 bis 1889 in einer Londoner Vorstadt nachweislich zum mindesten !1 Frauen in unmenschlichster Weise verstümmelte, trotz der Zahl und Verwegenheit ihrer Untaten nie ergriffen worden, was um so erstaunlicher ist, als diejenigen, deren Beobachtung aus- führbar war, den Beweis erbrachten, daß es nur schwere Psychopathen waren, die solcher Verbrechen fällig sind. So gibt Lombroso von Verzeni, einem vierfachen Lust- mörder. der, wie mehrere andere, sogar Fleisc.hteile seiner Opfer röstete und verzehrte, folgende Schilderung: „Verzeni war mikrozephal, hatte einen asymmetrischen Schädel, enorm entwickelte Kieferknochen, schielte, war bartlos, ein Hoden fehlte, einer war atrophisch.'' — Offenbar lag al»o auch hier wieder eine schwere innersekretorische Normabweichung vor. — „Zwei Onkel sind Kretins, ein dritter mikrozephal. Der Vater leidet an Hypochondria pellagrosa, ein Vetter ist Gewohnheitsdieb. Die ganze Familie ist schmutzig geizig, aber sehr bigott." Wulften hebt als bezeichnend hervor, daß Lustmörder die Leiche der Ermordeten in derselben entblößten Lage liegen zu lassen pflegen, in der sie den Tötungsakt ausführten. Dies trifft wohl für die meisten Füll«' zu; wenn aber der Autor meint, daß dieses gefühls- und rücksichtslose Benehmen eben- falls „für den furchtbaren sexuellen Sadismus spreche, weil offenbar der Anblick der zerfetzten Leiche noch Wollustompfmdungen auslöse'', so dürfte dies schwerlich richtig sein; es ist eher anzunehmen, daß der Täter, nachdem er in sinnlosem Bluttausch das Attentat verübt, davonrennt, ohne sich Zeit zu lassen oder den Gedanken zu haben, dir Blößen und beigebrachten Wunden zu verdecken. Eher als das Liegenlassen könnte noch das gleichfalls häufige, von Lustmördern vorgenommene, Zerstückeln der Leiche mit räumlicher Zerstreuung an verschiedenen Stellen als nachwirkender SadisTmus auf- gefaßt werden, doch ist auch hier in den meisten Fällen das wahrscheinlichere Motiv die Absicht, die Wiedererkennung des Toten zu verhindern. Mit Recht sagt ein auf diesem Gchieti so kompetenter Jurist, wie Staatsanwalt Wulften: ..Es ist klar, daß die Lustmörder and Lusttöter alle mehr oder minder psychopathisch sind." Viele von ihnen wurden trotzdem hingerichtet, so Vacher, der in Frankreich im Alter von 25 bis 28 Jahren (1 894 ! '7) nicht weniger als 11 Lustmorde verübte. Der medizinische Sachverständige hatte gemeint: „Vachers Verbrechen seien die eines antisozialen, blutdürstigen und sadisti- schen Menschen, der auf Grund früheren Irreseins und nicht erfolgter Bestrafung einen Freibrief für die Begehung seiner scheußlichen Taten zu besitzen glaubte", ein Gut- achten, das, wie so viele, mehr von moralistischem als psychologisch-psychiatrischem Geiste erfüllt ist. Ganz ähnlich lag' es bei dem Lustmörder Menesclou, den drei Psychiater für geistig gesund erklärten. Nach seiner Hinrichtung erwiesen sich die beiden Stirn- lappen seines Gehirns, die erste und zweite Schläfenwindung sowie ein Teil der Occipital- windungen krankhaft verändert. E p i 1 e p t i k 'e r war auch der 22jährige Buchdrucker Paul Mirow, der sich 1907 wegen Epilepsie in der Irrenanstalt Herzberge befand, als er sich selbst bezichtigte, ein halbes Jahr vor seiner Einlieferung an einem Tage hinter- einander drei kleine Mädchen mit Messerstichen schwer verletzt zu haben, von denen 126 eins starb. Man schenkte seiner Selbstbeschuldigung anfangs keinen Glauben, über- zeugte sich aber schließlich doch von der Zuverlässigkeit seiner Angaben, als er sie mit einer Menge nur ihm, den Angehörigen der Kinder und der Polizei bekannten Einzel- heiten belegte. Der Fall lehrt, wie viele andere, daß die beiden Hauptmomente, welche von Richtern häufig gegenüber behaupteter Geistesstörung geltend gemacht werden, P 1 a n m ä ß i g k e i t und Erinnerungsmöglichkeit keinesfalls Krankhaftig- keit ausschließen. Der Gegensatz, der sich hier so oft zwischen Juristen und Medizinern auftut, trat besonders deutlich in dem Fall des epileptischen Lustmörders Tessnow zutage, der trotz der Entlastungsgutachten zahlreicher Psychiater zum Tode verurteilt wurde, aber nicht hingerichtet werden konnte, weil er, gerade als er zum Fuchtblock geführt werden sollte, einen epileptischen Anfall hatte. Ich habe Tessnow nicht persönlich kennen gelernt, aber mit verschiedenen Kollegen eingehend gesprochen, welche zu dem Fall zu- gezogen waren und fest davon durchdrungen waren, daß die Todesstrafe in Wirk- lichkeit wegen schwerer Krankheit erkannt worden war, ein in der Justiz- geschichte aller Länder leider nur allzu h ä u f i g e r Fall. Gelegentlich scheint bei schwachsinnigen Menschen hier auch der sexuelle Aberglaube eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. So wurde imi Mai 1896 in Dresden ein 19jähriger Bursche ermordet aufgefunden, dem die Geschlechtsteile fehlten. Der Täter wurde in einem 29jährigen Töpfergesellen ermittelt, der als unzurechnungsfähig begutachtet wurde. Der Mörder gab an, er sei impotent und hätte gehört, man könne geschlechtlich leistungsfähig werden, wenn man den Hoden eines Menschen verzehre, ein Volksglaube, der übrigens im Hinblick auf die in jener Zeit gerade auftauchende und viel besprochene Lehre Brown Sequards, die als wissenschaftlicher Beginn nicht nur der Organ- therapie, sondern auch der Lehre von der inneren Sekretion anzusehen ist, nicht ohne Interesse ist. Fassen wir, was bisher ärztlicherseits über den Lustmord ge- funden und beobachtet ist, zusammen, so dürfte feststehen, daß diese schrecklichsten Auswüchse sexueller Leidenschaft zu jenen Geschlechtsakten gehören, die kaum jemals, ja man kann wohl sagen, niemals von Geistesgesunden begangen werden. Alle bis- her von wirklich sachverständiger Seite unter- suchten Lustmörder waren Psychopathen auf schwerer degenerativer Grundlage, und zwar hauptsächlich Epileptiker oder hochgradig Ver- blödet e. Den kranken Gehirnen dieser Personen entsprangen diese wilden Grausamkeiten, und es* entsteht im Einzelfall lediglieh •die Frage, ob diese hereditär Belasteten ihren pathologischen Impulsen genügend He m m u n g e n entgegenzusetzen in der Lage sind. In der weitaus großen Mehrzahl der Fälle dürfte diese Frage zu verneinen sein, so daß diese Sexualverbrecher nicht in Gefängnisse und Zuchthäuser, geschweige denn auf das- Seh äff ot gehören, sondern im Hinblick auf ihre zweifellose Gemeingefähr- lichkeit in Asyle für geisteskranke Verbrecher, wie solche zum Besten dieser unglücklichen Menschen und der vor ihnen zu schützenden Menschheit bereits in England und mehreren an- deren Ländern, teilweise auch in Deutschland, vorhanden sind. Im Lunatik Asylum zu Broadmore, unweit Beading , wo Englands großer Dichter Oskar Wilde, auch um einer Sexualanomalie halber, die Tretmühle trat, sah ich in einem hoch umfriedigten Garten eine nicht geringe Zahl solcher Mörder sich ergehen. 127 Die Schwere des hypererotiseheu Eingriffs ist bis zu einem Grade doch keineswegs völlig von der Stärke der Hemmungen ab- hängig, und so finden sich viele psychopathische Sadisten, die ihren Opfern statt tödlicher Verwundungen nur mehr oder weniger hoch- gradige Verletzungen beibringen, wie Brandwunden, Kratzwunden, Bißw;unden, Stichwunden, oder dadurch ihrer grausamen Gier Aus- druck geben, daß sie Personen fesseln, anbinden, anketten oder ihnen Strafen auferlegen, sie demütigen, knechten, beschimpfen, stoßen, schlagen, einsperren. Auch, hier ist wieder, wie im Sexual- pathologischen überhaupt, die relative Stereotypie bemerkens- wert. So wird es kaum je vorkommen, daß ein Messerstecher schlägt, oder ein Geißler sticht. Es seheint, als ob der sadistische Drang i m m e r w i e d e r in ein motorisches Geleise ein- springt, das er sich erstmalig zu seiner Auslösung und Ent- spannung gebahnt hat. Einige Autoren fassen fast jeden Rechts- bruch als sadistisch auf. Unseres Erachtens fällt aber nur ein mit sexueller Lust verknüpftes Verbrechen in das Gebiet des Sadismus, wobei allerdings zuzugeben ist, daß es sadistische Neigungen und Strebungen gibt, die nicht als erotisch erkannt ins Bewußtsein dringen. Der Mensch ist nicht nur Geschlechtswesen, sondern hat den noch heftigeren egoistischen Trieb der Selbsterhaltung, der in gewaltsamen Abwehrinstinkten und Besitzergreifungen zum Aus- druck kommt, die sich ebenfalls ins Krankhafte steigern können. Jede Grausamkeit Sadismus, jede Unterwerfung Masochismus, jede Zuneigung Erotismus zu nennen ist eine Verallgemeinerung, die nicht dazu beiträgt, auf sexuellem Gebiet Klarheit zu schaffen, sondern eher verdunkelnd wirkt. Unrichtig ist auch die vielfach verbreitete Annahme, daß es sich bei den eigentlichen Sadisten außerhalb der Geschlechts- sphäre um brutale Kraftnaturen handelt, um „wilde Bestien mit vertiertem Gesichtsausdruck", wie die Phantasie der Zeitungs- reporter sie darzustellen pflegt; im Gegenteil, oft sind es Personen, die eher als Schwächlinge und Weichlinge zu bezeichnen sind, nicht selten auffällig gutmütige, solide, fromme Menschen, denen „nie- mand solche Untat zugetraut haben würde". Man ist versucht, hier nach der einen oder anderen Seite eine Überkompensation an- zunehmen, sei es, daß ein Bestreben vorliegt, die sexuellen Grau- samkeitsinstinkte durch übertriebene Güte außerhalb des Ge- schlechtlichen auszugleichen oder ein Bemühen, die peinlieh emp- fundene Weichheit durch einen Überschuß von Härte wettzumachen. Vielfach folgt auch der Gewalttätigkeit tiefes Mitleid mit den miß- handelten Objekten, das dann zu Zärtlichkeiten und Liebkosungen an ihnen Anlaß gibt. Ganz denselben Kontrast wie bei sexuellen, habe ich auch bei Verübern politischer und religiöser Gewalttätigkeiten be- II. Kapitel : Hypeferotismus obaehten können, die man treffend als „weiche Fanatiker" be- zeichnet hat. Während der Spartakuszeit hatte ich einige jüngere und ältere Männer zu begutachten, die an der Eroberung von Zei- tungsgebäuden mit Waffengewalt tätigen Anteil genommen hatten. Ich hatte kaum jemals verträumtere und sanftere Menschen ge- sehen; Stimme, Gesichtszüge, Bewegungen verrieten dem Kenner deutlich die feminine Komponente ihrer Wesenheit; unwillkürlich erinnerte ich mich des Anarchisten K ö s e h e in a n n , der mehrere Jahrzehnte zuvor einem Berliner Polizeidirektor eine Höllen- maschine übersandte und uns alle durch sein mädchenhaftes Aus- sehen und Gebaren vor Gericht in Erstaunen versetzte. Seltsamer und nur dem Tiefenpsychologen, vor allem dem Sexualpsychologen begreiflicher Widerspruch ! Der sadistische Drang kann sich auch atif tote Gegenstände, Abbildungen, Statuen, Kleidungsstücke und andere für menschlichen Gebrauch beistimmte Dinge erstrecken (s. Tafel II, S. 82). Hier kom- biniert sich gewöhnlich der Zerstörungstrieb mit antifetischistischen Vorstellungen, die ihn auslösen. Es fallen in dieses Gebiet nicht wenige Fälle befremdlicher Sachbeschädigung und Beleidigung, begangen von Personen, die beispielsweise Lackst iefeletten in Hotels mit dem Messer zerstechen, in Betten, die zum Sonnen ausgelegt sind, Löcher schneiden, lu lle Damengewänder zum Entsetzen ihrer Trügerinnen mit Säuren oder Tinte bespritzen, anspeien oder anderweitig be- sudeln. Vor einigen Jahren wurde ein achtzehnjähriger Töpfer- geselle ertappt, als er den hellfarbigen Abendmantel einer Dame mit Ruß bewarf; zu der Gerichtsverhandlung waren nicht weniger als 25 Damen geladen, deren Garderobenstücke kurz vorher in ganz der gleichen Weise •zugerichtet waren. Der Täter gab die Berußung zwar nur in dem einen Falle zu, bei dem er überrascht war," wurde aber dennoch zu einem halben Jahre Gefängnis verurteilt. In dieses Gebiet gehören auch die Attentate auf Bildwerke aus erotischen Motiven. Zu ihrem Zustandekommen vereinigen sich meist antifetischistische mit sadistischen Regungen, die sexuelle Unluist Vorstellung mit dem Drang ihrer gewaltsamen Be- seitigung. Auch hier bedarf es zum richtigen Verständnis der nega- tiven Sexualwirkung der Kenntnis des positiven Gegenstücks. .So steht der Bil'derschändung und dem Bilderhaß die Bildersucht und der meist positiv durch Zuneigung, gelegentlich auch negativ durch Abneigung, motivierte Bilderraub gegenüber, der Statuo- stupration, die unter dem Namen P y g m a I i o ri i s m u s (Pygmalion verliebte sich in die von ihm gemeißelte Galathea) bekannt ist, die Statuophilie gegenüber. Allerdings erschöpft sich das Wesen des Pygmalionismus nicht sowohl in der Statuenliebe als solcher, als vielmehr in der künstlichen und gelegentlich auch künstlerischen Verfertigung einer der inneren Triebrichtung entsprechenden Ge- II. Kapitel: Hypererotismus 129 stalt, deren Anblick und Berührung, die sich bis zu „beischlafsähn- lieben Akten" steigert, dann der seelischen und körperlichen Ent- spannung dient. Primitive Mensehen und Völker bedienen sich hier wesentlich primitiverer Nachbildungen, als das kunstsinnige und kunstfertige Volk der Hellenen. Als Beispiel bringe ich Abbildungen von einer Puppe, die sich ein Gefangener als Weib-Ersatz an- fertigte (Tafel III). Bei solchem Surrogatverkehr von Hyper- erotismus zu sprechen, sind wir zwar nur bis zu einem gewissen Grade berechtigt, immerhin in dem gleichen Grade, in welchem Krafft-Ebing dies von solchen Personen tut, denen Statuen zum Ob- jekt orgastischer Lust geworden sind, sei es, daß Männer und Frauen sie umarmten oder sich an ihren Genitalien zu schaffen machten (so wurde erst kürzlich wieder in einem Museum eine Dame der besten Gesellschaftskreise betroffen, wie sie von antiken Statuen die Ephcu- blätter löste, um den aus Marmor oder Gips gebildeten Geschlechts- teil mit Küssen zu bedecken) oder daß sie gegenteils aus Liebes- haß die Geschlechtsteile mit Säuren oder Farben begossen oder abschlugen. Hervorgerufen wird die hypererotische Erregung meist nicht nur durch die Menschenähulichkeit allein, sondern durch besondere Eigenschaften des Bildwerkes, wie seine Farbe oder Temperatur, beispielsweise beim Marmor, ähnlich wie Nekropbile sich beim Leichnam durch die kühle Haut angezogen fühlen, oder es wirken einzelne Stellen als Fetische oder Antifetische, etwa die Brüste oder Genitalien, die dann mit Vorliebe der Zerstörung anheim- fallen oder Zärtlichkeiten ausgesetzt sind. Viele Bilderdieb- stähle wurzeln, ebenso wie Attentate. auf Bilder, letzten Endes be- wußt oder unbewußt in sexuellen Urmotiven. Das dürfte auch für die beiden aufsehenerregendsten Vorgänge dieser Richtung inner- halb der letzten Jahrzehnte gelten, dem Diebstahl von Leonar- dos Mona Lisa aus dem Pariser Louvre und dem Attentat auf Rembrandts Nachtwache in Amsterdam. In beiden Fällen scheinen erotomanische Affektzustände mit wirksam gewesen zu sein. Jn den letzten Jahren beansprucht auch die kinematographische Nach- bildung in dieser Beziehung berücksichtigt zu werden. Dir Reizwirkung wird hm Lauf- bild durch die Bewegung des Körpers wesentlich erhöht. Wenn auch die seelische Lust- e'mpfindung, welche eine der Geschmacksrichtung des Betreffenden entsprechende Person hervorruft, nicht ohne weiteres als hypererotisch bezeichnet werden kann, so gibt es doch Fälle, in denen Typen eine überaus heftige, sich bis zur Erektion und spontanen Eja- kulation steigernde Libido verursachen können. Es sind mir eine ganze Reihe von Fällen bekannt geworden, in denen namentlich weibliche Personen Abend für Abend ein Licht- spielhaus aufsuchten, um sich an dem Anblick eines bestimmten Mannes sexuell zu er- regen, dessen Realität Tausende von Meilen entfernt irgendwo im Ausland weilte, so daß die Wahrscheinlichkeit, ihm selbst jemals im Leben zu begegnen, äußerst gering war. Erst vor kurzem hatte ich Gelegenheit, bei eine'm Jüngling einen derartigen Fall von Hyperfixierung an eine amerikanische Filmdiva zu beobachten, deren Anblick zu aus- gesprochenen hysterischen Exaltationen Anlaß gab. Hirschfeld, Sexualpathologie. III. 9 130 Selbst der Tote ist noch bei gewissen Naturen imstande, ge- schlechtliche Empfindungen wachzurufen. Der alte Satz: „Der Tod ist ein Bruder des Schlafs", gewinnt hier insofern eine Bedeutung, als eine Leiche, ähnlich wie ein schlafender Mensch — ich habe mehr als einen Schlaff et ischisten kennen gelernt, für den nur ein schlummerndes Wesen sexuelle Bedeutung hatte — Vorstellungen und Empfindungen zu bewirken vermag, die mehr oder minder bewußt letzten Endes erotischer Natur sind. Eine der grausigsten sexuellen Anomalien, die N e k r o p h i 1 i e , dürfte hierin begründet sein, wobei im wesentlichen auch wieder fetischistische Momente, die namentlich von der Farbe und Beschaffenheit der Haut, aber auch von einzelnen Körperpartien wie den Brüsten und Geni- talien ausgehen, in Betracht kommen; die anatomischen Präparier- säle spielen in dieser Hinsicht eine nicht unbeträchtliche Rolle, ebenso wie die Leichenschauhäuser. Neben dem Fetischismus scheint gelegentlich auch der sadistische Drang insofern beteiligt zu sein, als bei disponierten Individuen eine Gedankenassoziation zwischen Tod und Tötung hin- und hersehießt. Durch die Kriminalgeschichte ziehen sich eine Anzahl grauenhafter Schilderungen, nach denen Leichenschänder tote Frauen und Mädchen aus ihren Gräbern herausholten und fürchterlich verstümmelten, indem sie ihre Leiber aufschlitzten, die Eingeweide her- ausrissen und die Geschlechtsteile herausschnitten. Am bekanntosten wurde der Fall des französischen Sergeanten Bertrand, der zuerst 1849 in der Union medicale be- schrieben, von Krafft-Ebing übernommen wurde. Dieser sexualpathologisch in der Tat höchst bemerkenswerte Mensch hat in der Jugend täglich 7 bis 8 mal onaniert, wobei ihn schon frühzeitig die phantastische Annahme erregte, er habe nackte Mädchenleichen bei sich, die er schändete. Die meisten Nekrophilen finden in solchen Phantasievorstel- lungen ihr Genüge. Bertrand aber begann nach einiger Zeit Tierkadaver zu zerstückeln. Beim Herausreißen der Eingeweide onanierte er. Er fing sich dann lebendige Hunde und riß ihnen, nachdem er sie getötet hatte, die Eingeweide heraus.^ Später grub er verschiedene Frauenleichen aus und zerstückelte sie in entsetzlicher "Weise und kam end- lich bei der Leiche eines jungen Mädchens zu unzüchtigen Handlungen. „Ich kann nicht beschreiben, was ich in jener Stunde fühlte. Aber alles, was ich bei einer lebenden Frau genossen habe, ist im Vergleiche dazu gar nichts. Ich küßte das Weib auf alle Stellen des Körpers, preßte sie an mein Herz, als ob, ich sie zerdrücken wollte, kurz ich tat alles mit ihr, was ein leidenschaftlicher Liebhaber mit seiner Liebsten tun kann. Nachde m ich mich ungefähr eine Viertelstunde an dem Körper berauscht hatte, schnitt ich ihn in Stücke und riß aus ihm wie aus den anderen Opfern meiner Leidenschaft die Eingeweide heraus.*1 Er schändete auf solche Art ein große Anzahl von weiblichen Leichen. Eines Tages wurde er auf dorn Friedhofe verwundet und so entdeckt. Das Kriegsgericht verurteilte ihn zu einem Jahr Kerker. Handelt es sich bei derartigen Fällen eigentlicher Leichen- schändung meist um schwere Psychopathen von imbezillem Typus, so findet man, daß die leichteren Fälle, die weniger in das Gebiet eigentlicher Nekrostupratio als bloßer Nekrophilie gehören, mehr bei exaltierten Hysterikern. Sind es dort meist Leichen unbekannter Personen, die ausgegraben werden, so sind es hier gewöhnlich die körperlichen Überreste im Leben bekannter, II. Kapitel: Hypererotismus 131 oft geliebter oder gar aus Eifersucht und Liebeshaß getöteter Per- sonen, die mit Zärtlichkeiten überschüttet werden. Solche Fälle sind verschiedentlich auch in der Dichtkunst dargestellt worden. Wir erinnern an Romeo und Julia oder an Don Jose, der sich über die erdolchte Geliebte mit den Worten stürzt: „Ja! ich habe sie ge- tötet! Carmen, du mein angebetet Weib, mein Leben!" und vor allem als besonders typisch an „Salome", der Oskar Wilde, als sie auf silberner Schüssel vom Henker das Haupt des Jochanaan erhält, die Worte in den Mund legt: „Ach, Jochanaan! Du wolltest mich deinen Mund nicht küssen lassen, nun, ich werde ihn jetzt küssen. Ich werde ihn mit meinen Zähnen beißen, wie man eine reife Frucht beißt." Und sie tut es zum Entsetzen 'selbst des ab- gebrühten Lüstlings Herodes. Ebensowenig wie der rein seelische läßt der körperliche Hypererotismus einen Rückschluß auf die allgemeinen Körperkräfte eines Individuums zu. Es ist irrtümlich, anzunehmen, wie es noch vielfach geschieht, daß häufige langdauernde Erektionen ein Zei- chen gesteigerter Libido oder hervorragender sexueller Stärke seien, im Gegenteil, Athleten sind wie Riesen oft impotent, und blutarme, schwindsüchtige, sieche Menschen oft überpotent. Im übrigen sind auch hier wieder zwischen seelischem und körperlichem Hypererotismus die Grenzen schwer scharf zu ziehen, in einer -roßen Anzahl der Fälle geht beides zusammen, immerhin heben sich einige Vorgänge an den Geschlechtsorganen so merkbar als ein körper- liches Zuviel ab, daß sie eine besondere Berücksichtigung und Besprechung erfordern. Vor allem gehören hierzu das durch- schnittliche Maß weit übersteigende Erektionen und Ejakulationen, vornehmlich der Tenesmus penis. gewöhnlich Priapismus genannt, und die ziemlich vielgestaltige Polyspermie, soweit sie als ungewollter Samenabgang in Form des Pollutionismus und der Spermatorrhoe in die Erscheinung tritt. Es ist durchaus nicht immer — wie bereits in meinem Buch vom Wesen der Liebe eingehend dargelegt wurde — der direkt vom Ge- hirn ausgehende, durch adäquate Außenreize in Bewegung gesetzte Geschlechtstrieb, welcher die Anschwellung der Genitalien und die Samenausstoßung bewirkt, es können vielmehr die hierzu erforder- lichen Vorbedingungen auch durch ganz andere Faktoren bewirkt werden, welche mit dem wirklichen Liebes- und Vereinigungstrieb nichts zu schaffen haben. Dies beruht darauf, daß das Zentrum, welches zu der Erweiterung der männlichen und weiblichen Corpora cavernosa führt, ebenso wie das unmittelbar darüber gele-ene Zentrum aer rhythmischen Muskelkontraktionen, welche unter dem Gefühl des Orgasmus die Ausstoßung des Samens beim Manne und des Zervikalpfropfens beim Weihe bewerk- stelligen, ihren Sitz nicht im Gehirn, sondern, wie die klinischen Erfahrungen an Kuckenmarkkranken und die Experimente von Brächet, Cayrade, meinem Lehrer Goltz 9: 1g2 IT- Kapitel: Hypererotismus und -meieren 5) bewiesen, im . Rückentaark haben, und zwar dürfte das Erektionszentrum n das Ejakulat onszentrum im Lumbaisegment liegen. Dieses in t e r m e d lare zltrum 'in dm die vom Geschlechtstrieb und den Geschlechtsteilen ausgehenden Neurone' sieh ^knüpfen, kann sowohl vom Zentrum als von der Peripherie in Ak tio gesetzt der Strom dorthin, von innen und von außen, von jeder Stelle oberhalb und unterhalb hineingeleitet werden. Dabei ist es praktisch ohne wesentliche Bedeutung, ob die Ganglienze len. welch diese Reflexe beherrschen, im untersten Teil des Rückenmarkes (Konus und Epikonus) llb t Hein d ssen Integrität für das Zustandekommen der Erektion und Ejakulation, se bst l egen aessen _ i j bewiesen, jedenfalls eine conditio sme qua ZIm ST^S^^L R. Müller auf Grund von Tierversuchen und Beobachtung^ am Menschen eingetreten ist, das eigentliche Reflexzentrum der Genital- „, 1 ek,n,elled.t des Sy.npatl.iku. liegt, de,,,n A*tc sich im Endstuck des £kes St den 1/släufern der höher gelegenen Partien des Zentralnervensystems treffen. Ich komme auf die hier in Frage kommenden Innervationsverhältmsse noch in. ZusammenhaT zurück; hier möchte ich zunächst nur eine Reihe von Beispielen an- fÜiwn Ä dartun, daß die Genitalreflexe in vielen Fällen auch dann funktronieren w nn von einer Mitbeteiligung des Geschlechtstriebes gar nicht die Rede sein kann So "ilita 60. und' Tu. Lebensjahre so häufig als Alterserscheinung auftrete., • V«Sß rnTg der Vorsteherdrüse (Prostatahypertrophie) einen peripheren Reiz au die Nerv erigentes aus. Es stellen sich bei den alten Männern langvemißte «Erek onen ein welch sie als ein Wiedererwachen ihres Geschlechtstriebes („Johannistrieb ) be- iüli. n rrtum, der sie nicht selten veranlal.it. zum Mißbehagen ihrer erwachsenen S d Enkel 'eine neue Ehe einzugehen. Ein anderes Paradigma sind die Ere .rn Beirinn einer gonorrhoischen Infektion auftreten. Die sicft JSÄÄ^«^ die zum Rücke,imark zie!"tn Nerven" n men In Unkentnis des drohenden Leidens fassen die jungen Leute to ta» iTSüechtliche Erregung auf, der sie häufig genug nachgeben, um so Infektionskeime w iteSut^n Auch die Gliedschwellungen, mit welchen sehr viele Männer ,n den erwachen, haben nichts mit dem Geschlechtstrieb zu tun, sondern .sind $KÄx£ die Druckreizung der gefüllten Harnblase bedingt Vor längerer Zei suchte mich einmal ein verheirateter Invertierter auf, der sechs Kinder hatte, das siebente Snd zu erwarten. Ich fragte den Mann, wie ihm dies möglich gewesen wäre. Er Shelt s.ch dem Weibe gegenüber rein psychisch gänzlich negativ „Das doch sehr einfach," bemerkte er nicht ohne einen gewissen Stolz, „ich benutze stets mSe Süh Aktionen." Diese Kinder verdankten also nicht dem Geschlechtstriebe, ™L er gefüLn Harnblase des Vaters ihr Leben. Auch das Renommee, welches eile Nahrungs- und Arzneimittel, wie Sellerie, Spargel, auch die Kanthariden, in bezul auf die Förderung der geschlechtlichen Potenz genießen, ist nur ihrem diure- üschfn und la l reizenden Einfluß zuzuschreiben, als dessen indirekte Nebenwirkung der GenSreflex anzusehen ist. Viele „Aphrodisiaca" sind nur Diure .ca". Ähnlich wirken bis zu einem gewissen Grade auch die alk o h o Ii s ch en Getränke, welche :^ SS im Volke als den Geschlechtstrieb aufstachelnd ^^^l^^l^J^ allerdings als Hauptsache in Betracht, daß der Alkohol gleichzei ig die Kraft der ^Gegen- vor tdluno-en, der Kritik, herabsetzt, während er andererseits die eine psychische und SSÄj&dsamk^ und Reaktionsfähigkeit vermindert. Bei Blasenleiden wie Blasensteinen, Vesikaltumoren. auch nach Blasenoperationen ist ebenso wie nach opera- 5) J L. Brächet, Recherches experiment. Sur les fonetions du Systeme nerveux gangl. Bruxelles 1834. S. .250. - J. Cayrade, Recherches int et experiment. s.vr les mouvements reflexes. Paris 1864, S. 45. - Fr. Goltz mit Freudberg Pflugers j ch . 8, 460 1874. - Sehr eingehend ist die Innervation der Genitalorgane auch von Langley und Anders bearbeitet worden; ihre Untersuchungen sind veröffentlicht im JournaLo Physio- logie 18, 67 (1895); 19, gl;' 20, 372 (1896); näheres im nächsten Kapitel Impotenz. IL. Kapitel: Hypererotismus 133 tiven Eingriffen am Skrotum und Penis, besonders häufig nach der Phi'mosenoperation, ein reflektorischer, vom Geschlechtstrieb völlig unabhängiger Priapismus eine häutige Erscheinung. Einen hierher gehörigen Fall aus meiner Praxis will ich kurz erwähnen. Ein Patient litt an einem hochsitzenden Darmkarzinom, das durch die Blase perforiert war, so daß sich häufig mit dem Urin vermischt Fäzes durch die Harnröhre entleerten; in einer Nacht erwachte der Patient mit einer starken Erektion bei schmerzhaftestem Innendruck im Penis und völliger Harnverhaltung. Beim Kathcterisieren stieß ich auf eine harte Resistenz, die sich schließlich als ein Kirschkern erwies, welcher vom Darm durch die Blase in die Urethra gelangt war. Mit der Ausstoßung des Fremdkörpers verschwand sogleich die Erektion. Wie die Schleimhaut der Harnwege, so übt auch die des benachbarten Mastdarms, die beide entwicklungsgeschichtlich denselben Ursprung in der Kloake haben, einen reflektorischen Beiz auf die Nervi pudendi und erigentes aus. Die zur Erektion führende Mastdarmreizung tritt bei Kindern beispielsweise häufig infolge von Wurmparasiten auf und gibt nicht selten zu Masturbationen die erste Veranlassung; auch digitale Manipulationen an der Analgegend, Hämorrhoiden, die Rektälmassage der Prostata, auch Schläge auf das Gesäß können reflektorisch eine partielle oder totale Tumeszenz be- wirken. Die Überfüllung der Ductus ejaculatorii, in erster Linie der Samenbläschen, mit Genitaldrüsensekret, bewirkt zunächst ebenfalls einen analogen Reflexvorgang, der zu Erektionen und Ausstoßungen des Ejakulats in Form von Polhitionen führt. Wie die Ovulation und Menstruation des Weibes geht auch die Pollution des Mannes zumeist ohne ursächliche Beteiligung des Gehirns und Geschlechtstriebes vor sich. Die Pollutionsträume, welche für die innerliche Richtung des Geschlechtstriebes von dia- gnostischer Bedeutung sind, sind sekundäre Fol g e - und Begleiterschei- nungen, nicht der primäre Ausgang der Pollutionen. Die periphere Reizung der Nervi erigentes kann endlich auch, und das ist besonders häufig und wesentlich, von der Oberhaut des Gliedes und ihrer Adnexe, vor allem den Pubes aus erfolgen. Die Papillarkörper sind in dieser Region mit so zahlreichen und empfindsamen Nerven- endkörperchen versehen, wie in keinem anderen Hautgebiet. Die relative Unabhängigkeit des zerebralen Geschlechts- zentrums vom Geschlechtsapparat ist auch daraus ersichtlich, daß der Geschlechtstrieb vollkommen erhalten sein kann, auch wenn durch Funktionsunfähigkeit des Rüekenmarkzentrums in- folge pathologischer Veränderungen, anatomischer Störungen und Zerstörungen die geschlechtsorganische Kriegung, Befriedi- gung und Fortpflanzungsmöglichkeit ausgeschlossen ist. So finden wir bei Tabikern oder anderen Rückenmarksleidenden, bei denen die Reflexstelle in unreparierbarer Weise außer Betrieh gesetzt ist. oft eine fast unverminderte G eschlechtslust. Ein Fall von spinalem Priapismus mit gesteigerter libi- dinöser Erregbarkeit, den ich beobachtete, ist der folgende: Dr. G., Chemiker, 45 Jahre alt, Tripper vor 11 Jahren, kinderlos, ver- heiratet seit 7 Jahren. In den letzten Jahren recht nervös, labiler Stimmung, abgespannt, zugleich geschlechtlieh reizbarer, sehr leicht entstehende lang dauernde Erektionen. Wegen Zunahme dieser Beschwerden kommt er zum Arzt, „da er die Unmöglichkeit einsieht, in diesem Zustand seinen Frau treu zu bleiben", und da ihn die ge- steigerte geschlechtliche Erregbarkeit nervös mache. Wir stellten fest: Lichtstarre, entrundete und sehr miotische Pupillen. Fazialis- differenz, rechts stärkere Innervation. Leichte, aber deutliche 134 spastische Parese beider Beine; hypertonische Oberschenkelmusku- latur, spastische Knie- und Achillesreflexe, Babinski bds -f, rechts deutlicher. Am Arm Trizepssehnenrefl. rechts stärker, bds. spastisch. Spasmen der Armmuskulatur. Sonst kein Befund, insbesondere nichts an Blaseninnervation; Sprache frei. Psychisch völlige Intakt- heit. WaR. ganz schwach positiv. Wir fassen den an sich nicht rest- los geklärten Fall als luetische Myelitis auf, die unter dem Bilde einer spastischen Parese verläuft, aber keine rein motorische Systemerkrankung gezeitigt hat, sondern auch Störungen in an- deren Rückenmarksanteilen. Zu diesen rechnen wir auch die g e - steigerte erektive Erregbarkeit und den Priapis- mus, als;spinale Reizsymptome. Diese bringen eine Stei- gerung der Libido und libidinösen Erregbarkeit sekundär mit sich. Sowohl der Hypererotismus als die Impotenz sind oft die ersten Symptome einer Rückenmarkserkrankung. Wiederholt haben wir solche bei Personen entdeckt, die lediglich aus sexualpathologischen Gründen zu uns kamen. Es ist ein schwerwiegender K u n s t f e h 1 e r , in irgendeinem Falle quantitativer Triebstör un g den Rückenmarksbefund zu vernachlässigen. Um das Bild von der Unabhängigkeit zwischen Geschlechtstrieb und Geschlechts- erregung zu vervollständigen, sei endlich noch erwähnt, daß auch durch die Reizung der Leitungsbahnen zwischen Gehirn und Rücken'markszeutrum an jedem beliebigen Punkte ihres Verlaufes eine Samenentleerung erfolgen kann. Diesen, Nachweis für den Menschen zu erbringen, ist schwierig, wir besitzen aber, abgesehen von Tierexperimenten (das älteste hier zu nennende Experiment ist das von Segala, welcher fand, daß Aus- bohrung des Rückenmarkes beim Meerschweinchen Erektion und Ejakulation, bewirkt; publiziert in den Untersuchungen zur Physiol. und Pathologie von Friedrich und Nasse, Bonn 1835) einige sichere Anhaltspunkte: das sind die Beobachtungen, welche man an Erhängten und Geköpften (vgl. die 1898 in Berlin von A. Götz publizierte Inaug.-Dissertation „Uber Erektion und Ejakulation bei Erhängten", in welcher sich auch die ältere Literatur angegeben findet) gemacht hat, in deren Bekleidungsstücken frische Ejakulate gefunden wurden. Ähnliche Wahrnehmungen wurden auch bei einigen Fällen von Genickbrüchen und Frakturen der Wirbelsäule gemacht. Von weiteren Ursachen priapistiseher Steifung seien noch ge- nannt Insektenstiche, namentlich Skorpionenstiche, Polypenbildun- gen in der Urethra, sowie Thrombose der Corpora cavernosa. Teils auf Blutstauung, teils auf Fäulniserscheinungen beruht die meist nur relative, gelegentlich aber absolute Vergrößerung des Membrum, die man vielfach einige Stunden nach Eintritt des Todes beobachtet. Die bei Erhängten vorkommenden Erektionen, bei denen sich meist nur in der Fossa navicularis, am Praeputium und Skrotum ein dünnflüssiges, der Prostata entstammendes Ejakulat vorfindet, wenig häufig ein dickeres spermatozoenhaltiges, stellen jedoch nur Aus- nahmeerscheinungen dar. So habe ich bei einer nicht ganz geringen Anzahl Erhängter, die ich im Laufe meiner 25jährigen Praxis ge- sellen habe, in keinem Falle Erektionen oder Ejakulationen fest- stellen können. 135 Auch bei starken Erschöpfungszuständen, verbunden mit Schlaf- losigkeit, oder sehr unruhigem Schlafe, beispielsweise auf langer Eisenbahnfahrt, sind Priapismen beobachtet worden; ferner als ein sehr charakteristisches, sicherlich wohl mit cavernösen Blutungen zusammenhängendes Symptom bei der L e u k ä m i e. Nach Bestrah - luug der Milz und des Penis sah man diesen leukämischen Priapis- mus meist deutlich zurückgehen. Eine andere Allgemeinerkrankung, bei der Priapismus öfter vorkommt, ist die Epilepsie, ferner Tuber- kulose und Nierenentzündung. In allen diesen Fällen dürften wohl toxische Einwirkungen auf das Erektionszentrum eine wesent- liche Rolle spielen, ebenso wie bei den nach Haschisch und einigen anderen Stoffen auftretenden Priapismen. . Bemerkenswert sind langdauernde Steifheiten des Gliedes hei kleinen Kindern von einem halben Iiis zu einem Jahr. Es suchten mich wiederholt Eltern auf, die diese Veränderungen bei Säuglingen wahrgenommen hatten und sich darüber beunruhigten. Die Dauer- reizung des Erektionszentrums, als welche wir den Priapismus an- zusehen haben, wird aber nicht nur aufsteigend durch periphere und spinale Irritamente herbeigeführt, sondern kann auch vom Cerebruni herabsteigend ausgelöst werden. Hierfür sei folgendes Beispiel an- geführt : Der uns von Geheinirat K. überwiesene 62jährige Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. R. leidet seit etwa 15 Jahren an quälenden, dauernden Erektionen, die sich allnächtlich unmittelbar nach dem Schlafengehen einstellen, die ganze Nacht über an- halten, den Schlaf fast völlig verhindern. Tagsüber fehlen dieselben völlig. Sie gehen nicht mit irgendwelchen sexuellen Vorstellungen einher, auch nicht mit psychischen Erscheinungen irgendwelcher anderen Art. Die früher durchaus normale, Libido ist seit Jahren eine sehr geringe. Pat.,,dem diese Störung seines Schlafes ebenso schäd- lich erscheint, wie ihm die Erektionen an sich quälend sind, hat alles mögliche versucht, um sich von ihnen zu befreien. Seine Aufmerksamkeit war jede Nacht mit gesteigerter Ängstlichkeit auf diese Erektionen gerichtet. Er versuchte, sie durch häufiges Urinieren zu bekämpfen. In der Tat ließen sie nach dem Urinieren für eine kurze Zeit nach. Die Folge war ein gesteigerter Harndrang, der gleichsam gezüchtet wurde und — wie die Erektionen — nur nachts bestand. Sodann unterzog er sich allen möglichen lokalen therapeutischen Prozeduren: Dammfaradisation, kalten Packungen der Geschlcchtsgegend. Blutentnahmen aus der Vena dorsalis penis, Hochfreqttenzbehandlung der Geschlecht- gegend, Röntgenbestrahlung — zum Teil bei den grüßten Autoritäten. Die Folge war. daß seine Aufmerksamkeit immer stärker lokal fixiert wurde und die reizbare Empfind- lichkeit der ganzen Genitalgegend aufs Stärkste anwuchs. Die priapistischen Symptomr aber nahmen eher zu. So lernte ich den Pat. kennen. Der Befund war folgender: leichte, allgemeine. Arteriosklerose (Blutdruck 150 mm Hg), keine Vergrößerung der Prostata, keine pathologischen Befunde im Urogenitaltraktus, insbesondere keine Stein- oder Konkrementbildung. Allgemeine funktionelle Neurose, insbesondere auf vasomoto- rischem Gebiet, leichter SympatMzismus. Wichtig ist noch, daß keinerlei chronische Nieren- oder Blasenveränderungen bestanden. Für die Therapie war sofort Idar, daß es verfehlt gewesen wäre, weitere lokale Maßnahmen zu treffen. Es wurde eine Allgemcin- behandlung der Neurose — unter Vermeidung aller Polypragmasie — eingeleitet; zu- gleich wurde, gegen den gesteigerten Splanchnikustonus, Atropin in kleinsten Mengen und kleine Mengen Brom und Jod versucht. Die Besserung war nach Ablauf von etwa vier Wochen eine sehr beträchtliche und hat seitdem im Laufe mehrerer Monate noch 136 II. Kapitel: Hypererotismus erheblich zugenommen: Pat. schlaft allnächtlich 6 Stunden, ohne von Erektionen be- lastigt zu werden; der Urindrang hat nachgelassen. Epikrise: Der Priapismus dieses Falles ist das Hauptsymptom einer funktionellen Splanchnikusneurose und allgemeinen vasoneurotisehen Konstitution, aber überlagert von starken psychogenen Einflüssen, die zum Teil durch' die lokalen Maßnahmen direkt gezüchtet worden waren. Die auslösende Ursache des Priapismus kann bei alledem in fokalen Veränderungen, die vielleicht mit einer arteriosklerotischen Kreislauf Störung im Prostatagebiet bestanden, aber leichtesten Grades und nicht nachweisbar waren, gelegen haben. Priapismen dauern oft Stunden, ja es sind selbst solche fest- gestellt, die Tage, selbst Jahre fortbestanden. Diese lange Spannung und Zerrung wird um so schmerzhafter und quälender, je länger sie andauert, und bringt die. Patienten in hellste Verzweiflung. Wol- lustgefühle fehlen meist, trotzdem entleeren sich gelegentlich Sekrete der Keim- und Genitaldrüsen, dann und wann aber auch Blut und blutiger Harn bei großer Hitze des Gliedes. Zum Koitus besteht meist kein Verlangen, wird er dennoch vorgenommen, so ist seine Ausführung bis zum Ende von Schmerzen begleitet und ohne Wol- lustgefühl. Absehwellung des Giedes tritt weder durch den Koitus noch durch irgendwelche andere Maßnahmen von seiten des Patien- ten ein, beispielsweise wird durch Einstechen in den Penis die Blut- stauung nie behoben. Im allgemeinen wird der Priapismus sogar durch Kohabitation verschlimmert. In der Literatur sind Fälle be- schrieben, in denen Priapismusattacken unmittelbar post coitum auf- traten. Solche Vorkommnisse wurden mir auch verschiedentlich von Homosexuellen berichtet, die unter Ausnutzung der mechanischen Vorbedingung den Beischlaf bei diesem Leiden ohne Lustempfindung vollzogen. Manchmal sind an der Erektion nur die Corpora caver- nosa des Membrum beteiligt, häufiger aber auch die Schwellkörper der Harnröhre und Glans. Der an und für sich große Schmerz wird oft noch durch Harnverhaltung gesteigert. Meist muß schließlich zu narkotischen Mitteln gegriffen werden, unter denen sich am ehesten noch Morphium als nützlich erweist, in anderen Fällen kann nur durch einen chirurgischen Eingriff Hilfe geschaffen werden, besonders dann, wenn Fremdkörper und Neubildungen als auslösende Momente in Frage kommen. Von nicht minder hoher praktischer Bedeutung wie die Erek- tionssteigerungen sind die der Ejakulation, die Polyspermie; von den freiwilligen Samenabgängen, die stets psychisch mit bedingt sind, war bereits die Kede, vor allem in dem Kapitel Ipsation. Völlig anders zu bewerten sind die unfreiwilligen, meist un- erwünschten Samenabgänge, die in das Gebiet des Pollutionis- mus und der Spermatorrhoe fallen. Die Pollutionen (die Be- zeichnung rührt von polluere = quellen her) finden bei gesteiftem Gliede meist nachts, gelegentlich auch am Tage statt; die Spermator- rhoe (oder Samendiarrhoe) dagegen gewöhnlich bei schlaffern Mein- 137 brum fast immer am Tage und nur selten nachts. Zwischen beiden stehen Ergüsse bei h albschlaffem Penis, wie sie sich beispiels- weise beim Reiten, Radfahren oder bei reizbaren Personen im Ge- dränge ereignen. Einige Autoren, besonders fast alle Vertreter der Anschauung, daß der sexuelle Verkehr für den Menschen entbehr- lich sei, erklären die Pollutionen für einen pbysiologischen, nor- malen Zustand, er stelle ein natürliches Ventil, eine periodische Abstoßung von Keimzellen dar, die der Eiabstoßung beim Weibe, der Ovulation mit der sie begleitenden Prägravidität (Men- struation) gleichzusetzen sei. Andere halten jeden unfreiwilligen Samenabgang für einen pathologischen Vorgang. Wir halten dafür, daß auch hier wie so oft die Wahrheit zwischen den anscheinenden Gegensätzen liegt, und die Entscheidung der Krankhaftigkeit von verschiedenen Voraussetzungen abhängig ist. So ist beispielsweise ein unfreiwilliger Samenabgang bei sexuell abstinenten Menschen natürlich ganz anders zu beurteilen, als bei Personen, die regel- mäßig geschlechtlich verkehren. Meist ist mit der stoßweisen Aus- stoßung des Samens ein erotischer Traum verbunden, bei dem es nicht feststellt, ob er die Ursache, oder, was ich für wahrschein- licher halte, eine reflektorische Folge der Samenstauung und Ausstoßung ist. Alte Autoren sprachen hier von Samen- plethora. Dieser Zustand äußert sich zunächst in häufigen Erektionen, auch im wachen Zustande, geschlechtlichen Vorstellun- gen und nicht unbeträchtlicher Unruhe. Wegen hinzutretender so- wohl libidinöser als allgemeiner Heftigkeit hat man volkstümlich solche Fälle auch Samenkoller (vgl. . die ähnliche Wortbildung Tropenkoller) genannt. Im Schlafe, wenn die Hemmungen und Gegenvorstellungen aufgehoben sind, führt die Samenplethora zu erotischen Träumen, die wie sexuelle Erlebnisse wirken und schließ- lich wie diese auch zur Zusammenziehung der Samenbläschen führen. Fast jeder gesunde Mensch, der sich nicht anderweitig geschlecht- lich betätigt, hat von Zeit zu Zeit Pollutionen, wenn auch in sehr verschiedenen Abständen. Ihr erstes Auftreten erfolgt bald nach Bildung des Samens und beeindruckt oft ähnlich wie die erste Men- struation unvorbereitete junge Menschen erschreckend. Es emp- fiehlt sich daher, was oft verabsäumt wird, daß die Eltern ihre Kinder, und zwar spätestens bereits im elften Jahre, über den Ein tritt dieser natürlichen Vorgänge unterrichten. Die Häufigkeit der Pollutionen ist ebenso wie ihr erstes Auftreten abhängig von verschiedenen individuellen Faktoren, vor allem auch von der Lebensweise. Wie oft jemand eine Pollu- tion haben kanjo, ohne daß sie seiner Gesundheit Abbruch tut, läßt sich schwer zahlenmäßig ausdrücken. Während der eine abstinent lebende Mensch nur alle 4 Wochen oder seltener von Samen- ergießungen heimgesucht wird, kommen solche bei anderen alle 138 II. Kapitel: Hypererotismus Wochen, ja sogar mehrmals die Woche vor. Nicht selten bleiben auch diese Pollutionen mehrere Wochen oder Tage aus, um dann 2 oder 3 mal oder noch öfter kurz hintereinander aufzutreten. Hin- sichtlich der Anzahl der Pollutionen kann das individuelle Maß im allgemeinen als nicht übersehritten angesehen werden, wenn die Ergüsse weder subjektive noch objektive Störungen hinterlassen, oder ihnen gar ein Gefühl der Befriedigung und Erleichterung folgt. Durchschnittlich kann man sagen, schwanken bei enthalt- samen Personen die Pollutions-Intervalle zwischen 10 bis 30 Tagen. Von manchen werden zeitweise Pollutionen als förder- lich zur Beseitigung ihrer nervösen Spannungen angesehen; doch sind sowohl für die günstige, als ungünstige Selbstbeurteilung der Pollutionen autosuggestive und hypochond- rische Momente fast stets- mitwirksam. Donner zitiert einen alten Arzt aus dem Jahre 1784, der von sich berichtet, daß er alle 4 Wochen von Beschwerden geplagt gewesen sei, die im ganzen Körper herumzogen, bis er dann durch eine Pollution davon be- freit worden sei. Dies habe er sich gemerkt und sei dann jedesmal den Beschwerden zuvorgekommen durch ein Verfahren, das er als „cito, tuto et jucunde" bezeichnet. Nicht selten aber kommt es auch vor, daß Pollutionen am an- deren Tage eine große Mattigkeit und Abgeschlagenheit hinterlassen mit Verminderung der Arbeitsfähigkeit. Wenn an gegeben wird, hiermit sei bewiesen, daß diese Beschwerden dann eintreten, wenn die Pollutionen häufiger sind, als dies der Eigenart der Patienten entspricht, so ist dies nur bedingt zutreffend; meist pflegt es sich um an und für sich neuropathische Personen zu han- deln, deren reizbares Nervensystem ungünstig auf die nächtlichen Samenausstoßungen reagiert, Auf krankhafter Hyperästhesie be- ruhen auch diejenigen Pollutionen, die durch geringe äußere Ein- flüsse, volle Blase, volle Därme, zu weiches Bett usw. veranlaßt werden. Es gibt Fälle, in denen die Pollutionen jede Nacht, ja sogar jede Nacht mehrmals auftreten. Mit der Zeit pflegen dabei die Erektionen nachzulassen. Diese Samenverluste treten fast ohne Empfindungen auf, und erst am Morgen oder bei zufälligem Er- wachen findet man die Spuren, welche der Erguß in der Bettwäsche zurückgelassen hat. Solche Schlaf pollutidnen scheinen vielfach ohne erotische Träume zu verlaufen; wenigstens fehlt sowohl die Erinne- rung an den 'Erguß, als an einen Begleittraum. Sie schwächen die Patienten in erheblichem Maße und führen oft zu Kreuzschmerzen, großer Müdigkeit, Herzbeschwerden, nervösem Asthma, starken seelischen Depressionen und hochgradiger Reizbarkeit; sie gehören eigentlich in das Kapitel der sexuellen Neurasthenie, auf derem Boden diese Samenverluste erwachsen, und die sie gleichzeitig ver- mehren. II. Kapitel: Hyperefotismus 1 39 Seltener, aber noch im höheren Grade ein Zeichen reizbarer Schwäche sind die am Tage oft aus ganz geringfügigen Anlässen sich einstellenden Pollutionen. Sie kommen bei leichten äußeren Keibungen und Erschütterungen vor, beispielsweise beim Druck des Sattels oder einer anderen Unterlage, nicht selten auch unter psychischen Einflüssen wie beim Anblick adäquater Fetische. So hatte ich einen Patienten, der Samenergüsse be- kam, wenn er Damen mit hohen Stiefeln sah, die die Beine üben in- andergeschlagen hatten. Gewöhnlich geben die Patienten an, daß solche Pollutionen ohne jede Be-rührung eintreten. Es findet aber doch meist ein mehr oder weniger willkürliches Zu- sammendrücken der Oberschenkel statt, welches ein Hervorquellen des Samens bewirkt. In den letzten Jahren habe ich wiederholt. Fälle gesehen, in denen Patienten über Pollutionen klagten, von denen sie im Gedränge der elektrischen Bahn betroffen wurden. So suchte, mich ein katholischer Geistlicher auf, der mir mitteilte, daß er früher nur ganz selten Erektionen und Pollutionen gehabt hätte. Seit durch die Kriegs- und Kevolu- tionsverhältnisse die Bahnen so stark überfüllt seien, sei es häufig vorgekommen, daß weibliche Gesäße unwillkürlich in die Näbe Heiner Genitalien gekommen wären, so daß er nun an zahlreichen Pollutionen litte. Wer die nicht unerhebliche Gruppe der Frot- teure kennt, wird freilich die Angabe der Unwillkürlichkeit oft mit einem Fragezeichen versehen dürfen. Höchst eigenartig sind die Pollutionen, die sich bei manchen Menschen infolge von Argstzuständen einstellen. Gewöhnlich setzen diese .schon in früher Jugend ein bei irgendeiner schreckhaften Erregung und wiederholen sich später dann unter ähnlichen Umständen. Wohl aus fast allen Angst- und S c h r e c k p o 1 1 u t i o n i s t e n ent- wickeln sich mit der Zeit metatropische Masochisten. Ganz anders zu bewerten als die Pollutionen sind jene Samen- flüsse, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie ohne Steifheit des Gliedes und ohne geschlechtliche Gedanken und vorhergehende Er- regungen vorkommen. Vor allem beobachtet man sie im Anschluß an die Harn- und Kotentleerung, offenbar dadurch, daß der Druck der Bauchpresse seinen Einfluß auf die gleichzeitig ungemein reiz- baren Samenbläschen und Samenkanälehen erstreckt. Die M i k - tions- und Def äkations-Spermatorrhoe tritt viel bei Leuten auf, die vorher an nächtlichen und täglichen Pollutionen gelitten haben, kommt aber auch ebenso oft ohne diese vor, nament- lich bei Personen, die durch schwere, akute oder chronische All- gemeinerkrankungen geschwächt sind. Die Spermatorrhoe führt ihren Namen oft zu Unrecht, weil es sich meist nur um eine Pro- statorrhoe handelt. Der Abgang von etwas Prostatasaft ist ein ungemein häufiges Vorkommnis bei allen möglichen Vorgängen, wie 140 II. Kapitel: Hypererotismus bei Geschlechtserregungen Verlobter oder beim Anblick die Libido reizender Bilder. Man bat wirkliebe Spermatorrboe in Zweifel^ ge- zogen und angenommen, daß es sieb beispielsweise nacb der Urin- oder Kotentleerung immer nur um Absonderungen von Prostatasaft bandelt. Doch haben die mikroskopischen Untersuchungen gezeigt, daß, wenn auch nur selten, Samenfädchen gleichfalls in dem Aus- fluß' enthalten sind. Sicherlich kommen aber gerade hinsichtlich der Spermatorrhoe oft Fehldiagnosen vor. So wurde mir vor einiger Zeit von einem Kollegen ein Soldat überwiesen, der angeblich an ununterbrochenem Samenfluß seit • 10 Jahren litt. Die mikrosko- pische Untersuchung, deren Unterlassung in solchen Fällen ein er- heblicher Fehler ist, ergab, daß es sich um eine chronische Urethritis nicht gonorrhoischer Natur handelte, die sogenannte Gonorrhoen simplex. Besonders häufig findet man den Samenfluß bei hartem Stuhl. Früher glaubte man, daß die harte Kotmasse bei ihrem Durchgang von dem Inhalt der Samenbläschen etwas mit herauspresse. Dieses ist aber sehr unwahrscheinlich, da die Samenblasen zw^chen Mastdarm und Harnblase sehr beweglich angeordnet sind und leicht einem Druck aus- weichen können. Außerdem findet man den Samenfluß auch mindestens so häufig, wenn nicht noch häufiger, ohne starken Druck der Bauchpresse, als mit diesem. Nicht selten entweicht Samen unmittelbar nach dem Urinieren; hier ziehen sich im Anschluß an die Harnblase die Samenbläschen zusammen und lassen eine größere oder kleinere Menge Samenflüssigkeit heraustreten, welche durch die zu schlaffen Samenkanälchen nicht zurück- gehalten wird und daher mit dem Urin abgeht. > Es kommt aber auch vor, daß der Samen nicht nur in Verbindung mit der Stuhl- oder Urinentleerung abgeht, sondern beim Husten, beim Heben schwerer Gegenstände und anderen Tätigkeiten, welche einen Druck auf die Bauchdecke ausüben. Während die Pollution unter krampfhaftem Zu- sammenziehen der Urogenitalmuskeln und stoßweiser Entleerung des Samens vor sich geht, wobei gleichzeitig der Inhalt der Prostata und der urethralen Drüsen mit ab- gesondert wird, handelt es sich bei der Spernvitorrhoe lediglich tun! ein a tonisches Herausträufeln. Der kontinuierliche Samenfluß, von dem die Alten so viel fabelten, ist mit Sicherheit nicht festgestellt worden. Bei den vielen sonstigen Aus- flüssen aus der Harnröhre könnte ein solcher nur durch das Mikroskop festgestellt werden, worüber sich aber in der Literatur keine zweifellos gesicherten Bekundungen finden. Auch die Spermatorrhoe wird in ihrer Bedeutung ebenso wie die Pollutionen vielfach überschätzt, wenngleich immerhin nicht in Abrede zu stellen ist, daß sie in höheren Graden auch wohl schwächend auf das Gesamtnervensystem wirken dürfte. Eine besondere Form des Samenflusses findet sich bei hinten sitzenden Verengerungen der Urethra, bei denen es vorkommt, daß der aus den Samenbläschen herausgeschleuderte Samen in die Harnblase r e g u r g i t i e r t wird und dann allmählich mit dem Harn abfließt. Ein ähnlichen Vorgang wird auch von einigen absichtlich herbeigeführt, die, um eine Befruchtung bei dem Beischlaf zu verhüten, kurz vor dem Samenerguß das Glied an der Wurzel zusammendrücken. Man kann sagen, daß die Pollutionen mehr auf allgemeinen Ursachen, die Spermatorrhoe mehr auf örtlichen Störungen beruhen. Beide weisen insofern einen Circulus vitiosus auf, als der Samen- verlust auf das allgemeine Befinden schwächend und das ge- schwächte Nervensystem auf die Samenverluste fördernd einwirkt. Einige Schriftsteller neigen dazu, die Samenverluste mehr als Ur- sache nervöser Störungen anzusehen, während andere sie umgekehrt II. Kapitel: Hypererotismus 141 mehr als eine Folge nervöser Erkrankungen betrachten. Sicher ist, daß die Entstehung und die Wirkung aller genitalen Störungen zum großen Teil davon abhängt, ob von Haus aus ein stabiles Nerven System oder eine neuropathische Veranlagung vorhanden ist. Da- neben sind es aber oft kleine lokale Veränderungen, Entzündungen und Eeizungen, welche die Samenverluste aller Art, vor allem auch die noch zu besprechende Ejaculatio praecox, fördern. Diese Collie u litis seminalis kann, sowohl durch sexuelle Exzesse wie übermäßige Onanie , Coitus interruptus . sexuellen Abusus überhaupt, sowie durch Tripper hervorgerufen weiden, und so darf man wohl sagen, daß, wenn auch auf Umwegen, diese Leiden nicht ganz selten zu Samenflüssen führen. Teils handelt es sich um eine übermäßige Heizung der peripheren Endigungen der Geschlechts- nerven, teils um eine überstarke Reizung der reflektorischen Gehirn und Rückenmarkszentren. Der alte Begriff der sexuellen Über- reizung hat in dieser Hinsicht manches für sich, wenn er auch wissenschaftlich nicht so umgrenzt ist, wie das neuere Krankheits- bild der sexuellen Neurasthenie , der reiz b a r e n N e r v e n schwäche auf Grund inadäquater Sexualität. Wir werden in einem besonderen Kapitel dieses ganze Gebiet zusammen- fassen und dort dann auch die örtlichen Sexualneu roseD behandeln, unter denen d i e E j aculatio praecox, der wide r Willen zu früh eintretende Samenerguß, an Häufig- keit und Wichtigkeit an erster Stelle steht. Die Behandlung des Hypererotismus muß eine symptomatische und kausale sein. ' Erstere wurzelt in sexueller Hygiene und Prophy- laxe, darf aber auch medikamentöse und psychische Sedativa nicht außer acht lassen. Die ätiologische Therapie setzt an den Iukret e n an; sie darf in schwerwiegendsten Fällen nicht vor ihrer Entfernung aus dem Organismus mittels operativer Eingriffe (Ektomie de) Testikel) zurückschrecken, ohne sich zu verhehlen, daß wie in dem Kapitel Geschlechtsdrüsenausfall dargelegt, ein völliges Erlösehen der Libido durch Beseitigung der Hoden, ebensowenig wie durch ihren angeborenen Mangel gewährleistet ist. Nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch weil ich glaube, daß eine zweite Person, und sei es selbst ein Arzt oder Richter, aus rein menschlichen Gründen nicht so weit gehen darf, habe ich meinerseits noch niemals zur Kastration geraten, muß aber streng wahrheitsgemäß bekunden, daß die Hyper- erotiker, welche freiwillig diesen Weg gegangen sind, und ihre Zahl ist größer, als man gewöhnlich glaubt, mir nahezu überein- stimmend berichtet haben, daß sie diesen Schritt nicht bereut und wenn auch kein völliges Verschwinden, so doch ein so erheb- liches Nachlassen ihrer Leidenschaft bemerkt haben, daß ihnen die Beherrschung ihres Geschlechtstriebes, soweit solche überhaupt noch in Frage kam, wesentlich leichter fiel, als vor der Operation. III. KAPITEL Impotenz Der sexuelle Potenzmechanismus — Die vierfache Gcnitalinnervation — Einige all- gemeine Betrachtungen über Fortpflanzungsfähigkeit — Adoptierungs gutachten — Einteilungen der Impotenz — Die Impotentia coeundi et generandi — Zere- brale Erotisierung — Eheanfechtung wegen Aspermatismus und Anandri- nismus — Organische und funktionelle Impotenz — Absolute und relative Impotenz, matrimoniale Impotenz — Unsere Vierteilung in impotentia cerebralis, Spi- na 1 i s , genitalis und g er m i n a I i s — Sexuelle Appetitlosigkeit — Anti- erotische Wirkung der Ermüdungsstoffe und Toxine — Flucht vor sexuellen Anfechtungen in die Einsamkeit — Depotenzierende Wirkung des Alkohols — Morphinistische Impotenz — Einfluß von Kokain, Kaffee, Blei und Nikotin auf die Potenz — Impotenz infolge akuter und chronischer Krankheiten — Ge- mütsverfassung und Sexualität — Anerotismus des Weibes — Impotenz infolge von Triebanomalien — Impotenzen auf antifetischistischer Grundlage — Ehewieder- herstellungs gutachten bei temporärer Impotenz — Autosuggestive Im- potenz — Hemmungsimpotenzen — Die mangelhafte Geschlechtsempfin- dung des Mannes und des Weibes — Warum bleibt das Lustgefühl beim Weibe häufiger aus als beim Manne? — Anorgasmus und Frigidität — Verschiedenheit der männ- lichen und weiblichen Lustkurve — Kalte Frauen — Relative und absolute Frigidität - Der individualistische Charakter des Sexualreflexes — Stimmung des Nervensystems - L u s t v o r t ä u s c h u n g im Geschlechtsverkehr — Ejaculatio praecox — Die spinale Impotenz — Die sexuellen Zentren im Rückenmark und Sympathikus — Die senso- rische Leitung im nervus pudendus — Die motorische Leitung in den nervi erigentes — Die Unabhängigkeit des Erektions- und Ejakulationsvorgangs vom Willen — Der komplizierte Blutgefäß- und Muskelapparat des Gliedes — Ausfalls- erscheinungen bei Schuß durch das Lendenmark und ihre allmähliche Rückbildung - Tabische Impotenz — Fall von Impotenz bei multipler Sklerose — Gutachten über Ehe- bruchsbilligung eines impotenten Gatten — Psychogene Bedingtheit der „nervösen" Impotenz — Die genitale Impotenz — Penisdefekte — Beischlafs- und Zeugungsfähig- keit von Hermaphroditen — Abnorme Kleinheit und Größe des Penis — Ver- doppelung des Penis (Diphallus) - - K o h a b i t a t i o-n s e r s c h w e r u n g durch Hypospadie und Epispadie — Bedeutung der Phimose — Die wirkliche und angebliche Verkürzung des Vorhautbändchens — Behinderung des Koitus durch Paraphimose — Penisschüsse — Fraktur und Luxation des Penis — Der ge- schundene und abgerissene Penis — ■ Abschnürungen des Penis — Fremdkörper in der Harn- röhre — Erfrierungen und Verbrennungen! des Gliedes — Herpes progenitalis — ■ Die Kavernitis — Chorda penis — Die plastische Induration des Penis — Ossifikations- prozesse im Glied — Die Fournier sehe Krankheit! — Ödematöse, variköse und ele- fantiastische Verdickungen des Gliedes — Impotenz durch Kondylome, Geschwüre und Geschwülste des Penis — Penishörner ■ — Einschlüpfen des Penis — Beischlafsfähigkeit weiblicher Hermaphroditen ■ — Membranöser Vulvaverschluß — Narbige Scheidenver- wachsungen — Atresia vulvae — Neubildungen an der Scham — Depotenzierende Wirkung der Hottentottenschürze — Pruritus vulvae — Scheidenstenose — Das 143 abnorm dicke resistente Hymen — Die zweite Verschlußmembran — Scheidendefekt Falsche Scheiden — Doppel scheide — Kohabitation in den vorgefallenen Muttermund - Beischlafsunfähigkeit wegen schmerzhafter Entzündung in den Adnexen — Die ger- minale Impotenz — Das Drüsengemenge im Ejakulat — Die Aufgabe der Sanien- bläschon — Bedeutung des Prostatasaftes — Aspermie und Azoospermie — Ejaculatio disjuneta — Samenlosigkeit auf Grund nicht produzierter oder nicht sezernierter Samen - fädchen — Kausalverhältnis zwischen psychosexopathologischer und generativer Kon- stitution — Beischlafs- und Zeugungsfähigkeit der Eunuchen — Doppelseitige Neben- hodenentzünduug als häufigste Ursache der Azoospermie — T r i p p e r s t e r i 1 i t ä t Notwendigkeit der Samenuntersuchung bei strittiger Vaterschaft Künstliche Befruchtung durch Hodenpunktat — Samenlosigkeit bei Erschöpfungs- zuständen — Quantitative und qualitative Keimverderbnis durch Alkohol — Zeit- Sterilisation mittels Röntgenstrahlen — Nekrospermie — Oligospermie — Asthe- nischer und mißbildetcr Samen — Spermaschädliche Stoffe — Verfahren zur Gewinnung einwandfreien Spermas — Samenblascngelee — Rot, grün und gelb gefärbter Samen - Ejakulationsloser Koitus — Aspermie nach wiederholten Koitusakten — Organische Be- hinderungen des Samenaustritts — Schmerzen beim Orgasmus — Spermaturie — Die germinale Impotenz der Frau — Eiermangel — Unwegsamkeit der Leitungswege — Ge- schlechtskrankheiten als häufigste Ursache der weiblichen Unfruchtbarkeit — Verkümme rungen der Gebärmutter — Der fötale, infantile und pubeszente Uterus Xaclientwick- lung der Gebärmutter — Empfängnisunfähigkeit — iluttcrmundstenosen — Impotentia coneipiendi, gestandi und parluriendi. Der sexuelle Potenzniechanisnius mit seineu verschiedenen Kveuzungsstellen im Gehirn, Rückenmark, Sympathikusgefleeht und an der Peripherie, mit seinen Vorstellung«- und Hemmungs- baken einerseits, den neuropsychischen L e i t u n gs bahnen und dem inneren Chemismus andererseits stellt einen so kom- plizierten Apparat dar, daß es eigentlich Wunder nimmt, daß ein auf so viel Vorbedingungen und Unversehrtheiten beruhendes Instrument nicht noch häufiger Betriebsstö- rungen erleidet, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Jedenfalls muß der Arzt, welcher das weite Gebiet der Impotenz beherrschen will, ebensosehr Gynäkologe als Androloge, ebensosehr Psychiater und Neurologe als Venereologe und Urologe sein, vor allem muß er sich aber die Sexualbiologie und Sexualpathologie in allen Teilen zu eigen gemacht haben. Es erschien uns erforderlich, diesem Kapitel eine Über- sicht der sexuellen Nervenbahnen nach dem neuesten Stande der Wissenschaft voranzuschicken, die als Grundlage für das Ver- ständnis der Potenzstörungen heim Manne wie Weibe uneidäßlich sind. Wir folgen dabei einer zusammenfassenden Darstellung, die in unserem Institut für Sexualwissenschaft von Dr. Kurt F r i e d 1 ä n d e r ausgearbeitet wurde. Wenn als das beherrschende Grundprinzip sexualpathologiscber Störungen in dem vorliegenden Werke die innere Sekretion der Blutdrüsen im allgemeinen, und die der Keimdrüsen im besonderen angenommen wurde, so dürfen wir doch, wenn wir uns mit der Erektion und Ejakulation des. Mann es und den beim 144 Weibe entsprechenden Erscheinungen befassen, nicht die Anatomie und Physiologie der Innervation dieser Vorgänge ver- nachlässigen. Es ist hinreichend bekannt, daß eine große Zähl von Störungen der Potenz beim Manne, durch die Erkrankungen der Nerven und ihrer Bahnen im Rückenmark und Gehirn oder aber durch direkte Schädigung der Genitalzentren hervorgerufen, ein ab- solut eindeutiges Bild geben, ohne daß wir es nötig haben, auf die innere Sekretion zurückzugreifen oder komplizierte psychische Alterationen zu supponieren. Wenn wir die Innervation der Sexual- vorgänge beim Weibe studiert haben, so werden wir gewiß manchen Fall von Impotenz der Frau, besonders wenn wir immer wieder analoge männliche Potenzstörungen heranziehen, mit Schädigungen der Nervenbahnen erklären können. Diese Störungen werden sich, wie eine einfache Überlegung sagt, in der weiblichen Ejakulation . im weibliehen Orgasmus bemerkbar machen, sei es, daß die Nerven, die den Orgasmus vermitteln, geschädigt sind, sei es, daß die Erek- tion der Clitoris fortfällt und damit die Möglichkeit, durch Sum- mation adäquater Reize die Entspannung herbeizuführen. Die Libido, im wesentlichen ein Produkt der inneren Sekretion, kann dabei völlig erhalten sein. Die Genitalien haben eine vierfache Innervation: 1. sensibel, 2. motorisch, sympathisch, 4. parasym- pathisch (siebe Tafel IV).' Innervation der männlichen und weiblichen Potenz. Für die Innervation der Beckenorgane, speziell der Genitalien, kommt der Plexus lumbosacralis in Betracht, der motorische und sensible Fasern enthält. Er setzt sich zu- sammen aus den 5 Lumbal-, den 5 Sakral- und den Coccygealnervcn. Man trennt ihn in einen Plexus lumhalis und Plexus pudendalis. (Der Plexus sacralis fällt für unsere Be- trachtungen nicht so -ehr ins Gewicht.) Aus dem PI. lumbalis (aus L. 1—4) entspringt der N. ileoinguinalis, der zum Sa'menstrang zieht und die Haut des Hodensackes und die großen Labien versorgt. (Nn. scrotales — labiales antt.) und der N. genitofemoralis (aus L. 1—2). Dieser teilt sich in den N. spermaticus ext. und N. lumboinguinalis. N. sper- maticus ext. geht durch den Leistenkanal in den Hodensack und hat motorische Fasern für den M. cremaster und die Tunica dartos, sensible Fasern für das Skrotum, für die großen Labien beim Weibe, und geht mit dem sympathischen PI. spermaticus int. enge Verbindungen ein. Der N. lumboinguinalis zieht zur Haut der vorderen inneren Fläche des Obersehenkels und versorgt so eine wichtige erogene Zone mit sensiblen Fasern. Der PI. pudendalis stammt hauptsächlich aus dem 3. bis 4. Sakralsegment und ent- hält die für die Genitalien wichtigsten Nerven. Aus ihm entspringen die Nn. haemor- rhoidales medii und vesicales infF., sie sind beim Weibe stärker ausgebildet, versorgen die Harnblase und den Fundus uteri. Einzelne Zweige ziehen als Nn. vaginales zur Scheide. Sie verbinden sich mit den Nn. haemorrhoidales des sympathischen Geflechtes. Der bedeutendste Nerv aus dem PL pudendalis ist der N. pudendus communis, der zum größten Teil aus S 3, zum kleinen Teil aus S 4 stammt. Er teilt sich in den a) N. haemorrhoidalis inf. zur Haut der Analgegend und zum Sphincter ani ext. b) N. perinei, er innerviert den M. ischio- und bulbocavernosus, die Haut des Dammes, die hintere Partie des Skrotums, bzw. Labia majora (Nn. scrotales-labiales postt.). Ferner innerviert er mit einzelnen Fäden die Schleimhaut des oberen Harnröhrenteiles. Der Endzweig des N. pudendus innerviert als N. dorsalis penis (clitoridis) die Eichel, die Vorhaut, die Poteiizinnervation (nach einem im Institut für Sexualwissenschaft von Dr. Kurt Friedlärider entworfenen Schema). Tafel IV. in ?erceret»*&/cy /Ve urv t . — /Yuc/. ruber Nukleus dentatus ctrebe/fi \ | Csng/ coe/racum I P/eA. hypogasrrtcus mit Gang/ .„......».»--.. mvitn.1. fW/f F 7 Genifaii'en. 6 ♦ /* AT T>/ex.prosfar;caa ' öuerAlmarK Neuron : 12,3 4- Centrum 11 " •« pudendus corrtm S 1 JP/cauo puotcndati&) ~~~°M eng errs (N. t&vernosui) \ P/ex. caver. nosu». sensibel mo/or/seft SVrnpotiic/i sensibel motorisch sympal'Aah paraynparijch Ablauf der FreAHon: auf Je™ tvi3e <lv Neurone lfsen,.) - §rmtt,i -a.üscvjcißi. - V_ £^^^XTJii Ablauf der Ejakulation! au/ dpm Wege de* Neurone ■1 dem.) - efrZnr. ) - 10 rjymp) - 9 Csymp.) Dieses Schema dient zur übersichtlicheren Yeranschaulichung der auf S. 144 bis 155 ausführlich gegebenen Erläuterungen. 145 Schwellkörper von Penis und Klitoris und den vorderen Teil der Haruröhrensclileimliaut. Außerdem gibt er einen motorischen Zweig zum M. transversus perinei prof. ab. Die sich aus dem PI. lumbosacralis bildenden Spinalnerven enthalten motorische und sensible Fasern. Kurz vor ihrem Eintritt ins Rückenmark findet die Trennung statt. Wir wollen zuerst die sensible Bahn in ihrem ganzen Verlaufe verfolgen. Die sensible Faser beo-innt in besonderen Apparaten der Haut, Schleimhaut (Meißnersche Tastkörperchen, Krausesche Genitalkörper) und Muskeln und zieht zu ihrem Zellkörper der Ganglienzelle im Spinal- ganglion. Von dort tritt ihre Faser durch die hintere Wurzel ins Rückenmark. Die hinteren Wurzeln können topographisch und auf Grund ihrer Entwicklung unterschieden werden in 1. mediale, welche in die Hinterstränge eintreten, und 2. laterale," feinere Bündel, die in die Randzone, bzw. in die Spitze der Hintersäule gelangen. Alle Hinterwurzel- fasern erscheinen als zentrale Äste T-förmig geteilter Nervenfortsätze von Zellen der Spinalganglien, die ihre peripheren Äste zur Haut, Schleimhaut und zu den Muskeln ent- senden. Die zentralen Äste der Spinalganglienfortsätze erfahren innerkalb des Hinter- stranges eine weitere Teilung, und zwar in einen feineren kürzeren, absteigenden und einen gröberen, längeren, aufsteigenden Ast, beide geben Kollateralen au die graue Sub- stanz ab. Die langen Hinterwurzelfaseräste, die in den Burdachschen und Gollschen Strängen hinaufsteigen, ziehen weiter Zentralwärts und erreichen die Gollschen und Bur- dachschen Kerne im verlängerten Mark. Zu den Gollschen Kernen gelangen dabei Äste von Wurzelfasern, die dem Sakralmark, Lendenmark und unteren Brustmark angehören, also in der Hauptsache die uns hier interessierenden Bahnen. D a m i l e n d e t d a s periphere sensible Neuron., Die Zellen der Gollschen und Burdachschen Kerne dienen aufsteigenden Achsen- zylindern zum Ursprung, die in die mediale Schleife übergehen und im Thalamus endigen. Zwei aufsteigende Leitungssysteme sind zu unterscheiden. Von den Gollschen Kernen bildet das eine Leitungssystem den oberen, längeren Teil der oberen Kreuzung (Decussatio lemniscorum), nimmt im dorsalen Abschnitt der Oliverizwischenschicht Platz und bildet weiter den medialen Teil des medialen Lemniskus, mit welchem der ventrale Teil des Thalamus erreicht wird. Das zweite Leitungssystem geht von den Burdachschen Kernen aus zur oberen Kreuzung (Decussatio lemniscorum), deren unteren, kürzeren Abschnitt sie bilden, lagern sich dann im ventralen Teil der Olivenzwischen- schicht dicht über den Pyramiden und erzeugen den äußeren Teil des medialen Lemnis- kus, Auch diese Fasern ziehen zum ventralen Teil des Sehhügels. Bei beiden Leitungs- systemen endet hier das zweite Neuron. Aus den Ganglien des ventralen Thalamus- abschnittes entspringen die thalainokortikalen Fasern, die durch den oberen Teil des hinteren Schenkels der inneren Kapsel mit dem Stabkranz zum Scheitellappen und zur hinteren Zentralwindung verlaufen (Flechsigs Körperfühlsphäre) und in den kleinen Rindenzellen dort ihre Aufzweigung finden. Mit diesem Neuron endet die sen- sible Bahn. Durch Assoziationsfasern, die von den kleinen Rindenzellen zu den Riesenpyra- midenzellen ziehen, ist eine Verbindung zwischen aufsteigendem und absteigendem Lei- tungssystem hergestellt. In den Riesenpyramidenzellen der vorderen Zentralwindung und der ersten bis zweiten Stirnwindung beginnt die motorische Bahn, das zentrale motorische Neuron. Die Neuriten der Pyramidenzellen ziehen nach Aufnahme von Myelinscheiden mit dem Stab- kranz zur Gegend des hinteren Drittels vom hinteren Schenkel der inneren Kapsel hinab durch den Fuß des Himschenkels, durch den basalen Teil der Brücke zur Pyramide der entsprechenden Seite, wo eine teilweise Kreuzung stattfindet. Der ungekreuzte Teil zieht als PyTamidenseitenstrangbahn, Fasciculus cerebrospinalis lat., der gekreuzte als Pjra- midenvorderstrangbahn — Fasciculus cerebrospinalis ant. — abwärts. Die laterale Pyra- midenbahn geht bis ins Sakralmark, die ventrale verliert sich in der oberen Rücken - markshälfte. Die motorischen Fasern für die Genitalorgane verlaufen also ungekreuzt im Fasciculus cerebrospinalis lat. Die Endfasern beider Pyramidenbahnen gelangen zu Gang- lienzellen der Vordersäulen, in denen das periphere motorische Neuron des cerebro- spinalen Leitungssystems beginnt. Gleich nach dem Austritt aus den vorderen Wurzeln Hirschfeld, Sexualpathologie. III. in 146 III. Kapitel : Impotenz vereinigen sich die motorischen Fasern mit den sensiblen und ziehen als gemischte Nerven zu den Erfolgsorganen. Ich möchte kurz erwähnen, daß eine Reihe von motorischen Bahnen in subkorlikalen Ganglien und in bestimmten Kernen des Gehirnstammes unter- brochen werden. Fasern aus der motorischen Rindenzone werden im medialen Kern des Thalamus und im roten Haubenkern umgeschaltet und' gehen als Tractus rubrospinalis gekreuzt nach abwärts. Seine Elemente nehmen Beziehungen zu den vorderen Säulen- zellen, bzw. vorderen Wurzeln. Andere Fasersysteme gehen von den Zentralwindungen durch die innere Kapsel zu den Zellen des vorderen Vierhügelganglions, werden dort um- geschaltet und setzen sieh in absteigenden Bahnen des medioventralen Vorderstrang- feldes fort. Den Hauptanteil an der Innervation der Genitalien und der Erektion und Ejakula- tion des Mannes und den beim Weibe analogen Vorgängen hat das vegetative Nerven- system, bei dem wir zwei große Gruppen unterscheiden, das sympathische und das para- sympathische (früher autonome) System (Langley-Anderson). Beim para- sympathischen System unterscheiden wir eine kranial-bulbäre und eine sakrale Gruppe. Die sympathischen Fasern setzen sich vom mittleren Teil des Rückenmarkes durch die weißen Rami communicantes in den Thorakalnerven und den 4 — 5 ersten Lumbalnerven mit dem Grenzstrang, mit dem Gangl. ccrvicale. sup. und inf. und Gang]. ^' llatum in Verbindung und schließen sich durch die grauen .Rami communicantes den Spinalnerven an. Die parasyrnpathischen Fasern entspringen aus dem. Mittelhirn, dein ver- längerten Mark und dem sakralen Teil des Rückenmarks. Eine Teilung durch anato- mische Präparat ii >ii ist nicht ausführbar. Wir verdanken eine Differenzierung dieser beiden Systeme pharmakologischen Untersuchungen, die speziell durch die Arbeiten von Meyer und Gottlieb wesentlich gefördert wurden. Das sympathische System und das parasympathische (kranial-bulbär-sakrale autonome)1 stehen in einem physiologischen, funk- tionellen und pharmakologischen Gegensatz. Die Nervenfaser zwischen Zentralnerven- system und Ganglienzellen heißt präganglionäre Faser, die von den Nervenzellen des Ganglions ausgehende postganglionäre Faser. Fast ausnahmslos wird die vegetative Faser außerhalb des Rückenmarks nur an einer Stelle unterbrochen. Aus den Zellen des ein- gi schalteten Ganglions entspringt ein neuer Achsenzylinder, der nunmehr ohne Zwischen- schaltung von Zellen bis zur Peripherie verläuft (Langley). Gemeinsam ist beiden Systemen ihre Reaktion auf Nikotin. Die Umschaltstelle von der prä- in die post- ganglionäre Faser wird nach einer anfänglichen Reizwirkung gelähmt, so daß damit der Übergang zum postganglionären Neuron blockiert ist. Die meisten Organe besitzen eine doppelte, vegetative Innervation, vom sympathischen und vom parasympathischen System aus, diese Innervation ist fast stets eine antagonistische. Die sympathischen Endapparate werden elektiv erregt durch Gifte der Adrenalingruppe; auf das parasympathische System wirkt es nicht. Die autonomen Endapparate reagieren mit Erregung auf Gifte der Cholingruppe, mit Lähmung auf Gifte der Atropingruppe (Atro- pin,' Muskarin, Pilokarpin, Physostigmin). Atropin vereitelt den Erfolg der Reizung lediglich autonom fördernder Nerven (Fröhlich und Löwi). (Die schweißtreibenden Nerven bilden eine Ausnahme und sollen hier nicht näher besprochen -werden.) Die Nitrite sind Mittel zur elektiven Unterbrechung autonomer hemmender Nervenimpulse. Nach anderen neueren Anschauungen wird immermehr auf das Zusammenwirken von autonomem und sympathischem System hingewiesen. Es soll kein Antagonismus zwischen diesen beiden Systemen bestehen, vielmehr erhöht sich bei Reizzuständen des Sympathikus auch gleichzeitig mehr oder weniger der Tonus im autonomen System (H o f b a u e r). Diese wichtige, unsere frühere Anschauung umstoßende Lehre soll hier nichl näher kritisch beleuchtet und bewertet werden. Ein kurzer Hinweis mag genügen. Die antagonistische Reaktion des Sympathikus und Parasympathikus auf jene Gifte braucht ja nicht einen unvereinbaren Gegensatz zu der Tatsache zu bilden, daß Reiz- zustände des einen Systems auch im anderen eine Tonussteigerung zur Folge haben kann. Man hat die klinisch beobachtbaren funktionellen Reizzustände dieser Systeme ebenfalls in „vagotonische" und „sympathicotonische" trennen wollen (Eppinger, Heß): allein ob- III. Kapitel: Impotenz 147 woh^ diese Trennung für die einzelnen Symptome derartige* Reizzustände restlos möglich ist, und obwohl sich Fälle mit rein vagotonischen oder rein sympathicotoni- schen Syndromen nicht selten finden, so ist doch in der Regel bei funktionellen Reiz- zuständen zu beobachten, daß beide Systeme in ihrem Tonus alteriert sind. Durch die pharmakologische Differenzierung ist uns die anatomische Kenntnis dieser beiden Gruppen des vegetativen Systems in großen Zügen erst ermöglicht, in' den feinsten Einzelheiten ist dies vorläufig noch nicht möglich, da sich sympathische und parasympathische Fasern vielfach innig durchflechten und eine funktionelle Unterschei- dung unmöglich Inachen, im allgemeinen nimmt man an, daß das vegetative System sich nur aus zentrifugalen Bahnen zusammensetzt, wenn auch klinische und experimen- telle Erfahrungen darauf hinweisen, daß dem Sympathicus viscero-sensible, also zentri- petal-leitende Fasern beigemengt sein müssen (L. R. Müller). Auch im vegetativen Nervensystem verlassen die visceromotorischen Bahnen das Rückenmark durch die vorderen Wurzeln, die viscerosensiblen Fasern durch die hinteren Wurzeln. Wir wollen, da wir es mit einem zum mindesten in der überwiegenden Masse zentrifugalen System zu tun haben, auch in der Besprechung diese Funktionsrichtung berücksichtigen und mit dem im Gehirn gelegenen Neuron beginnen. Eckhard verfolgte den Verlauf der Nu. erigentes bis ins Gehirn und Rückenmark und fand bei Reizung der Pons und der Crura cerebri bei Eintritt in das Großhirn Erektion, durch Reizung des Kleinhirns trat keine Erektion auf. Diese Befunde haben im gewissen Sinne eine Bestätigung erfahren durch die Untersuchungen von Lichtenstern und A sehn er. Lichtenstern beobachtete nach elektrischer Reizung des Hypothalamus anhaltende Ulasenknmrakdnnen. Der Reiz wird der Blase auf dem Wege der Nn. erigentes mit- geteilt, die Austrittsstelle im Rückenmark ist zwischen S 2—3. Eine Einwirkung auf Uterustuben oder Samenstränge ist nicht beobachtet. Dieses Zentrum im Hypothalamus funktioniert selbständig, der Reiz ist wirksam, auch wenn die Großhirnhemisphären entfernt sind. Unabhängig von Lichtenstern hat besonders Aschner seine Untersuchungen über die Physiologie des Zwischenhirnes angestellt. Die autonomen und sympathischen Fasern als cerebrale Vertretung, der Eingeweidefunktionen erstrecken sich nicht nur bis zum 4. Ventrikel, sondern noch weiter cranialwärtsi bis zuto Boden des 3. Ventrikels Verletzung des Zwischenhirnbodens erzeugt hochgradige Genitalatrophie, im Hoden Zu- grundegehen der spermatogenen Elemente, in den Ovarien Hemmung der Follikelreifung Wir haben nach Aschner an der bezeichneten Stelle des Zwischenhirnes im Hypothala- mus ein cerebrales Zentrum des Sympathikus zu sehen, und zwar das bis jetzt, am wei- testen kranialwärts beobachtete. Das Vorhandensein eines lebenswichtigen, vegetativen Zentralorganes im Zwi- schenhirn wird durch die Beobachtung Leschkes nahegelegt, daß die leiseste Be- rührung der Zwischenhirnbasis mit einem in schwache Suprareninlösung (1 • 10 000) ge- tauchten Tupferendes den augenblicklichen Tod des Versuchstieres herbeiführt Supra- renin ist das spezifische Reizmittel für den Sympathikus. Karplus und Kr ei dl glauben ebenfalls im Zwischerihirn ein Zentrum für den Sympathikus, speziell für den Halssympathikus gefunden zu haben. .Es scheint be- rechtigt anzunehmen, daß bei Carnivoren und beim Affen (Macacus) im Zwischenhirn ein von, der Rinde unabhängiger, zentraler Mechanismus für den Halssympathikus Me- egen ist und daß ein wesentlicher Anteil dieses Zentralapparates im' Hypothalamus Hegt. Die Erregung zieht von der erwähnten Stelle durch den gleichseitigen Hirn- schenkel kreuzt weiter spinalwärts, die Seite zum Teil und wird schließlich durch die beiden Halssympathici zu den Augen geleitet. Da wir weiter kranialwärts bis jetzt die vegetativen Fasern mit exakter Sicherheit nicht verfolgen können, so nehmen wir im Hypothalamus den Beginn des ersten Neurons an, und zwar nicht nur für den Halssympathikus, sondern ganz allgemein für das gesamte vegetative System. Die Fasern ziehen dann durch die Crura cerebri durch die Pons, durch das verlängerte Mark in das Rückenmark und treten in verschiedener Hohe aus dem Mittelhirn und dem Mark in die vorderen Wurzeln. Vorher endet das 10 * 148 III. Kapitel: Impotenz erste Neuron in bestimmten sympathischen Kernen, von denen aus das zweite vege- tative Neuron beginnt. Und zwar haben wir in der Höhe des oberen Lenden- markes die Ganglienzellen des Nucleus sympath. lat. sup. in der Spitze des Seitenhornes. Diese Zellgruppe erstreckt sich vom Zcrvikalsegment 8 bis Lumbal 3. Der Nucleus sympath. lat. inf. liegt im Winkel von Hinterhorn und Seitenhorn und erstreckt sich vom 2. bis 5. Sakralsegment. Der Nucleus sympath. medial, im medialen Teil des Vorderhornes befindet sich vom 4. Lumbaisegment Iiis .">. Sakralsegment, Eine Differenzierung dieser Ganglien- zellen in sympathische und parasympathische durchzuführen, ist bis jetzt nicht ge- lungen. Die Zellen im unteren Sakralmark, die Zellen des Intermediolateraltraktus, heben .sich besonders deutlich von der Umgebung ab. Sie stehen den Funktionen von Blase. Mastdarm und Genitalien vor. Die periphere Endigung des 1. Neurons ist ein fein- inaschiger Kork, der die multipolare Zelle des 2. Neurons umhüllt. Nachdem die vegetativen Neuriten durch die vorderen Wurzeln das Rückenmark verlassen haben, erfahren die Fasern noch einmal in extramedullär gelegenen Ganglien- zellen eine Umschaltung, um dann als 8. Neuron zu den E r f t> 1 g s o r g a n e n zu ziehen. Alle Ganglienzellen de> vegetativen Systems senden zahlreiche Fortsätze nach allen Richtungen aus. in den Ganglienknoten des Grenzstranges im Ganglion stell. itum und in den prävertebralen! Ganglien, Ganglion solare und Ganglion mesent. inf. finden .sich Ganglienzellen, die lange Dendriten strahlenförmig nach allen Seiten ausstrecken. Im PI. prostatieus und cavernosus und in anderen den Organen unmittelbar anliegenden Geflechten finden sich hauptsächlich solche Zellen, deren intrakapsuläre Dendriten sich hakenförmig abbiegen. Der Grundtyp aller Zellen des vegetativen Systems ist derselbe, nur die Dendriten gestalten sich je nach der Funktion des Organes etwas verschieden. Reim Menschen hat die sympathische Ganglienzelle meist nur einen Kern, beim Kaninchen meist zwei. Es kann in diesem Zusammenhang nicht unsere Aufgabe sein, die Anatomie des ge- samten vegetativen Nervensystems zu besprechen, sondern wir wollen uns auf die Nerven beschränken, di< für die Innervation der P o t e n ^ wichtig sind, d. i. der Becken- teil des Sympathikus und die sakralautonomen Nervenfasern. Der Beckenteil des Sympathikus beherrscht die glatten Muskeln und Blut- gefäße der Haut der Anogenitalgegend, des Penis und der Vagina. Der PI. hypogastri- cu| ist ein breiter Nervenstrang, paarig angelegt, bildet die Fortsetzung des unpaarigen PI. aorticus (mit dem Gangl. mes. sup.). In ihm ist das Gangl. mesent. inf. einge- schaltet, an der Wurzel der Art. mesent. inf. gelegen, das seine präganglionären Fasern mit dem PI. lumbalis aus den vorderen Wurzeln des 1. bis 4. Lumbaisegmentes erhält, und seine postganglionären Fasern zum Kolon und in Gestalt der Nn. hypogastrici zur Blase, insbesondere deren Sphinkter sendet, ferner zum Uterus, den Tuben und der Vagina. (L a n d o i s.) Die Spermatikalganglien, im Gebiete der Art. mesent. inf. gelegen, sind Um- schaltstellen für sympathische Fasern, die zum Fundus uteri, zu den Tuben und Ovarien ziehen, beim Manne zu Hoden und Nebenhoden. Bei der Frau entspringen aus dem PI. hypogastricus der PI. uterovaginalis, zwi- schen den Blättern des Lig. latum liegend, versorgt Gebärmutterhals und oberen Teil der Vagina, und der PI. vesicovaginalis mit Nervenfasern zum unteren Teil der Scheide. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob diese beiden zuletztgenannten Plexus nur sympathische Fasern enthalten; wahrscheinlich sind sie sehr stark mit parasym- ]> a t h i s •• h e n F a s e r n durchmischt. Die sakralautonomen, parasympathischen Fasern, in ihrer Gesamtheit als N. pel- vicus bezeichnet, stammen in der Hauptsache aus dem 1. bis 4. Sakralsegment und sind dem PI. pudendalis beigemischt, die Wurzel der Nn. erigentes (Eckhard) im spe- ziellen verläßt mit dem 2. bis 3. Sakralnerven das» Rückenmark. Von den Sakralnerven ziehen feine Stränge zum PI. prostatieus, PI. vesicoseminalis (2. bis 4. Sakralnerven). PI. duetus deferentialis und PI. cavernosus, und gehen dann über in die Nn. cavernosi. III. Kapitel: Impotenz 149 Bei der Frau ist wohl das F rank e n h ä u s e r sehe Ganglion cervicäle, das im para- metranen Bindegewebe über dem Scheidengewölbe an den Seiten der Cervix uteri ge- legen ist, dem parasympathischen System zuzuzählen. Ebenso enthält der PI. cavernosus, der mit der Art. pudenda) communis durch das Lig. trianguläre urethrae zur Klitoris zieht und sich in die Corp. cavernosa einsenkt, sakralautonome Fasern. Nach Jung sind in der Vagina einzelne Ganglienzellen gefunden worden, in der Klitoris sind reich- lich Ganglienzellen vorhanden, die Frage nach der Existenz von Ganglienzellen int Uterus ist noch nicht geklärt. Um noch einmal kurz zusammenzulassen, der spinale PI. lumbosacralis versorgt die Genitalien mit motorischen und sensiblen Fasern, der X. hypogastricus liefert die sym- pathischen, der N. pelvicus die parasympathischen Fasern für die Geschlechtsteile. Welches ist die Funktion dieser Nerven, wie müssen sie in funktioneller Hinsicht wirken, wenn bei dem Individuum, sei es Mann, sei es Weib, d i e Vorgänge ausgelöst werden sollen, die einen Koitus und eine Zeugung ermöglichen, das heißt Erektion und Ejakulation? Die Erektion beim Manne, das ist die Blutfülle der Schwellkörpei des Penis und die Steifung des Gliedes, bei der Frau die Hyperämie der Corp. eavernosa, der Klitoris und lies Vestibulum vaginae kommt zustande durch Reizung der Nn. erigentes, die gefäß- erweiternde Fasern führen. Wir müssen d r e i E n t s t e h u n g s rn ö g 1 i c h,k e i t e n für die Erektion berücksichtigen: 1. rein psychisch, dies setzt eine Verbindung des Gehirnes mit dem N. erigens voraus, gegeben durch die Existenz von Fasern, die das Rückenmark im obersten Lumbaimark verlassen. Da wir, wie wir noch sehen werden, das spinale Zentrum für die Frektion in das untere Sakralmark verlegen müssen, so wird die psvehisch be- dingte Erektion durch Zerstörung des Markes unterhalb des obersten Lumbaisegmentes nicht gestört. Die Tierexperimente L. R. Müllers (Zeitschr. f. Nervenheilk. 30) sind in diesem Sinne zu deuten, es kommt bei diesen Tieren, denen der untere Rüeken- marksabschnitt herausgenommen ist, zur psychisch bedingten Erektion bei Annäherung einer läufigen Hündin. Die Ausübung des Koitus ist bei männlichen Tieren durch die Lähmung der hinteren Extremitäten rein mechanisch behindert. Wird auch der oberste Teil des Lendenmarkes entfernt, dann ist keine Erektion mehr möglich. Auch wenn bei Tabikern das Erektionsvermögen auffällig lange er- halten bleiben kann, so müssen wir an ein Intaktsein dieser Nervenfasern denken, die vom oberen Lendenmark direkt zum X. erigens ziehen. Eine Tatsache ist es, daß zuweilen während des Entstehens von Q u e r s c h n i 1 1 s- erkran klingen, hauptsächlich wenn diese im Hals- oder! oberen Brustmark liegen, eine dauernde Erektion des männlichen Gliedes beobachtet wird. Dieselbe ist wohl durch Reizung der Fasern an der Querschnittsstelle bedingt, wohl niemals kommt es dabei zu einer vollständig ausgebildeten Erektion, wie auch die leichte Steifun°r des Gliedes nicht 'mit einem Wollustgefühl verbunden ist. Hierher gehört auch die Frektion bei Erhängten. Der zweite Entstehungsmodus ist die reflektorisch b e - dingte Erektion. Die Reflexbahn verläuft von der Glans penis (bzw. clitoridis) durch den N. dorsalis penis (clitoridis), N. pudend. comm. durch die hintere Wurzel des 3. Sakralsegmentes. Von dort springt der Reflex mittels intramedullärer Kol- lateralen auf die entsprechenden sympathischen Kerne im Sakralmark und verläßt dann durch die vordere Wurzel, dem '2. bis 3. Sakralnerven beigemischt, als X. erigens das Mark. Die Auslösbarkeit dieses Reflexes ist an die Intaktheit des 2. bis 3. Sakralsegmentes gebunden. Es kann eine Erektion nur rein mechaniscli ausgelöst werden, wenn auch eine Durchtrennung des Rückenmarks oberhalb dieser Sakralsegmente, die eben besprochene psychisch bedingte Erektion unmöglich machen. Wir erinnern an die diesbezüglichen Experimente Müllers, der männliche Hund ver- hielt sich bei der Annäherung einer läufigen Hündin absolut ruhig, dagegen konnte durch Friktion des Penis Erektion ausgelöst werden. 150 III. Kapitel : Impotenz Die dritte Entstehungsmöglichkeit der Erektion ist die „automatisch e", sie ist vom Rückenmark unabhängig, ihr Zustandekommen ist auch bei Zerstörung aller in Frage kommenden spinalen Abschnitte möglich. Diese Art der Erektion ist vom Füllungszustand der Samenbläschen und der Harnblase abhängig (morgendliche Erektion beim Erwachen). Es ist meines Wissens bis jetzt nicht be- kannt und kaum darauf geachtet worden, ob wir auch beim Weibe morgens eine Blut- überfüllung der Klitoris und des Scheidenvorhofes vorfinden; aber ähnlich© Zustände sind sicher als wahrscheinlich anzunehmen. Das Zentrum hierfür ist in den Ganglien- zellen des PI. hypogastricus zu suchen. Auch bei . Unterbrechung ihrer spinalen Verbin- dungen ist noch Erektion möglich, allerdings bei erloschener Sensibilität. Es ist nicht nötig, eine besondere Erklärung für den Erektionsmechanismus der Klitoris zu suchen. Die Vorgänge sind die gleichen wie beim Manne, wie ja auch die Innervationsverhältnisse sich beim Mann und Weib im Prinzip nicht unterscheiden. Diese drei verschiedenartig bedingten Erektionsmöglichkeiten klären manchen Widerspruch in der Literatur, geben wohl auch eine Erklärung dafür, daß L. R. Müll e r ein selbständiges Erektionszentrum, nur außerhalb des Markes annahm. Wir müssen das spinale Erektionszentrum in der Höhe des zweiten bis dritten Sakralsegmentes suchen, sowohl Tierexperimente, als auch die klinische und pathologisch- anatomische Beobachtung speziell bei Querschnittserkrankungen und Tabes dorsalis ver- anlassen uns dazu (Balint und Benedict, Peukert). Auf das Vorhandensein von höher ge- legenen Genitalzentren komme ich später zurück. Wenn wir von der Ejakulation sprechen, so wollen wir vorläufig nur die Vor- gänge beim Manne betrachten. Wir haben hier unter Ejakulation die Hinausbeförderung der Keimprodukte zu verstehen, die durch Summation der Reize auf der Höhe des Aktes unter Wollustgefühl einhergeht und eine Entspan'nung des gesamten Kör- pers herbeiführt. Die Ejakulation zerfällt in zwei Phasen (Bumke): 1. eine Kontraktion der glatten Muskulatur des Vas. deferens, der Samenblasen nnd der Prostata, dies ist eine Funktion des sympathischen Systems;! 2. die eigentliche Ejakulation, das Heraussclileudern des Samens aus der Pars prostatica der Harnröhre ist eine Funktion quergestreifter Muskeln, der Mm. ischio- und bulbocavernosi. Die Frage nach dein Sitz des spinalen Ejakulationszentrums ist nicht einheitlich be- antwortet. Nach den einen Autoren ist es im oberen Lumbaimark zu suchen, andere nehmen seine Lage im Sakralmark an, dicht oberhalb des Erektionszentrums. Tierexperi- mente und die klinische Beobachtung sprechen mehr für den Sitz im Sakralmark. Sehr lehrreich ist dafür der Fall von Bernhard: Sturz eines Patienten auf das Gesäß. Blasenmastdarmfunktion gestört. Erektion kurz nach dem Unfall vorhanden, auch Koitus möglich, es findet auch eine Samenentleerung statt, was für eine Intaktheit der sympathischen Innervation spricht, doch der sezernierte Samen bleibt in dem hinteren Teil der Harnröhre zurück und fließt erst post cohabitatione'm langsam und tropfenweise aus der Urethra ab. PI. lumbalis und PL iscliiadicus ist unversehrt. Die durch das Trauma gesetzte Läsion muß unterhalb der Lendenanschwellung gelegen sein, jedenfalls aber oberhalb der Funktionen für die Erektion. Gestört war die Funktion für den M. bulbocavernos, den N. dorsalis pcnis und Nn. scrotales post. Das Erektionszentnni war nicht alteriert, sicher dagegen das spinale Ejakulationszentrum. Dieser Fall ist gleichzeitig ein gutes Beispiel für die Trennbarkeit von Ejakula- tions - und Erektionszentruni: wenn wir die Lage des Erektionszentrums im 2. — 3. Sakralsegnient annehmen, so entspricht die Lage des Ejakulationszentrums dem 2. Sakralsegment. L. R. Müller nimmt das Zentrum für die Ejakulation im oberen Lumbaimark an. Der Reflexbogen beginnt in den sensiblen Endkörperchen der Glans penis, .geht durch den N. dors. penis, N. pmlend. comm. zu einem Spinalganglion der unteren Sakralwurzelii durch die hinteren Wurzeln ins Sakralmark, dann durch Ver- mittlung von Rcflexkollateralen zu sympathischen Kernen im oberen Lendenmark. Er verläßt durch die vorderen Wurzeln das Rückenmark und zieht im sympathischen III. Kapitel: Impotenz 151 PI. hypogastricus zu den Erfolgsorganen, den Samenbläschen, dem Ductus deferens und ,der Prostata. Diese Annahme Müllers wird erklärt durch die erwähnten, vom oberen Lumbaimark direkt zum N. erigens ziehenden Fasern. Die neueren Erfahrungen und Beobachtungen sprechen dafür, das E j a k u 1 a - tionszentrum, wie oben ausgeführt, in der Höhe des 2. Sakralsegmentes zu suchen. Der Orgasmus wird ausgelöst durch den Ii Teil der Ejakulation, den Vorgang der Drüsen- entleerung. Der Durchtritt des Samenblaseninhaltes durch die engen Ductus ejaculatorii und ebenso der Durchtritt des Prostatasaftes in die Posterior erzeugen das Wollustgefühl. Diese Wollustempfindung wird durch die Medulla spinalis dem Gehirn zugeführt und ist als rein zerebraler Vorgang, aufzufassen. Da aber auch noch nicht ge- schlechtsreife Knaben ohne Ejakulation Orgasmus haben können, so ist nicht der Durch- tritt der Samenflüssigkeit für das Wollustgefühl verantwortlich zu machen, son- dern die Kontraktion der glatten Muskulatur von Samenblasen, Ductus deferens und Prostata. So ist bei manchen Rückenmarksaffektionen (Konus-Affek- tionen, Tab. dors.) der Samenerguß nicht mehr von Wollustgefühl be- gleitet, ebenso bei Erschöpfungszuständen, Fieber sowie unter Einfluß narkotischer Mittel. Speziell bei Tab. dors. ist hauptsächlich Abnahme der Libido und des Orgasmus zu verzeichnen, während das Erektions- und Ejakulatio ns vermögen auffällig lange erhalten bleiben kann. Es kann sich also in einem derartigen Falle bei intaktem Erektions- und Ejakulations- zentrum um elektive Zerstörung von Fasern handeln, die in den Hintersträngen be- stimmte sensible Eindrücke von der Pars post. und der glatten Muskulatur zur Körper- fühlssphäre leiten, um dort durch Assoziationsbahnen uns als Wollustgefühl bewußt zu werden. Die der männlichen Ejakulation analogen Vorgänge bei der Frau erfordern eine ge- sonderte Besprechung, denn es' besteht vornehmlich darin ein Unterschied, daß bei der weiblichen Ejakulation keine Keimprodukte nach außen abgesondert werden. Beim menschlichen Weibe steht ja überhaupt die Ovulation, die Abstoßung eines reifen Eies, in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Koitus, während bei sehr vielen Tieren, besonders den während eines Jahres nur ein oder wenige Male brünstigen, die Ovulation direkt im Anschluß an die Begattung erfolgt. Die Beobachtungen und Erfahrungen über die weibliche Ejakulation sind über haupt noch recht widerspruchsvoll. «Vielfach wird noch angenommen, das Feuchtwerden der Geschlechtsteile, die Sekretion der B a r t h o 1 i n i sehen Drüsen sei schon die Eja- kulation, das ist falsch. Diese Drüsenentleerung . ist nur ein vorbereitender' Vorgang, um die Einführung des Gliedes in die Scheide zu erleichtern und die Friktionen an1 der Vaginalwand schmerzlos zu gestalten. Wir haben hier eine Erscheinung, die völlig analog der Sekretion der Speichel- und Magensaftdrüsen ist und durch die P a w 1 o w sehen Versuche Bedeutung erlangt hat. Schon beim bloßen Vorzeigen der Nahrung werden durch einen psychisch be- dingten Eeflex diese Drüsen zur Sekretion angeregt. So auch die Bartholini - schen Drüsen beim Weibe. Die bloße, auch unterbewußte Vorstellung des Koitus kann genügen, um diese Drüsen in Tätigkeit zu setzen. Noch eine Analogie ist wichtig. Das Zentrum für die Speicheldrüsen ist verschieden stark reizbar, je nächdem das Versuchstier satt oder hungrig ist, „es ist abhängig vom verschiedenen Bestände des Blutes beim hungrigen oder satten Tiere" (Pawlow). Auch die Bartholinischen Drüsen reagieren leichter mit Sekretion bei einer „g e s c h 1 e c h t s h u n gr i g e n" Frau, als bei einer Frau, die geschlechtlich gesättigt ist. Wir haben gesehen, daß die männliche Ejakulation in zwei Phasen zerfällt, der Kontraktion der glatten Muskulatur, einer Funktion des sympathischen Systems, und einer Funktion quergestreifter Muskeln, der Mm. ischio- und bulbocavernosi, die den Samen nach außen befördern. Bis auf die Hinausschleuderung der Keimprodukte haben wir diese Vorgänge auch beim Weibe. Auch bei der Frau haben wir als zweite Phase, wenn auch oft nur in sehr abgeschwächter Form, eine Kontraktion der Mm. bulbo- und ischioeavernosi, ja zuweilen eine Zusammenziehung der gesamten Beckenbodenfnuskulatur, III. Kapitel: Impotenz die wohl hauptsächlich den Sinn haben soll, ein Wiederhinausfließen des Samens zu ver- hindern. Ebenfalls spielt bei der Frau auf der Höhe des Aktes die erste Phase, die Kon- traktion der glatten Muskulatur eine bedeutende Rolle. Es kontrahieren sich die Tuben und die Uterusmuskulatur. Dies ist eine Funktion des vegetativen Nervensystems. "Wir sind über den Anteil des sympathischen und parasympathischen Nervensystems durch die Untersuchungen von Bäsch, Hoffmann und F e 1 1 n e r unterrichtet. Die Versuche hatten folgendes Ergebnis: 1. Die Nn. hypogastrici sind die motorischen Nerven für die Längsmuskulatur und die hemmenden für die Ringmuskulatur der Zervix. Sie sind auch die motorischen Nerven für die Ringmuskulatur des Corpus uteri und die hemmenden für die Längsmuskulatur. Die Nn. hypogastrici gehören dem sympathischen System an. 2. Die Nn. erigentes (parasympathisch) sind die motorischen Nerven für die Ring- müskülatüi und die hemmenden für die Längsmuskulatur der Zervix, sie enthalten moto- rische Fasern für die Längsmuskulatur des Corpus und hemmende für die Ringmus- kulatur. Die Innervation durch den Sympathicus und den P ara Sym- pathie u s i s t a 1 s o e i n e a n t a g o n i s .t i s c h e. Diese eigentümlichen, gekreuzten Innervationsverhältnisse sind entwicklungs- geschichtlich aus dem Verlauf der Muskelfasern zu erklären. Nach Hoff mann und . Bayer scheint ein Teil der Längsmuskulatur des Uterus in die Ringmuskulatur der Zervix überzugehen. Die gleichen antagonistischen Innervationsverhältnisse zeigt die Vagina, Dort ist der N. erigens der motorische Nerv für die Längsmuskulatur der Vagina und der hemmende für die Ringmuskulatur. Der N. hypogastricus ist der motorische Nerv für die Ringmuskulatur und der hemmende für die Längsmuskulatur. Die motorischen und hemmenden Nerveneinflüsse, die auf die Zervixmuskulatur wirken und der Uterusmuskulatur entgegengesetzt sind, haben nach F e 1 1 n e r den Sinn, daß sich bei der Kontraktion der Längsmuskulatur des Korpus das Orificium int. (Sphinkter int.) schließt und gewissermaßen eine Barriere bildet. Beim Manne wird durch die Kontraktion der glatten Muskulatur der Orgasmus ausgelöst, d. h. durch den ersten Teil der Ejakulation, den wir als eine Funk- tion des vegetativen Nervensystems kennen gelernt hatten. 0. Adlers Fall I, wo die Patientin angab, daß „der eingeführte Finger auf der Höhe des Orgasmus leichte Zusammenziehungen des ganzen Scheideninnern emp- findet", illustriert diese Vorgänge deutlich. Wir können mit 0. Adler darin überein- stimmen, daß der muskulöse Apparat die erste und bedeutendste Rolle, bei der Erzeugung des höchsten Wollustkitzels spielt. „Orgasmus, d. h. die Akme der Libido, das höchste Wollustgefühl, ist physiologisch identisch mit Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur — das Fehlen, Ausbleiben dieser höchsten Empfindung ist zugleich ein Ausbleiben ihrer Zu- sammenziehung." Ich möchte betonen, daß nur die Kontraktion der glatten Musku- latur für das Zustandekommen des Orgasmus verantwortlich zu machen ist, nicht die der quergestreiften Muskulatur, die der zweiten Phase der Ejakulation entspricht. Die hier in Aktion tretenden Muskeln sind an und für sich viel schmächtiger und geringer ent- wickelt als beim Manne, sie können willkürlich kontrahiert werden, ohne eine Spur von WollustgefüH auszulösen. Wenn wir uns klar gemacht haben, daß der Orgasmus an die Kontraktion der glatten Muskulatur gebunden ist, so ist noch ein Wort zu sagen über die Reize, die zum Orgasmus führen. Es gibt wohl keine Stelle des Körpers, die nicht bei einzelnen Individuen zu einer erogenen Zone werden kann, von der dann der Orgas- mus ausgelöst werden kann, sei es, daß nur die Reizung dieser Stelle die höchste Wol- lust erzielen kann, sei es. daß dieser Ort die Auslösung erleichtert. Die Glans clitoridis und das Vestibulum der Scheide sind allerdings die bevorzugten Stellen, an denen dann noch individuell verschiedene Reizpunkte lustverstärkend wirksam sind. Unter Berücksichtigung des vorher Gesagten würde der Geschlechtsakt beim Weibe sich etwa folgendermaßen abspielen: III. Kapitel: Impotenz 153 Durch Reizung an der Clitoris und am Scheideneingang und durch sinnliche Vor- stellungen • — psychisch — werden Nervenimpulse ausgelöst, die zu motorischen und vasomotorischen Vorgängen führen. In der ersten Phase des Aktes herrscht der N. erigens vor. Durch seine vasodilatatorische Wirkung werden die Gefäße des Uterus, das kaver- nöse Gewebe der Vagina und die Corp. cavernosa der Klitoris strotzend mit arteriellem Blute gefüllt, die motorischen Fasern des Erigens bringen die Längsmuskulatur des Korpus zur Kontraktion, und die hemmenden Fasern erschlaffen die Bingmuskulatur. Das Gewebe des Korpus und die Zervix werden durch die Hyperämie sukkulent. Der N. hypo- gastricus beschränkt sich in dieser Phase auf eine Vasokonstriktion, um die Abfuhr des venösen Blutes zu verhindern. Allmählich läßt die Wirkung des Erigens nach, die Kon- traktion der Längsmuskulatur des Korpus und der Ringmuskulatur der Zervix hört auf, die Wirkung des Hypogastrikus setzt ein. Die Ringmuskulatur der Zervix erschlafft, die. Ringmuskulatur des Korpus und der Tuben kontrahiert sich, dadurch klafft das Orificium int. und ext., der Zervikalkanal bildet eine offene Höhle, der ganze Uterus- tritt tiefer, die Möglichkeit ist gegeben, daß das Sperma direkt in die Zervix hineingeschleu- dert wird. Durch die Kontraktion der Ringmuskulatur des Korpus werden die Schleim- drüsen der Uterusmucosa ausgepreßt und der Schleim herausgeschleudert — die eigent- liche weibliche Ejakulation — zur Neutralisierung des sauren Vaginalsekretes. Die Menge des ausgepreßten Uterinschleimes wechselt von einer geringeren Sekretion bis zu einem profuseren Erguß. Die Stärke des Wollustempfindens steht aber nicht in einem direkten Verhältnis zur Stärke der Absonderung. Ahnlich wie bei tabischen Männern ist auch das Verhalten des Orgasmus bei tabi- schen Frauen, nur daß hier Libido und Voluptas meist schon von Beginn der Erkrankung an schwächer oder nur wenig entwickelt sind, im Gegensatz zum Manne. Die Kontrak- tion der Ringmuskulatur von Tuben und Korpus wird nicht empfunden. Damit hängt auch die absolute Schmerzlosigkeit des Geburtsverlaufes zusammen, die für Tabes fast typisch ist. Die Menstruation ist meist regelmäßig. Wenn über den Sitz der spinalen Genitalzentren im großen und ganzen Klar- heit herrscht, so sind die Anschauungen über eine zerebrale Lokalisation der Genitalzentren noch nicht aus dem Stadium der Hypothese herausgekommen. Alle Funde und Befunde halten einer sachlichen Kritik nicht stand. G a 1 1 war der Erste, der versucht hat, für die sexuellen Funktionen ein Zen- trum im Kleinhirn anzunehmen, und zwar hat er die Stärke des Geschlechtstriebes in Vergleich gesetzt zur Größe des Kleinhirns. Der männliche Geschlechtstrieb ist leb- hafter, das Kleinhirn des Mannes -ist umfangreicher. M o e b i u s bemühte sich, die G all sehe Hypothese zu stützen, während Flourens (zitiert bei Ellingcr) als Erster ihr mit Experimenten entgegentrat. Hähne mit zerstörtem Kleinhirn hatten Libido, nur konnten sie infolge der Störung des Gleichgewichtes sich nicht auf dem Rücken der Hennen halten. R i e g e r führt gegen G a 1 1 s Lehre von der Lokalisation des Geschlechtstriebes im Kleinhirn und gegen Moebius' Verteidigung eine heftige, weit über das Ziel hinaus- schießende Polemik. Seine scharfen Angriffe gegen die ganze Organotherapie, die nach seiner Ansicht in die Dreckapotheke gehöre, muten uns heute veraltet an. Luciani, der bekannte Kleinhirnforscher, hat sich auch mit diesen Problemen beschäftigt, nur stehen seine Experimente im direkten Gegensatz zur Gallschen Lehre. „In der Geschichte meiner am Kleinhirn operierten Hunde kommen so häufig Episoden von Liebesszenen um so geilerer, groteskerer Art vor, je weniger meinen Hunden das Be- legen und meinen Hündinnen das Belegtwerden glückte, daß man sich ernstlich fragen dürfte, ob der cerebellare Ausfall nicht etwa — vielleicht auf indirektem Wege — eine gewisse Zügellosigkeit der fleischlichen Genüsse herbeiführt. Auch waren die Liebes- verhältnisse nicht ohne Folgen; im Gegenteil, Schwangerschaften, Geburten und Wochen- bett folgten einander so häufig, daß mein Laboratorium in ein Gebärhaus verwandelt zu sein schien." Die Eingriffe am Kleinhirn haben also keine Störung im Sinne einer Ab- schwächung oder Aufhebung der Libido gehabt, eher wäre eine gewisse Zunahme zu 154 verzeichnen. Der Pathologe Serres glaubt, der Wurm stehe in Beziehung zum Ge- schlechtstrieb. C e n i exstirpierte jungen und erwachsenen Hahnen eine Großhirnhälfte, danach sollen Rückbildungserscheinungen an den Genitalien eingetreten, und bei ausgewachsenen Tieren soll der sexuelle Instinkt geschwunden sein. Wichtige Beiträge zu dieser Frage liefert der Goltzsche großhirnlose Hund. Weder um Tiere noch um Menschen be- kümmerte sich diese Hündin. Einen ihn berührenden Hund beachtete sie gar nicht. Der Geschlechtstrieb schien völlig zu fehlen; auch die äußeren Zeichen der Brunst konnten! in der langen Beobachtungszeit von anderthalb Jahren an dieser Hündin ohne Großhirn nicht wahrgenommen werden. Danach glaubt Goltz ein Genitalzentrum im Großhirn annehmen zu dürfen. Nach Kr äfft- Ebing lassen die nahen Beziehungen, in welchen Sexualleben und Geruchsinn zueinander stehen, vermuten, daß die sexuelle und Oll'aktoriussphäre in der Hirnrinde einander räumlich nahe und durch Assoziations- bahnen verknüpft sind. Das Zustandekommen des Wollustgefühles stellt eine psychische Leistung des Bewußtseinsorganes dar. Der entscheidende Faktor ist ein zerebraler Vorgang (kortikaler), das spinale Eja- kulat ionszentrum kann überaus anspruchsfähig sein (gewisse Zustände von reizbarer Schwäche auf Grund von Neurasthenie), ohne daß der ejakula torische Akt von einem Wollustgefühl begleitet zu' sein braucht. Die Möglichkeit des Eintretens und die In- tensität des Wollustgefühles ist abhängig von Grad und Art der Anspruchsfähigkeit des kortikalen Zentrums. Bei der Frau ist nicht nur die Libido, sondern auch die Erreg- barkeit des kortikalen Wollustzentrums zur Zeit der Menses größer. Der Zustand der Anspruchsfähigkeit des, Kortikalen Zentrums erklärt auch den Einfluß psychischer Vor Stellungen im Sinne einer Verstärkung oder Herabminderung des Wollustgefühles. Er- fahrungsgemäß spricht das Ejakulationszentrum des Weibes ab origine weniger leicht an als das des Mannes, seine Funktion entwickelt sich erst allmählich durch den sexuellen Verkehr. Soweit K r a f f t - E b i n g. F e r r i e r vermutet den Sitz des Sexualzentrums auf Grund von Experimenten an Affen im Gyrus i'usiformis und lingualis im Anschluß an den Uncus. Pussep hat durch Reizung einer kleinen Stelle hinter dem Sulcus cruciatus Erektion und Ejakula- tion, durch Exstirpation Verschwinden der Libido beim Hunde erzeugt. Bechterew konnte Reizwirkungen und Hemmungswirkungen auf die Scheidenbewegung vorn Gyrus sigmoideus aus auslösen. Bei Rindenreizung speziell bei Nagern erzielte er Uteruskon- traktionen. Bei Beizung des hinteren Teils des Gyrus sigmoideus trat Spannung und Größenzunahme des Penis ein. Bei Zerstörung dieser Zentra im Gyrus sigmoideus war keine Libido mehr beim Hunde vorhanden, bei Beschädigungen in anderen Hirngebieten blieb der Geschlechtstrieb erhalten. Vallentin-Spiegelberg verlegen das über- geordnete Zentrum für alle Funktionen des Uterus in das Kleinhirn, Kilian und Schlesinger vermuten dasselbe in der Medulla oblongata, Franken häuser im Kleinhirn und Medulla oblongata. Die letztgenannten Autoren verzichten auf eine ge- nauere Lokalisation. Es spricht nicht für die Beweiskräftigkeit der Experimente, daß jeder For- scher an einer anderen Stelle des Groß- oder Kleinhirns das vielgesuchte, zentrale Sexualzentrum gefunden haben will. Alle diese Versuche halten einer exakten Kritik nicht stand und können auch anders gedeutet werden. Daß die Goltzsche Hündin keine sexuellen Instinkte zeigte, ist bei der Zer- störung sämtlicher Assoziationsbahnen nicht verwunderlich. Wenn auch die Erschei- nungen der Brunst ausblieben, so ist dies auf eine Läsion des sympathischen Zentrums am Boden des 3. Ventrikels zurückzuführen. Müller und Dahl glauben nicht an ein umschriebenes Zentrum für die Erektion und Ejakulation im Gehirn, ebenso nicht für den Geschlechtstrieb. „Die Libido ist ebensowenig wie die Angst und der Schrecken oder die Freude auf eine bestimmte Stelle des Gehirns, auf ein Zentrum zu lokalisieren; sie ergreift das ganze Zentralnervensystem. Alle Stimmungen und damit auch die Gc- sehlechtslust sind ein Produkt von Assoziationen. Unerläßlich notwendig zur Auslösung der Geschlechtslust ist es aber, daß das Zentral- III. Kapitel: Impotenz 155 aervensystem unter dem *E i n f 1 u ß der inneren Sekretion der Geschlechtsdrüse steht. Erst unter der Einwirkung dieser inneren Sekrete ist das Großhirn imstande, auf Grund von Assoziationen mit einer ge'schlechts lustigen Stimmung zu rea- g iero n." Letztere Auffassung- deckt sich im wesentlichen mit unseren auf Grund klinischer Erfahrungen gewonnenen Anschauungen. Bevor wir nun eine Einteilung der verschiedenen Formen von Impotenz aufstellen, mögen uns einige Betrachtungen allgemeiner Art gestattet sein. Was die Natur vielen im Übermaß gewährt, hält sie anderen Sterblichen vor, ohne nach des Einzelnen Wünschen und Wollen zu fragen. So sehen wir auf der einen Seite zahlreiche Menschen mit stärkstem Liobeshunger, mit einem Übermaß von Zeugungskraft und Zeugungslust ihr Dasein verbringen, während andere leidenschaftslos, oder von Sehnsucht nach versagter Lei- stungsfähigkeit erfüllt, dahinleben. Wie manches Ehepaar in glän- zender äußerer Lage erstrebt vergeblich die Geburt eines Kindes, während viel ärmere Personen — der Ausdruck Proletarier leitet sich ja von dem Wort proles = Nachkommenschaft ab — eine ganze Schar von Knaben und Mädchen ihr eigen nennen, die sie kaum zu ernähren imstande sind! Erst vor kurzem suchte mich ein Ehepaar auf, das aus Wladiwostok nach Berlin gekommen war, um hier eine künstliche Befruchtung vornehmen zu lassen. Der Mann 42 und die Frau 36 Jahre alt, waren seit 12 Jahren verheiratet. Die Ehe war bis auf das fehlende Kind vollkommen zufrieden- stellend. Um die Ehe fruchtbar zu gestalten, waren bereits eine große Anzahl von Kuren vorgenommen, so hatte die Frau viele Bade- orte aufgesucht, deren Quellen im meist unbegründeten Rufe stehen, die weibliche Sterilität zu beheben; auch einer klimatischen Kur in Ägypten hatte sie sich zu diesem Zwecke unterzogen. Die ein- gehende innere Untersuchung ergab bei der Frau etwas hypo- trophische, aber sonst völlig gesunde, fortpflanzungsfähige Sexual- organe; beim Mann dagegen völlige Azoospermie in einem sehr reichlichen Ejakulat, das ausschließlich der Prostata und den auxiliären Geschlechtsdrüsen entstammte. Die Ursache dieses Mangels jeglicher Samenfäden lag in doppelseitiger Nebenhoden- entzündung auf gonorrhoischer Grundlage, die, wie nur wider- strebend zugegeben wurde, im 16. Lebensjahr bestanden hatte. Wiederholt hatten ihnen Verwandte und Ärzte nahegelegt, ein frem- des Kind zu adoptieren; dazu konnte sich die Frau aber nicht ent- schließen, wie sich meiner Erfahrung nach überhaupt die vollen mütterlichen Instinkte nur in Ausnahmefällen auf nicht selbst empfangene, getragene und geborene Kinder erstrecken. Damit soll aber nicht bestritten werden, daß es. auch Sonderfälle gibt, in denen kinderlose Eheleute durch Annahme fremder Kinder Zu- 156 III. Kapitel: Impotenz stände nervöser Verstimmtheit und Gereiztheit zum Sehwinden bringen können, die ihnen vorher viel zu schaffen machten. Ich habe mich davon wiederholt überzeugen können, wenn ich durch ärzt- liche Atteste zu erwirken suchte, daß das meines Eraehtens über- haupt unnötig spät angesetzte Adoptionsalter von 50 Jahren herabgesetzt werden sollte. Ich führe ein hierher gehöriges Gut- achten als Beispiel an: „Ich bin ersucht worden, ein Sachverständigengutachten abzugeben, ob bei dem bis- her kinderlosen Ehepaar Robert B. und Frau Hedwig, geb. R, aus K. noch eine leibliche Nachkommenschaft zu erwarten ist. Herr B. ist 15 Jahre, seine Frau Hedwig 39i/2 Jahr. Beide sind seit 8 Jahren ver- heiratet. Beide sind beruflich als Dentisten gemeinsam tätig. Ihre Ehe be- ruhte von vornherein mehr auf Kameradschaftlichkeit, als auf geschlechtlicher Anziehung und Neigung. Herr B. hat von Natur sehr geringe sexuelle Bedürfnisse, bis zu seiner Ehe im 38. Jahre hat er nur zweimal versucht, den Geschlechtsverkehr zu voll- ziehen, und zwar erst auf ärztlichen Rat. Die Versuche scheiterten aber völlig; es kam überhaupt zu keiner Erektion. In der Ehe selbst fand anfangs ein' sehr seltener Verkehr statt. Herr B. empfand jedoch im Akt kein Lustgefühl, sondern Schmer- zen; es stellte sich dabei Angstschweiß ein, darauf tiefe seelische Depressionen, so daß seit etwa 2 Jahren überhaupt nicht mehr ein Sexualverkehr versucht bzw. unternommen wurde. Die weitere gewissenhafte Untersuchung und Erforschung ergab, daß bei Herrn B. zweifellos ein, Fall von geschlechtlicher Impotenz vorliegt. Dieses Leiden hat aber nicht gehindert, daß das • Zusammenleben der Gatten, die durch ein starkes gei- stiges Band verbunden sind, gleichwohl ein recht glückliches geworden ist. Nicht nur der gleiche Beruf, sondern auch dieselbe Lebens- und Weltanschauung, die gemein- same Freude an der) Natur, an der Musik, sowie viele ähnliche Ab- und Zuneigungen fesseln sie aneinander und geben ihnen ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Unter der Impotenz des Mannes leidet Frau B. nicht, weil auch bei ihr die ge- schlechtlichen Bedürfnisse vollkommen fehlen. Der Mangel jeglicher Libido scheint bei ihr organisch bedingt zu sein, denn die Unterleibsuntersuchung ergibt eine Verkümme- rung der Gebärmutter und der Eierstöcke, die auf einer infantilen Stufe zurück- geblieben sind. Frau B. ist die Tochter eines Zahntechnikers, dessen Beruf sie, ebenso wie 2 Brüder und 2 Schwestern, ausübt. Die Schwestern sind ebenfalls kinderlos. Auch die einzige Schwester des Herrn B., die 13 Jahre verheiratet ist, hat keine Kinder. Diese Schwester ist von Jugend auf skrofulös, während der Vater, ebenso wie fünf seiner Brüder, an Tuberkulose verstorben ist. Es ist daher auch nach den Verhältnissen der Vererbung begreiflich, daß Herr B. voraussichtlich der letzte seines Stammes bleiben wird. Herr und Frau B. haben nun den sehnlichsten Wunsch, ein Kind anzunehmen, dessen Pflege und Erziehung sie sich widmen wollen, und das ihren Namen führen soll. Dieser Wunsch ist besonders stark, seit Herr B. im Felde war. Er kämpfte an der Ostfront, von wo er vorläufig zwar entlassen wurde, jedoch mit dem Bemerken, daß er später wieder eingezogen werden kann. Die Voraus- setzung zur Erfüllung bzw. Bewilligung dieses Wunsches ist nun, daß bei dem Ehepaar B. keine Kinder mehr zu erwarten sind. Auf Grund der ärztlichen Untersuchung ist die Aussieht auf Nachkommen zu verneinen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ehe- paar von 50 Jahren, dem) ja das Gesetz ohne weiteres die Adoption gestattet, noch ein Kind erzeugt. is1 jedenfalls größer als die Wahrscheinlichkeit, daß im Falle B. noch ein Kind geboren wird. Ich" halte dies sowohl aus psychischen als körperlichen Ursachen für ausgeschlossen. Daher sollte dem ideal gesinnten Ehepaar die Aufziehung eines angenommenen Kindes gewährt werden." 1 >as Gericht folgte dem Gutachten und trug so, wie mir spätere Beobachtungen zeigten, wesentlich zum Glücke dreier Menschen, nicht nur des Adoptivvaters B. und seiner Frau, sondern auch des angenommenen Kindes, dessen leiblicher Vater im Kriege gefallen war, bei. 157 In früheren Zeiten galten sowohl Beischlafsunfähigkeit als Un- fruchtbarkeit allgemein als Schande, ein Standpunkt, der in vielen Gegenden, und zwar nicht nur in orientalischen, auch jetzt noch nicht als überwunden angesehen werden kann. Ich erinnere mich namentlich aus den früheren Jahren meiner Praxis vieler Beispiele, in denen Ehemänner Verspottungen ihrer Arbeitskollegen und anderer Personen ausgesetzt waren, weil ihre Ehe unfruchtbar geblieben war. Vielfach übertrugen sie dann ihren Ärger darüber auf ihre Ehefrauen, und mehr als eine hat sich zu uns geflüchtet. di<6 deswegen von ihrem Manne schwer mißhandelt worden war. Man war in Laienkreisen nur zu sehr geneigt, die Schuld einer unfrucht- baren Ehe ohne weiteres dem Weibe zuzumessen. In manchen Ländern des Ostens gilt noch heute eine kinderlose Ehe nach einiger Zeit ohne weiteres als nicht geschlossen, in anderen zum mindesten als Scheidungsgrund. Tatsächlich liegt aber in der Mehrzahl der Fälle „die Schuld", von der im allgemeinen natürlich nur ob- jektiv die Rede sein kann, auf seiten des Mannes. Enter 150 kinderlosen Ehen, die ich in meiner Spezialpraxis zusammenstellte, war 36 mal die Unfruchtbarkeit bedingt durch Azoospermie des Mannes auf Grundlage gonorrhoischer Erkrankung. 14 mal lagen andere organische Genitalveränderungen, darunter 5 mal Krypt- orchismus und 3 mal Varikozele (Krampfaderbruch), mit der merkwürdig oft Azoospermie verbunden ist, vor, 32 mal war die Impotenz psychisch bedingt, in der Mehrzahl der Fälle durch Homo- sexualität, 3 mal war der Mann schwerer Alkoholist, 2 mal Morphi- nist, Diesen 82 Fällen, in denen die Ursache der Kinderlosigkeit auf seiten des Mannes lag, standen 48 Fälle gegenüber, in denen die Frau der verursachende Teil war. 27 mal waren organische L'nterleibsleiden, namentlich schwere Gebärmutter-Katarrhe oder Eileiterentzündungen, meist auf gonorrhoischer Basis vorhanden, 4 mal bestand Vaginismus, 17 mal waren die Frauen psychosexuell abweichend. Allerdings dürfte das zu meiner Beobachtung ge- langende Material andere Zahlen aufweisen, als sie etwa eine Sta- tistik steriler Ehen in einer Frauenklinik ergeben würde. In 19 unter 150 Fällen war es nicht möglich, eine Ursache der Unfrucht- barkeit festzustellen, da weder das männliche Ejakulat noch die - weibliche Funktion irgendwelche Abweichungen von der Norm zeigten. Es sind aus der Geschichte und aus der praktischen Er- fahrung genügend Fälle bekannt, in denen zwei Personen verheiratet waren, deren Fruchtbarkeit und Zeugungsfähigkeit durch Ge- burten, die kurz vor oder nach ihrer Ehe stattfanden, für jeden von beiden auch durch die Ähnlichkeitsprobe sichergestellt war. und die gleichwohl zusammen unfruchtbar waren. Solche Fälle zeigen nicht nur, daß es neben der angeborenen auch eine erworbene und vorüber- gehende Unfruchtbarkeit gibt, sondern legen auch den Gedanken 158 III. Kapitel : Impotenz nahe, daß es 'auch auf eine gewisse Harmonie beider, an sich frucht- barer Ehehälften, ankommt. Hier ist noch mancherlei unklar, wäh- rend das Gebiet der Impotenz im allgemeinen bereits als wissen- schaftlich ziemlich gut durchforscht angesehen werden kann. Unter den- früheren Einteilungen der Impotenz verdient ihre alte Trennung in Beischlafs - und Zeugungsunfähigkeit, die Impotentia coenndi und gener andi immer noch an erster Stelle genannt zu werden. Diese Unterscheidung ist aber keine scharfe. Richtig ist, daß viele Personen .beischlaf s unfähig sind, die zeugungsfähig sind, und daß viele Beischlafsfähigkeit besitzen, die z e u g u n g s unfähig sind. Häufig ist aber auch das eine durch das andere bedingt. Vor allem finden wir verkümmerte Geschlechts- drüsen, denen sowohl die äußere als die innere Sekretion fehlt. Die Folge für die Träger solcher Gonaden ist nicht nur Fort- pflanzungsunmöglichkeit, sondern oft auch das Ausbleiben zere- braler Erotisierung, also psychische Impotenz. Von vielen von mir beobachteten Fällen, in denen Aspermatismus und An- andr inismus, äußerer und innerer Sekretausfall verbunden vor- kommen, will ich an Hand eines Ehescheidungsgutachtens ein typisches Beispiel herausgreifen: „Ich bin ersucht worden, in meiner Eigenschaft als medizinischer Sachverständiger für Sexualpathologie ein Gutachten abzugeben über die Beischlafsfähigkeit des Herrn Dr. R. L., geboren am 4. 10. 1889 zu Berlin. Anlaß dieses Gutachtens war die Absicht der Ehefrau, Frau Dr. L. geb. N.-B., ihre Ehe aus' § 1331 BGB. wegen Beischlaf sunfähig- keit ihres Gemahls anzufechten, die ihr bei Eingehung der Ehe nicht bekannt ge- wesen war. Dr. L. ist das einzige Kind gesunder Eltern, doch sind in den Familien beider Eltern geistige Erkrankungen vorgekommen. Seine eigene geistige Entwicklung war normal, er gehörte stets zu den besseren Schülern (besondere Befähigung für Mathematik) und machte im Jahre 1908 die Abgangsprüfung mit 18^2 Jahren. Auch die Studenten- zeit verlief ohne Besonderheiten, nur hielt sieh L. vom geschlechtlichen Verkehr mit dem Weibe fern, und zwar seiner Ansicht nach, weil er „bei Prostituierten die Ansteckungs- gefahr, bei anderen Mädchen die Schwängerung fürchtete". Das Bedenken, Geschlechts- verkehr nicht vollziehen zu können, ist dem Exploranden nie gekommen. Als Knabe bevorzugte er stille Spiele (Baukasten). Onanie übte er als Schüler kurze Zeit mäßig und zwar nicht aus aktivem Drang, sondern lediglich passiv durch Verführung von Mitschülern. Im Alter von 22 Jahren lernte L. in einem Sanatorium im Harz seine spätere, da- mals 19^2 Jahre alte Ehefrau kennen, mit der er sich nach kurzer Bekanntschaft an- fangs heimlich, später öffentlich verlobte. Der Grund der Verlobung war in erster Linie geistige Übereinstimmung. Am 30. Mai 1914 fand die Hochzeit" statt. Erst einige Tage später erfolgte der erste Beischlafsversuch, der negativ ausfiel. Ebenso weitere Versuche, die in längeren Abständen (alle Monate etwa einmal) erfolgten. Nach elf- monatlicher Ehe, in der Explorand sehr angestrengt beruflich tätig war, erfolgte seine Einziehung. Nach halbjährigem Aufenthalt im Felde Versetzung zur Militärverwaltung. Dazwischen dreitägiger' mit Besorgungen ausgefüllter Aufenthalt in der. Heimat ohne Beischlafsversuch. Juli 16 und Juli 17 je 14tägiger Urlaub in Berlin mit je 2 negativen Versuchen, den Beischlaf zu vollziehen. Es erfolgte immer nur eine halbe Steifigkeit des Gliedes, die zum Eindringen in die Vagina nicht aus- III. Kapitel: Impotenz 159 reichte, und kein Erguß. Ende Mai 1918 Kenstreise nach Berlin. Während dieses drei- tägigen Aufenthaltes erklärte Frau Dr. L. ihrem Gatten, daß, wenn der Beischlaf nicht regulär erfolgen könne und mit einer Schwangerschaft (beides .sei ärztlicherseits als für ihren Gesundheitszustand förderlich erachtet worden) nicht gerechnet werden könne, sie die Auflösung der Ehe betreiben müsse. Hierauf erklärte Explorand, daß nach seinem körperlichen Zustand mit dauernder Beischlafsunfähigkeit und Kinderlosigkeit gerechnet werden müsse. Darauf leitete Frau Dr. L. die Auflösung der Ehe ein. Die eingehende körperliche und psychische Untersuchung ergibt folgendes: Explorand ist 1.80 m groß, 150 Pfund schwer, Muskulatur mäßig entwickelt, Hüften des sonst schlanken Mannes relativ breit, Fettpolster gering, nur verhältnismäßig in der Brustgegend stärker ent- wickelt, Stimme an sich nicht auffallend hoch, doch hei Ausbildung zur Singstimme bemerkenswert hochzutreibendes Falsett. Bartbehaarung über der Uberlippe und am Kinn gering, sonst normale Körperbchaarung. Die körperliche Leistungsfähigkeit ist mäßig, die geistige Regsamkeit dagegen sehr groß, ebenso Intelligenz tadellos. Geschlechtstrieb in der Richtung normal, in der Stärke gering. Die inneren Organe, mit Ausnahme eines Herzklappenfehlers, ge- sund. Militärisch hauptsächlich aus diesem Grunde dauernd garnisondienstfähig. Die Geschlechtsorgane zeigen folgenden Befund: Hodensackwülste beiderseits ohne Inhalt. Leistenkanal geschlossen. Hoden auch per rectum nicht nachweisbar, da- gegen ziemlich große Prostata. Samenbläschen nicht tastbar. Penis im schlaffen Zu- stand ca. 3, im erigierten ca. 8 cm. Dann und wann entleerten sich aus der Fossa navicu- laris einige Tropfen Flüssigkeit, deren Untersuchung ergab, daß Spermatozoen. nicht darin enthalten sind. Es handelt sich nur um ein Sekret der Prostata und anderer Drüsen der Geschlechtskanälc. Nach der Entleerung, die meist unfreiwillig erfolgte, ein Gefühl der Abspannung und Erschöpfung, sowie Ekels vor der Un- sauberkeit bei dem sonst sehr peniblen Exploranden. Ein eigentliches Lustgefühl ist außer einem leichten Kitzelgefühl nicht wahrgenommen worden. G u t a c h t e n. Es handelt sich bei Dr. L. um eine Störung der ä ußeren und i n n e reu Sekretion, bedingt durch eine organische Unterentwicklung der Geschlechtsdrüsen. An der normalen Stelle im Hodenbehälter finden sich solche überhaupt nicht vor; sollten sie irgendwo in der Bauchhöhle versteckt liegen, so muß aus den Ausfallserscheinungen gefolgert werden, daß sie v ö lüg v e r k ii m m e r t s i nd. Infolge Mangels sexueller I n krete und E x krete besteht: a) eine Impotentia generandi (Zeugungsunfähigkeit), da in dem nach außen entleerten Sekret Samenzellen überhaupt nicht vorhanden sind (Aspermie). b) eine Impotentia coeundi (B e i s c h 1 a f s u n f ä h i g k e i t), da in dem nach innen sich absondernden Sekret die Stoffe fehlen, welche eine volle Ausbildung der sekundären Geschlechtscharaktere und auch des Geschlechtstriebes bewirken (Anan- dr i n i s m u s). Die Eigenart des Leidens bringt es mit sich, daß die Erkenntnis seiner Folgen erst allmählich sowohl dem Ehemann als der Ehefrau bewußt wurden. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch versteht man unier Hei- schlaf sunfähigkeit Erektionsunfähigkeit; diese stellt denjenigen Zustand dar, der meist kurzweg als Impotenz bezeichnet wird. Die Erektionsunfähigkeit kann organisch bedingt sein, und zwar orga- nisch peripher, spinal und zentral, je nachdem die Genitalorgane, das Rückenmark oder das Gehirn der Ort sind, in denen sich depoten- zierende Prozesse etabliert nnd dadurch diejenigen Bahnen außer Betrieb gesetzt haben, welche in ihrem weiten Verlauf vom Gehirn durch das Rückenmark bis zu den Nervenendorganen für die Erek- tion notwendig sind. Die Erektionsimpotenz kann aber auch bei 160 III. Kapitel: Impotenz anscheinend organischer Unversehrtheit nur funktioneller Natur sein. Wir werden sie als eine Unterform der Sexual-Neurasthenie dann anzusehen haben, wenn weder eine körperliche noch eine seelische Ursache für sie nachweisbar ist. Die seelische Impotenz, welche wohl die verbreitetste Form darstellt, sowohl beim männ- lichen Geschlecht als beim weiblichen, wo sie sich allerdings nicht so sichtlich ausdrückt, ist durch Abweichungen des Geschlechts- triebes oder durch psychische Hemmungen bedingt, die sich in mannigfachster Weise, bald schwerer, bald leichter ins Gewicht fallend, von völliger Triebumkehrung und gänzlichem Triebmangel bis zu bloßen Autosuggestionen Geltung verschaffen. Während die organische Impotenz fast stets eine absolute ist, ist die nervöse und vor allem seelische Form gewöhnlich nur eine relative Im- potenz, das will sagen, daß sie *iur bestimmten Personen gegenüber vorhanden ist, oder richtiger, daß die Potenz nur unter ganz be- stimmten Voraussetzungen besteht. Im Grunde genommen ist jeder Mensch nur relativ potent und damit zugleich auch relativ impotent, denn eine absolute Potenz allen Menschen gegen- über, ob männlich oder weiblich, alt oder jung, existiert überhaupt nicht; vielmehr ist die Potenz um so eingeengter, je höher differenziert ein Mensch und seine Liebe ist. Ist demnach auch die Einteilung der Impotenz in die absolute und relative wie die übrigen nur eine sehr unvollkommene, so hat sie auf der einen Seite doch auch wie die anderen manches für sich. So ist eine keineswegs seltene und recht verhängnisvolle Form der relativen Impotenz die matrimoniale oder eheliche, die darin besteht, daß ein Mann innerhalb der Ehe den Verkehr zu vollziehen nicht imstande ist, während er es außerhalb vermag. Ich bin häufig von Eheleuten in solchen Fällen um Rat gefragt worden, die un- gemein eigenartige psychische Verknüpfungen zur Grundlage haben. Manche Männer geben die Erklärung ab, daß ihnen ihre Frau „zu hoch" stände, um mit ihr den Verkehr vollziehen zu können; die geistige Beziehung, die sie miteinander verknüpfte, wäre der- gestalt, daß der Mann es als eine Herabwürdigung des Weibes empfände, wenn er sie geschlechtlich „gebrauchte"; offenbar liegt hier teilweise eine suggestive Nachwirkung religiöser Asketik vor. Die Frauen können es gewöhnlich schwier begreifen, daß die Liebe und der Geschlechtstrieb des Mannes keineswegs immer eine Einheit bilden. Sind sie dies auch wohl bei der Frau in der Mehrzahi der Fälle vermöge ihrer monogameren Natur, so keines- wegs beim Mann. Von den vielen Füllen matrimonialer Impotenz, die ich kenne, will ich einen er- wähnen, den ich gegenwärtig- in Beobachtung habe. Die Ehefrau hatte rnich zunächst aufgesucht, um zu erfahren, ob wohl Aussicht bestände, daß ihr Gatte sich ihr wieder zuwenden könne. Sie wolle es davon abhängig machen, ob sie aus dem Hause gehen und III. Kapitel: Impotenz ißl sich scheiden lassen, oder trotz ihrer volligen Vernachlässigung bei- dem Manne ver- bleiben würde. Der Mann war Arzt, und auch die Frau hatte Medizin studiert. Seit Be- ginn der Ehe assistierte sie ihrem Mann und sprach mit ihm alle Fälle der Praxis durch. Sie standen sich kameradschaftlich außerordentlich nahe, waren außerdem Cousin und Cousine. _ Ein Jahr lang fand ziemlich regelmäßiger, ehelicher Ver- kehr statt, der aufhörte, nachdem die Frau guter Hoffnung war. Es wurde ein Kind geboren, das vermutlich i n I o Ige der V e r w a n d t e n e h e taubstumm war. Von dem dritten Schwangerschaftsmonat ab hörte der Mann mit dem ehelichen Verkehr auf und war seitdem, in jetzt lSjähriger Ehe, nicht mehr fähig, den Akt auszuüben. Wäh- rend des Krieges lernte er im Felde eine Krankenschwester kennen, mit der er in sexuelle Beziehungen trat. Der Verkehr wurde leicht und häufig vollzogen. Als der Mann aus dem Kriege heimkehrte,' brachte er die Krankenschwester mit und veranlaßt? seine Gattin, sie in das Haus mit aufzunehmen. Die Frau ging darauf ein; auf die Dauer konnte ihr das intime Verhältnis ihres Gatten zu der Krankenschwester nicht ver- borgen bleiben. Schweren Herzens fand sie sieh damit ab und räumte schließlich sogar der Krankenschwester ihr eheliches Bett ein. Sie beklagte sich nicht über den Mann, war aber von tiefsten, seelischen Depressionen befallen. Da ich in allen Fällen ehelicher Impotenz Rücksprache mit beiden Ehepartnern für dringend erforderlich halte, ließ ich mir den Mann kommen, der berichtete, daß er seine Frau sehr hoch schätzte, aber gerade diese große Achtung, die er ihrem Wissen und Können entgegen- brächte, wäre seiner Meinung nach das Haupthindernis für die Ausübung des Bei- schlafes. Er wäre anderen Frauen gegenüber, die sittlich viel liefer ständen als seine Gattin und auch viel häßlicher wären — seine Frau war eine hervorragende Schönheit - völlig potent, während er bei der Gattin gänzlich versagte. Ich schlug versuchsweise Trennung auf 1/, Jahr vor, konnte mir aber nicht verhehlen, daß bei dem tief wurzeln- den, seelischen Komplex der Wiedereintritt ehelicher Beischlafsfähigkeil kaum zu er- warten war. Diese Annahme bestätigte sich. Namentlich in Fällen, in denen der Mann wegen ehelicher Ini- potenz den Arzt aufsucht, ist es sehr ratsam, natürlich nur nach Einverständnis mit dein Gatten, die Hilfe der Ehefrau zu requirieren. Mit dem erforderlichen Takt, der für einen praktischen Sexualarzt unentbehrlichsten Eigenschaft, hißt sich da vieles er- reichen. Es gibt Fälle von Impotenz, die sich durch nichts so leicht und schnell beseitigen lassen, als dadurch, daß die Frau dem Manne in der richtigen Weise, beispielsweise durch* digito vaginale Führung, entgegenkommt. Die Einteilung, welche sich mir im Laufe der Jahre in meiner reichlichen Erfahrung, die sich wohl auf alle Formen der Impotenz erstreckt, als die praktischste bewährt hat, will ich im folgenden zur Grundlage meiner Betrachtungen machen. Auch hei diesen Unterscheidungen sind keine 'scharfen Trennungsstriche möglich, die auf dem Gebiet der Impotenz überhaupt nur schwer gezogen werden können; immerhin erwiesen sie sich am geeignetsten, um die Ursache der Schwäche und damit zugleich die Wege zu ihrer Beseitigung zu ermitteln. Denn nur die ätiologische Therapie verspricht bei die r Impotenz Erfolge. Die Impotenzformen, welche ich zunächt unterscheide, sind: 1. Der Geschlecht striebausfall (Libido deficiens), ein bei beiden Geschlechtern in gleicher Weise verbreiteter Zustand. Hirsch feld, Sexualpatholog-ie. III. . 11 III. Kapitel: Impotenz 2. Geschlechtslustausfall (Orgasmus defieiens), ein Leiden, das beim weiblichen Geschlecht häufiger vorzukommen scheint als beim männlichen. 3. E r e k t i o n s a u s f a 1 1 ; die eigentliche Impotenz des Mannes, der beim Weibe die ausbleibende Erektion der Klitoris entspricht, Wenn diese nicht vorhanden ist, treffen die Bewegungen des Penis nicht das weibliche Wollustorgan, wodurch dann auch keine Lust- akme einzutreten pflegt (Erectio defieiens). 4. Ejakulation saus fäll, unter denen bei beiden Ge- schlechtern hauptsächlich die Ejaculatio defieiens und seiuneta zu nennen sind. 5. Geschlechtsdrüsenausfall, eine Anomalie, die beim männlichen Geschlecht anscheinend häufiger vorkommt, als beim weiblichen (Tncretio defieiens). 6. u. 7. Beim Weibe gesellt sich zu diesen Impotenz formen noch die Unfähigkeit, auszutragen und zu gebären, die Impotentia gestandi et parturiendi. Diese Ausfallserscheinungen lassen sich nun leicht auf die vier Hauptstationen der Sexu a 1 b a h neu: G e h i r n, R ü c ken- mark, Geschlechts Werkzeuge und Geschlechtsdrü- sen verteilen, woraus sich dann folgende sachgemäße Ein- teilung der Impotenz ergibt : I. Zerebrale Impotenz. a) Trieblosigkeit (Anerotismus, Asexualität) ; b) L u s 1 1 o s i g k e i t (Anorgasmie). II. Spinale Impotenz. a) .Erektionsstörungen; b) Ejakulation sst ö r u n g e n. III. Genitale Impotenz. a) Defekte der männlichen Geschlechtswerkzeuge, welche den B e i s c h 1 a f mechanisch hindern ; b) Defekte der weiblichen Geschlechtswerkzeuge, welche cc) die B e i w o h n u n g ß) die Fruchtaustragung y) die Geburt verhindern. IV. Germinale Impotenz. a) Männliche Sterilität; b) Weibliche Sterilität. III. Kapitel: Impotenz 163 Zerebrale Impotenz. Wenden wir uns zunächst der Besprechung- des Trieb- mangels zu, so müssen wir zunächst die Frage beantworten : „Gibt es überhaupt anerotische Menschen, Männer und Frauen, in post- pnbischeni Alter ohne jedes Verlangen nach geschlechtlicher Be- tätigung?" Es wird ja oft von jemandem behauptet, und zwar so- wohl von männlichen als auch besonders von weiblichen Personen, sie hätten keinerlei sexuelle Bedürfnisse, sie seien asexuell, a n - erotisch oder wie man auch sagen kann „atropisch"; namentlich von Angehörigen werden nicht selten solche Ansichten vertreten. Nicht selten wird auch über Personen, deren Stand das Zölibat vor- schreibt — eine vom sexualhygienischen Sandpunkt ans hio- und psychologische, naturwidrige Institution — behauptet, sie hätten keine sexuellen Regungen, und eine seit längerer Zeit dürch die anti-erotisch gerichtete Literatur sich hinziehende Überlieferung geht dahin, daß die großen Philosophen Kant, Schopenhauer, Nietzsche,' Leibniz, Spinoza 'und andere ihr Leben als Junggesellen verbracht haben, weil sie ihren Geschlechtstrieb voll- kommen vergeistigt hätten. Hat man aber Gelegenheit, den Fällen auf den Grund zu gehen, so stellen sie sich in ganz anderem Lichte dar. Oft führten diese Personen ein autistisches Sexualleben, oder sie waren sexuell an Objekte fixiert, die sie wohlweislich zu ver- bergen verstanden, oder aber es gelang ihnen tatsächlich, ihren Trieb mit Aufbietung aller Kräfte zu unterdrücken. Auch han- delt es sich häufig um Personen, deren Geschlechtstrieb an und für sich gering war, und zwar meistens auf organischer Grundlage, also um solche mit Keimdrüsen, die nur verhältnismäßig geringe Mengen erotisierender .Stoffe an das Blut und Nervensystem ab- geben. Den engen Zusammenhang zwischen Triebansfall und Ge- sehlechtsdrüsenausfall, mit anderen Worten, die Abhängigkeit des Geschlechtstriebes von der inneren Sekretion, zeigen am deutlich- sten die Anorchisten und Eunuchoiden. Es wurde jedoch bereits in dem ersten Kapitel der Sexualpathologie, in dem von diesen Personen ausführlicher die Rede ist, berichtet, daß Fälle beobachtet worden sind, wo selbst bei völligem Keimdrüsenmangel ein mehr oder weniger starkes Geschlechtsbegehren vorhanden war, was auf die Beteiligung anderer endokriner Drüsen bei der Liefe- rung libidogener Substanzen für das Blut sehließen läßt. Zweifel- los kommt es auch häufig vor, daß die erotisierende Sekretion der Keimdrüsen stark durch psychische und somatische Einflüsse ein- geschränkt wird. So wirken beispielsweise starke seelische Er- regungen und Erschütterungen, große körperliche Anstrengungen durch die in den Muskeln und im Blnt sich bildenden Er- 11* 164 III. Kapitel: Impotenz rnüdüngsstof f e anti-erotisch, ganz ähnlich wie gewisse Toxine, seien es von außen eingeführte wie Alkohol oder Morphium, oder durch krankhafte Störungen, beispielsweise im Verlauf von Fieber, Urämie, Cholämie, Kachexie, Diabetes usw. entstehende Bei- mischungen. Lehrreich waren hier die Erfahrungen im Welt- kriege, aus denen hervorging, daß die Aufregungen und Lebe n sgef a h r e n die geschlechtliehen Gedanken lange Zeit zum Schweigen brachten. Ich sah allerdings in meiner kriegs- gerichtlichen Gutachtertätigkeit auch gegenteilige Fälle, in denen plötzlich im stärksten Trommelfeuer sexuelle Erregungszustände auftraten, die zu homosexuellen Handlungen führten. Auch der Mangel adäquater Eindrücke setzt naturgemäß den geschlecht- lichen Drang herab, wie es ja von jeher ein Mittel zur Trieb- beherrschung war, als Eremit, Mönch (von ftövaxpg = allein) oder Nonne in Klöstern oder Einsiedeleien sexuellen Anfechtungen aus dem Wege zu gehen. Freilich erweist sich hier oft wieder der Tätigkeitsmangel der erotischen Aufspeicherung förderlich. Krafft-Ebing schreibt einmal: „Geistig angestrengte Tätigkeit (angestrengtes Stu- dium, körperliche Anstrengung, Gemütsverstimmungen, sexuelle Enthaltsamkeit) sind der Erregung des Sexualtriebs entschieden abträglich." Bloch erklärt die Impotenz der Gelehrten und Künstler während der Periode starken geistigen Schaffens, aus dem Ge- setz der sexuellen Äquivalente, indem die aktive Sexualität außer Funktion tritt, weil sie in die latente. Form der geistigen Produktion umgesetzt wird. Solche Wech sei- lt eziehungen zwischen den oberen Hirn- und unteren Hoden- li e in i s p Ii ä r e n , Zeugungs- und Überzeugungskraft nahmen auch die Alten an. Doch dürfte sich dieser Potenznachlaß geistiger Schwerarbeiter, der übrigens keineswegs als allgemeine Kegel zu gelten hat, letzten Endes weniger durch geistige Sublimierung als durch simple Psyehasthenie, Ermüdung des Gehirns erklären, infolge rheinischer Abbau- prozesse, oft sicherlich auch durch Triebanomalien, vor denen sich die Betroffenen in die Arbeit flüchten. Behauptungen, daß gewisse geistige Tätigkeiten, beispielsweise die Beschäftigung mit der Mathematik und Philosophie besonders dazu angetan sein sollen, die Libido zu unterdrücken, und daß infolgedessen bedeutende Mathematiker und Philosophen ge- wöhnlich impotenl seien, dürften in dieser Fassung, Deutung und Allgemeinheit kaum den Tatsachen entsprechen. Ks scheint, als ob fast alle Abweichungen in der Blutzusammen- setznng die Erotinbildung beeinflussen. Eine große Anzahl von giftigen Stoffen, Medikamenten, Genußmitteln und Gasen erweisen sich so als depotenzierend. Der Einfluß geistiger Getränke auf die Potenz ist zweifellos. Bei kleineren Mengen tritt zwar vielfach zunächst eine anscheinende Steigerung des Geschlechts- triebes auf, indem der Alkohol die Hemmungen und die Urteils- fähigkeit in höherem Grade herabsetzt als den Trieb selbst. So erklärt es sich, daß, wie namentlich Forel immer wieder betont hat, sehr viele Geschlechtskrankheiten unter dem Einfluß kleinerer Alkoholmengen erworben werden, ebenso wie der Kuppler Alkohol auch sehr häufig die entscheidende Rolle bei dem ersten außer- ehelichen Verkehr weiblicher Personen spielt. Dieses Plasma- 165 gift erweist sich auch insofern als verhängnisvoll, als düe alkoholi- sierten Keimzellen im Sinne der als Blastop ht h orie bezeich- neten Keimschädigung höchst degenerativ auf die Nachkommen- schaft wirken. Bei stärkerem Grade von Alkoholismus tritt, und zwar sowohl im akuten als im chronischen Alkoholismus - - Rausch und Delirium — eine sich bald bis zur Impotenz erstreckende Herab- setzung des sexuellen Triebes und Vermögens auf. Georg H i r t h spricht deshalb von einer I m p o t e n t i a alcoholic a. Er sehreibt: „Vor allem keinen Alkohol, namentlich nicht als Mittel zur Erzielung- von Erektionen. In der Jugend braucht der Mensch keine derartigen Reizmittel und im Alter geht es ihm leicht wie dem Pförtner in Shakespeares ,Macbeth', der den Trank einen Doppelzüngler bei der Unzucht nennt: Er treibt das Verlangen und vertreibt das Erlangen." Ganz ähnlich wie der Alkoholismus wirkt der M o r p h i n i s in 11 s auf die Potenz. Auch hier kann nach kleinen Dosen eine vorübergehende Erhöhung der geschlechtlichen Erregbarkeit eintreten, aber eine ausgedehnte Erfahrung hat mir gezeigt, daß stärkere Morphinisten fast immer impotent werden, und zwar bezieht sieh dies auch auf die Fortpflanzungsfähigkeit, allerdings hauptsächlich beim männlichen Geschlecht. Ich sah einige morphinistische Fraui n, die in rascher Wiederholung schwanger wurden. Die depotenzierende Wirkung des Morphiums ist nicht nur rein psychisch zu erklären, son- dern auch durch Lähmung der Nervi erigentes, und dadurch, daß die Drüsensekretion der Testikel und Prostata stockt. Nach Erlenmeyer beginnt die Impotenz erst bei 1 g täglich, bei längerer Gewöhnung auch schon darunter; nach meiner Erfahrung ist dies individuell sehr verschieden. Im allgemeinen kehrt mit der Heilung des Morphinismus auch die Potenz wieder. Sehr stark setzt Morphium ebenso wie Opium entgegen viel- facher Annahme auch die orgastische Empfindung herab. Letzteres gilt auch vom Brom. Ähnlich wie Morphium wirkt das seit einigen Jahren leider als narkotisches Mittel stark grassierende Kokain. Ich habe viele Kokainisten zu beobachten Gelegenheit gehabt, die über völligen Verlust der Geschlechtslust und Beischlafsfähigkeit klagten. Dupoy (Comptes rend. de la societe de biologie 1868, Nr. 27) will auch häufiges Vorkommen von Impotenz bei Männern beobachtet haben, welche große Mengen von starkem K a f f e e , täglich •5 — 6 Tassen, trinken. Die Potenz kehrte wieder, wenn der Kafleegenuß ausgesetzt wurde, während die Impotenz von neuem eintrat, wenn wieder größere Kaffeemengen genossen wurden. Bis zu einem gewissen Grade scheint auch Arsen i k die Polenz zu vermindern, wobei festgestellt ist, daß nach Aussetzen des Mittels die Potenz bald wieder eintritt. Nach Kohlenoxidvergiftungen, Schwefel-Kohlenstoff- Vergiftungen sowie Bauch Vergif- tungen ist Impotenz wiederholt beobachtet worden. Ganz besonders sind hier aber noch zwei Gifte zu nennen: Blei und Nikotin. Nach chronischer Bleivergiftung ist oft schon im Anfangsstadium Impotenz wahrgenommen worden, was bei den schweren All- gemeinschädigungen dieses Giftes nicht Wunder nimmt. Aber auch das N i k o t i n ist hinsichtlich der geschlechtlichen Funktion nicht unbedenklich. Goncour.t schreibt (zitiert nach Bloch, Sexuallehen S. 470): „Zwischen dem Tabak und dem Weibe herrscht ein Antagonismus. Der Geschmack an dem einen verdirbt den an dem andern." Ich halte es für ganz sicher, daß starke Zigarettenraucher, weniger Zigarrenraucher, durchaus nicht selten hinsichtlich ihrer Potenz Schaden erleiden. Es kommen Fälle vor, in denen eine Wiederherstellung der Potenz nur durch Aufgeben des Zigaretten- genusses ermöglicht werden konnte. Allen diesen Störungen ist gemeinsam, daß toxische Veränderungen in der Zusammensetzung des Blutes der sexuellen Hormonbildung mehr oder weniger hinder- lich im Wege stehen, wie überhaupt fast alle ehemischen Sub- 166 III. Kapitel: Impotenz stanzen, die der Körper nicht aus sich selbst heraus entwickelt, dem Chemismus der Antagonisten und Synergeten, welche die nor- male Potenz bewirken, störend beeinflussen. Ganz ähnlich haben wir uns auch die anti-erotische Wirksam- keit zu erklären, die von den sich bei fast allen akuten und chro- nischen Krankheiten im Blute bildenden Toxinen ausgeht. Vor allem gilt dies für alle fieberhaften Krankheiten. Es sind zwar verschiedentlich Fälle beobachtet worden, in denen von stark fiebernden Männern der Koitus ausgeübt wurde, doch sind das Aus- nahmen. In der Rekonvaleszenz nach fieberhaften Krankheiten kann man allerdings oft eine Steigerung der Libido mit häufigen Pollutionen feststellen. Von anderen Krankheiten, welche die Potenz besonders nachteilig beeinflussen, sind zu nennen: Malaria, Diabetes, Gallen- und Nierenkrankheiten. Notwendig ist, daß in jedem Falle von Impotenz der Urin untersucht wird, da oft Z u c k e r und Eiweiß im Blut die geschlechtlichen Bedürfnisse aufheben. Es ist nicht selten vorgekommen, daß 'diese Erkrankungen dadurch entdeckt wurden, indem die ausbleibende Geschlechtserregung sich dem Erkrankten als eine der ersten Erscheinungen bemerkbar machte. Seit langem ist bekannt, daß auch die Fettleibigkei t die Potenz vermindert, und zwar nicht nur durch die mechanische Erschwerung infolge Korpulenz, sondern durch Nachlassen der Geschlechtslust. Es scheint, als ob in stärkeren Fällen die Ver- fettung des Herzens, der Leber und der Nieren schließlich auch den Hoden ergreift; es ist wahrscheinlich, daß letzten Endes auch hier Störungen der inneren Sekretion ausschlaggebend sind. Deshalb haben auch die vielfach für Fettsüchtige angegebenen Kohabitationsregeln nur einen relativen Wert. Sehr bezeichnend für die eigenartige Einstellung früherer Autoren zu diesen Fragen sind die Ausführungen, mit welchen Roubaud den Korpulenten den Coitus a posteriori rat; er schreibt: „Der Sinn für Moral und gute Sitte scheint sich gegen ärztliche Verordnungen in diesem Falle zu sträuben; deshalb will ich zu meiner Rechtfertigung Lisfrancs Autorität zu Hilfe nehmen. Wir dürfen, sagt dieser, um Verheiratete das Ziel erreichen zu lassen, Stellungen gestatten, die am bequemsten sind. Die Religion widerspricht dem nicht, wofern es sich nur um^die Fortpflanzung der Art handelt. Es widerspricht dem Geist der religiösen Dogmen mehr, sich sinnlichen Freuden nur des eitlen Genusses wegen hinzugeben, als sie durch die Mittel, welche Natur und Instinkt ihnen darbietet, der Propagation der Spezies nutzbar zu machen. Ich möchte nicht mißverstanden werden, als ob ich etwa Verheirateten Stellungen angeraten habe, wie sie nur die zügelloseste Sinnenlust erfunden hat,; Mittel, welche die Sterilität nicht nur nicht beseitigen, sondern sie erst recht herbeiführen. Diese raffinierten Prak- tiken, welche sexuell überreizten! Naturen Vergnügen zu gewähren scheinen, wollen wir jenen, Orten überlassen, wo die Liebe nur mit. Abscheu weilt, wo man sich den sinnlichen Freuden nur unter Ausbrüchen der Tollheit hingibt. Hymen, der die Freude vergrößert, aber nicht die Opfer vermehren will, hat aus seinem Dienst alles verbannt, was Anstand und gute Sitte verletzen kann, — denn eine solche existiert, was auch die Zyniker da- gegen reden mögen. Jede Stellung, welche dem Genuß die zu ihm gehörigen Früchte rauben will, widerstrebt den Naturgesetzen, und jene wiederum, welche die Hindernisse der Konzeption verringert, sollte, wenn es der Fall erfordert, aln meisten empfohlen werden. Dieses scheint mir wenigstens der einzig zulässige Standpunkt zu sein, da er III. Kapitel : Impotenz 1 ß7 weder mit den natürlichen Gesetzen, noch mit denen des guten Anstandes und der Sitte kollidiert." Auf dem inneren Sexualchemismus beruht es auch, daß die verschiedenen Erkrankungen der inneren sekretorischen Drüsen, wie die Basedow sehe und Addison sehe Krankheit, die Akro- megalie usw. ein Nachlassen des Geschlechtstriebes bis zum völligen Erlöschen im Gefolge haben. Es ist daher auch verständ- lich, daß kachektische Zustände, wie sie bei Krebs und anderen Leiden so häufig sind, gleichfalls potenzmindernd wirken, während hingegen manche anderen Leiden, unter denen in erster Linie die Tuberkulose zu nennen ist, im Gegenteil auf das geschlechtliche Verlangen steigernd wirken. Es spielt hier vor allem neben der unmittelbaren Beeinflussung und Veränderung innersekretorischer Gewebe, Vermehrung der Leydigschen Zellen, die leicht manische Erregung vieler Tuberkulöser eine Rolle, wäh- rend depressive Stimmungslage im allgemeinen die Potenz erheblich vermindert, so daß sie bei Melancholikern fast immer als auf- gehoben gelten kann. Irn übrigen zeigt jede Geisteskrankheit hinsichtlich der Sexualität eine be- sondere Färbung. Das Geschlechtsverhalten der Idioten, Debilen und Schizophrenen ist von dem der Hysteriker, Epileptiker und Paralytiker wesentlich verschieden, wobei es allerdings ebensosehr auf die Veränderungen der Triebsphäre, als der Hem- mungssphäre ankommt. Oft sind beide herabgemindert, öfter noch ist der Drang vermehrt, der Widerstand geschwächt, nicht selten aber auch finden sich gesteigerte Hemmungen bei verminderter, vermehrter, oder auch unveränderter Libido vor. Epi- lepsie hat nicht Impotenz zur Folge, doch rufen sexuelle Akte zuweilen epileptische Anfälle hervor. Es sind Fälle beobachtet worden, in denen die hochgradige geschlecht- liche Erregung der Brautnacht epileptische Anfälle auslöste. Ein Patient von mir, der nach jeder sexuellen Betätigung einen epileptischen Anfall erlitt, gleichwohl aber einen , heftigen Drang verspürte, sich masturbatorisch zu betätigen, ließ sich bei einem Berliner Chirurgen die Samenstränge durchschneiden. Diese Operation bewirkte in der Tat ein völliges Verschwinden der Ipsation, sowie auch der epileptischen Anfälle. Ob dieser Erfolg ein suggestiver, oder wie mir wahrscheinlicher erscheint, ein durch den veränder- ten inneren Chemismus bedingter ist, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Sicherlich ist die Potenz überhaupt in beträchtlichem Grade von der allgemeinen Gemütsverfassung abhängig, wobei jedoch die paradoxe Erscheinung hervorgehoben werden muß, daß oft traurige Ereignisse, Trauerfälle, Unglücksfälle usw. die Gesehlechtslust eher steigern als mindern. Eine Frau von etwa 30 Jahren machte mir das Geständnis, daß unmittelbar nach dem Tode ihres einzigen Kindes, der ihr sehr nahe gegangen sei, ein Verlangen nach Ge- schlechtsverkehr bei ihr eingetreten wäre, das ihr im höchsten Maße peinlich gewesen sei. Noch vor der Beerdigung des Kindes hätte sie ihren Mann bitten müssen, den Begattungsakt an ihr zu vollziehen, so erregt sei sie gewesen. Bei der Frau sind alle Trieb- defekte ebenso häufig wie beim Mann, nur fallen sie bei ihr nicht so schwer ins Gewicht, weil die notwendigen körperlichen Voraus- 168 Setzungen der Aktivität in Wegfall kommen. Völliger Anerotis- mus, beruhend auf Mangel der inneren Sekretion, ist beim Weibe ein sehr seltenes Vorkommnis, wenngleich kein selteneres wie beim Mann. Nicht zu «verwechseln ist dieser Anerotismus, im Sinne feh- lenden Verlangens, der Frau mit der noch zu betrachtenden mangel- haften Geschlechtsempflndnng, die bei der Frau ein relativ häufiger Zustand ist. Triebdefekte infolge von Erkrankungen, welche die Blutzusammensetzung alterieren, sind bei ihr ebenso verbreitet wie beim Mann. Diese sind meist temporär und zu beheben, während ein auf G y n ä c i n ans f all beruhender Anerotismus ungleich schwerer zu* beseitigen ist. Versuche mit Organtherapie können vorübergehenden, Implantationen von Geschlechtsdrüsengewebe dauernderen Erfolg haben. Auch die seelisch bedingten Triebdefekte, denen wir im folgen- den unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, sind beim Weibe, das mehr oder weniger passiv ihre ehelichen Pflichten erfüllt, praktisch nicht so schwerwiegend wie beim Manne, wenn auch die Folgen auf das Nervensystem sicherlich bei ihr im nicht adä- quaten Verkehr nicht minder verhängnisvoll sind als beim Manne. Die Impotenz auf Grundlage von Triebanomalien nimmt nach ihrer ganzen Eigenart unter den zerebralen Impotenzformen inso- fern eine besondere Stellung ein, als sie immer nur eine relative, niemals eine absolute ist. Sind also die Vorbedingungen für die anormale, dem Sonderfall aber entsprechende Trieberregung ge- geben, so pflegt sich auch die Potenz einzustellen. Unter den Triebanomalien, die zur Impotenz führen, sind zunächst die Fälle zu nennen, in denen der Gegenstand der Libido ausschließlich die eigene Person ist. Häufiger wie dieser Aütomonos exua- lismus sind Fälle der Homosexualität, in denen Personen des anderen Geschlechts keinerlei Empfindungen und Erektionen aus- zulösen vermögen. Auch hier handelt es sich, wie wir früher ausführten, nicht immer um eine abso- lute, sondern um eine relative Impotenz, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß aus- schließlich Personen des eigenen Geschlechts erotisch wirksam sind, sondern auch, dali nicht selten ein Verkehr mit dem anderen Geschlecht nur durch gleichgeschlechtliche Vor- stellungen ermöglicht ist. Wenn wir auch, wie früher dargelegt, Ehen homosexueller Männer und Frauen mit heterosexuellen Partnern schon aus eugenischen Gründen grund- sätzlich widerraten müssen, so soll doch nicht bestritten werden, daß immer wieder Falle vorkommen, die allen theoretischen Voraussetzungen zu widersprechen seheinen. So hatte ich vor kurzem folgenden Fall: „Ein mir seit 11 Jahren als ausschließlich homosexuell bekannter Patient von jetzt 32 Jahren sollte sich auf dringendsten Wunsch seiner Eltern mit einem von diesen ausgewählten Mädchen verheiraten. Er, der fest an einen Freund fixiert war, war über das unausgesetzte Drängen seiner Eltern, die ihn zu verstoßen drohten, falls er nicht ihren Wunsch erfüllte, tief un<;lücklich. Patient war nach vier- jährigem Kriegsdienst in das Elternhaus zurückgekehrt, mit seinem Nervensystem in recht übler Verfassung und beschloß in seiner Verzweiflung, mit seinem Freunde aus dem Leben zu scheiden, nachdem auch die Mutter, an der er sehr hing, sich wegen seiner gleichgeschlechtlichen Beziehungen von ihm abgewandt hatte. Das ihm zugedachte Mad- III. Kapitel : Impotenz 169 chen, das nur wenig- jünger war als er selbst, benahm sich in der ganzen Angelegenheit sehr taktvoll. Sie liebte ihn sehr und versprach ihm, daß er sein Verhältnis mit dem Freunde unverändert aufrecht erhalten könne, wenn er in die Ehe willige. Der Freund solle in ihrem Hause verkehren und sie würde ihn nicht mit eifersüchtigen Augen be- trachten, sondern die Zuneigung, die sie für den Mann und der Mann für den Freund empfände, auch ihrerseits, wenn auch unerotisch, auf den Freund übertragen. Auf diesen Vorschlag ging er ein, und zur größten Freude der beiderseitigen Angehörigen wurde die Hochzeit gefeiert. 2 Monate später sah ich ihn wieder. Er war völlig beischlafsunfähig und immer noch sehr deprimiert, wenn auch sehr gerührt von dem Verhalten der Gattin, die ihr Versprechen getreulich hielt. Dann suchten mich beide zusammen nach einem halben Jahre auf. Die Frau war im driften Monat schwanger und sehr glücklich. Etwa ein Vierteljahr nach der Verheiratung war dem Mann unter steter Vorstellung des Freundes der erste Verkehr geglückt, den er nunmehr ganz regelmäßig zweimal die Woche mit steigendem Genuß ausführte. Vor kurzem erhielt ich die Anzeige, daß ihnen ein Sohn geboren sei, dem sie den Namen des Freundes gaben. Sind, auch solche Fälle nach meiner großen Erfahrung' auf dein Gebiete analoger Ehen recht selten, so zeigen sie doch immer wieder, daß die Vorkommnisse des Lebens auf sexuellem Gebiet sehr viel mannigfaltiger sind, als selbst auf Grund umfangreicher Kenntnisse angenommen werden kann. Die Anomalien heterosexueller Natur wirken hinsicht- lich der Potenz ähnlich exklusiv wie die spezifische Geschmacks- richtung überhaupt. In erster Linie kommt hier der Fetischis- mus und Antif e tisch ismus in Betracht. So kommt es ziem- lich häufig vor, daß ein Mann, der sich durch das Äußere im Wesen einer Frau sehr angezogen fühlte, völlig versagt, wenn er die Frau in seinem Schlafzimmer näher kennen lernt. Es können hier kleine Fehler so antifetischistisch wirken, daß sie die Potenz gänzlich auf- heben. Ich war Gutachter in einer Eheanfechtungsklage, in welcher der Mann klarlegte, daß ihm verschwiegen war, daß die Frau falsche Zähne hatte. Er hätte dies auch während der Brautzeit nicht bemerkt, da das Gebiß sehr gut gearbeitet war. Als die junge Frau jedoch die Prothese am ersten Abend ihrer Ehe in ein Glas Wasser legte', wäre er, der doch ganz besonders ihre schönen Zähne geliebt hatte, derartig abgestoßen worden, daß er die Frau nicht wieder auf den Mund küssen konnte, und eine Erektion nicht mehr zu erzielen war. Noch eigentümlicher lag ein anderer Fall, der mich gleichfalls gutachtlich be- schäftigte. Ein Zahnarzt hatte ein ebenso schönes wie gebildetes Mädchen geheiratet. Als sie sich das erste Mal entkleidete, bemerkte er. daß sie zahlreiche Pickel an den Brüsten und auf dem Rücken hatte. Dies rief in ihm eine so heftige Abneigung hervor, daß der sonst ungemein zärtliche Mann völlig erkaltete, keine Liebkosung des Weibes erwiderte und sie unberührt liegen ließ. Er schrieb dem Vater seiner Frau einen Brief, in dem er ihm seinen Entschluß kund tat, die Ehe für nichtig zu erklären. Das Ge- richt gab seinem Ersuchen nach. Das Merkwürdigste an dem Fall geschah, als dieser Zahnarzt ein Jahr später sich wieder verheiratete. Auch hier schien alles in bester Ordnung zu. sein. In der Brautnacht aber ergab sich, daß die Frau am Oberschenkel eine Schuppenflechte von ziemlich geringer Ausdehnung hatte. Es wiederholte sich nun derselbe Vorgang wie in der ersten Ehe. In diesem Falle suchte mich der mir bis dahin 170 III. Kapitel: Impotenz unbekannte Zahnarzt auf: trotzdem ihm der naheliegende Rat erteilt wurde, das Leiden behandeln und beseitigen zu lassen, konnte sich dieser diffizile Mann nicht entschließen, die Frau zu behalten und beantragte wiederum Nichtigkeitserklärung. Der Fall kam nicht zur Entscheidung, da mittlerweile der Krieg ausbrach, und der Mann bereits im Oktober 1914 fiel. In einem dritten Fall war die Impotenz des Mannes dadurch ver- ursacht daß die Frau im Schlaf schnarchte und allerlei merkwürdige Laute von sich gab. In einem weiteren Falle führte der Mann die Impotenz darauf zurück, daß von dem Genitaiapparat der Frau ein ihm widerlicher Geruch ausgegangen sei, in einem anderen, daß sie Hängebrüste habe. Diese Impotenzen auf einer antifetischistischen Grundlage führen zu einer weiteren beträchtlichen Gruppe, den Impotenzen, die auf nervösen Heinniungsvor Stellungen der mannigfachsten Art beruhen. Es gibt eine große Anzahl von Männern, die sich einbilden, sie könnten nicht verkehren, sie würden sich bei der Defloration blamieren oder sich so ungeschickt benehmen, daß die Frau dadurch mehr psychisch als physisch verletzt sein würde. Sehr häufig läßt übergroße Befangenheit die Hochzeitsnacht ohne geschlechtliehe Betätigung vorübergehen. In anderen Fällen be- wirken Angst vor Ansteckung oder vor unerwünschter Schwänge- rung Impotenz. Autosuggestionen, daß die Steifung ausbleibt, können tatsächlich bewirken, daß dieselbe nicht eintritt. Diese Hemmungsimpotenzen gehören zu den wichtigsten und ver- breitesten Formen der Impotenz, sind aber auch am ehesten durch sachgemäße Behandlung, namentlich durch hypnotische und ander- weitige psychotherapeutische Kuren zu beseitigen. Über einen hierher gehörigen Fall, der sich über eine praktisch sehr bedeutsame Seite der Hemmungsimpotenzen verbreitet, berichtet das folgende Gutachten, welches mit vollem Erfolg die Wiederherstellung einer in Lösung begriffenen Ehe herbeiführte: Der Oberlehrer an der Baugewerkschule in M., W. Z., geboren den 20. Mai 1876, hat uns gebeten, auf Grund unserer spezialwissenschaftlichen Erfahrung seinen sexuellen Zustand in körperlicher und seelischer Hinsicht zu begutachten. Seine seit Juli d. Js. mit ihm verheiratete Gattin hat die Ehe auf dem Klagewege aus § 1333 BGB. angefochten, weil er ihrer Angabe nach an einer auf abnormer Anlage beruhenden Impotenz leidet, mithin bei ihm solche persönlichen, Eigenschaften bestehen, die sie bei Kenntnis der- selben und verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung derselben abgehalten hätten. Die Anfechtungsklage stützt sich im wesentlichen auf eine der Ehefrau gegenüber mündlich gemachte und von ihr eidesstattlich bestätigte Äußerung des Privatdozenten Dr. E., Göttingen, daß „Herr Z. auf der Grenze zwischen Mann und Weib stehe, und es immer etwas Halbes bliebe, selbst wenn Besserung eintreten sollte". In einem schrift- lichen Gutachten vom 31. Oktober 1912 drückt Herr Dr. E. sich wesentlich weniger be- stimmt aus, bezeichnet aber Herrn Z. auch in diesem noch als einen stark nervös ^ ver- anlagten Menschen mit etwas femininem Körperbau, bei dem es sehr zweifelhaft sei, ob eine an sich mögliche Besserung der psychischen' Impotenz eine dauernde sein werde. Wir haben Herrn Z. eingehend beobachtet, körperlich untersucht und wiederholt ex- ploriert und geben unser Gutachten auf Grund dessen im folgenden ab: Vor- geschichte und Befund. Der Vater des Herrn Z. ist an Lungenembolie ge- storben, die Mutter lebt, leidet an leichten nervösen Beschwerden, ist aber trotz ihres hohen Alters von 60 Jahren noch imstande, ihre Häuslichkeit selbst zu besorgen. Von 12 Geschwistern leben noch 2 Brüder und eine Schwester, die übrigen Geschwister sind III. Kapitel: Impotenz 171 teils jung an Diphtherie und anderen Kinderkrankheiten gestorben, teils tot geboren. Psychische oder nervöse Störungen sollen in der näheren Verwandtschaft nicht beobachtet sein. Doch soll auch der Vater des Herrn Z. in der ersten Zeit der Ehe (etwa ein h a 1 b e s Jahr lang) an mangelnder Potenz gelitten haben, die dann so völlig behoben ist, daß der Ehe noch 13 Kin- der entsprossen sind. Z. selbst hat sich als Kind normal entwickelt und war, abgesehen von einer Er- krankung an Diphtherie, gelegentlichen Erkältungskrankheiten und Leibbeschwerden, gesund. Er absolvierte Schule und Studium glatt und hat in seinem Berufe offenbar Tüchtiges geleistet, da er es in jungen Jähren zu einer verantwortlichen und angesehenen Stellung gebracht hat. Kurz vor der Pubertät wurde er von Mitschülern zur Onanie ver- führt, hat sie aber seiner Angabe nach nur ganz vorübergehend und vereinzelt betrieben. Im übrigen hielt er sich infolge besonders sittenstrenger Anschauungen bis zur Ehe in sexueller Hinsicht völlig abstinent, obwohl bei seiner in jeder Beziehung regen Phantasie geschlechtliche Vorstellungen und Bilder ihm oft zu schaffen machten, die aber aus- schließlich normalgeschlech fliehen In Ii alt hatten, d. h. sich mit dem weiblichen Geschlecht beschäftigten. Es gelang ihm, seiner bestimmten Versicherung nach, sich der Selbstbefriedigung von seinem 15. Lebensjahre an gänzlich zu enthalten. Seitdem stellten sich regelmäßige Pollutionen in Zwischen- räumen von 3 — i Wochen ein, denen Stets Träume vorausgingen, deren Inhalt normal- geschlechtliche Vorstellungen bzw. sexuelle Akte mit Personen weiblichen Geschlechts bildeten. Im Dezember des vergangenen Jahres lernte er seine jetzige Frau kennen, zu der er sehr bald eine starke und innige Neigung faßte, die erwidert wurde und im März; dieses Jahres zur Verlobung führte. Während der Brautzeit standen die Verlobten, so- weit sie nicht persönlich zusammen waren, in einem sehr regen und innigen Briefver- kehr. Kurz vor derHochzeit ließ Frau Z. an sich einen operativen Eingriff zur Beseitigung einer Untcrleibsstörung vornehmen, der Blutungen zur Folge hatte, die auch in der ersten Zeit der Ehe noch bestanden und während der ersten Tage derselben einen geschlechtlichen Verkehr unmöglich machten. Die Schwieger- mutter hatte Herrn Z. überdies mitgeteilt, daß es im Interesse der Gesundheit seiner Frau dringend notwendig wäre, daß sie in den ersten Jahren der Ehe kein Kind bekäme. Als er nun mehrere Tage nach der Verheiratung den Beischlaf zum ersten Male ver- suchen wollte, erfüllten ihn demgemäß Besorgnisse vor einer etwaigen Konzeption, und er dachte darüber nach, wie er sich einen Kondom über das Glied „schmuggeln" könnte. Außerdem verursachte - ihm die Befürchtung, daß die Blutungen bei seiner Gattin noch nicht ganz beseitigt wären, ein instink- tives Grauen, zumal er gehört hatte, daß man mit einer Frau zur Zeit der Blutung nicht verkehren dürfe. Der Effekt war, daß ihm selbst unerklärlicherweise sein Glied nicht steif wurde und er den Koitus nicht vollziehen konnte. Auch in der Folgezeit stellte sich trotz ärztlicher Behandlung die Potenz nicht ein. Seiner Angabe nach wirkte auch die starke sinnliche Begehrlichkeit seiner Frau auf ihn abstoßend und steigerte seine Impotenz. Dieser Zustand führte- schließ- lich zu dem eingangs erwähnten Vorgehen der Ehefrau. Herr Z. ist ein kräftig gebauter Mann, der, abgesehen von eine» leichten Asym- metrie der Schädel- und Gesichtsbildung, gelichtetem Haupthaar und geringer Phimose, keinerlei Degenerationsstigmata bietet. Ein etwas reichliches Fettpolster täuscht eine leicht feminine Form der Brüste vor, die aber bei dem Mangel jedes Drüsengewebes ohne physiologische Unterlage und Bedeutung ist. Die Geschlechtsteile sind normal ent- wickelt, die Hoden groß und fest mit praller Hautbedeckung, das Glied in schlaffem Zustande etwas kleiner, als es dem Durchschnitt entspricht, aber keineswegs in pathologischem Sinne zurückgeblieben oder verkümmert. (Im erigierten Zustande soll es der Angabe des Herrn Z. nach durchaus normale Grüßen- 172 III. Kapitel : Impotenz Verhältnisse zeigen.) Die inneren Organe sind gesund. Abgesehen von einer leichten Steigerung der Sehnenreflexe und der Gefäßerregbarkeit bestehen keine krankhaften Störungen des Nervensystems. In psychischer Hinsicht macht Herr Z. einen ruhigen, in jeder Beziehung über- legten und zielbewußten Eindruck. Er ist frei von krankhaften Affektschwankungen, in seinen Angaben folgerichtig und bestimmt, zeigt ein seinem Bildungsgrade ent- sprechendes o-ereiftes Urteil, rege Interessen und geistige Lebhaftigkeit. Seme Willens- tätigkeit macht den Eindruck zielbewußter Energie. Sein Wesen und Verhalten er- scheinen etwas zurückhaltend, aber durchaus männlich gefestigt. Er gibt an, m letzter Zeit infolge der ständigen Erregungen an nervösen Störungen, Unruhe, Abspannung, leichter Ermüdbarkeit und Schlaflosigkeit zu leiden, versichert aber auf das Bestimm- teste, vor seiner Ehe von derartigen Beschwerden im wesent- lichen frei gewesen zu sein. Gutachten. Die bei Herrn Z. vorliegende psychische Impotenz ist als eine nervöse Hemmungserscheinung aufzufassen, die in der Sachlage und nicht durch eine von Hause aus krankhafte, abnorme oder geschwächte psychosexuelle Konstitution begründet ist. Namentlich bestehen keinerlei Abweichungen des G c s c h 1 e e h t s e m p f i n d e n s oder der T rieb- rieh tung im Sinne homosexueller oder irgendwie krankhaft fixierter Neigungen. Die bis zur Ehe durchgeführte sexuelle Totolahsl inmz bedingte bei ihm naturgemäß einen Zustand geschlechtlicher Ubererregbarkeit und Überempfmdlichkeit, den un- günstige Momente in einen sexuellen Schwächezustand umsetzen mußten. Derartige un- günstige Momente lagen bei dem ersten mißglückten, ehelichen Verkehr in hohem Maße vor. Sowohl der durch die Genitalblutungen der Frau bedingte Widerwillen, wie die Bedenklichkeiten vor einer etwaigen K o n z e p t i o n und die dadurch hervorgerufenen Überlegungen stellten Hemmungen dar, welche die sexuellen Funktionen reflektorisch beeinträchtigen mußten. Im Anschluß an diesen erstmaligen Mißerfolg und unter dem Einfluß des libidinösen Verhaltens der Frau, das erfahrungsgemäß in nicht seltenen Fällen auf den Mann störend und abstoßend (-inwirkt, steigerten sich die vorhandenen Hemmungen bei jedem neuen Versuche. Es ist aber zweifellos anzunehmen, daß die Botenz des Herrn Z. bei geeig- ne t er Be h an d 1 u ng sich vollkommen und dauernd einstellt, da es sich um keinerlei organische oder funktionelle Störungen bei ihm handelt, die dem ent- gegenstehen könnten. Allerdings ist dazu auch ein verständnisvolles Entgegenkommen der Ehefrau erforderlich, wii es aus ähnlichen Gründen in Tausenden von Ehen entweder von seiten des Mannes oder der Frau geübt werden muß, bis eine völlige Anpassung und harmonische Gegenseitigkeit der ehelichen Funktionen erreicht ist. Das zeigt uns ja u. a. schon das Beispiel des eigenen Vaters des Herrn Z. Jedenfalls war die Zeit, nach der die Ehefrau sich von Herrn Z. getrennt hat. viel zu kurz, als daß eine Ände- rung des Zustandes sich hätte innerhalb derselben erwarten lassen. Unser Gutachten geht demnach dahin: I . Es liegt bei H e r r n Z. keine dauernde Anomalie seiner G e - s c h 1 e c h t s b e s c h a f f e n h e i 1 weder in seelischer noch in körper- I i c h er Hinsicht v o r. II. Die bei ihm zur Zeit und i in besonderen seiner Ehefrau gegenüber bestehende psychische Impotenz ist d u r c h ä u ß o r e Umstände, ins b e s ö.n d e r e s p ezielle, bei seiner Frau vorliegende, ungünstige Verhältnisse bedingt und kann durch eine ent- sprechende Behandlung bei sachgemäßem Entgegenkommen der Gattin sicher beseitigt werden. III. Von irgendeinem Verschweigen einer sexuellen Störung o d e r Schwäche seitens d e s H e r r n Z. seiner E h e f r a u g e g e n ü b e r kann keine Rede sein, d a e r selbst b ei der "Eingehung der Ehe s i c h i n k einer Weise I' ü r impoten t halt e n k o n n t e. III. Kapitel: Impotenz 173 ✓ Es ist mehr als einmal vorgekommen, daß jemand unmittel- bar aus dem Hochzeitsbett zu uns eilte in höchster Auf- regung- über die Enttäuschung, die sein körperliches Versagen ihm und seiner jungen Gattin bereitet hatte. So sachte mich vor einiger Zeit ein höherer Beamter aus Süddeutschland auf, der am Tage vorher in einem Berliner Hotel seine Hochzeit gefeiert, sich dann mit seiner jungen Frau in das Brautgemach begeben und den Bei- schlaf versucht hatte. Er war über den ganzlich negativen Erfolg dieses Versuchs am so mehr entsetzt, als er sich auf seine bis dahin grundsätzlich durchgeführte Keuschheit viel zugute tat; ids Grund seiner Enthaltsamkeit gab er neben Furcht vor Ansteckung an, daß er ein Gegner der doppelten Moral sei; in Wirklichkeit lag jedoch vor allem ein sehr geringer and darum leicht unterdrückbarer Grad sexueller Libido vor; dazu Mangel jeglicher Übung und unrich- tige Vorstellungen über die Schwierigkeiten der Defloration. Eine kombinierte Behandlung mit Psycho- und Elektrotherapie führte innerhalb 4 Tagen die Möglichkeit der ersten deflorierenden Koiiabition und im Anschluß daran eine beide Teile befriedigende Potenz herbei. Ein nicht seltener Grund psychischer Impotenz sind Angstgefühle mit Gewissensbissen, die nament- lich nach Onanie oder häufigem Geschlechtsverkehr mit Prostituierten auftreten. Solehe Männer glauben auf Grund ihres Vorlebens ihre Ehefrau durch den Koitus zu entweihen, oder sie fürchten, sich durch Onanie beischlafsunfähig gemacht zu haben. Von einigen wird1 behauptet, daß Ausschweifungen, von anderen, daß Abstinenz zur Impotenz führen. Ein starkes^ sexuelles Be- dürfnis und eine daraus hervorgehende allzu reichliche sexuelle Betätigung pflegt wohl im Laufe der Jahre nachzulassen. Daß sie aber als solche zu einem völligen Verlust der Beischlafsfähigkeit führt, ist kaum anzunehmen, es sei denn, daß organische Erkran- kungen, etwa metaluetische Prozesse hinzugetreten sind. Auch auf dem Umwege einer durch geschlechtliches Übermaß erworbenen Neurasthenie kann gelegentlich als Teilerscheinung allgemeiner Er- schöpfung des Nervensystems die Potenz herabgemindert werden. Daß aber ein häufiger sexueller Gebrauch der Genitalorgane Bei- schlafsunfähigkeit bewirkt, wie behauptet wird, hält bei eingehender Nachprüfung ebensowenig stand wie die Behauptung, daß Onanie Impotenz im Gefolge hat. Zweifellos bat unter den Impotenten die größere Anzahl früher einmal onaniert. Da aber unendlich viel mehr Menschen onaniert haben als impotent werden, dürfte ein kausaler Zusammenhang, außer auf autosuggestivera Wege, schwerlich nach- weisbar sein und auch kaum vorliegen. Ebenso wie viele andere Autoren habe auch ich zahlreiche Fälle beobachtet, in denen Männer nur mit Prostituierten die Begattung vollziehen konnten. Auch hier liegen sexuelle Anomalien teils fetischistischer, teils masochistischer Natur vor. Zürn 174 Teil alior auch erklärt sich diese Potenz Prostituierten gegenüber dadurch, daß diese Personen den Männern Erleichterungen gewähren, beispielsweise durch manuelle Unter- stützungen beim Akte, welche Ehefrauen zu gewähren sich häufig scheuen. Bei einem Patienten von mir erlosch die bis zur Hochzeit vorhandene Potenz, die vorher in starken Erektionen bei Liebkosungen der Braut vorhanden war, für immer, als diese in der Braut- nacht bei dem Versuch der Defloration einen epileptischen Krampfanfall bekam. Eine temporäre Form der Hemmungsimpotenz ist auch diejenige, welche an bestimmte Tages- oder richtiger Nachtzeiten gebunden ist. So können manche Männer nur abends, andere nur in der Frühe, manche nur im Dunkeln, andere nur bei Tageslicht den Akt vollziehen. Ein besonders seltsamer Fäll temporärer Impotenz gelangte vor einiger Zeit zu unserer Beobachtung; ein 35jähriger Kestaurateur konnte nur mit seiner Frau verkehren, wenn er einen neuen Anzug trug. Wenn er etwa eine Woche im Besitze des Kleidungs- stückes war. war er völlig impotent. Patient gab an, daß er sich deutlich erinnere, wie er sich als Kind gesträubt und geschämt habe, wenn er ein neues Gewand anprobieren sollte. Zur Reifezeit, und zwar zuerst bei seinem Konfirmationsanzug, be- merkte er, daß dabei Erektionen auftraten, und gleichzeitig sich die Unlustempfindung in Lust umwandelte, deren Ursache allmählich zu der für ihn nicht mehr entbehrlichen Vorbedingung jeder Geschlechtsvereinigung wurde. An die sexuelle Trieblosigke.it schließt sich die sexuelle Lustlo s igkeit , die mangelhafte Geschlechtsempfiudurig des Mannes und des Weibes an. Das Lustgefühl sehen wir als einen narkotischen Zustand an, hervorgerufen durch chemische Über- flutung und Durchtränkung der Gehirnzellen, vergleichbar der Wir- kung von außen in das Blut geleiteter Kausehmittel. Im Orgasmus ergießen sich hier die an das Blut abgegebenen innersekretorischen Substanzen gleichzeitig mit den äußeren Sekreten, (Näheres darüber in meinen „Naturgesetzen der Liebe".) Das Ausbleiben des Lust- gefühls ist beim Weibe sehr viel häufiger wie beim Mann. Der Grund ist naheliegend. Der Mann als der aktive und aggressive Partner im geschlechtlichen Verkehr nähert sich im allgemeinen dem Weibe nur dann, wenn er ein adäquates, sexuelles Ziel findet und sich in einer ihm entsprechenden Weise betätigen kann. Dadurch ist ihm von vornherein eine größere Wahrscheinlichkeit gewährleistet, das orgastische Gefühl herbeizuführen, welches er instinktiv anstrebt. Das passivere Weib ist, auch wenn der Verkehr ihm nicht als eheliche Pflicht gilt, bei weitem nicht in einer so günstigen Lage. Wie sich die Keimzellen bei ihm entgegen denen des Mannes ohne aktives Zutun ablösen, wie die Befruchtung sich meist ohne Willen und Wissen des Weibes in ihrer Tube vollzieht, so ist sie auch beim Empfang der männlichen Keimzellen bis zu einem nicht unbeträchtlichen Grade nur das Gefäß zur Aufbewahrung der männ- lichen Sekrete. Die Absonderungen, welche in der Höhe der ge- schlechtlichen Erregung beim Weibe stattfinden, sind nicht germi- nal-korpuskulärer, sondern lediglich indifferent schleimiger Natur, sie entströmen den Drüsenschläuehen der inneren Genitalausklei- dung, und zwar dann, wenn durch Beizung der Wollustkörperchen allmählich eine solche Summation reflektorischer Erregung erzielt III. Kapitel: Impotenz 175 ist, daß von tiein affizierten spinalen Ejakulationszentrum ans ein rhythmisch-motorischer Stoßkrampf der Genitalmuskulatur eintritt. Dieser bewirkt mechanisch die Schleimabsonderung unter gleich- zeitiger, zerebraler, reflektorisch bedingter, narkotischer Lustemp- flndung. Aufgabe des Mannes ist es also, die orgastische Em i) findung beim Weibe auszulösen, wenn schon auch ein analoger Vorgang durch onanistische Manipulationen oder ander- weitige sexuelle Reize gelegentlieh auch "durch Traumgebilde her- vorgerufen wird. Ein lustloser Verkehr wird nicht selten sowohl von männlicher als weiblicher Seite mit „Onanie" verglichen. So kann man nicht selten lesen, daß gleichgeschlechtliche Personen den Verkehr mit dem anderen Gesehleehte als vaginale Onanie be- zeichnen. Dieser Vergleich ist jedoch nicht zutreffend, da das Lust- gefühl, welcbes durch Ipsation, sei es mit, sei es ohne Vorstellung, erzeugt wird, wesentlich stärker zu sein pflegt als das Gefühl, wel- ches bei nicht zerebraler Wollustbeteiligung entstellt. Viel- fach wird es von beiden Geschlechtern als taubes Gefühl bezeichnet. Andere sagen, sie empfänden ein „Kribbeln", etwa als ob ihnen die Hände oder Füße leicht eingeschlafen wären. Ein norwegischer Patient, welcher mich vor einigen Jahren konsultierte, sagte, ihm käme de.r Geschlechtsakt wie eine turnerische Übung vor. Dieser Mann war hinsichtlich der Richtung seines Geschlechtstriebes normal. Auch organisch konnte keine Störung nachgewiesen werden. Dagegen war er ungemein überanstrengt; es kam bei ihm zwar zu Erektionen, aber niemals im Akte zur Ejakulation, die jedoch post coitum gelegentlich im Schlafe in Verbindung mit wollüstigen Träumen eintrat. Der im übrigen sehr kräftige Mann konnte den Koitus ohne Nachlaß der Erektion beliebig lang bis zu einer Stunde vollziehen, ohne daß bei ihm das geringste Lustgefühl vorbanden war. Ebensowenig kam es dabei jemals zu irgendeiner Absonde- rung genitaler Drüsen (Ejaculatio seiuncta). Sehr viel häufiger als die ausbleibende Ejakulation und für beide Teile fast ebenso verhängnisvoll ist das umgekehrte Verhalten, ein zu früher Eintritt der Ejakulation beim Mann. In diesem Fall kommt die Frau fast niemals zu ihrem Recht, und zwar deshalb, weil die notwendige Summierung und Steigerung der nervösen Bahnen fehlt, welche den schließlichen Höhepunkt herbeiführen. Die Wollustkurve des Mannes verläuft insofern anders als die des Weibes, als der Anstieg sowohl wie der Abstieg steiler verläuft, während die Luststeigerung beim W^eibe im Sexualverkehr lang- samer hinauf- und herabgeht (vgl. Tafel V). Infolgedessen ist der angestrebte Zusammenklang bei der Ekstase keineswegs regelmäßig zu verzeichnen. Oft tritt der weibliche Orgasmus bei gewissen Mani- pulationen des Mannes vor seiner Lusthöhe ein. Es kommt aber auch vor, daß bei der Frau erst unmittelbar nach der Ejakulation die 176 rhythmische Entspannung-skontraktion erfolgt. Nicht jeder Verkehr, nicht jedes Geschlecht und nicht jeder Mann ist imstande, beim Weibe die lustbetonten Sensationen zu wecken, welche die mecha- nische Friktion der Wollustkörperehen begleiten soll. D e n n d a s ist bei diesem Reflexvorgang das Unterschiedliche von den meisten anderen Reflexen, daß nicht die mecha- nische Reizung der Glans clitoridis oder penis genügt, zentripetal den Sinnenkitzel auszulösen und auf die zentrifugale Bahnen hin- über zu leiten. Vielmehr muß dieser Reiz von einem W e,s e n ausgehen, das s e e 1 i s c h w i r k s a m i s t. Diese Grundregel, die, wenn auch in ihren letzten Ursachen noch ziemlich dunkel, dennoch unerläßlich für das Verständnis der sexuellen Reflexe ist, ist selbst Ärzten oft nicht gegenwärtig. Als sehr bezeichnend ist mir eine Äußerung in Erinnerung ge- blieben, welche in einem der großen politischen Homosexualitätsprozesse, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts spielten, ein gerichtlicher Gutachter mir gegenüber bei einer Verhandlung tat, in der die Beweisaufnahme ergeben hatte, daß ein wegen Mein- eids angeschuldigter Mann von einem anderen Manne onanistische Manipulationen an sich hatte vornehmen lassen. Dieser Angeklagte war verheiratet. Der Kollege äußerte nun seine große Verwunderung darüber, daß wegen einer solchen geringfügigen Hand- lung der Angeschuldigte sich an einen Mann gewandt hätte; wenn es sich um nichts anderes gehandelt hätte als um Onanie, so könne er nicht begreifen, weshalb der An- geklagte dies nicht von seiner ihm in jeder Beziehung entgegenkommenden Frau hätte vornehmen lassen, oder warum er es nicht selbst an sich vorgenommen hätte. Als ich ihm sagte, darin bestände ja gerade das Wesen seiner abweichenden Sexualität, daß der gesuchte Partner eine gleichgeschlechtliche Person sein müsse, meinte er in Anlehnung an eine verbreitete, ebenso irrtümliche Redensart über die Vagina, des Weibes: „Das begreife ich nicht. Hand ist doch Hand, Glied ist doch Glied.'" Näher kommt dem Kerne dieser Frage W. Nagel, wenn er in seinem Handbuch der Physiologie des Men- schen sagt, daß ein bislang nicht näher zu definierender Erregungszustand,' den er als Stimmung des Nervensystems bezeichnet, den mechanischen Reiz begleiten müsse. Wenn eine Frau keine Liebe zu einem Mann verspürt, wird diese Stimihung des Nervensystems gewöhnlich nicht zu erzielen sein, und wenn eine Frau überhaupt keine Neigung zu Männern verspürt, beispielsweise nur homosexuelle Neigungen hat, so wird ebenfalfs das Lustgefühl nicht erzwungen werden können. Wenn einer der hervor- ragendsten Forscher auf dem Gebiete der mangelhaften Gcschlechtsemplindung des Weibes, Otto Adler, die Zahl der frigiden Frauen auf 40 Prozent schätzt, so dürfte diese Zahl sich sicherlich nur auf eine relative, nicht absolute Frigidität beziehen. Der individualistische Charakter des ^exualreflexes läßt es auch verstehen, weshalb die Pro- stituierten nur selten während der Kohabitation Lust empfinden. Viele Männer geben sich der Illusion hin, selbst bei käuflichen Mädchen Lustempfindungen erwecken zu können, und viele Freudenmädchen täuschen solche Gefühle vor, „um bessere Geschäfte zu machen". In Wirklichkeit unterliegt es aber für einen Kenner der Prostitution keinem Zweifel, daß eine eigentliche sexuelle Befriedigung nur ausnahmsweise stattfindet. Hat die Prostituierte vollends trotz ihres käuflichen Gewerbes eine feste geschlechtliche Be- ziehung, was häufig vorkommt, zu einem Manne oder Weibe, sei es, daß diese Person an ihr Zuhälterdienste vertritt oder mit ihr ein Liebesverhältnis ohne „metallischen Bei- geschmack" unterhält, so wird von diesem Partner der Prostituierten sogar der größte Wert darauf gelegt, daß sie sich im bezahlten Sexualverkehr völlig indifferent verhält. Zweifellos gibt es viele Frauen, die trotz heftigen Geschlechtstriebes während ihres ganzen Lebens niemals ein wirkliches Wollustgefühl kennen gelernt haben. Mit Recht meint schon H a m m o n d , daß der Arzt, welcher in solchen Fällen helfen will, sich zu- nächst a n d e n Mann zu wenden habe. III. Kapitel: Impotenz 177 Bei der Ejaculatio praecox hat der Mann die Akme schon über- schritten, während die Frau sich noch in gespannter Erwartung- be- findet. Der Geschlechtsakt ist für ihn zu Ende, und er liegt seelisch und körperlich erschlafft da, während die Frau von der Höhe ihres sexuellen Paroxysmus noch weit entfernt ist. (Tafel V, S. 175.) Na- mentlich die sogenannte anständige Frau, die sich erst allmählich an den sexuellen Verkehr gewöhnt, leidet durch den schnellen präzipi- tierten Ablauf des Verkehrs. Nicht ganz selten kommt es auch vor, daß mangelhafte Geschlechtsempfindungen bei dem Weibe erst nach einer oder mehreren Schwangerschaften oder längerer Ehe sich ans bildet, weil an die Stelle der anfänglichen Leidenschaftlichkeit Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber dem Manne getreten ist. Gibt es überhaupt absolut kalte Frauen, also solche, die jeder Person und jedem Akte gegenüber dauernd empfindungslos bleiben ? Der Beweis dafür ist noch nicht erbracht und auch im einzelnen Falle schwer zu erbringen. Immerhin gibt es körperliche Leiden, welche das Wollustgefühl stark herabmindern. Von ihnen wird in dem Abschnitt über genitale und terminale Impotenz weiteres zu sagen sein. Um zu zeigen, welchen Einfluß die Aktausführung des Mannes, im besonderen die Ejaculatio praecox auf das weibliche Lustempfinden hat, will ich wieder ein lehrreiches Gutachten aus meiner Ehescheidungspraxis geben; es stammt im wesentlichen von dem Kollegen Otto Adler her, tait dem ich den Fall gemeinsam bearbeitet habe. Der Fall hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem auf Seite 170 beschriebenen, hier wie dort bean- tragte die Gattin Ehescheidung wegen der Impotenz des Gatten, hier wie dort behauptet sie fälschlicherweise Homosexualität des Mannes. Während wir aber in dem obigen Falle dringend die Aufrechterhaltung befürworten, gelangen wir hier zu der gegenteiligen Auffassung, und zwar weil dort ein temporärer, heilbarer, hier aber ein chronischer, nach Lage der Dinge der Behandlung kaum zugänglicher Fall vorliegt. „Der Ehemann X leidet seit Beginn der Ehe tait allergrößter Wahrscheinlichkeit an Impotenz und zwar an der r e 1 a t i v - c h r o n i s c h e n Form tait mangel- hafter Erektionsfähigkeit und vorzeitiger Samenentleerung (Ejaculatio praecox). Hierfür sprechen alle Angaben der Ehefrau X. Sehr wesentlich unterstützt werden deren Bekundungen durch das vorhandene Aktenmaterial, soweit es von dem Ehemann selbst herrührt (Behandlung durch den Dr. N. N. und Ablehnung gerade dieses Arztes, ver- trauliche Mitteilungen an dritte Personen, Widerspruch in der Behauptung, daß die Ehe- frau stark sinnlich veranlagt sei und trotzdem sich vor dem ehelichen Verkehr verschließe). Die Impotenzform (Ejaculatio praecox) des Ehemannes ist zweifellos an sich ein voller Anfechtungsgrund im Sinne des § 1333. Die Impotenz, ist in erster Linie eine „solche persönliche Eigenschaft des anderen Ehegatten, die bei Kenntnis d er' Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würde". Sie ist es an sich, sie wird es noch mehr einer Witwe gegenüber, die in erster Ehe geschlechtlich normal verheiratet war und geboren hat. In Betracht kommt sodann § 1339. Die „S c c h s - M o n a t sj r i s t" desselben hat erst vom Tage der „entdeckten" Täuschung, nicht etwa vom Hochzeitstage an zu zählen. Erst wenn die Fehlversuche als „relativ - c h r o n i s c h e Impotenz", d. h. als unheilbar erkannt sind, steht der persönliche Fehler des Ehemannes fest. Diese Erkenntnis ist bei einer absoluten Impotenz leicht; langsam dagegen bei der relativen Form, bei der es sogar zeitweise zu momentanen Erektionen und sogar zu einer regulären (vor- Hirschf eltl. Sexualpathologie. III. 10 : 178 zeitigen) Samcncrgießung kommen kann. Erst die lang dauernden Fehlversuche, die von der Ehefrau anfänglich für eine vorübergehende „Schwäche" gehalten werden, öffnen ihr nach monate- und jahrelangem Warten die Augen. Ge- wißheit wird ihr erst durch ärztliche Aufklärung zuteil. Es ist deshalb zweifellos, daß, wenn die Behauptungen der Ehefrau, die durch das vorhandene Aktenmaterial an sich schon sehr wahrscheinlich sind, durch weitere Zeugnisse weiter er- härtet werden können, die Ehe auf Grund der §§ 1333 und 1339 mit Recht anzufechten ist. Entweder- besteht eine zwar vollkommene, a.ber nur wenige Augenblicke an- haltende Erektion, die beim Versuch, den Begattungsakt zu vollziehen, sofort nachlaßt, indem schon bei dem Beischlafs v e r s u c, h die Sameneritleerung stattfindet (Ejacu- latio praecox). In diesen Fällen kommt es meist zu keiner regelrechten «rpschlechllichen Vereinigung. Die Ergießung vollzieht .ich bereits außer- halb (vor) der Scheide (ante portas), oder aber die Einführung ist nur einen kurzen Moment gelungen, so daß die Ergießung gerade noch ihr Ziel er- reichen konnte. In letzterem Falle ist zwar eine Befruchtung (Schwangerschaft) möglich, allein für die Ehefrau ist der ganze Akt wegen seiner Schnellig- keit ohne jegliches Gefühl von statten gegangen. Siei ist nichts als das Opfer einer ganz momentanen Wollust des Ehemannes. Sie selbst empfindet nichts und behält von dem rein tierischen Akt nur die Erinnerung an Brutalitat und Verunreinigung zurück. Oder:' Die Erektion ist überhaupt nur mangelhaft, halb, gestattet keine sichere Einführung und ist unfähig, die geschlechtliche Befriedigung der Ehefrau zu be- wirken. Die Ergießung kann auch hierbei sofort (praecox) resp. überhaupt nicht statt- finden. F ü r d i e E h e f r a u s e 1 b s t i s t der Vorgang eine Qual, die viel- leicht 'eine unnütze Erregung, niemals jedoch eine Befriedi- gung zur Folge hat. Bei öfteren Wiederholungen treten allzu- leicht Abneigung, Widerwillen und Ekel gegen den geschlecht- lichen Akt als solchen wie gegen die Person des Ausübenden ein. Beide Formen, absolute und relative Impotenz, können vorübergehend (akut) auftreten. Sie sind dann Teilerscheinungen eines vorübergehenden, allge- meinen nervösen Zustandes oder Folgen vorangegangener Krankheiten, besonders schwerer Infektionskrankheiten (z. B. Malaria). Im übrigen ist zu bemerken, daß die Potenz des Mannes von Stimmung, Laune, Gelegenheit usw. mehr oder minder abhangt. Sie ist eben ein unter psychischer Oberhoheit stehender Vorgang, bei welchem die Welt der Vorstellungen und Gedanken eine Hauptrolle spielt. Auch der sonst normal potente Mann wird bisweilen, besonders wenn er in nicht mehr ganz jugendlichem Alter sich befindet, zeitweise impotent sein. Es «schieben sich dann sogenannte „psychische Hemmungen" ein, die nur in einer unangenehmen Vorstellung zu wurzeln brauchen. Es genügt ein unangenehmer Duft, ein abstoßender Anblick, eine Unsauberkeit oder vielleicht eine ganz unwesentliche Hauterscheinung (z. B. ein Pickel) bei der zu Be- gattenden, um den ungerechtfertigten Verdacht auf eine Krankheit in der Vorstellungs- welt des Begattenden wachzurufen und demzufolge die Potenz unmöglich zu machen. Vorübergehende Abspannung und Überarbeitung, Kummer und Sorgen können ebenfalls zeitweise Impotenz bedingen. Ein sehr häufiges Beispiel der vorübergehenden (akuten) Impotenz ist die den Ärzten wohlbekannte „psychische Impo- t e n z junger E hemänne r". Sie tritt nicht allzuselten in der Hochzeitsnacht auf und kann mehrere Tage, ja Wochen anhalten. Wenn sich Ängstlichkeit und Ungeschick gelegt und die Parteien aneinander gewöhnt haben, pflegt mit dem Selbstvertrauen auch die Potenz zurückzukehren. In keinem Falle bieten d i.e* e vorübergehenden P o t e n z s t o - rungen einen Anfechtungsgrund im Sinne des § 1333. Erst ein dauernder (chronischer) Zustand berechtigt zur Anwendung des Anfechtung sp ar agrap hen. Die Momente dafür sind frühestens gegeben, wenn mehrere Monate ergebnislos verflossen sind. Die Dauer dieser Karenzzeit festzu- legen, dürfte schwer sein. Es muß dem weiblichen Empfinden in dieser III. Kapitel : Impotenz 179 Beziehung- ein weiter Spielraum gesetzt werden. Eine Frau, die nach vielleicht 1—2 Monaten wegen relativer Impotenz die Ehe anfechten wollte, könnte man als lasziv und ungeduldig ablehnen. Andererseits muß man be- denken, wie viel Zeit nötig ist. um in dem Gedankengang einer Frau die Impotenz des E hemannes als wirklichen Scheid ungs- r e s p. Anf echtungsgrn n d z u r E eif e zubringen. Sie kämpft diesen Kampf in sich zuerst viele Monate allein aus. Sie spricht nicht darüber, denn sie fürchtet, sich oder ihren Ehemann zu kompromittieren. Ein solches Thema hat noch nie bei ihr mit anderen zur Diskussion gestanden. Dazu kommt die Hoffnung, daß sich noch alles ändern möge, und die, wenn auch bisher fehlgeschlagenen, Versuche nähren in ihr die Zuversicht, daß die „Ungeschicklichkeit" sich doch mit der Zeit geben und einem normalen, ehelichen Zusammenleben Platz machen wird. Dieser Gedankengang ist wichtig für die Beurteilung des Fristparag r a p h e n ( 1 339), wonach die Anfechtung nur „binnen t> Monaten" erfolgen kann. Diese b'-Monatsfrist kann naturgemäß erst mit dem Augenblicke beginnen, in welchem „der Ehegatte den Irrtum oder die Täuschung entdeck t". Der Irrtum aber resp. die Täuschung wird erst klar, wenn sich die Impotenz als eine chro- nisch e ^herausstellt. Um zu diesem Resultat zu kommen, muß eine Frau den letzten Rest von" Hoffnung endgültig aufgegeben haben. Es spricht für den Anstand und die Empfindsamkeit der Ehefrau, wenn sie nicht gleich in den ersten Wochen und Monaten diese Hoffnung über Bord wirft, sondern eine Geduldsprobe von 1—2 Jahren über sich ergehen läßt. Erst wenn selbst ärztliche Manipulationen dem Manne keine Hilfe bringen und der Ausspruch des Arztes Dr. N. N.: „Wo nichts ist, da kämpfen Götter selbst ver- gebens!" der Ehefrau definitiv die Augen öffnen — dann erst fängt sie an. den letzten Rest von Hoffnung zu begraben. Volle juristische Klarheit aber über die „relative Impotenz" als Anfechtungsgrund wird ihr erst in dem Augenblicke, wo sie mit sachverständigen ärztlichen Beratern in Verbindung tritt. Man muß sich psychologisch in diese Gedankenwelt jeglicher Frau vertiefen. Der gereifte Gedanke der chronischen, unheilbaren Impotenz, der in dem Kopfe einer Ehefrau erst alle Stadien der „Ungeschicklichkeit", der „vorübergehenden Schwäche", einer vorübergehenden „Nervosität", „Überarbeitung", „falschen Gewöh- nung an langjähriges Junggesellenleben" usw. durchlaufen hat, bedarf wahrlich einer langen Zeit der Verarbeitung, für welche 1—2 Jahre sicherlich nicht zu wenig ange- setzt sind. . Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Impotenz des Ehemannes für diejenige Ehefrau ein gleichgültiges und hinnehmbares Leiden, sei, die auf Kinder verzichtet. Dem ist durchaus zu widersprechen. Der Geschlechtsakt dient nicht allein der mechanischen Fortpflanzung, er dient vielmehr in einer harmonischen Ehe zugleich einer beiderseitigen und sinnlichen Befriedigung. Jede Ehefrau hat ebenso wie der Ehemann ein Anrecht auf den Orgasmus (Höhepunkt des sinnlichen Genusses). Allerdings neigt man im allgemeinen der Ansicht zu, daß eine Frau von Hause aus weniger sinnlich veranlagt sei, daß ihre mehr passive Sinnlichkeit vom Manne erst geweckt werden müsse. Tatsächlich gibt es eine große Anzahl empfindungsloser „kalte r" .F r a u e n (n a t u r a e frigidae), die der Gutachter Adler in seiner Monographie wissen- schaftlich ausführlich beschrieben hat. Es mag Frauen geben, die mit dieser ange- borenen oder erworbenen Kälte eine erträgliche Ehe führen. Sie befinden sidTi dann "in der Lage, nur deshalb einen Genuß nicht zu entbehren, weil sie ihn eben nicht kennen gelernt haben. Es geht ihnen wie den Blindgeborenen, die meist gar nicht so unglücklich sind, weil sie nie das Licht gesehen haben-. Diese Frauen scheuen sogar vielfach den ehelichen Verkehr, der ihnen nur Schmutz und Geburtsschmerzen bringt, Sie würden vielleicht mit Freuden an einen impotenten Ehemann verheiratet sein. Anders die sinnlich veranlagten Frauen. Man braucht hierunter noch keine übersinnlich veranlagte Frau zu verstehen, was leider so häufig fälschlich geschieht und auch in dem vorliegenden Falle von dem Ehemann fälschlich angenommen 12* III. Kapitel: Impotenz 7U werden scheint. Die normale Frau hafauch ein normales, natür- liches sinnliches Begehren, wenngleich sinkt so sturmisch und durch die Natur der -eiblichen Zurückhaltung, durch jähr- tausendlange Sitte und Moral eingeengt. Die normale Frau hat AnrechUuf Befriedigung dieser Sinnlichkeit , die in der Ehe beim Znsammensein mit der anreizenden Macht des männlichen Korpers nach natürliche Erfüllung drängt. Dieses Recht hat bereits die normal empfindende Ehefrau, die als Jungfrau in das Hochzeitsbett steigt - noch vielmehr aber hat es die noma emp- findende Witwe, die vordem glücklich verheiratet war und geboren hat. Entschließt sie sich zur zweiten Heirat, so hat sie ein mehr als doppeltes Anrecht, bei dem zweiten Ehegatten eine normale Geschlechtsfähigkeit vorauszusetzen. E i n E he man ,r , de im 'Bewußtsein einer geminderten G e s c h 1 e c h , s f a h i g k i A e n Witwenehe eingeht, macht sich einer doppelt schweren Tau- schung schuldig . . . Der Gutachter Adler selbst hat in seiner bereits zitierten Monographie schon vor 6 Jahren wörtlich gesagt: Die Tatsache einer durchaus ausgebildeten Sinnlichkeit durfte wohl all- gemein als hinreichender Grund betrachtet werden, dieselbe auch zeitweise ganz zu ge- n eßen Ein ewiger Kampf dagegen kann zu schweren Störungen des Geistes fuhren. Die ivösen Störungen vom leichten Mattigkeits- und Unlustgefühl bis zum schweren Angstarr fall und Krampf, - Magen-, Darmbeschwerden. Muskelschwäche -, kurz das vre - oesfaltige Bild von Neurasthenie und Hysterie, haben allzu häufig ihren voimehtalrcben Grund in sexuellen Störungen, in mangelhafter Geschlechtsempfindung. G a t 1 e 1 ( tbei die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und Angstneurose") beschreibt an 100 Fallen diese* Zusammenhang. Irgendeine sexuelle Anomalie ist überall vorhanden, besonder die mangelhafte Befriedigung infolge von Ejaculatio praecox oder Coitus interruptus.'" , R . ■■ ,y In dieser Voraussetzung erscheinen, die ' Verfehlungen, vorausgesetzt daß sie wirk- lich begangen sind, und wegen derer die Ehefrau schließlich in erster Instanz für schuldig erklärt worden ist, in ganz anderem Lichte. Nicht -eine große Lüsternheit und ubergrole Sinnlichkeit haben zu dem abseitigen Schritte geführt, sondern das instink- tive Gefühl nach Entspannung. Sie mußte das Schreckgespenst der inneren Unruhe ^und Unlust der drohenden Nervosität, welche durch die Fehlversuche des Ehegatten groß- gezogen wurden, herannahen fühlen. Es ist viel leichter, ganz zu ent- behren, als immer und wieder an der normalen m der ersten Ehe geweckten Sinnlichkeit dur ck n ut z 1 o s e A 1 1 a ck e n des zweiten Ehegatten gereizt und gequält zu werden. Hier erlahmt sch reßl ch dei Stärkste und setzt sich über die Konvention fort. Gerade die F e h 1 v e r s u c h e der vor liegenden relativen chronischen Impotenz (Ejaculatio praecox) mußten auf die Ehefrau viel abstoßender wirken als die volle Unfähigkeit eines abso u Impotenten. Dieser Punkt bedurfte des psychologischen Eingehens, obgleich er fui die Anfechtungsklage als solche nicht mehr in Betracht kommt. Aber es mußte von de, Ehefrau das Odium der Laszivität und einer frivolen Moral genommen werden. Der Ehemann bezeichnet seine Ehefrau als „besonders sinnlich veran- lagt" (Schriftsatz vom 7. April 1909) und zugleich behauptet er, „daß sie nach Laune dem Kläger die Ausübung der ehelichen Rechte versagt oder sie nur in ver- drossenster Form gestattet, schließlich sich während der letzten Monate des ehe- lichen Zusammenlebens mit ihrem Sohne in ihr Schlafzimmer eingeschlossen nahe (Schriftsatz rorn 28. September 1908). Wie erklärt sich dieser Gegensatz von Sinnlichkeit und Weigerung? Doch offenbar nur aus der Abneigung, welche die Ehefrau gegen dies e „geschlechtlichen Verkehr des Ehemannes empfindet! Wenn sie wirk heb so sinn- lich ist, wie es der Ehemann darstellt, hätte sie doch mit Freuden jede Gelegenheit er- greifen müssen, die der Ehemann zur Befriedigung darbot. Allem diese Befriedigung trat che,, ni.-h. ein! Es waren immer nur abstoßende Fehlversuche. Ihre Nerven ge- rieten in einen Reizzustand, und so zog sie es vor, schließlich lieber ganz zu verzichten, als stets aufs neue unnütze Erregung, Abspannung, Ekel und Beschmutzung zu erleiden. III. Kapitel : Impotenz 181 Als letztes Moment kommt die von dem Ehemann angeführte Bemerkung in Be- tracht, wonach die Ehefrau beim Sühnetermin erklärt haben soll, „daß sie ein dauerndes Zusammenleben der Parteien für ausgeschlossen halte" (Schriftsatz vom 30. August 1909). Diese Bemerkung ist psychologisch wichtig. Man muß bedenken, daß die Ehefrau da- mals nicht auf Scheidung, sondern auf Wiederherstellung des ehe- lichen Lebens klagte. Und trotzdem erklärt sie — ganz gegen den Geist einer Wiederherstellungsklage — ein Zusammenleben für ausgeschlossen. Dieser Widerspruch begreift sich aus der unglücklichen Fassung des betreffenden Paragraphen (1567) des Neuen BGBs. Die Ehefrau wünschte allerdings ebenfalls die Scheidung und am geeig- netsten und schonendsten schien ihr als Grund die böswillige Verlassung. Der wenig glückliche Paragraph 1567 setzt aber hierzu die Klage auf Wiederherstellung voraus. Das Gesetz bringt also den Scheidungbegehrenden in den seelischen Konflikt, bevor er die Scheidung verlangt, die* Rückkehr zu Erbitten. Der Paragraph 1567 hat eine Art Doppelgesicht, in dessen Zügen sich ein Laie ungemein schwer zurechtfinden kann. Die Ehefrau ist deshalb ihrem einfachen, gesunden und natürlichen Gefühl gefolgt, als sie trotz der gesetzmäßig geforderten Wiederherstellung die Zerrüttung der Ehe bereits im Sühnetermin zugab. Sie scheute sich, den wahren Grund zu sagen, sie scheute sich auch, die Ehescheidung auf der sexuellen Basis aufzubauen, um die Scheidung ohne Schmutz und Härte durchzuführen. . . ." Spinale Impotenz. Um das Wesen der spinalen Impotenz zu verstehen, ist es not- wendig, sich über das mechanische Zustandekommen der Erektion und Ejakulation ein vollkommen klares Bild zu bilden. Die Glied- steifung, welche dem männlichen Organ die für den Verkehr not- wendige Härte, Form und Größe gibt, wird durch Blutanfüllung be- wirkt; diese ist eine Folge veränderter Gefäßspannung, abhängig von vasomotorischer Innervation durch ein intermediäres Zentrum, das seinerseits von sensiblen Nerven in Aktion gesetzt wird. Es handelt sich somit um einen typischen Reflexvorgang, der sich je- doch dadurch von den meisten Körperreflexen unterscheidet, als so- wohl in der quantitativen S um mation als der qnal i t a - tiven Reaktionsfähigkeit die Verhältnisse hier viel diffe- renzierter sind als bei irgendeinem anderen reflektorischen Vorgang im menschlichen Körper. Die Anatomie der männlichen Geschlechtsorgane lehrt, daß an Vorhaut und Eichel in reichlicher Menge freie intraepitheliale Nervenendigungen sowie besondere nervöse Endorgane vorhanden sind; unter diesen sind zu nennen: Endkolben, Tastkörperchen, Vatersche Körperchen, Krausesche Genitalnervenkörperchen. Besonders zahlreich sind namentlich die letzteren an der unteren Seite der Eichel entwickelt. Wegen ihrer großen Empfindsamkeit führen sie den Namen Wollustkörperchen. Ihre mechanische Friktion leitet einen starken Nervenstrom zentralwärts, der aber nur unter ganz beson- deren Voraussetzungen, wie nicht stark genug betont werden kann, 1 u s t - betont empfunden wird. Wie bereits im, Kapitel über Hypererotismus hervor- gehoben wurde, kann diese Erregung der Genitalnervenendigungen auch mechanisch durch Reizung entstehen, die mit dem Geschlechtsleben an sich wenig oder nichts zu tun haben, beispielsweise durch akute Schleimhautentzündung des inneren Uretralüberzuges. Durch Berührung dieser Schleimhaut durch Sonden, Katheter oder zu Masturbations- zwecken eingeführter Gegenstände tritt nicht selten Erektion ein. Namentlich löst Rei- bung und Reizung der Pars posterior urethrae den Reflexvorgang aus, wodurch es sich auch 182 III. Kapitel: Impotenz erklärt, daß beim Drücken der Prostata aus exploratorischen oder therapeutischen Gründen, beispielsweise bei Behandlung von Strikturen, nicht selten Steifimg eintritt. Eine ähnliche mechanische Reizung wird durch die pralle Füllung der Harnblase und der Samenbläschen hervorgerufen. Damit steht, wie Ricke (Professor Dr. Ehrhardt Ricke, „Zeugungsfähigkeit beim Manne", Handbuch der ärztlichen Sachverständigen-Tätigkeit, Wien, Braumüller, S. 78) mit Recht hervorhebt, in Übereinstimmung, daß Gliederschlaffun- mach erfolgter Ejakulation eintritt sowie die häufige Impotenz bei Spermatorrhoe, bei welcher Ansammlung von Samenflüssigkeit in den Samengängen ausbleibt. Sehr wesentlich ist, daß durch den bloßen Willen die sexuellen Leitungsbahnen nicht in Bewegung gesetzt werden können, sondern daß es stets dazu unwillkürlicher durch b e s t i m m t e Eindrücke und Vorstellungen hervorgerufener Reizungen be- darf. Daß diej Erektion auf einer arteriellen Blutfülle beruht, wurde schon im sieb- zehnten Jahrhundert experimentell durch Injektionen an der Leiche nachgewiesen. Im schlaffen Zustande stehen die Arterien des Gliedes, namentlich die kleinen Arteriae helicinae, welche das Trabekelwerfc der Corpora cavernosa penis und den .Bulbus der Corpora cavernosa urethrae bilden, ebenso wie die kavernösen Räume selbst, unter Ein- fluß einer tonischen Kontraktion ihres glatten Muskelapparates. Die längsverlaufenden Muskelbündel sind so gelagert, daß die Gefäßlumina verengert werden und nur ein un- beträchtlicher Blutzufluß möglich ist. Wärme und Kälte und andere, auch seelische E i n f 1 ü s s e "w i e Schreck. Angst sowie Müdigkeit be- wirken Veränderungen der Blut durchström ung in dem nicht gesteiften G 1 i e d c. So kann durch Kälte eine so hochgradige Kontraktion der glatten Längs- und Rings-Muskulatur der Gefäße eintreten, daß die arteriellen Lumina nahezu verschlossen sind und infolgedessen der Penis völlig zusammen- geschrumpft erscheint. Wenn aber durch vasodilatatorische Einwirkung die kontrahierten Gefäß Wandungen erschlaffen, strömt spontan aus den Stämmen der Arteriae dorsales und der Arteriae profundae penis das Blut in die erweiterten Zufüh- rungsgefäße der gleichfalls erweiterten Mascuenräurne der Corpora cavernosa. Die schnelle Füllung der. Kavernen beim Entstellen der Erektion sowie ihre ebenso schnelle Entleerung beim Vergehen rührt zum Teil von der eigenartigen Anordnung der glatten Muskulatur her. Dieselbe ist in Form der sogenannten Ebnerschen Intimapolster ange- ordnet, longitudinaler Muskelwülste, welche sich gewöhnlich in tonischer Kontraktion be- finden. Bei der Ausdehnung der Maschenräüme wird ein gleichmäßiger Druck durch die Trabekel einerseits auf die Penis-Arterien, andererseits auf die Urethra ausgeübt, wo- durch beide Röhren sich erweitern. Das hierdurch bewirkte Klaffen der Urethra dürfte für die Ejakulation nicht ohne Bedeutung sein. Früher nahm man allgemein an, daß durch die plötzliche Erweiterung der kavernösen Räume die abführenden venösen Ge- fäße komprimiert werden und durch den Blutzufluß sozusagen der Blutabfluß verringert wird. Für diese bestechende Theorie ist aber der anatomische Beweis noch nicht er- bracht worden. Francois Frank (Recherches sur l'innervation du penis, Arch. de physiol. norm, et pathol. 1895) wies eine Drucksteigerung in dem Peripherieende der Vena dor- salis penis während der Erektion nach. Hähnle nahm an, daß eine Kompression der Venen durch Muskelkontraktion stattfinde, und zwar dergestalt, daß der Musculus perinei auf die Venae profundae penis, der Musculus trigonalis und die Musculi bulbo- und ischio-eavernosi auf die Vena bulbo-cavernosa und Vena dorsalis penis einen Druck aus üben. Man hat gegen diese Vermutung aber geltend gemacht, daß der Penis auch bei einer lang andauernden Erektion weder eine bei Blutanstauungen stets eintretende Ab- kühlung noch Zyanose zeigt. Im Gegenteil ist' stets mit der Erektion eine nicht unbe- trächtliche Temperaturerhöhung des Gliedes verbunden, ein Zeichen, daß in dem ganzen Organ während der Erektion eine vermehrte Blutdurehströmung sattfindet. Dennoch kann, wenn sie überhaupt vorhanden ist, die Stauung und Hemmung innerhalb der Venen nur eine ganz untergeordnete sein. Die Hebung des steifwerdenden Gliedes, welche bei der vermehrten Blutfülle gewöhnlich eintritt, dürfte durch die Straffheit, der Faszien an der Peniswurzel und an dem ganzen Penisrücken zustande kommen, zumal der Rücken kürzer und straffer ist als die ventrale Faszie. Außer der Aufrichtung soll 183 auch die schwach konkave Krümmung des erigierten Gliedes dadurch sich erklären. Daneben dürfte allerdings auch rflerfür die Muskelfaszien des Musculus b,ulbo-cavernosus und ischio-eavernosus wirksam sein, indezn sie durch ihre Kontraktion zur Steifung bei- tragen, doch ist dies sicherlich gegenüber den anderen genannten Faktoren nur von nebensächlicher Bedeutung. Diese Auseinandersetzung erseheint notwendig-, um die Stö- rungen der Potenz in richtiger Weise bewerten zu können. Es ist dies durchaus nicht immer einfach, andererseits aber die unumgäng- liche Voraussetzung für jede Therapie. Die spinale Impotenz ist teils organisch, teils funktionell. Unter den organischen Formen sind zunächst Verletzungen des Rückenmarks zu nennen, wie solche im verflossenen Weltkriege leider besonders zahlreich beobachtet werden konnten. Von den von mir im Weltkriege ge- sehenen Fällen will ich einen etwas näher beschreiben. R. war am 28. April 1918 in Polen bei den Kämpfen an der Rawka von einem Gewehrgeschoß getroffen worden, das in der Lendengegend den Körper von links nach rechts durchschlug und dabei das Rücken- mark in der Höhe des untersten Lendenwirbels durchlöcherte. Es trat Lähmung beider Beine ein, die nach etwa 10 Tagen wieder ver- schwand. Das Gefühl blieb bis zur Höhe der Oberschenkel nahezu völlig aufgehoben. In' geschlechtlicher Hinsicht war sowohl die Libido als die Facultas erigendr und ejaculandi völlig verschwunden. Auch jedes Lustgefühl fehlte. Etwa 3 Monate nach der schweren Verletzung, die äußerlich außer einer schwach sichtbaren Ein- und Ausschußnarbe keine Spuren hinterlassen hatte, machte sich die Libido wieder in höherem Grade bemerkbar. Patient hatte aber im Zusammensein mit einer ihn seelisch stark anziehenden Persönlich- keit keine Spur von Erektion und war darüber außerordent- lich niedergeschlagen. In dieser Zeit sah ich ihn das erstemal. Alle angewandten Mittel elektrophysikalischer, chemischer und psy- chischer Art erwiesen sich zunächst als vollkommen erfolglos. Nach etwa Gmonatlicher, allgemein roborierender Behandlung, also fast 1 Jahr nach der Verletzung, trat das erste Mal, früh im Bett, eine spontane Erektion auf. Einige Tage später hatte Patient auch im Zu- sammensein mit der von ihm begehrten Frau eine Erektion. Doch kam es trotz ausgedehnter Manipulationen zu keiner Ejakulation. Die Schlafpollution ohne Erektion und Lustempfindung war vorher bereite zweimal, im fünften und achten Monat nach der Verletzung, vorgekommen. Sechs Wochen nach der ersten Erektion bei seiner Geliebten trat auch die erste Ejakulation beim Koitus ein, doch blieb das orgastische Gefühl, dabei vollkommen aus. Er empfand nur eine stumpfe Berührung, später auch ein leichtes Kribbeln. Diese Taubheit ließ unter Diathermie-Behandlung etwas nach, doch war eine Wiederherstellung der früheren kräftigen Wollustempfin- dungen bisher nicht zu erzielen. Sein letzter Bericht, 4 Jahre nach 184 III. Kapitel : Impotenz der Verwundung, lautete: „Seit Mai haber^ sich die sexuellen Emp- findungen wieder etwas gebessert. Das Glied wird' öfter von selbst steif, ebenso wenn ich mit jemand sexuell verkehre, zum Samen- erguß ist es jedoch dabei bisher nur einmal gekommen. Doch geht der Same oft des Nachts ab. Dabei habe ich Gefühle wie früher. In der rechten Bauchgegend, dem Gliede, dem Hoden und der rechten Hüftengegend fehlt das Gefühl. Dagegen ist die Empfindung auf der linken Seite normal, wie früher. Nach der Verwundung war der Unterleib ganz ohne Empfindungen. Doch das hat sich soweit ge- bessert. Nur die rechte Seite hat sich nicht gebessert. Das Glied kann ich selber nicht steif machen, doch, sobald ich mit jemand, der mich seelisch reizt, zusammen bin, wird das Glied steif. Aber nach kurzer Zeit wird es wieder schlaff. Dann bekomme ich Schmerzen im Unterleib. Doch haben diese in der letzten Zeit nachgelassen und treten nicht mehr so heftig auf wie früher." Dieser Fall ist überaus lehrreich, weil er die relative Unab- hängigkeit der verschiedenen Sexualbahnen voneinander zeigt. Unter den organischen Veränderungen des Rückenmarks be- ansprucht schon wegen ihrer Häufigkeit die Rückenmarks- schwindsucht in erster Linie Berücksichtigung, die wohl aus- nahmslos' mit Impotenzerscheinungen verbunden ist. Im Beginn dieser metaluetischen Affektion kann man zwar häufig eine ge- steigerte geschlechtliche Erregbarkeit bemerken, ähnlich wie ja auch andere Reflexe bei der Tabes zunächst eine Steigerung auf- weisen. Doch schon nach wenigen Monaten wird die Beischlafs- fähigkeit immer geringer, bis sie bald völlig erlischt. Ich habe sehr viele Fälle gesehen, in denen die Tabiker und ebenso ihre Gattinnen unter diesem Symptom mehr als unter irgendeinem anderen seelisch ungemein schwer litten. Die Frauen empfinden die Impotenz tabi- scher Ehemänner um so unangenehmer, weil ihr gewöhnlich einige Zeit Priapismus und Satyriasis vorauszugehen pflegt. Auch andere Rückenmarkserkrankungen führen je nach ihrem Sitze früher oder später, und zwar gewöhnlich nach vorübergehenden Reizzuständen zu völliger Erektions- und meist auch Ejakulations- Impotenz. Fast alle Formen der Myelitis, auch die spinale Kinder- lähmung sowie angeborene Rückenmarksdefekte (wie die Spina bifida) sind hier zu . nennen. Ein Beispiel unter vielen ähnlichen von spinaler Impotenz aus unserer Praxis diene zur näheren Erläuterung: W., Chorsänger, 34 Jahre, kommt mit der Klage üben man- gelnde Gliedsteitigkeit und verringerte Pollutionen. Diese treten aber ohne vorangehende Erektion noch ab und zu „etwas" auf, wenn auch- viel weniger als vorher. Die Libido habe nicht wesentlich abgenommen. Die Beschwerden bestehen seit anderthalb Jahren. Simst sei er gesund. Keine frühere Geschlechtskrankheit, nichts Besonderes in der sonstigen Anamnese. Schon in der Unterhaltung fällt die etwas gedehnte und abgehackte Sprechweise des Pat. auf. Die Untersuchung ergibt: Nystagmus horizontal bei Seitenendsteilung III. Kapitel: Impotenz 185 der Bulbi, raschen beimj Blick nach links, langsamen beim Blick nach rechts. Skan- dierende Sprache. Hirnnerven und Augenhintergrund sonst frei. Sehnen- reflexe der Arme und Beine spastisch gesteigert; Fußklonus beiderseits; Spas- men der Oberschenkelmuskulatur; keine gröberen Faresen, aber ausgesprochene Pyra- midensymptome (Oppenheim, Gordon usw). Fehlende Bauchdecken- reflexe. Sensibilität, Blase, Mastdarm ohne nachweisliche Symptome. Ganz leichte Intentionsataxie beim Finger-Nasenversuch und Finger-Fingerversuch. Es handelt sich also um eine multiple Sklerose mit allen typischen Sym- ptomen in deutlichster Ausbildung. Wie lange die Erkrankung zurückging, ließ sich nicht sicher feststellen, da der etwas eigenartige Patient von dieser Erkrankung überhaupt noch nichts gemerkt haben will — mit Ausnahme der Impotenz, die ihn zum Arzt geführt hat! Diese Impotenz ist zweifellos spinalen Ursprungs und ein Symptom der multiplen Sklerose, und zwar in diesem Fall das subjektiv am stärksten empfundene und zuerst' bemerkte. In einem anderen Falle, den ich sah, der einen 38jährigen Kaufmann betraf, wai eine vor 12- Jahren in der Charite behandelte rdultiple Sklerose seit 6 Jahren völlig abgeklungen. Der Patient war frei von Lähmungen, Intentionstremor, Nystagmus usw.; er hatte sogar den ganzen Krieg in Feindesland mitgemacht; es bestand als einziger Befund noch eine temporale Abblassung. Zugleich aber bestand eine Impotenz der Erektion und Herabsetzung der Ejakulationsfrequenz, die seit der Krankheit als dauerndes Residualsymptom bestehen geblieben war. Zu den Rückenmarkskrankheiten, bei denen ich erhebliche Potenzstörungen, namentlich während des Krieges, zu beobachten Gelegenheit hatte, gehört die unter dem Namen „railway spine" (Eisenbahnlähmung) beschriebene Rückenmarkserschütterung, die traumatische Myelasthenie , bei der im allgemeinen hier ana- tomisch-pathologische Veränderungen nicht nachweisbar sind. Dies führt uns dazu, noch einiges über die anderen funktionellen Impo- tenzformen zu sagen, die unter dem Sammelnamen der „nervösen Impotenz" zusammengefaßt worden sind. Es wird unter diesem Namen allerlei begriffen, was anderweitig schwer zu erklären und zu rubrizieren ist, wie ja eine große Erfahrung auf dem Gebiete der Impotenz lehrt, daß keineswegs alle eine restlos klare Deutung zu- lassen. Hinsichtlich der „nervösen Impotenzen" bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß sicherlich der größte Teil von ihnen rein psychisch bedingt ist, wobei es sich oft. um Gegen- vorstellungen und Autosuggestionen recht subtiler und un- bewußter Natur handelt, die sich dem Rückenmarkszentrum in seiner automatischen Tätigkeit entgegenstellen. Schon Eulenburg (Sex. Neuropathie, Leipzig 1895) wies darauf hin, daß die nervöse Impotenz gewöhnlich durch abnorme reflektorische und assoziative Reizwirkungen bedingt ist. Seine Einteilung der spinalen Impotenz in peripher- sensorische Impotenz , welche in Funktions- störungen der Zuleitung zu den symptomatischen, zentripetalen Zen- tralbahnen ihren Grund hat, und in eine spinal- sensorische Lei- tungs-Impotenz, welche durch Funktionsstörungen im spinalen Teil der aufsteigenden Genitalleitungsbahn bedingt ist, will allerdings ebensowenig befriedigen wie Krafft-Ebings Dreiteilung, der mit 186 III. Kapitel: Impotenz Impotenz verbundenen sexuellen Neurasthenie in eine lokale Geni- talneurose, eine Lendenmarksneurose und eine allgemeine Neur- asthenie. Näheres darüber im nächsten Kapitel. J e größer die Er- fahrung auf dem Gebiete der Impotenz ist, um so mehr stellt sich heraus," daß eine nervöse Impotenz im Sinne einer Funktions- störung peripherer Genitalnerven außerordentlich selten ist, falls es sich hier nicht überhaupt um eine Verlegenheitsdiagnose handelt. Unter 100 Fällen von Impotenz, welche zunächst als nervös auf- gefaßt waren und uns als solche von Kollegen überwiesen wurden, zeigten sich 80 psychisch bedingt, allerdings keineswegs immer auf Triebanomalien beruhend, sondern sehr häufig auch durch einfache Psychasthenien , Phobien und autosuggestive Widerstände hervorgerufen. Bei 5 Proz. lagen organische Kücken- marksstörungen, bei 6 Proz. organische Störungen im Bereich der Genitalogane vor, während bei 9 Proz. eine sichere Ursache nicht nachgewiesen werden konnte, die Wahrscheinlichkeit psychogenen Ursprungs aber auch überwog. Mit der spinalen und nervösen Impotenz fällt wesentlich auch diejenige zusammen, die durch die Fachliteratur unter der Be- zeichnung „paralytische Impotenz" geht. Sie wird dahin- gehend beschrieben, daß jede geschlechtliche Äußerung fehlt, weder Erektionen noch Pollutionen vorhanden sind, oft auch die Libido ausfällt. Als objektive Zeichen werden „auffallende Blässe, auch livide Verfärbung, Schlaffheit der äußeren Genitalien angegeben, Herabsetzung der Hautempfindlichkeit , Überempfnidlichkeit der Harnröhre und Schleimhaut, Kleinheit und Weichheit der Hoden; die Kremaster-Reflexe seien erloschen, die Kranken klagen über Kältegefühle, die von den Genitalien ausgehen. Offenbar handelt es sich hier um teils psychische, teils spinale Impotenzformen in Verbindung mit sexueller Neurasthenie, und ich halte daher die be- sondere Aufstellung dieser paralytischen Impotenz für überflüssig. Ihrem Wesen nach zeigen die Erektionsstörungen übrigens sehr verschiedenen Charakter. Es gibt solche, bei denen das Glied über- haupt nicht .steif wird, andere, bei denen eine vorübergehende Stei- fung eintritt, die aber sehr bald wieder einer Erschlaffung Platz macht. Als Untergruppe sind die Formen zu nennen, in denen der. Mann zunächst auf Grund einer starken Libido mit vollkommener Erektion zum Weibe kommt, die aber verschwindet, sobald er mit dem Membrnm in die Nähe der Aragina kommt. Auch hier handelt es sich gewöhnlich um eine relative, psychische Impotenz. Sowohl mit der Impotentia erigendi spinalis als mit der psy- chischen Impotentia coeundi ist in den meisten Fällen sekundär auch eine E. j akulations Impotenz verbunden, ohne daß eine direkte Störung des Ejakulationszentrums vorliegt. Die normale Samenausstoßung hat zum mindesten eine relative Gliedsteifigkeit III. Kapitel: Impotenz 187 zur Voraussetzung, so daß sich aus dem Fehlen dieser der Ausfall jener als Folgeerscheinung- ergibt. Es kommen aber auch Ejakula- tionsstörungen vor, bei denen Geschlechtstrieb und Erektionen völlig normal sind, und auch die Samenproduktion als solche nichts zu wünschen übrig läßt. Sie beruhen auf Reflexanomalien im Eja- kulationszentrum des Rückenmarks und tragen entweder mehr den Charakter einer Reflexlähmung oder den eines Reflexkrampfes. Ob- jektiv und subjektiv ist das eine so schwerwiegend wie das andere, das eine ist der vorzeitige Samenerguß, die Ejaculatio praecox, das andere das Ausbleiben des Ejakulats, sei es bei der Koha- bitation, sei es überhaupt, die Ejaculatio s e j u n c t a und d e f i - ciens. Der vorzeitige Erguß, ebenso unangenehm für den Mann selbst als auch für die Frau, mit der er verkehrt, beruht auf einer reizbaren Schwäche der sensiblen Genitalnerven, und es ist damit eine Teilerscheinung, und zwar eine der wichtigsten Symptome der sexuellen Neurasthenie, bei deren Besprechung wir uns noch ein- gehend mit ihr beschäftigen müssen. Überwiegt bei der Ejaculatio praecox der Eindruck der sensorischen, so bei der Ejaculatio sejuncta der einer motorischen Störung. Zweifellos liegt hier eine der befremdlichsten und am schwierigsten erklärbaren Sexualanoma- lien vor. Die anatomische Grundlage dürfte eine Verwachsung oder Verklebung, zum mindesten aber ein hochgradiger Spasmus der Ductus ejaoulatorii sein, namentlich in den Fällen, in denen, was jedoch verhältnismäßig nur selten vorkommt, der Samen längere Zeit nach der Erschlaffung träge abfließt. Ich habe eine ganz beträchtliche Anzahl männlicher Personen gesehen, bei denen niemals ein Samenerguß beim Verkehr eingetreten ist. Manche haben im Schlafe unwillkürliche Pollutionen, es gibt aber auch einige, bei denen sowohl Pollutionen als auch Ejakulationen gänz- lich fehlen, trotzdem die Hoden in keiner Weise von der Norm ab- zuweichen scheinen. So habe ich seit vielen Jahren einen ver- heirateten Ingenieur in Behandlung, der sämtliche Mittel an- gewandt hat, um zu einer Ejakulation zu gelangen, ohne jedoch jemals einen Erfolg erzielen zu können. Da sich das Ehepaar sein- em Kind wünscht, sind sie doppelt unglücklich. Dabei hat der Mann Erektionen, die beliebig lange andauern und hat den Akt in den verschiedensten Lagen schon länger als eine Stunde fortgesetzt. Noch zwei weitere Beispiele — herausgegriffen aus vielen ähnlichen — mögen uns den Erscheinungskomplex dieser den praktischen Ärzten noch viel zu wenig vertrauten Sexual - Störung veranschaulichen. Dr. M., Chemiker, 33 Jahre.' Seit 2 -Jahren verheiratet, in sonst glücklichster Ehe lebend, klagt er über folgendes: Er habe beim Verkehr zwar starke Libido und kraft- volle Erektionen, aber es komme niemals dabei zu einer Ejakulation. Ejakulationen habe er nur periodisch im Schlafe ohne vorangehende Erektion, teils mit, 188 III. Kapitel: Impotenz teils ohne wollüstige Träume. Da er sich auch Nachkommenschaft wünsche, sei dieser Zustand für ihn seiner Frau gegenüber allmählich unerträglich. Patient bringt diese Be- schwerden mit starker seelischer Erschütterung vor. Er erweist sich als kor per lieh oanz o-esund, erblich nicht belastet, psychisch als sensitive, geistig hochstehende Persönlichkeit. Die genauere Analyse der ihn quälenden Störung ergibt im wesentlichen folgende Vorgeschichte: Pat. ist streng und mit großem Schamgefühl erzogen worden. Er\at bis zur Ehe (mit 30 Jahren) v ölli g k e u s ch g eleb t. Er hat, wie er auf das Bestimmteste und völlig glaubhaft versichert, auch jede Neigung zur Onanie ge- waltsam in sich unterdrückt. Aufklärung über geschlechtliche Dinge, in denen er, wie er selber sagt, von jeher ziemlich „instinktlos" war, erfolgte mit etwa 15 Jahren. Da- mals einzige voreheliche Liebe zu einer gleichaltrigen Cousine, die etwa o ■ Jahre an- hielt Beide fuhren oftmals mit dem Rade etwa eine Stunde weit m ein Waldchen, wo sie sich küßten und an den Genitalien manipulierten. Pat. hatte schon auf der Hinfahrt sehr starke Erektionen in Gedanken an das Kommende, verhinderte aber aus Schatn- ,„.|ühl iedesmal die Ejakulation bei der mutuellen Onanie. Nach der Verheiratung der Cousine traten Erektionen bei ihm in dem Gedanken an deren Küsse usw. noch sehr stark auf. Seine jetzige Frau sieht der Cousine ähnlich. Die Behandlung bestand in einer Folge von Hypnosen, welche mit imperativen Suggestionen den Wunsch nach Immissio steigerten und die Ejakulation als sich un- mittelbar daran knüpfend voraussagten. Nach längerer Dauer hatte die Behandlung Erfolg. Ein Beweis für die psychisch bedingte Natur der spinalen Refiexstorung. Ein ähnlicher Fall: Dr. L, Redakteur, 28 Jahre alt, seit 4 Jahren verheiratet ebenfalls in sehr glücklicher Ehe lebend. Er klagt darüber, daß er seine Frau nicht befriedigen könne. Seine Erektionen beim Geschlechtsverkehr seien gering an Starke, die Ejakulation fehle. Seine Neigung zum Geschlechtsverkehr sei trotz großer Liebe zu seiner Frau gering. Hingegen traten Ejakulationen als Pollutionen auf, meist unter be- stimmten Träumen. Auch könne er (und darin liegt ein Gegensatz zum Fall Dr. M.) kräftigere Erektionen und Ejakulationen durch Onanie erzielen. Es ist ebenfalls der Wunsch der Ehegatten nach dem Kinde, der Pat. zum Arzt führt. Die körperliche Untersuchung ergibt die Zeichen funktioneller Neurose, die Vorgeschichte mancherlei neuropathische Züge. Pat. ist ebenfalls ein geistig sehr reger und _ feinfühliger Mensch von großem Schamgefühl. Nach langem Zaudern gibt er an: bei seinen wollustigen Pollutionsträumen und seinen onanistischen Versuchen trete die Ejakulation ein sobald er sich vorstelle, er ringe mit einer Frau und werde von ihr besiegt. ist lediglich eine bestimmte Bewegung des Ringkampfes, der sogenannte „Affenkasten deren Vor- stellung ihn bis zur Ejakulation errege. Der in Frage kommende weibliche Fartner bleibt ganz unbestimmt, Zuerst hat L. die Wirkung dieser Vorstellung in der Puber- tätszeit gehabt. Auch er, wie der vorige Fall, hat aus Schamgefühl diesen ganzen Kom- plex möglichst aus seinem Wachleben ausgeschaltet, hat jede Onanie zu unterdrucken versucht und bis zur Ehe keusch gelebt. Die Heirat ist aus einer platonischen schwärmerischen Liebe hervorgegangen. Behandlung durch Hypnose. Bezeichnend ist ein Traum, den er, auf entsprechende Suggestion, er werde jetzt träumen, in der Hypnose träumt: er befindet sich in einem langen, schmalen Korridor, der dunkel ist. Er will tiefer in den Korridor hinein, aber ein Eisblock versperrt ihm den Weg. Der Eisblock ist klein, jeder andere käme leicht herüber; aber so sehr er sich anstrenge, er komme nicht über ihn hinweg. In dem Eisblock ist eine Gestalt eingeschlossen, wie eine Fliege im Bernstein, eine menschliche Person, aber viel kleiner. Dieser Traum deutet sich sozusagen selbst — als das Symbol der Gefühlsregungen, Befürchtungen und Wünsche, die den Pat. beim Geschlechtsverkehr bewegen. Auch hier wurde nach wenigen Hypnosen ein relativer Anfangserfolg, erzielt, indem die Beischlafsmöglichkeit eine Besserung erfuhr, da der Kohabitationsakt jedoch noch völlig ejakulationslos verläuft, kann von Heilung noch nicht die Rede sein, die zu er- zielen bei diesem Leiden überhaupt sehr schwierig ist und von Pat. und Arzt größte Geduld erfordert. in. Kapitel: Impotenz 189 Epikrise der beiden Fälle: In beiden Fällen ist der Ejakulationsmechanismus vom Erektionsmechanismus abgespalten. In beiden Fällen hat sich dies vollzogen nach einer über ein Jahrzehnt lang geschlechtlichen Totalabstinenz, bei welcher auch die Onanie unterdrückt w u r d e. Diese geschlechtliche Totalabstinenz ist in beiden Fällen die Folge von geschlechtlicher Scheu. Diese ge- schlechtliche Scheu und Schani hat auch den Inhalt der Libido bei beiden Fällen modi- fiziert. Sie hat den größten Lusl gewinn libidinöser Art in das Vorstellungsleben, ins besondere in das unwillkürliche Traumleben gelegt. Der Inhalt der Träume ist von der Aktvorstellung weit entfernt; er beziehj sich zum Teil anf Präliminarien des Aktes, teils auf gänzlich andere Dinge. Zum Weibe besteht eine Art idealer Liebesneigung; beim Geschlechtsverkehr mit ihren geliebten Frauen verlieren beide die Unbefangenheit und Sicherheit der Ejakulation, auf dem so vorbereiteten Boden tritt dann das Symptom der Abspaltung in Erscheinung. Bemerkenswert ist, daß manche dieser Patienten sich nicht im klaren sind, ob sie im Verkehr ejakulieren oder nicht; Schleimabstoßungen während des Aktes auf weiblicher Seite befördern die Zweifel, welche auch die Frau oft nicht zu zerstreuen in der Lage ist. Zur Sicherstellung der Diagnose ist dann ein wiederholter Coitus condomatus erforderlich. Genitale Impotenz. Wir kommen jetzt zu der genitalen Impotenz, welche durch organische Veränderungen des männlichen und weiblichem Kopu- lationsorgans und seiner Umgebung bedingt ist. Es kommen liier zahlreiche Anomalien in Betracht, von denen zwar jede für sich eine Seltenheit bildet, die in ihrer Gesamtheit aber dennoch die Beischlafsfähigkeit und Fruchtbarkeit erheblich beschränken. Wir geben im folgenden eine kursorische Übersicht der hierher gehörigen Störungen : 1. Völliger angeborener Mau gel des Penis. Hierhri besteht bei normaler Libido sexualis und meist vorhandener Potent ia generandi eine Impotentia coeundi, zum mindesten gänzliche Im- potenz der Immissio penis. Der Penisdefekt ist häufiger, als ge- meinhin angenommen wird, wenn man die Fälle hinzuzieht, in denen er mit Hypospadie des Skrotums verbunden ist. Es fallen dann nämlich in diese Gruppe alle jene pseudoherniaphroditisehen Abweichungen, die im ersten Kapitel des zweiten Bandes der Sexualpathologie geschildert sind, bei denen sich unter äußerer weiblicher Fassade männliche Keimdrüsen vorfinden. Daß solche Personen zeugungsfähig sein können, steht nach meinen eigenen Feststellungen und denen früherer Autoren außer Zweifel. Damit ist auch zugleich gesagt, daß eine relative Beischlafsfähigkeit mög- lich ist, allerdings nicht dergestalt, daß ein -bis zum Müttermund reichendes Kopulationsorgan in die Vagina eingeführt wird, son- dern dergestalt, daß die Ausflußöffnung des Mannes auf die Einflußöffnung des Weibes gelagert ist. Durch Koha- bitationsbewegungen wird das Sekret in den offenen Vaginal- schlauch hineinbefördert, was keineswegs Lustempfindungen bei beiden Partnern ausschließt. Diese Beobachtung beansprucht inso- 190 III. Kapitel: Impotenz fern eine praktische Bedeutung, als von umgeschriebenen Herm- aphroditen fast regelmäßig die Frage nach ihrer Heiratsfähigkeit, Beischlafs- und Zeugungsfähigkeit aufgeworfen wird, die unter ge- wissen Voraussetzungen keineswegs negativ zu beantworten ist. Seltener als der Penisdefekt hei gespaltenem, ist der bei völlig normalem Skrotum. Doch liegen auch für diesen verschiedene Bei- spiele und Beweisstücke in pathologisch-anatomischen Museums- präparaten vor. Während bei der skrotalen Hypospadie der Hode gewöhnlich hinter dem Leistenkanal liegt, sei es einseitig oder doppelseitig, so befinden sich bei nicht gespaltenem Skrotum die Testikel gewöhnlich an normaler Stelle. 2. Häufiger wie der angeborene ist ein erworbener, durch Verletzungen oder schwere Erkrankungen hervorgerufener, par- tieller oder totaler Penisdefekt. Im Kriege konnten solche Fälle wiederholt beobachtet werden, darunter auch einige, die auf absicht- licher Verstümmelung beruhten. Derartige Organverluste erschweren die Potenz, heben sie aber nicht Völlig; auf. Die von einem Autor auf den anderen übergehende Literaturangabe, daß ein Stumpf von 6 Zoll zum Beischlaf genüge, ist willkürlich. Die Libido, die Zeugungsfähigkeit und auch das orgastische Gefühl sind bei totalem und partiellem Penismangel nicht ausgeschaltet. 3. Nicht wesentlich anders wie beim gänzlichen Fehlen des männlichen Gliedes liegen die Verhältnisse bei einer abnormen Kleinheit des Penis. Zunächst ist hier zu bemerken, daß vielfach Personen der Annahme sind, ihr Kopulationsorgan sei ungewöhnlich klein und daher Bedenken tragen, sich dem Weibe zu nähern. In Wirklichkeit sind aber diese Zweifel fast stets un- begründet, wie überhaupt die meisten Ansichten über ein zu kleines oder zu großes Glied, über eine zu enge oder zu weite Vagina ob- jektiv unhaltbar sind und auf sexueller Skrupelsucht beruhen (siehe nächstes Kapitel). Kleine Membra kommen gewöhnlich in Ver- bindung mit kleinem Genitalapparat überhaupt, vor allem mit kleinen Testikeln, vor. Es ist aber auch gelegentlich zu beobachten, daß das Skrotum nebst Inhalt völlig normal gebildet ist, der Penis dagegen nur ein winziges, bürzelartiges Rudiment darstellt. Der häufigste Fall ist der Typus des Eunuchoiden, wie ich ihn in dem Kapitel Geschlechtsdrüsenausfall beschrieben habe. Hier ist die Libido sexualis, wenn auch abgeschwächt, oft vorhanden und wird nicht selten ipsatorisch befriedigt. Spermatozoen fehlen, doch wird meist etwas klebriger Drüseusaft abgesondert. Orgasmus ist in geringem Grade vorhanden, dagegen die Potestas generandi auf- gehoben. Ich habe auch vereinzelte Fälle gesehen, in denen bei eunuchoiden Menschen noch nach dem 20. Jahre eine gewisse Nach- entwicklung eintrat, wobei dann auch eine Wachstumszunahme des Penis vorkam. Übrigens zeigen bei abnormer Peniskleinheit meist III. Kapitel: Impotenz 191 auch andere Organe, und gewöhnlich auch das Seelenleben, Ab- weichungen von der Norm, und zwar gewöhnlich in der Richtung psychischen und psychosexuellen Infantilismus. 4. Wie die abnorme Kleinheit, so wird auch die abnorme Größe des Gliedes vielfach als Hinderungsgrund bei der Kohabitation angegeben. Normalmaße oder auch mir eine Durch- schnittsgröße des Penis aufzustellen, ist nicht angängig. Nicht selten geben Personen, denen zur Last gelegt wird, sie hätten jugendliche Mädchen geschwängert, an, daß schon die Größe ihres Organes dies unwahrscheinlich mache, doch ergeben Nachprüfungen von Sachverständigen hier stets mehr oder weniger bewußte Täuschungen. Die bedeutende Dehnungsfähigkeit des weiblichen Geuitalschlauches, wie sie ja aus dem Durchtritt des Kindskopfes bei der Geburt ohne weiteres erhellt, zeigt, daß auch ein sehr voluminöser Penis schwerlich jemals ein dauerndes Kohabitations- hindernis abgibt, es sei denn, daß bei der Frau Vaginismus oder ein anderweitiger krankhafter Zustand vorliegt. Jedenfalls sind die nicht selten als Ehescheidungsgrund angegebenen Mißverhält- nisse zwischen einem in der Erektion zu großem Gliede und einer zu engen weiblichen Scheide stets mit größter Vorsicht aufzu- nehmen. 5. Eine sehr seltene und nur der Vollständigkeit halber zu erwähnende AnornaJie ist die angeborene V e r d o p p e 1 u n g des Penis. Gewöhnlich liegen, hier beide Penes nebeneinander, selten übereinander. Auch unterscheidet man eine totale und partielle Duplizität, je nachdem die Organe völlig oder nur in den oberen Partien der Glans doppelt gebildet sind. Unter einem Diphallus s p u r i u s versteht man Mißbildungen von penisähnlicher Gestaltung, welche mit dem Glied selbst keinerlei anatomische Ver- wandtschaft aufweisen. Mit diphallischer Bildung verbunden sind auch Doppelbildungen der Urethra, unter denen besonders bemerkenswert der von Ricke zitierte Fall Lour- thioris ist, in dem ein junger Mann aus beiden Gliedern urinierte und ejakulierte. Der sehr seltenen Verdoppelung der Harnröhre nahe stehen die abnormen paraurethralea Gänge, die jedoch für die Potenz kaum je von Bedeutung sind. Mehr ins Gewicht fallen als Erschwerungen für die Ejakulation anderweitige urethrale Mißbildungen, zu d^nen totaler und partieller H a r n r ö h r e n v e r s c h 1 u ß , angeborene Striktur, Divertikel- bildung in der Urethra sowie völliges Fehlen derselben bei vorhandenem Penis gehören: Abnormitäten, die meist mit anderen Entwicklungshemmungen verbunden sind. 6. Sehr viel häufiger als die letztgenannten, kongenitalen Ano- malien sind jene Abbiegungen der Harnröhre, die unter dem Namen der Hypospadie und Epispadie bekannt sind. Die Hypo- spadie, welche nach meiner Beobachtung fast stets mit sonstigen Abweichungen in den sekundären Geschlechtscharakteren , nicht selten auch mit solchen der Sexualpsyche verknüpft ist, muß ver- schieden beurteilt werden, je nachdem sie nur eine in geringem Grade von der oberen Spitze nach unten verlagerte Öffnung dar- stellt oder tiefer nach unten skrotalwärts gelegen ist, ferner je nachdem es sich nur um ein Loch oder um eine Rinne von größerer oder kleinerer Länge, die sich dann nicht selten auch auf das Skro- 192 III. Kapitel: Impotenz tum erstreckt,, handelt. Daß Hypospadie weder die Beischlafs - noch Zeugungsfähigkeit aufhebt, beweisen die zahlreichen Fälle, in denen diese Abweichungen von der Norm erblich bei Vätern und Söhnen auftreten. Immerhin ist bei entwickelteren Formen der Hypospadia peniscrotalis und perinealis die Kohabitation sehr er- schwert, oft sogar unmöglich. Vielfach bestehen bei der Hypo- spadie auch anderweitige Genitalanomalien wie Hoden- und Pro- stataatrophien. Außerdem pflegt bei stärkeren Formen des hypo- spadiäischen Penis in der Erektion eine abnorme Knickung aufzu- treten, die sogenannte „verge condee" der Franzosen, die für sich ein Kohabitationshindernis erheblichen Grades darstellt. Die viel- fach versuchte operative Beseitigung dieser Krümmung hat, so- weit ich gesehen habe, bis jetzt keine nennenswerten Erfolge zu verzeichnen' gehabt. 7. Unangenehmer noch für die Kohabitation wie bei der Hypospadie liegen dir Verhältnisse bei der viel selteneren Epispadie. Auch hier finden sich meist noch andere Verbildnngen des Penis, beispielsweise abnorme Kleinheit oder Verlagerung des . Gliedes. Auch sind die Corpora cavernosa meist schwach und fehlerhaft entwickelt. Alle diese Veränderungen, die oft noch mit Entwicklungsstörungen der Urethra und Blase vergesellschaftet sind, bedingen naturgemäß ein hochgradiges Kohabitations^ hindernis. 8. Wir kommen nun zu einer der verbreitetsten Störungen im Bereich der Genitalorgane, zu der Phimose. Häufig veranlaßt diese besondere Bildung der Vorhaut hypochondrische, autosuggestiv wirkende Vorstellungen. Ich habe wiederholt Personen kennen ge- lernt, die ihre Impotenz auf eine zu enge Vorhaut zurückführten. Trotzdem objektiv diese Auffassung keineswegs gerechtfertigt war, hielt ich es schließlich für angezeigt, das stark anti-erotisch wirkende Moment zu beseitigen und sah nach dem kleinen Eingriff oft, aber keineswegs immer, ein Verschwinden der Impotenz. Namentlich in mehreren Fällen, in denen die ungeschickten Bei- sehlafsversuche junger Eheleute dauernd negativ ausfielen, erwies ^sieh diese Behandlung erfolgreich. Gewöhnlich ist die Phimose ver- ursacht durch eine epitheliale Verklebung der Glans mit dem Präputium, die physiologisch noch in der frühen Kindheit^ vor- handen ist und sich erst ganz allmählich, bis in die Keifezeit hinein, trennt. Erektion und auch Masturbation befördern diese Trennung. Wenn die Vorhaut infolge Verklebung sich überhaupt nicht zurück- ziehen läßt, kann das Präputium bei Steifungen so stark an- gespannt werden, daß ein heftiger Schmerz der Steifung entgegen- wirkt. Bei der starken Spannung des zu engen Präputiums kommt es nicht selten zur Verdünnung desselben, der atrophischen Form der Phimose. Während diese Form durch Druck auf die Eichel auch diese in Mitleidenschaft zieht, kommt es bei der hypertrophischen Form der Phimose mehr zu Aussackungen durch Urinstauungen oder zur Bildung von Vorhautsteinen infolge abgelagerter Kalk- III. Kapitel: Impotenz 193 salze aus* dem Urin, die sieh mit Bakterien vermischen. Hierdurch entstehen Reizzustände im Vorhautsack, die zu Anschwellungen und ödematösen Schwellungen führen, Erscheinungen, die bei der Erek- tion sich besonders fühlbar machen und diese schnell wieder zum Verschwinden bringen. In anderen Fällen üben die durch Exkrct- stauungen entstandenen balanitischen Zustände einen Kitzel aus, der Erektionen und sexuelle Erregungen herbeiführt. Solche Reiz- zustände sind auf die Dauer nicht ohne Bedeutung für das Nerven- system, so daß auch in dieser Hinsicht die Phimose keineswegs unbedenklich ist. Vor allen Dingen erfordert aber eine stärkere Phimose deshalb Beseitigung, — und zwar nicht, wie man immer noch gelegentlich beobachten kann, durch Inzision, sondern durch Zirkumzision — , weil es beim Koitus infolge der gespannten engen Vorhaut leicht zu kleinen Einrissen kommt, die eine Eintrittspforte für ansteckende Keime, Gonokokken, Staphylokokken und Spiro- * chäten bilden. 9. Eine Verkürzung des Vorhautbändchens kann bei Gliedsteifung ebenfalls zu Sch'merzen und Deviationen der Eichel führen. Auch hier kommt es bei starker Erektion leicht zu Einrissen, die die Infektionsmöglichkeit wiederum steigern. Durch Durch - trennung des Vorhautbändchens kann dieser Zustand behoben werden, doch muß betonl werden, daß auch hier wieder vielfach unbegründete Besorgnisse bestehen, in Folge derer ein völlig- normales Bändeben für zu kurz angesehen wird. 10. In höherem Grade noch wie die Phimose behindert die Beiscblafsfähigkeil die Paraphimose (der sogenannte spanische Kragen), die allerdings meist nur einen vor- übergehenden Zustand darstellt. Dir Paraphimose entsteht gewöhnlich aus einem mehr oder 'minder phimotischen Zustand, durch Verziehung der Vorhaut hinter die Eichel auf masturbatorischem, seltener kohabitatorischem Wege. Sie führt zu starken subjek- tiven und objektiven Beschwerden, die sich durch heftige Schmerzen, Ulzerationen, Schwellungen und Entzündungen bemerkbar machen. Die kleinen Geschwüre und Ero- sionen des einschnürenden Hautrings leiten manchmal zu Gangränbildungen über. Doch sieht sich das ganze Bild gewöhnlich gefährlicher an, als es ist. Auch mildern sich die stürmischen Erscheinungen bei Ruhe und sachgemäßer Behandlung, wie Umschläge mit essigsaurer Tonerde, bald. Immerhin sind auch Fälle beobachtet worden, wo dfe Zer- störungen von der Corona glandis schließlich auf die Harnröhre und die ' Schwellkörper übergriffen. 11. Äußere Verletzungen des Penis sind nicht so häufig, wie man nach der zugänglichen Lage des Organs erwarten sollte, aber immerhin häufig genug, um als weiterer Behinderungsgrund der Kohabitationsfähigkeit erwähnt zu werden. Neben Quetschungen, wie sie beispielsweise heim Turnen vorkommen, ereignen sich ge- legentlich Verwundungen durch Stiche, beispielsweise durch offen in der Tasche getragene Taschenmesser, Risse, Bisse, Schnitte und vor allem im Kriege durch Schüsse. Ich konnte in meiner Spezial- praxis mehrere Fälle beobachten, in denen das Organ durch Schuß- verletzungen bis zur Hälfte und mehr zerstört war. Heilen diese Verwundungen gut, so stellen sie eine bessere Voraussage, als der unglücklich Verletzte anfänglich glaubt, wenn er zu seinem Schrecken die sekundären Schwellungen und Verfärbungen infolge Hirschfei d, Sexualpathologie. III. io III. Kapitel: Impotenz von Blutergüssen erblickt. Auch Selbstverstümmelungen des Gliedes aus sexualhypochondrischen oder hypererotiscnen Motiven, sowie Verletzungen bei Beschneidungen sind hier fcu nennen. 12 Neben den äußeren Verletzungen kommen subkutane vor sowohl leichterer Art, bei denen der innere Bluterguß bald resorbiert, und der Normalzustand wieder hergestellt wird, als auch stärkere Zerreißungen der Sehwellkörper, die nicht selten zu Narben- bildungen, Verödungen des Maschenwerks und bleibenden Ver- änderungen führen, welche der Erektion sehr hinderlich sind. Es kommt dabei nicht selten infolge der Blutungen zu partiellen Erek- tionen mit Abknickungen des Gliedes, wie solche auch bei Blutern (Hämophilie, Leukämie) beobachtet sind. Betrifft die Zerreißung wesentliche Teile der Schwellkörper, vornehmlich die Albuginea, so spricht man von einer Penisf r a k t u r. Solche „Brüche" ereignen sieh bei steifem Gliede durch böswillige Gewaltanwendung von selten des geschlechtlichen Partners, gelegentlich, wenn auch sehr selten, durch allzu gewaltsamen Koitus sowie durch zu- fälliges Getroffenwerden von harten Gegenständen. Es sind, auch Fälle beschrieben worden, in denen sich Personen den erigierten Penis selbst zerbrochen haben. Es kommt dabei vor, daß auch die Urethra eingerissen wird, was man dann als komplizierte Fraktur bezeichnet hat.. Berücksichtigt man, daß der Mensch zum Unter- schied vom Hunde keinen Penisknoehen hat, so erscheint der Aus- druck Penisf raktur allerdings wenig angebracht. 13. Auch von einer Luxatiö p enis ist gesprochen worden. Nelaton («Mmente de pathol chir. 1859) versteht darunter einen Zustand, bei dem sich der Penis unter die ÜudZt zurückzieht oder sich im Skrotum verkriecht Diese Fälle ^emtrachügen d Beischlafsfähigkeit Ins zur Unmöglichkeit, wenn es zu Ver Schrumpfungen der Haut des laxierten Penis und zu Verwachsungen kommt. 14 Unter Sehr in den des Penis versteht man Unfälle bei denen die, Haut des Gliedes ganz oder teilweise auf- und abgerissen wird. So che Vorkommnisse « ign n skh gelegentlich durch Betriebsunfälle, wie Hineingeraten n Masehinenrader SmisslLriemi usw., auch durch überfahren- und Verschüttetwerden. Diese^Wunden STzwax verhältnismäßig gut, doch lassen sie oft ausgedehnte Narben bei der Erektion Schmerzen hervorrufen. Es sind allerdings auch Falle beobachtet worden, die keinerlei Funktionsstörungen zurückließen. So habe ich w,eder£ oh Falk .„sehen in denen eifersüchtige Liebespartner das Glied eines Schlafenden mit treten £' traktierten, die tadellos heilten; doch wird ein e beson dere In^tion^ bei Verletzungen der Schwellkörper und der Harnröhre durch den häufigen Gebrauch des Organs Jr Harnentleerung hervorgerufen. Das Glied ist nicht nur zufällige n .Insu Ken und allerlei Attentaten Bach- und Eifersüchtiger ausgesetzt, sondern bildet auch sonst das Ziel mannigfacher Angriffe durch scharfe Instrumente, sei es aus religiösem 1 an - tismus (wie bei den Skopzen) oder bei Entmannung aus anderen Gründen oder ^ aus ipsatorischer oder automasochistischer Absicht. Auch Bißwunden A^Ttnd\^l Ratten usw. sind beobachtet, sowie. Einklemmungen in Schu Maden u„, Türen M an hat ausprobiert, daß zum Abreißen des Penis in schlaffem Znstande 125-145 kg, bei jungen Leuten 160 kg erforderlich sind, während bei erigiertem Gliede 40-60 kg genügen. 15 Besonders zu erwähnen sind auch die Abschnürungen des Penis und deren Folgen. Diese werden teils aus spielerischer Absicht vorgenommen, teils JIJ. Kapitel : Impotenz 195 um Follutionen, Erektionen, Ipsätionen und das nächtliche Einnässen au verhiridejn. Nicht selten haben Eltern odef Pfleger aus diesem Grunde jugendlichen Personen um den Penis Bänder, Gummiringe, Bindfäden und Drähte gebunden, sogar Eisenringe sind benutzt worden. Es kann durch die Einschnürung zur Durchschneidung einzelner Ge- websteile kommen oder auch zu Stauungserscheinungen bis zur Gangränbildung. Es kommen auch solche Bindungen des Gliedes in masochistischer Absicht vor. So suchte mich während des Krieges eine Dame auf, deren Mann, ein Offizier, von ihr verlangte, daß sie ihm das Glied fe»t abschnüren sollte, wobei es wiederholt zu erheblichen Ver- letzungen gekommen sei. IG. Fremdkörper in der Harnröhre, beispielsweise Sternchen, die von der Blase oder von außen heieingelangt sind, rufen nicht selten, wie bereits früher an- geführt, Priapismen hervor. Doch gibt es auch Fälle, in denen der lebhafte Schmerz h priori die Erektion verhindert. 17. Erfrierungen des Penis erzeugen ebenfalls heftige Schmerzen, welche die Erektion aufheben, namentlich dann, wenn durch sie Infiltrate im kavernösen Gewebe entstehen. Solche Fälle kommen bei trunkenen Personen vor, die nach dem Urinieren das Glied bei großer Kälte längere Zeit heraushängen lassen und so einschlafen. Ich sah einmal eine Erfrierung des Gliedes bei einem metatropischen Mann, den es ge- schlechtlich erregte, bei heftiger Kälte nächtlich mit entblößtem Gliede im Schnee herum- zulaufen. Im Gegensatz zu Erfrierungen kommen Verbrennungen des Gliedes ver- hältnismäßig selten vor. 18. Der Herpes progenitalis (praeputialis) hat ebenso wie die Entzündung der Eichel auf die Potenz keinen nennenswerten Einfluß, eher rufen diese Pcizungen der Glans sogar Erektionen und vorzeitige Ejakulationen hervor. Nur wenn es sich um chronische Geschwürsbildungen mit konsekutiven Verwachsungen handelt, kommen Stö- rungen der potentia coeundi vor. Dies gilt besonders von der diphtherischen und dia- betischen Form der Eichelentzündung. 19. Wir kommen nun zu einem zwar ebenfalls seltenen, aber für die Beisehlafsfähigkeit und Gliedsteifung recht bedeutungs- vollen Krankheitsprozeß, der mehr oder weniger ausgedehnten akuten oder chronischen Entzündung der Schwellkörper, der Kavernitis. Die häufigste Ursache dieses Leidens ist eine von der Urethra sich auf die Follikeln und das parafollikuläre Binde- gewebe fortpflanzende gonorrhoische Entzündung. Doch kommen auch peri urethrale Abszesse infolge von Verletzungen und nicht gonorrhöischen Entzündungen vor. Häufiger als das Trabekel - werk der Urethra betrifft die Kavernitis die Corpora cavernösa penis. Meistens kommt es dabei zu schweren Gewebsdestruktionen mit narbigen Einschrumpfungen des Gliedes, die eine völlige Bei- schlaf sunfähigkeit zur Folge haben. Diese Narbenbildungen treten am häufigsten in Form von Kavernenknoten auf. Meist führen sie zu einer Krümmung des Penis mit der Konkavität nach unten, der sogenannten Chorda, die meist mit Schmerzen verbunden ist und nur ein partiell gesteiftes Glied, das zum Beischlaf ungeeignet ist, ermöglicht. Da die hauptsächlich von Finger studierte chro- nische, plastische Induration des Penis besonders bei alten Leuten auftritt, hat man in ihr im Zusammenhang mit Ar- terienverkalkung eine Altersverhärtung der inueren Geschlechtsteile erblicken wollen. Doch steht damit im Widerspruch, daß diese 13* 190 III. Knpitel: Impotenz Bindegewebsumbildung auch bei jüngerer^ sonst gesunden Indivi- duen beobachtet ist, und zwar auch an solchen, die weder an Go- norrhoe noch an Syphilis nachweislich gelitten haben. Sind wir auch über die Entstehung der plastischen Penisverhärtung noch keineswegs völlig im klaren, so ist doch soviel sicher, däß dieses Leiden das Allgemeinbefinden und die Potenz schwer beeinträchtigt. Gewöhnlieh bleibt der von dem Krankheitsherd nach der Glied- spitze zu gelegene Penisabschnitt schlaff. Dieses Leiden gilt in* allgemeinen als unheilbar, doch werden in der Literatur einige Fälle berichtet, in denen günstige, operative Heilerfolge erzielt wurden. Einen Fall von hochgradiger plastischer Indura- tion hatte ich vor kurzem zu sehen Gelegenheit. Eine Dame, Ende der Vierziger, suchte mich auf, da sie heftige nervöse Stö- rungen mit tiefen seelischen Depressionen an sich wahrgenommen hatte, die sie darauf zurückführte, daß ihr Mann seit l1/* Jahren sich von ihr fern hielte, und zwar, weil sein Geschlechtsorgan „zu dreiviertel schlaff bliebe". Die Frau war bereits 28 Jahre ver- heiratet und hatte auch schon verheiratete Kinder. Ihr Mann hatte bis zu seiner Erkrankung sehr häufig mit seiner Gattin verkehrt und, wie sie sagt, in ihrer Ehe „nur selten einen Tag überschlagen". Die' Frau, welche einen sehr frischen, jugendlichen Eindruck machte, man hätte sie keinesfalls älter als 40 Jahre gehalten, und regelmäßig menstruierte, litt unter dem Zustand ihres Mannes sehr viel mehr als dieser selbst und erklärte in seiner Anwesenheit, sie sei noch zu jung, um dauernd auf den Geschlechtsverkehr zu ver- zichten, sie ' würde, wenn er seinen eheliehen Pflichten dauernd nicht mehr nachkommen könne, sich zur Scheidung und Wieder- verheiratung entschließen müssen. Als die Frau zum ersten Male zu mir kam, befand sich der Mann in einem Moorbade zwecks Be- seitigung seines Leidens, vorher hatte er bereits auf Veranlassung der Frau mehrere Kuren in Badeorten und bei vielen Ärzten ge- macht, ohne daß es möglich gewesen wäre, die Verhärtung zu be- seitigen. Es handelte sich um eine plastische Induration von un- gefähr 4 cm Länge und l1/» cm Breite. Das Glied wurde nur nocb sehr selten steif, und zwar lediglich in seinem etwa 2 cm betragen- den ventralen Anteil. Ich hatte nur dreimal _ Gelegenheit, den Mann, der im übrigen gesund war, zu sehen, da 'er das dritte Mal erklärte, er hätte sich nunmehr seinerseits entschlossen, die Schei- dungsklage einzureichen, da er 28 Jahre lang im vollsten Maße seine Pflicht und Schuldigkeit getan hätte und er der Meinung sei, das genüge; nachdem er sich ein Jahr lang von seiner Frau unauf- hörlich Vorwürfe hätte machen lassen müssen, sei seine Geduld jetzt zu Ende. Er wolle sich nicht mehr behandeln und sich nicht operieren lassen, da er selbst die Kohabitation nicht vermisse III. Kapitel: Impotenz 197 und über das dauernde Ansinnen seiner Frau, „die doch schon Groß- mutter wäre", so empört sei, daß ihm an der Aufrechterhaltung- der Ehe nichts mehr liege. •20. Sehr viel seltener wie die bindegewebige Induration sind Bildung von Knorpelknochen im Glied. Sie gehen meistens von dem Septum des Penis aus. Auch hier werden fast nur ältere Männer befallen. Die Knochenspangen bringen längs der Schwellkörper Deviationen des Gliedes hervor, sowie oft heftige Schmerzen. Die hierbei vorhandene Chorda bedingt Impotenz. Operativ kann man dem Leiden bei- kommen. Wahrscheinlich handelt es sich hier um senile Verknöcherungen, wie sie im Alter vielfach vorkommen, doch dürften daneben wohl auch andere Ursachen, wie Kaver- nitis, den Ossifikationsprozeß begünstigen. 21. Neben den sekundär am Gliede vorkommenden Gangränbildungen gibt es auch eine spontane fudxoyante Gangrän, die Fourniersche Krankheit. Ihre Ur- sachen sind noch nicht völlig aufgeklärt. Es dürfte sich wohl um akute Septitiden meist unbekannten Ursprungs handeln. Die Krankheit ist selten, greift in der Regel vom Penis auf das Skrotum über, gewöhnlich kommt es dann zum Stillstand des Brandes und zur Heilung, doch sind auch Todesfälle an Septikämie vorgekommen. Dauernde Im- potenz tritt infolge dieser Erkrankung nur dann auf, wenn der Prozeß tiefer auf die. Schwellkörper übergreift. 22. Ähnliches gilt von den fressenden Schankergesehwüren, die manchmal weit- gehende Zerstörungen des Gliedes verursachen, gewöhnlich aber die Potenz nicht dauernd aufheben, da, wie bereits erwähnt, Stümpfe für die Beischlafsfähigkeit meist einen ziem- lich ausreichenden Ersatz bilden. 23. Elefant iastisehe Verdickung des Gliedes und Hodensacks behindern ebenso wie ödematöse Schwellungen dieser Organe die Kohabitation während ihres Bestandes meist in beträchtlichem Grade; weniger gilt dies von den ziemlich seltenen krampfaderartigen Ausbuchtungen der Varizen der Vena dorsalis penis. 24. Unter den Folgen von Geschlechtskrankheiten sind die spitzen Eondy lo Im e hervorzuheben, die, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden, oft zu Hautwuche- rungen führen, die Glied und Eichel so einhüllen, daß sie diö Einführung des Organs verhindern. Auch Striktur nach Gonorrhoe beeinträchtigt teils durch ihre Schmerz- haftigkeit, teils mechanisch infolge der oft recht erheblichen Verengerung des urethralen Lumens die Steifung und den Durchtritt des Samens. 25. Von Geschwülsten des Penis, welche den Beischlaf unmöglich machen, sind in erster Linie Karzinome zu nennen, wobei nicht außer acht zu lassen ist, daß kleine Stücke des krebsigen Gewebes sich beim Verkehr auf die weiblichen Organe über- tragen können. Sarkome und Endotheliome sind hinsichtlich der Potenz ähnlich zu be- werten. Besondere Erwähnung verdienen noch die Cornea cutanea der Glans, bei denen lange spitze hornartige Exkreszenzen das Eindringen des Gliedes in die Scheide ver- hindern. Diese Hornbildung, welche manchmal erst nach Beseitigung von Phimose sichtbar wird, erfordert um so eher operative Beseitigung, als sie- bösartig entarten kann; im übrigen scheinen hornartige Reizstachel in Urzeiten am mensch- lichen Gliede ähnlich wie an dem vieler Tiere bestanden zu haben, wie rudimentäre Reste vermuten lassen. 26. Neben diesen zahlreichen, krankhaften, depotenziere.nden Veränderungen des jnännlichen Genitalorgans, die hiermit im wesentlichen, wenn auch vielleicht noch nicht einmal vollzählig aufgeführt sind, sind auch noch Veränderungen in der Umgebung des Gliedes zu nennen, welche Kohabitationshindernisse abgeben können. Hierzu ge- hören Leistenbrüche, die durch die herabgezogene Bauchhaut den Penis zum Verschwin- den bringen. Ein ähnliches Einschlüpfen des Gliedes findet sich auch bei hochgradigen Wasserbrüchen, Fettbauch, sowie bei Elefantiasis. Gewöhnlich tritt, wenn der Umfang des Leidens nicht zu groß ist, zwar der erigierte Penis aus den Hautfalten heraus, doch ist dies auch ziemlich oft nicht der Fall. Ein ähnliches, mechanisches Begattungs- III. Kapitel: Impotenz hindernis kann auch ein starker Hängebauch abgeben, wobei zu berücksichtigen ist, daß die ihn verursachende Fettsucht ohnehin schon durch innere Entartungen und indirekte Beeinflussungen der inneren Sekretion die Potenz herabzusetzen geeignet ist. Genitale Impotenz beim Weibe. Fast ebenso häufig wie lokale Miß- und Neubildungen in den Begattungsorganen des Mannes sind solche in den weiblichen Kopulationsorganen. Bekanntlich finden sich in fast allen Teilen des weiblichen Genitalapparates nicht selten Entwicklungs- störungen ; für den Begattungsakt selbst kommen allerdings nur die- jenigen in Frage, welche die äußeren Schamlippen und die Scheide betreffen. Sind diese in Ordnung, so ist von seiten des Weibes die Beischlafsmöglichkeit gesichert, selbst wenn Uterus, Tuben und Ovarien nicht normal gebildet sind. Die in letztgenannten Teilen vorkommenden Anomalien beeinträchtigen naturgemäß auch die • sexuellen Funktionen der Frau, jedoch in dem Sinne, daß sie die Be- fruchtung, Austragung und Geburt des Kindes beeinträchtigen, so daß es sich erübrigt, im vorliegenden Buche diese Abweichungen zu behandeln. Die Begattungsunfähigkeit beim Weibe ist ebenso- wenig wie beim Manne regelmäßig mit Fortpflanzungs- unfähigkeit verbunden. Die Feststellung dieser Tatsache ist darum so wichtig, weil vielfach* angenommen wird, daß nur beim völligen Eindringen des Gliedes in die Scheide, also nach der Ent- jungferung eine Befruchtung statthaben kann. Der gewöhnliche Vorgang ist allerdings der, daß der Samen in das hintere Scheiden - gewölbe eingespritzt wird und von dort aus unmittelbar in den sich an die Fossa navicularis anschmiegenden Muttermund gelangt. Es können aber auch Samenfädchen, die in den unteren Teil der Scheide gelangen, ja solche, die nur die äußeren Geschlechtsteile oder deren Umgebung berühren, vermöge ihrer Eigenbewegung nach oben bis dorthin wandern, wo sie sich mit den weiblichen Keimzellen treffen. So berichtet Gerard einen keineswegs verein- zelten Fall, in dem ein Mädchen, mit völlig erhaltenem, nicht ver- letzten Hymen zu ihm kam, die in der Haustür von ihrem Begleiter überfallen worden war und angab, sie hätte nur Feuchtigkeit in der Wäsche und in den äußeren Geschlechtsteilen verspürt. Vollkommen beweiskräftig sind nach dieser Kichtung die schon früher erwähnten Beobachtungen, nach denen manche S c h e i n z wT i 1 1 e r ohne äußeres Kopulationsorgan durch einfaches Auflegen ihrer urethralen Aus- mündung auf die weibliche Scheidenöffnung Befruchtung erwirkten. Ebenso zu beurteilen sind auch die zahlreichen Fälle angeborener oder narbiger Verengerung der Vulva und Vagina, die die Schwan- gerschaft nicht verhinderten, trotzdem der Eingang k*aum für eine Haarsonde durchgängig war. Sind doch in der Literatur verbürgte Fälle beschrieben, in denen bei verschlossenem Scheideneingang III. Kapitel : Impotenz 199. durch Kohabitation in die urethrale und rektale Mündung auf dem Umwege von Blasenseheidenfisteln und Mastdarmscheidenfisteln Schwängerung stattfand. Freilieh handelt es sich hier um große Raritäten. Wir wollen nun auch hier wieder eine Zusammenstellung der hauptsächlichsten genitalen Hinderungsgründe normaler Bei- wohnung geben: 1. In erster Linie sind auch hier h e r m a p h r o d i tis che B i 1 - düngen zu nennen, der Pseudoherinaphroditismus femininus, bei dem äußerlich eine überwiegend männliche Konfiguration, nament- lich hinsichtlich der Klitoris vorliegt, hinter der männlichen Front aber weibliche Verhältnisse vorhanden sind. Am typischsten ist hier der Fall, in dem in den hinteren Teil der Harnröhre bei anscheinend äußerem männlichen Habitus und doppelseitigem Kryptorchismus die Vagina nebst Adnexen mündet. Gewöhnlich geht eine so ge- baute Person als Mann durchs Leben, aber selbst wenn die Ge- schlechtsbestimmuug richtig als Weib vorgenommen wäre, könnte mit ihr ein regulärer Beischlaf nicht vorgenommen werden. Wenn von einigen Seiten vorgeschlagen wird, die Begattungsunfähigkeit in solchen Fällen durch Beseitigung der Klitorishypertrophie und Trennung der verwachsenen großen Schamlippen zu beseitigen, so dürfte es in der Praxis doch nur äußerst selten dazu kommen. Näher auf diese Frage einzugehen, erscheint unnötig, da sie im Kapitel über Hermaphrodit ismus bereits erörtert worden ist. 2. Auch außer dem Bereich des Hermaphroditisnius kommen membranöse VerSchließungen der Vulva vor, die mit dem physio- logischen Verschluß des Jungfernhäutchens nicht identisch sind. Mir seihst wurde in London vor mehreren Jahren ein Fall unter- breitet, in welchem der Scheideneingang völlig von einer silber weißen sehnigen Haut bedeckt war, die sich vom Damm aus flügel- artig über die großen Schamlippen erstreckte. Die Fniu war ver- heiratet, doch konnte der Koitus nicht vorgenommen werden. 3. Neben den angeborenen membranösen Verwachsungen und Verschlüssen der Vulva gibt es, und zwar ungleich häufiger, erworbene, die auf Verletzungen und Ei- krankungen verschiedener Art, wie auf Verbrennungen, Verätzungen, gonorrhoische Vul- vitiden und andere Krankheitsprozesse zurückzuführen sind. 4. Die von Breisky als Kraurosis beschriebene Schrumpfung der Vulva be- dingt ebenfalls meist eine starke Verengerung des Scheideneingangs, welche in Verbin- dung "mit großer Sprödigkeit der Haut und Schmcrzhaftigkeit die Beischlafsfähigkeit aufhebt. Diese Schrumpfung tritt als Endergebnis jahrelanger entzündlicher Schwel- lungsvorgänge namentlich bei jugendlichen Frauen, auf: durch Äusscbneidung der er- krankten Teile ist das Leiden in den meisten: Fällen zu beheben. 5. Neubildungen der Vulva, die den Beischlaf behindern, sind entweder ele- fantiastischer Natur, die sowohl die Klitoris als die großen Labien betreffen, oder sie beruhen auf Karzinomen, Sarkomen oder Lues; auch irreponible labiale Hernien, Lipome, Fibrome und Lupus kommen in Betracht. Sind auch diese meist nicht so ausgedehnt, daß sie die Begattung gänzlich aufheben, so bilden sie doch auch häufig ein mechanisches Kohabitationshindernis und wirken vor allen Dingen so ekelerregend, daß sie wohl in der Mehrzahl der Fälle die Erektion unmöglich machen. 200 III. Kapitel: Impotenz 6. In letztgenanntem Sinne wirken übrigens nuch eine ganze Reihe anderer Stö- rungen, welche organisch den Beischlaf nicht verhindern würden, jedoch psychisch depotenzierend sind. So sah ich einige Male Falle, in denen Männer wegen zu lang herabhängender Nymphen (Hottentottenschürzen) vor der Kohabitation zurück- schreckten, einen andemi. in dem von einer übergroßen Klitoris eine ähnliche abstoßende Wirkung ausging. Selbst kleine Auswüchse wie Warzen und Polypen können in dieser Hinsicht verhängnisvoll werden. 7. Eine sehr häufige Erkrankung der äußeren weiblichen Geni- talien, die auch die Beischlafsfähigkeit nicht unbedeutend beein- trächtigt, ist der Pruritus vulvae. Das Jucken, welches sich bei diesem Leiden vorfindet, ist häufig ganz ungemein intensiv und quält die Patientin aufs äußerste. Besonders oft sah ich dieses Leiden bei Frauen auftreten, die kurz vorher ihre Männer verloren hatten. So suchte mich vor einiger Zeit eine Witwe von etwa 30 Jahren auf, deren von ihr zärtlich geliebter Mann einige Monate vorher an einem Schlaganfall verstorben war. Bei dieser Frau trat ein so enormer Juckreiz der Vulva auf, daß sie sich die großen und kleinen Labien sowie die Klitoris blutig gekratzt hatte, infolgedessen sich bei ihr schwere Entzündungen gebildet hatten. Eine Kohabitation wäre unter diesen Umständen unmöglich gewesen. Im Beginn des Pruritus findet man allerdings meist ein gesteigertes Bedürfnis nach sexuellem Verkehr. Das Leiden der eben erwähnten Patientin ver- schwand trotz aller Medikation erst nach Eingang einer zweiten Ehe. Nicht selten lösen die kleinen, schmerzhaften Exkoriationen am Scheideneingang bei Berührung oder auch schon bei Annäherung des männlichen Gliedes krampfhafte Zusammen Ziehungen der Scheiden - muskulatur aus, djie gewöhnlich mit einem nicht gerade sehr be- zeichnenden Ausdruck als Vaginismus genannt werden. Dieser, meist psychogen bewirkte Zustand gehört zu den wichtigsten Sexualneurosen des Weibes und wird daher erst in diesem Zu- sammenhang in dem nächsten Kapitel erörtert werden. 8. Häufiger noch nie in der Vulva gibt es in der Scheide selbst allerlei Atresien und Stenosen. Allerdings wird sowohl von den Frauen als von den Gatten sehr viel öfter als es tatsächlich der' Fall ist, eine zu enge Scheide als Behinderungsgrund des Ge- schlechtsverkehrs angeführt. Es ist sicherlich außerordentlich selten, daß das Organ an und für sich em zu enges Lumen besitzt. Immer- hin kommen in der Umgebung der Seheide wie in dieser selbst ge- nügend krankhafte Abweichungen vor, welche indirekt die Scheiden- lichtung verengern. N e u g e b a u e r erwähnt Fälle, in denen Miß- verhältnisse zwischen abnorm großem männlichem Gliede und er- worbener oder kongenitaler enger Scheide zu tödlichen Blutungen sowie zur Bildung von Mastdarmscheidenfisteln geführt haben. 9. Die normale Verschlußklappe der jungfräulichen Vagina, das Hymen, kann so abnorm dick und widerstandsfähig sein, daß es der Kopulation hinderlich im Wege steht. Doch spielt auch hier eine 201 0 b e r s c h ä t z ii n g s an g s t des Mannes eine nicht nnwesentliche Rolle. Männer, die vorher gelesen haben, daß bei manchen Natur- völkern die Jungfernhaut vor der Brautnacht durch elfenbeinerne Götzen oder anderweitig zerstört wird, sind geneigt, die Schwierig- keit der Defloration sehr hoch zu veranschlagen. Es wenden sich häufig Männer an Ärzte mit dem Ersuchen, ein angeblich zu dickes oder resistentes Hymen zu öffnen, das keineswegs stärker ist als es normalerweise zu sein pflegt. Jedenfalls bilden seelische Momente auf: seiten des Mannes wie auf Seiten der Frau bei der Defloration eine wesentlichere Hemmung als die rein körperliche Beschaffen- t heit, die bei normalem Nervensystem und normaler Potenz des Mannes nur ganz selten ein Kohabitationshindernis bilden. Zur Be- seitigung des Widerstandes kommt neben Operation die stumpfe Dehnung in Betracht. 10. Beträchtlicher fällt ins Gewicht, wenn sich in der Scheide oberhalb des Hymens noch eine zweite Verschlußmembran findet. Dieser Atresia vaginalis genannte Zustand ist selten, beruht gewöhnlich auf Entwicklungsstörungen, ist aber durchaus nicht immer kongenital, sondern auch oft extrauterin erworben. Sehr häufig sind es Entzündungsprozesse in der Kindheit, die kaum be- merkt worden sind, in deren Gefolge sich Scheidenverschlüsse schleichend entwickeln. Hinter der Scheidenatresie bildet sich oft ein Hämatokolpos. Neugebauer, dem wir auf diesem Gebiete so viele wichtige Aufschlüsse verdanken, hat auch zur Lehre von den angeborenen und erworbenen Verwachsungen der Scheide wertvolle Beiträge geliefert. Sie treten im Anschluß an eine Kolpitis adhae- siva ulcerosa und Perivaginitis phlegmonosa dissecans auf, beson- ders auch nach Infektionskrankheiten wie Scharlach, Diphtherie, Masern, Typhus, Pocken, Gelenkrheumatismus, Lues usw.; ferner nach Verletzungen, Verbrennungen, Verbrühungen, Einrennen von Ästen oder Eisenstangen usw. in die Scheide. Endlich kommt es auch durch puerperale Infektionen zu geschwürigen Prozessen, die narbige Schrumpfungen der Scheide mit sich bringen. Nach opera- tiven Geburtsverletzungen mit Instrumenten sind gleichfalls nar- bige Scheidenverschlüsse beobachtet worden. Verletzungen der Scheide aus selbstmörderischen, therapeutischen und am häufigsten wohl aus abtre iberischen Absichten durch verschiedene Che- mikalien wie Schwefelsäure, Höllenstein, Aufgüsse von spanischem Pfeffer haben nicht selten dauernde Scheidenverengerungen nach sich gezogen. 11. Um noch einige seltenere Ursachen von Scheidenverengerungen zu nennen, sei erwähnt, daß wiederholt zu eng ausgefallene Scheidendammvernähungen nach Dammrissen auf Wunsch unzufriedener Ehemänner wieder beseitigt werden mußten. Ein brutaler Beischlafsakt namentlich bei sehr jugendlichen Individuen kann leicht Ge- websverluste über dem Scheideneingang und in deren Gefolge Scheidenentzündungen, Narben und Verengerungen bewirken. Eine Störung, von der man annehmen sollte, daß ITT. Kapitel: Impotenz. sie den Beischlaf gänzlich unmöglich macht, ist völliger Defekt der Scheide, der meistens mit mangelhafter Entwicklung der Ovarien und des Uterus verknüpft ist. Da sich aber an Stelle der Scheide in diesen Fällen meist zwischen Mastdarm und Blase ein weiches Bindegewehe vorfindet, kann durch fortgesetzte Beischlafsvcrsuche die Haut ziemlich weit eingestülpt werden, so daß ein beischlafähnlicher Akt wohl möglich ist und sogar bei der Untersuchung eine Scheide vorgetäuscht werden kann. Nicht selten hat in solchen Fallen auch der Geschlechtsverkehr in die sich allmählich erweiternde Harnröhre stattgefunden. 12. Die Doppelbildung der Scheide kann, wenn die Septen tief herabreichen und sehr fest sind, die Beischlafsfahigkeit aufheben. Meist wird in solchem Falle nur die eine Scheidenhälfte benutzt. Operative Entfernung des Septums beseitigt, falls die Scheide durch die Teilung in zwei zu enge Hälften fällt, das Kopulationshindernis. 13. Gesch wülste' der Scheide selbst kommen selten vor, doch kann die Scheide durch Tumoren, die von der Gebärmutter herabreichen, vor allem Myome, verlegt werden. ^ Diese können dann ebenso wie Scheidenzysten, die ziemlich groß werden können, den Bei-* schlaf unmöglich machen. Gebärmuttervorfall und Scheidenprolaps verhindern die Be- gattung nur dann, wenn sie nicht reponiert werden können, was selten ist. Franque er- wähnt sogar Fälle, in denen die Kohabitation bei Uterusprolaps so vorgenommen wurde, daß das männliche Glied direkt in den inneren Mutterrnundkanal eingeführt wurde, so daß Schwangerschaft eintrat. 14. Nicht, selten wird die Beischlafsfähigkeit dadurch beschränkt, daß trotz nor- maler Scham und Scheide der Koitus sehr schmerzhaft empfunden wird, weil benachbarte Beckenorgane entzündet sind. Namentlich Tubenentzündungen und die Parametritis posterior sowie auch entzündete Ovarien rufen bei manchen Frauen hei jedesmaligem Beischlaf so» unangenehme Schmerzen hervor, daß der Akt als unerträglich abgewiesen wird. So sah ich erst vor kurzem eine junge Frau, die nach einer Blinddarmoperation an sehr schmerzhaften narbigen Verwachsungen litt. Die Empfindlichkeit war infolgedessen bei jedem Beischlafsversuch so hochgradig, daß der Verkehr aufgegeben werden mußte. Es wurde ein operativer Eingriff vorgenommen, um den Narbenstrang zu beseitigen, doch hatte dieser Eingriff nur einen sehr vorübergehenden Erfolg. In einem anderen Fall kam es aus gleichen Grunde zur Ehetrennung. Germinale Impotenz. (Sterilität desMannes und des Weibes.) Wenn wir auch nicht zu den Teleologen gehören, die in der B e - fruchtung, Folge und Zweck identifizierend, die ausschließliche Bedeutung der geschlechtlichen Vereinigung erblicken, vielmehr meinen, daß die Liebe an und für sich für den Liebenden und Ge- liebten etwas so Gewaltiges ist, daß dem gegenüber die Fortpflan- zung sekundär erscheint, so muß dennoch diese Beischlaf swirkung als so wesentlich erachtet werden, daß, wenn der Verkehr von vorn- herein zur Unfruchtbarkeit verdammt ist, jedenfalls eine seiner hervorragendsten Begleiterscheinungen N f ehlt. Man hat deshalb auch von jeher die Impotentia genera n d i mit der Impotentia coeundi gemeinsam abgehandelt, wiewohl in der Praxis die Bei- schlafsunfähigkeit und Zeugungsunfähigkeit sehr verschieden zu be- werten sind. Viel unliebsamer wird gewöhnlich die Beischlafs- unfähigkeit empfunden, praktisch folgenreicher ist dagegen oftmals die Zeugungsunfähigkeit. Auch hier mag zunächst einiges über die physiologischen Vorgänge gesagt werden. Die Zeugungsfähigkeit des Mannes ist an den Erguß einer normal beschaffenen Samen- III. Kapitel: Impotenz 203 flüssigkeit gebunden. Ohne Ejakulation keine Zeugung; ohne Erektion kommt sie ge- legentlieh vor. Die mechanischen peripheren Hautreize, welche die Erektion herbeiführen, lösen in ihrer Summation auch die Ejakulation aus. Zentrale Erregungen vom Gehirn' aus, welche so häufig Erektionen bewirken, geniigen aber nur ganz selten, auch eine Eja- kulation zu bewirken. Wir betonten bereits, daß für die -Erektion und Ejakulation zwei getrennte Rückenmarkszentren in Betracht kommen, von denen auch getrennte zentri- fugale Bahnen ausgehen. Bei der Ejakulation wird das Sperma rhythmisch aus den Samenkanälchen durch deren feine Ausgangsöffnungen auf der Höhe der Samenhügel in die Harnröhre ausgestoßen und durch Muskelkontraktion aus dieser nach außen heraus- geschleudert. Hiermit verbunden ist der Orgasmus, dessen Kulmination zeitlich mit dem Austritt des Samens durch die sehr engen Ductus ejaculatcrii zusammenfallt. Die Erregbarkeit des Ejakulationszentrums unterliegt großen Schwankungen. Bei manchen erfolgt die Ejakulation bereits nach einigen Stößen, während bei anderen der Erguß erst nach mehreren Minuten eintritt. Auch die Dauer der vorangehenden Abstinenz^so- wie die davon zum Teil abhangige Füllung der Samenbläschen sind von Einfluß auf die Dauer des Kohabitationsaktes. Das Ejakuiationszentrum liegt in der Höhe des vierten Lendenwirbels. Ein weiteres befindet sich nach Müller in den sympathischen- Ganglien des Beckenbodens. Man nimmt an, daß ersteres mehr die Bulbus-Muskulatur versorgt, welche zur Herausbcfürderung des Samens dient, während letzteres den Erguß der ver- schiedenen Drüsensekrete in die Urethra vermittelt. Was die Fortbewegung des Hoden - sekretes aus dem Hoden in den Samenleiter und die Samenbläschen anbelangt, so werden von einigen hier peristaltische Bewegungen angenommen, während andere glauben, daß die Samenfädchen durch Nachdrängen von ihrer Absonderungsstelle aus und durch die Beinbewegungen im allgemeinen nach oben vorwärtsgeschoben werden. Den Eintritt der Sarneuflüssigkeit in die Harnröhre scheinen in erster Linie die Muskelfasern der Brostata zu besorgen, während dir .Museuli ischio-eavernosi und bulbo-cavernosi und die Musculi perinei superiores et proi'undi durch Kontraktionskrämpfe die Samenausstoßung 'bewirken. Die Ejakulation besteht also aus zwei Teilen, zunächst aus der Herausbeförderung des Samens aus den Samenleitern, den Samenblasen und den Ductus ejaculatorii in die Harnröhre, und zweitens aus deY Ausstoßung der durch die verschiedenen Drüsen ver- vollständigten Samenflüssigkeit durch die Urethra nach außen. Die Samenbläschen wur- den- seit langem als die Aufbewahrungsstätte des Sam,ens betrachtet, doch ist man neuerdings in dieser Hinsicht anderer Meinung geworden.' Stemaeh wies nach, daß auch bei leeren Samenbläschen der Geschlechtstrieb vorhanden ist und daß sich bei Fxstir- pation der Samenblasen kein Ausfall der geschlechtlichen Begierde und Funktion zeigt. Die Annahme Exners, daß die^Samenblä sehen nur den aufgespeicherten Samen reservieren, wird von wenigen Forschern geteilt. Vielmehr wird von fast allen Autoren hervorgehoben, daß die Samenbläschen selbständige Drüsenorgane sind, deren Saft für die Lebens- fähigkeit der Samenfädchen von großer Bedeutung ist. Wahrscheinlich ist, daß die Samenbläschen hauptsächlich die Aufgabe erfüllen, die Zwischenflüssigkeit den Samenfädchen beizumischen. Durch Massage der Samenblasen vom Rektum aus ist es möglich, Samenflüssigkeit nach außen zu befördern, ein© auch bei der Frostatamassage ziemliche häufig vorkommende Begleiterscheinung. Bevor das Sekret der Nebenhoden, der Samenleiter und Samenbläschen durch die Ductus ejaculatorii in die Harnröhre ge- schleudert wird, mischt sich ihm der Saft der Brostata bei. Da noch das Sekret der Li ttr eschen und Cowperschen Drüsen sich beimischt, stellt sich uns die Samen- flüssigkeit als ein Gemenge von sechs verschiedenen Drüsenabsonderungen dar. Nach dem Hodensekret beansprucht das Prosiatasekret aus diesem Gemisch besondere Bedeu- tung. Es ist eine milchartige, fast immer sauer reagierende, proteinhaltige Flüssigkeit, von der der spezifische Spermageruch ausgeht. Von korpuskulären Elementen finden sich große rundliche und kubische Epithelien und zylindrische Kolloide im Frostatasaft, fernerhin Lezithinkörperchen, geschichtete Amyloide und regellos geformte, gelbliche Prostatakörner. Aus dem Brostatasekret stammen ferner die sogenannten Böttcherschen Kristalle. Sie sind das pbosphorsaure Salz der Schreinerschen Basis (chemisch C2H5N2) Mit dieser Basis identisch ist der Riechstoff des Samens, das Spermin. Da s 204 III. Kapitel: Impotenz Spermin findet sich auch in den Testikeln. in den Eierstöcken, der Schilddrüse, im Pankreas der Milz und in gutartigem Eiter. Fiirbringer hat das Spermin auch, und zwar ganz richtig, als Prostatin bezeichnet. Derselbe Forscher konstatierte den belebenden Einfluß des'Prostatasaf fes auf die Spermatozoen. In der Tat kann man leicht feststellen daß, wenn man unbeweglichen Samenfädchen einen Tropfen Prostatasaft hinzufügt.' die bisher starren Samenfädchen sehr agil werden. Das Samenblasensekret ist ziemlich dickflüssig, klebrig, gelblich und erscheint im Samen in Form von ge- quollenen Sagoköraexn, welche sich binnen kurzem verflüssigen. Das Hodensekret selbst ist dick, zähe, völlig geruchlos und besteht zum weitaus größten Teil aus zahllosen dichtgedrängten Samenfädchen. Zum sicheren Nachweis der Samenfädchen bedarf es stets °des Mikroskops. Nur durch dieses kann festgestellt werden, ob es sich im Einzel- falle um menschliches Sperma handelt. Nach Eberth („Die männlichen Geschlechtsorgane", Jena, 1904) beträgt die Länge der menschlichen Samenfädchen etwa 55 Mikra, wovon etwa' 50 Mikra auf den Schwanzfaden fallen. Kopf, Mittelstück und Schwanzfaden weisen eine Menge individueller Merkmale auf, so daß ein sehr geübtes Auge die Spermien verschiedener Menschen fast ebenso gut auseinanderhalten kann wie diese selbst. Bei der gerniinalen Impotenz müssen wir diejenigen For- men unterscheiden, bei denen es überhaupt nicht zur Bildung von Keimzellen kommt von denjenigen, in denen ein Erguß des Samens nicht stattfindet. In der Literatirr findet man hier verschiedene Be- zeichnungen, die nicht gerade sehr klar das, was sie bedeuten, zum Ausdruck bringen. So wird gewöhnlich unter den Ausdrücken Aspermatismus und Aspermie eine fehlende Absonderung der Spermaflüssigkeit verstanden, während ein Mangel von Samen- fädchen im Ejakulat als Azoospermie bezeichnet wird, der sich dann gewöhnlich die Oligospermie und Nekrospermie als Übergänge und Abarten anzuschließen pflegen. Eichtiger wäre es, mit Aspermatis- mus den Mangel an Sperma als solchen zu benennen und für Stö- rungen in der Ejakulation andere Ausdrücke zu wählen, wie wir es oben bereits taten, als wir von der Ejaculatio deficiens und seiuneta sprachen. Ich sah sehr viele Fälle, in denen es zu sehr reichlichen und profusen Ergüssen kam, die unter dem Mikroskop keine einzige Samenzelle aufwiesen. Offenbar pflegt in solchen Fällen die Zwischenflüssigkeit in reichlichen Mengen an die Stelle des normalen Ejakulats zu treten. Der Orgasmus ist dabei wie die Libido in der Regel selten beeinträchtigt. Völlige Azoospermie und Geschlechtslust schließen sich nach meinen Beobachtungen keines- wegs aus, doch findet sich immerhin nicht selten dabei eine gewisse Verminderung der Potentia erigendi vor. Der Mangel von Samen- zellen in der Samenflüssigkeit ist im Vergleich zu dem Ejakulations- ausfall relativ häufig. Die Azoospermie kann auf Produktions- mangel von Samenzellen beruhen, aber auch darauf, daß das Hoden- sekret nicht abgesondert werden kann. Ein gänzlicher Mangel des Hodens, Anorchismus, ist verhältnismäßig selten, häufiger ist Mikr- orehismus, angeborene Hodenverkümmerung. Wir haben über diese sehr wichtigen Anomalien in dem ersten Kapitel der Sexualpatho- \ TU. Kapitel: Impotenz 205 Jogie, Geschlechts diriisenausfall, das Wichtigste mitgeteilt und eine größere Kasuistik beigebracht. Wir sahen bereits, daß hierbei Lust- gefühle, und zwar in dem doppelten Sinne libidinöser und orgasti- scher Lust, nicht zu fehlen brauchen, daß aber der inkretorische Ausfall zahlreiche Abweichungen von der Norm im Gefolge hat. Sicherlich gibt es neben der extrasekretorischen auch eine innersekretorische Impotenz, die aber nicht an die Ge- schlechtsdrüsen ausschließlich gebunden sein kann, was eben daraus hervorgeht, daß trotz nicht vorhandener oder ganz verkümmerter Geschlechtsdrüsen ohne Keimzellen dennoch eine erheblicbe Libido vorkommt, so daß fraglos hier noch andere endokrine Drüsen- gebilde mitwirksam sind: andererseits lehrt aber das Zusammen- fallen der tierischen Brunst mit dem stärkern Wuchern der inter- stitiellen Pubertätszellen, daß ein Parallelismus zwischen Vor- gängen in den Gonaden und sexueller Seelenspannung vorhanden ist. Das äußere Sekret bei Hodenmangel entstammt den Samen- bläschen der Prostata und den Urethraldrüsen. Auch bei an- geborenem Mangel der Nebenhoden und der Vasa deferentia pflegt Spermatozoenbildung zu fehlen. Es handelt sich bei der mangel- haften Entwicklung des Skrotalinhalts um Entwickl ungsstörungeri, die sowohl tiefer angelegt als eingreifender sind, als es bei oberfläch- licher Betrachtung erscheint. Wohl in allen Fällen sind mit den lokalen Entwicklungsstörungen auch allgemeine somatische und psychische verbunden; das Primäre scheinen dabei die Genitalent- wicklungshemmungen zu sein, doch ist es noch nicht völlig geklärt, inwieweit die psychische und die g e n e r a t i v e Konstitution mit- einander verknüpft sind und in welchem Kausalverhältnis sie zu- einander 'stehen. Was für den Anorchismus und Mikrörehisinüs gilt, hat gewöhnlich auch schon für den Monorchismus, der gewöhn- lich nur ein verkappter, einseitiger Kryptorchismus ist, sowie vor allem für den Kryptorchismus selbst Gültigkeit. Auch dieser ist häufig mit Infantilismus und sehr häufig mit Sterilität ver- bunden. Bei doppelseitigem Kryptorchismus, gleichviel ob es sich um Leistenhoden oder Bauchhoden handelt, findet sich oft Azoo- spermie. Doch liegen auch spermapositive Befunde vor, so daß im Einzelfall die Untersuchung des Ejakulats unerläßlich ist, wie diese überhaupt bisher viel zu häufig verabsäumt worden ist. Äußerlich betrachtet und palpiert macht in den meisten Fällen von Azoospermie der Hode einen normalen Eindruck. Man sollte es kaum für möglich halten, daß selbst bei bestrittener Vaterschaft fast niemals eine Samenuntersuchung angeregt und vorgenommen wird. Wir sehen darin ein schwerwiegendes Versäumnis. Von welcher ausschlaggebenden Bedeutung die Untersuchung des Eja- kulats ist, mögen folgende, dem Institut für Sexualwissenschaft zur Begutachtung vorgelegte Fälle zeigen. III. Kapitel: Impotenz Herr L. W. wird von Frl. R. beschuldigt, sie geschwängert! zu haben. W. gibt an: 1. diese Person überhaupt nicht zu kennen und vermutet, daß jemand ihr gegen- über seinen Namen mißbraucht hat; 2. keine Neigung zu Frauen zu besitzen; 3. daß sein Samen bei zweimaliger Untersuchung in den Jahren 1916 und 1918 für unfruchtbar erklärt worden sei. Die Veranlassung, zu der -ersten, unter 3 genannten Untersuchung gab seine Frau, mit der er seit 1914, trotz seiner gleichgeschlechtlichen Neigung, über die seine Frau in- formiert war, verheiratet ist. Da seine Frau sich sehnliehst ein Kind von ihm wünschte, verkehrte er geschlechtlich unter Vorstellung einer männlichen Person mit ihr. Die Schwängerung blieb aus. Damals veranlaßt« ihn seine Frau, seinen Samen untersuchen zu lassen, mit dem angegebenen negativen Resultat. Wir haben daraufhin den durch Ipsation gewonnenen Samen mikroskopisch untersucht und festgestellt, daß keine Samenfäden im' Samen enthalten sind. Schon die makroskopische Betrachtung hat gezeigt, daß das an Menge geringe Sekret nur aus Absonderungen der Vorsteherdrüse und der Samenblase besteht. Wir halten es demnach für ausgeschlossen, .daß W. die ihn beschuldigende Person geschwängert hat. Nicht minder schlagend beweist die Notwendigkeit der Samen- untersuchung in Fällen zweifelhafter Vaterschaft das folgende Gutachten: „F. M., Metallarbeiter, 32 Jahre alt, verheiratet seit 2V|2 Jahr, wendet sich an uns zwecks Feststellung seiner Zeugungsfähigkeit. Die Ehefrau M.s, geb. E?> 24 Jahre alt, befindet sich im dritten Monat der Schwangerschaft. M. hat Zweifel an der von seiner Frau behaupteten Vaterschaft, und zwar aus drei Gründen: erstens sei es bei vielfachen ohne Vorsichtsmaßregeln vorgenommenen - vorehelichen Gcschlechtsbeziehungen niemals vorgekommen, daß ein Mädchen sich von ihm Mutter fühlte, zweitens hätte er nur einen Hoden, und der Samenerguß sei immer nur sehr spärlich gewesen; auch bestanden ander- weitig körperliche Defekte wie Lungenkatarrhe, Herzklopfen, Blutarmut usw., drittens stützen sich seine Bedenken auf den Umstand, daß die Ehe von Anfang an eine sehr unglückliche gewesen sei, es wäre häufig zu Streitigkeiten, auch zu Tätlichkeiten zwischen ihnen gekommen und die Frau hätte sich beim Beischlaf, der trotzdem durchschnittlich dreimal in der Woche vorgekommen sei, stets völlig gefühllos verhalten. Auf Rat des ihn wegen seines Lungenleidcns behandelnden Arztes Dr. E. wandte sich M. nun mit einer Probe seines Samens an unser Institut, um mikroskopisch feststellen zu lassen, öl) derselbe Samenzellen enthielte. Wir stellten eine dreimalige Untersuchung an; zunächst untersuchten wir das uns von M. mitgebrachte Ejakulat, das er zu Hause 12 Stunden vorher mittels der Hand ge- wonnen haben wollte. In der aus ca. 2 g bestehenden Flüssigkeit, in der die einzelnen Sekrete nicht mehr deutlich voneinander unterschieden werden konnten, waren keine Spermatozoon nachweisbar. Wir ließen angesichts der Wichtigkeit des Falles sogleich noch ein zweites Ejakulat von M. produzieren, in dem sich makroskopisch Prostata- und Sanienblasensekret deutlich voneinander unterscheidend vorfanden, dagegen war weder makroskopisch noch mikroskopisch Hodensekret (Samenzellen) wahrnehmbar. Um ganz sicher zu gehen, schlugen wir M. noch eine Hodenpunktion vor, womit er einverstanden war. Im Hodensack findet sieh nur der linke Hode vor, von Normalgröße, aber ohne Nebenhoden; der rechte Hode fehlt im Hodensack; es dürfte sich um einen atrophischen Leisten- oder Bauchhoden handeln (Kryptorehismus), von dem es nach dem übrigen Be- fund ausgeschlossen, daß in ihm eine Spermatogenese stattfindet; die durch Punktion und Aspiration gewonnene Flüssigkeit enthält ebenfalls keine Samenzellen. Da weder im Eja- kulat noch in dem gut ausgebildeten linken Hoden Spertnatozoen festgestellt werden können, halten wir M. keinesfalls für zeugungsfähig. Um feststellen zu lassen, ob die Bekundung seiner Frau, ihr sei von ihrem Arzt mitgeteilt worden, sie sei im dritten Monat schwanger, den Tatsachen entspricht, kam M. dann auch mit seiner Ehefrau zu 207 uns und der untersuchende Arzt Dr. Wertheim konnte bestätigen, daß die Angaben der Frau, bzw. des Arztes bezüglich ihrer Schwangerschaft zutreffend sind. Daß M. Vater dieses Kindes seiner Frau ist, ist nach obigen Feststellungen mit Sicherheit auszuschließen. Kryptorche Hoden, die später her ab wandern, werden öfter noch funktionsfähig, doch sind die Aussichten um so ung-ünstiger, je später diese Wanderung erfolgt, Eetinierte Hoden haben übrigens eine größere Neigung zu maligner Degeneration wie skrotale. Sehr viel häufiger wie der angeborene ist der e r w o r b e n e Hodenmangel, sowohl der absichtlich durch Kastration herbei- geführte als der unabsichtlich durch Verletzung, namentlich Hoden- sehuß, entstandene. In beiden Fällen ist Azoospermie die Regel, doch kommen die seltsamsten Ausnahmen vor. Bei der Kastration sind diese durch Samenzellen bewirkt, die in den Säulengängen ein, wie es scheint, nach der Hodenentfernung noch sehr langes Leben führen können; verschiedene Autoren berichten über Pollutionen nach der Kastration. Ich selbst hatte Patienten, die noch viele Tage nach Durchschneidung des Samenstranges über Pollutionen berichteten. Je länger der Zeitraum ist, welcher nach Entfernung der Keimdrüsen verflossen ist, um so geringer ist die Aussicht auf spermatozoenhaltigen Samen. Wenn auch die Angaben ans älterer und neuerer Zeit von der Beischlafs- und Zeugungsfähigkeit von Eunuchen stets mit Vorsicht aufzunehmen sind - - so wird aus dem Altertum berichtet, daß die Mutter des Aristoteles die Tochter eines Eunuchen gewesen sei — ist dennoch nicht in Abrede zu stellen, daß sowohl bei kastrierten Tieren als auch beim Menschen noch lange nach Entfernung der Hoden in den Samengängen lebendige Samenfädchen gefunden wurden. Bei der durch Verletzungen er- littenen Azoospermie ist zu berücksichtigen, daß auch Reste von normalem Testikelgewebe für die Hodenfunktion ausreichen. Öfter findet man die Angabe, daß Geschwülste in der Umgebung der Hoden, Wasserbrüche, Krampfaderbrüche, Eingeweidebrüche durch Druck auf die Testikel die Spermabildung beeinträchtigen. Es scheint sich aber nach den bisherigen Beobachtungen hier im wesentlichen um theoretische Annahmen zu handeln. Bei weitem die größte Bedeutung in der Frage der Azoospermie hat die doppelseitige Nebenhodenentzündung. Im Ver- laufe dieser gonorrhoischen Erkrankung kommt es zu narbigen Verwachsungen. Um den samenausführenden Kanal bildet sich dabei ein dichtes Bindegewebe. Die entzündlichen Infiltrate führen in allen Regionen des Nebenhodens zu narbigen Schrumpfungen. Namentlich wenn sie die Kauda beider Nebenhoden ergreifen, führen sie zur Sterilität, indem die Passage für die im Hoden ge- bildeten Samenfäden verlegt ist. Nicht so sehr fällt ins Gewicht, wenn Kopf und Mittelstück des Nebenhodens Verschrumpfungen 208 III. Kapitel: Impotenz zeigen; da glücklicherweise die Nebenhodenentzündung- in der großen Mehrzahl der Fälle nur einseitig ist (Finger fand in 3136 Fällen von Nebenhodenentzünduug nur 211 mal beide Seiten befallen), so ist die Gefahr der Trippersterilität zwar wesentlich gemildert, aber immer noch groß genug, da beispielsweise Souplet bei 34 Fällen doppelseitiger Epididymitis 31 mal und White unter 117 Fällen 104mal im Sekret keine Spermatozooen nachweisen konnte. Fehlen von Samenzellen im Ejakulat ist noch keineswegs ein sicherer Beweis für Felde,} von Samenzellen im Hoden selbst, die vorgenommene Hode n p u n k t i o n hat das Vorhandensein lebender Spermatozoen in solchen Fällen außer Zweifel gestellt, so daß der Gedanke, mit solchem Punktat die künstliche Befruchtung bei sehr intensivem Verlangen von Nachkommenschaft in die Wege zu leiten, viel für sieh hat. Kehrer berichtet, daß unter 96 sterilen Ehen H waren, wo männliche Azoospermie die Ursache der Kinderlosigkeit war. und daß diese in */s der Fälle durch doppelseitige Nebenhodenentzündimg veranlaßt war. Finger und andere sind der Meinung, daß etwa über 80 o/o von Epididymitis duplex dauernden Verlust der Samenfädchen im Gefolge hat. Von einigen Autoren wird auch die einseitige gonorrhoische Nehenhoden- entzündung als Ursache der Unfruchtbarkeit angegeben, doch dürfte dies wohl kaum der Fall sein, wenn nicht vielleicht unbemerkt auf der anderen Seite auch ein entzündlicher Prozeß, zum mindesten des Vas deferens vorgelegen hat. Übrigens kommen auch sicher- gestellte Fälle vor, in denen sich auch mehrere Jahre nach abgelaufener doppelseitiger Nebenhodenentzündung reichlich Samenzellen wieder vorfinden, wenn auch im all- gemeinen die Meinung F ür b r in.g e r s richtig sein dürfte, daß eine drei Monate dauernde Azoospermie bei Epididymitis bilateralis als definitiv zu betrachten ist. Vorübergehende Samenlosigkeit tritt oft bei akuten lieberhaften Erkrankungen so- wie schweren Erschöpfungszuständen auf. Auch Konstitutionsanomalien wie Fettsucht sind hier zu nennen, sowie Lues und Alkoholismus. Bei letzterem Leiden fällt allerdings der qualitative Einfluß, die Elastophthorie, wesentlicher ins Gewicht als der quantitative. Immerhin fand Simons unter 87 Fällen von chronischem Alkoholismus 53mal, bei 61 °/„. Azoospermie. Wenn auch schwer konsumierende Leiden wie Krebs, vorgeschrittene Tuberkulose, die Samenproduktion oft aufheben, womit vom eugenischen Standpunkt aus sicherlich ein günstiger A u s 1 e s e p r o z e ß statthat, so handelt es sieh hier doch keineswegs um eine allgemein gültige Regel. Die gegebene Übersicht würde nicht vollständig sein, wenn wir nicht eines Einflusses auf die Samenbildung denken würden, der uns erst im Laufe der letzten Jahre bekannt geworden ist. Das ist die Schädigung der Keimdrüsen und ihrer Produktion durch die Röntgenstrahlen. Es wird hier zunächst das empfindliche Epithel der Samenkanälchen zum Schwinden gebracht. Anfangs tritt Nekrozoospermie ein, die gewöhnlich wieder vorübergeht, bis dauernd Azoospermie erfolgt. Simons fand bei Meerschweinchen nach Bestrahlung von 3 Sekunden nur vereinzelte Samenzellen zer- stört, nach 6 Sekunden ein Drittel, nach 12 Sekunden die Hälfte, nach 18 Sekunden fast alle. Scholtz fand nach Radiumbestrahlung dasselbe. Nicht nur die Patienten, sondern auch die mit Böntgen- apparaten umgehenden Personen sind dieser Gefährdung ausgesetzt. III. Kapitel: Impotenz 209 Früher nahm man an, daß die Wirkung der Röntgenstrahlen vornehmlich, wenn aicht ausschließlich, die Haut und deren zellige Elemente betreffe. Wühl war schon in den Jahren 1896 und 1897 vor allem in Frankreich der Gedanke aufgetaucht, daß die Röntgenstrahlen, die den Körper durchdringen, bei ihrem Durchgang durch ihn die inneren Organe zu beeinflussen imstande wären. Man versuchte die Lungenphthise (Bergonie) und das Magenkarzinom mit Röntgenstrahlen zu behandeln. Da man jedoch abgesehen von einer schmerzstillenden Wirkung in einigen Füllen von Magenkrebs (d Espegne) nur Hautschädigungen wahrnehmen konnte, gab man die Versuche wieder auf So begegnen wir der Vorstellung von einer Tiefenwirkung der Strahlen immer seltener Es kann also nicht wundernehmen, daß Ende der 90er Jahre und auch im Anfange unseres Jahrhunderts die Röntgenstrahlen ausschließlich in der Derniatotherapie Verwen- dung fanden. Mit den bedeutungsvollen Beobachtungen, die Alb er s Schönberg an be- strahlten Kaninchen und Meerschweinchen Inachte, trat ein Wandel der Anschauung ein. Und nachdem die Resultate Heinekes den Gesichtskreis hinsichtlich der Ein- wirkung der Röntgenstrahlen noch mehr erweitert hatten, mußten die Begriffe über die Tiefen Wirksamkeit völlig andere werden. Albers Schönberg hatte 1 9 03 durch Experimente an Kaninchen und Meerschweinchen gefunden, daß die Röntgen- strahlen Tiere steril machen, ohne ihnen je «loch die Kopulation«,- i a h i g k e 1 1 zu nehmen oder ihr körperliches W o h 1 b e f i n d e n zu beeinflussen. Die Samendrüsen der bestrahlten Versuchstiere enthielten nach einer längeren Einwirkung der Röntgenstrahlen keine Spermatozoon mehr. Makroskopische ° Ver- änderungen an den Testikeln hatte A. Schönberg nicht konstatiert. F r i e b e n der an derartig sterilen Tieren histologische Befunde erhob, konnte an sonstigen Organen /Lunge. Leber, Milz, Nieren) der . betreffenden Versuchstiere keine Veränderung wahr- nehmen. Wenn wir Friebens Berichte zitieren, so entnehmen wir seinen mikroskopischen Präparaten, daß an Stelle der normalerweise von einer mehrfachen Epithelschicht aus- gefüllten «ahlreiche Spermatoblasten führenden Hodenkanälchen sich weite Hohlräume finden, die aJs Reste der früheren Epithelschichten einen sehr schmalen Raum kleiner geschrumpfter Zellen besitzen. Da Entzündungserscheinungen fehlten, mußte Frieben einen durch Röntgenstrahlen bedingten Prozeß annehmen. Seidin konnte die Be- funde Albers Schönbergs und Friebens bestätigen. Bemerkenswert und grundlegend sind die Arbeiten von Bergonie und Tribondeau aus dem Jahre 1904, die an de, weißen Ratte, die sich durch besonders1 große, an Spermien reiche Testikel auszeichnet die Wirkung der Röntgenstrahlen auf den Hoden studierten. Die histologischen Ver- änderungen werden rasch nach der Bestrahlung wahrnehmbar und kennzeichnen sich zu- erst dadurch, daß die Mitosen ausbleiben. Durch Zytolyse gehen die Zellen zu- grunde. Den Angriffspunkt der Röntgenstrahlen bilden die Samenzellen, von denen die Spermatogonien zuerst geschädigt werden, dann folgen die Spermatozyten und end- lich die Spermatiden. Bei starker Bestrahlung findet man als Endergebnis nur noch bertolische Zellen m den verödeten Hodenkanälchen. Nur die Z w i s c h e n z e 1 1 e n rin<1^ta!Ct,,]1m Ge?ensatz z" deB Schädigungen der Spermatogonien fanden sie eine hohe Widerstandsfähigkeit fertiger Spermatozoen, wie dies auch spätere Versuche mi< menschlichem Sperma in vitro ergaben. Bergonie und Tribondeau gelangen auf Grund ihrer Versuche zu folgenden Schlußfolgerungen: Die Röntgenstrahle,, wirken direkt auf die Epithelzcllen der Tubuli. S t'e r i 1 i s i e r u n e erfolgt durch Zerstörung der Spermatogonien. Starke fortgesetzte Bestrahlungen zerstören auch Sertolische Zellen und alles Zwischenbindegewebe. Der Degenerationsprozeß läuft in ungefähr 6 Wochen ab. Es sind dann alle degenerierten Zellen verschwunden. Nur da, wo noch mehrschichtiges Epithel vorhanden treten Restitutionserseheinungen, und zwar durch Auftreten von Mitosen ein Ziehen wir aus diesen Befunden die praktische Seite, so können wir durch abgestufte Rönt^endosen eine Zeitsterihsaüon herbeiführen, durch stärkere Dosen sogar eine völlige Kastration (Bergonie und Tribondeau). Hirschfeld, Sexualpathologie. III. ^ LH. Kapitel: Impotenz Villemin .einerseits stellt fest, daß «las interstitielle Gewebe nicht durch die p- , • , e trddunoen angegriffen wird. Aus den, unentwegten Fortbestehen des Ge- n ^^ u ü aSehnL Degeneration des Samenepithels schließt Villemin, dkßtÄ^ FÄ des Test ikels nn -Ii- verse , e.el>lii bene interstitiell'' Die IS sei, eine Annahn,,., die durch Ancel und Bomn bestätigt wurde. Damit ist die Wirkung der Röntgenstrahlen noch nicht erschöpft. Neueste Ver- , i n und sezeiet daß Röntgenstrahlen befähigt sind, w ach st um - "nd Äker wifÄaubt, .luH, K, > * -f die innersekretorischen Organe (Hypophyse) (Stettner), sowie vor allem auch verjüngend (Steinach). Wie die in der Strahlenabteilung unseres Instituts für Sexualwissenschaft von Dr. August Bessunger ausgeführten üntersuchunge I Beobachtungen ergeben haben, August s. n ^ ninsM-hilirl, der liehundlung sexüalpathologischer Ab- wohnt allen ^J"*™^^^ ,,. qualitativer eine erhebliche praktische Be- JÄlT^Ä^ - abschließendes Urteil abgeben » Een "darf es bei der Neuartigkeit des noch nicht lange erschlossenen Gebiets effier geraumen Zeit aur Sammlung streng objektiver Befunde und Erfahrungen. Der Azoospermie schließt sich als gleichwertiger germinaler [mpotenzzustand die Nekrospermie an, bei welcher zwar Samen- fädchen im Ejakulat vorhanden sind, doch m leblosem Zustande die Oligospermie, bei welcher die Zahl der Samenfadchen wesentlich verringert ist, hat dagegen vom Standpunkt der Befruchtungsmog - liehkeit ans weniger Bedeutung, da ja von den normalerweise nach Millionen /.ahlenden Spermien im Ejakulat immer nur eine einzige der Fortpflanzung dienen kann. Bei der Oligospermie finden sich nur vereinzelte Samenfädchen im Gesichtsfelde vor. Namentlich hei Erschöpfungszuständen findet man diese Erscheinung, aber auch dann nur zeitweilig. Fürbringer weist darauf hm, daß hier oft Tau- schungen vorliegen, die sich aus dem Versuchsmaterial ergeben. Noch leichter können freilich irrtümliche Auffassungen von der von Fürbringer als Asthenospermie bezeichneten Störung vor- kommen, bei welcher die in normaler oder verringerter Menge vor- kommenden Spermien eine starke Herabsetzung ihrer Beweglich- keit zeigen; die Fädchen schlängeln sich bei dieser Störung trage und langsam durch das Gesichtsfeld, um ihre Beweglichkeit bald völlig einzubüßen. Da erfahrungsgemäß das Vaginalsekret die Be- weglichkeit der Samenzeih,, erheblich steigert, dürfte es ungemein schwer sein, zu entscheiden, ob ein asthenischer Same befruchtungs- fähig ist oder nicht. Das zu untersuchende Ejakulat mjiß über- haupt sehr sorgsam behandelt weiden, vor allem muß das Gefäß vollkommen Sauber sein, da schon kleine Mengen spermaschadlicher Stoffe auf die Beweglichkeit der Samenzellen einen Einfluß haben, ebenso auch Temperaturschwankungen. Präservativs, m denen Samen gewonnen wird, dürfen weder feucht, gepudert noch im- prägniert sein, da dieses alles das Material schädlich beeinflußt. Um jeden Zweifel auszuschließen, daß ein zur Untersuchung be- stimmtes Ejakulat auch der Person entstammt, auf deren Begut- achtung es ankommt, halten wir die alte Methode, einen im Pra- III. Kapitel: Impotenz 211 servativ auf gefangenen Erguß dem Arzt zu überreichen, überhaupt nicht für zuverlässig. Erst kürzlieh wünschte ein ebenso gewissenhafter wie vorurteilsloser Richter, daß in dem Attest über einen seine Vaterschaft wegen Unfruchtbarkeit bestreitenden Mann ausdrücklich die zweif eisfreie Herkunft des Samens nachzuweisen sei. Dies ist im allgemeinen nur bei manueller Ge- winnung möglich. Wir gehen daher in dem Institut für Sexual- wissenschaft so vor, daß wir dem Exploration ein sauberes Glas- sehälcben übergeben mit dem Ersuchen, in dasselbe zu ejakulieren, und zwar- durch mechanische Reflexauslösung mittels manueller Friktion, sei es mit oder ohne ihm adäquate Vorstellungen. Der Patient begibt sich zu diesem Zweck in einen Nebenraum und meldet sich zur Überreichung des Irischen, noch körperwarmen Ejakulats, was meist schon 5—10 Minuten nach Eintritt der Klausur erfolgt. Die Erfahrung zeigt, daß nahezu ausnahmslos den Patienten dieses ebenso einfache, wie sichere, und da gefahrlos, gänzlich unbedenk- liche Verfahren sympathischer ist, als die Kohdomgewinnung bei der eigenen oder fremden Frau. Außer den. Coitus condomatus und der Ipsation gibt es noch eine,, dritten Weg zur Gewinnung von Hodensekret, die Hodenpunktion, ihre Technik ist sehr ein- fach; man drückt einen Testikel prall an die Skrotalhaut, indem man ihn mit Daumen und Zeigefinger vom Bauchende des Skrotums nach oben schiebt und sticht mit einer einfachen Pravazschen Spritze schnell und tief in das Gewebe hinein. Wenn man sich einer feinen Nadel bedient, ist der dadurch verursachte Schmerz er- staunlich gering. Dann aspiriert man ganz wenig Hodeninhall und spritzt dies auf einen Objektträger zwecks Untersuchung. Gewöhn- lich pflegen wir den Patienten die Wahl zur Spermabeschaffung zu uberlassen, wobei sie sich, wie bemerkt, fast stets für die Ipsation entscheiden, da sie die Punktion wegen Empfindlichkeit und die Präservativgewinnung wegen Umständlichkeit scheuen. _ ich will im Anschluß hieran noch kurz die Methode und die Erfahrungen zusammenfassen, wie sie sich uns für Samenunter- suchungen im Laufe der Zeit im Institut für Sexualwissenschaft als besonders praktisch ergeben haben. Zunächst nehmen wir eine makroskopische Untersuchung des Ejakulats vor, die für den Kenner schon wichtige Schlüsse auf seine Zusammensetzung ge- stattet. Wenn nämlich kein Hodensekret im Ejakulat vorhanden ist, tritt das Samenblasensekret sehr deutlich neben dem Prostata- sekret hervor, während im spermatozoenhaltigen Erguß zwar Hoden- und Prostatasekret getrennt zu erkennen sind, dagegen das Samenblasensekret nicht gesondert wahrgenommen werden kann. Das Hodensekret besteht makroskopisch aus großen, glasigen, zäh- flüssigen, von feinen weißen Streifen durchzogenen Schollen, das Samenblasensekret aus etwa 2 mm dicken, gewundenen Fäden von 14* 212 III. Kapitel: Impotenz -lasig durchschimmernder, zäher Beschaffenheit, im frischen Eja- kulat aussehend wie zusammenhängende Sagokörner Das Fro- statasekret ist eine wässrige, leicht milchig getrübte Flüssigkeit. Die Sekrete der Cowperschen und Harnröhrendrüsen erscheinen meist schon hei stärkerer geschlechtlicher Erregung als he le faden- ziehende Tröpfchen vor der Harnröhrenmündung, namentlich wenn der Penis nach langen Erregungen ohne Entspannung erschlaüt (Orgasmus interruptus). Von Laien wird diese Urethrorhoea ex libidine vielfach fälschlich als Samenfluß gedeutet. Im vollen Ejakulat ist das Sekret der Cowperschen nnd Härnrohren- drüsen nicht herauszuerkennen. Frisches Hodensekret enthalt un- bewegliche in eine glasige Grundsubstanz dicht nebeneinander- o-elagerte Spermatozoen. Wenige Minuten nach der Ejakulation tritt Verflüssigung aller Sekrete ein. Dann sind die einzelnen Bestand- teile eine einheitliche undifferenzierte Flüssigkeit. Die Spermato- zoen sind dann alle in lebhafter Bewegung. - Um ein mikroskopisches Präparat anzufertigen, entnimmt man' dem verflüssigten Samen ein Tröpfchen mit Ose, bringt es auf einen Objektträger und bedeckt es mit Deckglas. Die Unter- suchung ist bei mittelstarker Vergrößerung und enger Blende vor- zunehmen, am besten im Dunk elf e ld. Ich habe es mir zur Eegel gemacht, den Personen, von denen ein Samenpraparat ge- macht wird, dieses selbst zu demonstrieren, weil die Erfahrung zeigt, daß der Anblick ihrer eigenen, lebenden Spermatozoen m leb- hafter Bewegung ungemein dazu beitragt, das sexuelle Selbstgefühl zu heben. Ich sah häufig, daß Patienten, die aus sexueller Skrupelsucht an Furcht vor Impotenz, die dann nur zu oft ein Grund tatsächlicher Impotenz ist, und an tiefen seelischen Depressionen litten, durch diese Methode in so günstiger Weise beeinflußt wurden, daß man geradezu von einer Heilung sprechen konnte. . , , Auch hinsichtlich der Nekrospermie ist nicht außer acht zu lassen, daß längeres Stehen, Temperaturschwankungen Spuren von Desinfektionsmitteln, Vermischungen mit Harn, Blut, Eiter und manchen anderen Beimengungen Samenzellen tot erscheinen lassen können, die in Wirklichkeit durchaus befruchtungsfahig sind. Fürbringer wies zuerst darauf hin, daß sich oft im frischen Sperma Menge» . von Sataenfädchen im Samenblasengelee, dem gallertigen Samenblasensekre , völlig erstarr finden, die sich nach dem Zerfließen der Gelatinekugeln ta^»^^ Ißeren dem inneren Sekret der Keimdrüsen, dem Andrin, so «weist Bich auch bei *™*f™ Sekret iede Störung des physiologischen Vorganges als nachteilig. Ob es eine r>el n Sermie o.ibt' die sich lediglich auf geschlechtliche Ausschweifung zurückfuhren laßt, SS ÄchtfraJicK zu sein. Hauptsächlich dürfte hier ein *ra« -anders Prostatasekret in Frage kommen, welches die Samenfadchen vernichtet Doch ist auch Li P o tltüis chronica glandularis nicht immer X^™^™^"*^ wohl nur ein in besonderer Weise alterierter Pros atasalt abtötend wirkt V or a I m scheinen Eiterzellen die Samenzellen abzutöten. Auch wenn Geschwulste, Steine, Dystio III. Kapitel: Impotenz 213 phien der Prostata den Austritt des Prostatasekrets verhindern, besteht eine Wahr- scheinlichkeit, daß die Samenfädchen in ihrer Funktion ungünstig beeinflußt werden. Mißbildete Samenfädchen finden sich ebenfalls nicht selten vor, und zwar auch unter ähnlicher Ätiologie wie die völlig vernichteten Samenzellen. So findet man Samenfädchen mit eingeknicktem und aufgerolltem Schwanz mit zwei Köpfen und anderen merkwürdigen Deformitäten. Oft sind es nur jugendliche, unausgereifte Samen- fädchen, welche solche Formveränderungen aufweisen, und dieser P>efund schließt durch- aus nicht aus, daß daneben völlig normale lebenskräftige Spermatozoen vorhanden sind. Recht häufig findet sich das Sperma durch Blut beimengungen rot gefärbt. Das Blut kann von Verletzungen, Entzündungen, Stauungen herrühren, welches sicü auf dem ganzen Wege vom Hoden bis zum äußeren Orifizium beimischen kann. Auch Arterien- verkalkung kann durch Platzen kleinster Blutgefäße ähnliches bewirken. Nicht selten stammt, auch das Blut von der Blase her. Hämospermie ist nicht immer unbedingt mit Pyospermie verbunden, bei eitrigen Beimischungen findet sich fast stets Nekro- spermie. Nicht selten verbinden sich auch beide zu einer Pyohämospermie, wobei der Samen grünlich gefärbt ist. In mehreren Fällen hatte ich Gelegenheit, eine gelblich ge- färbte Ejakulation zu untersuchen, welches von hochgradig ikterischen Personen abge- sondert wurde. Auch hier zeigten sich die spärlich vorhandenen Samenfädchen meist ab- gestorben, so daß bei C h o 1 o s p e r m 1 e der mit Gallenfarbstoff versetzte Samen in den meisten Fällen ebenfalls als nicht befruchtungsfähig angesehen werden dürfte. Neben der Azoospermie und dem bereits in dem Abschnitt über spinale Impotenz beschriebenen "spastischen Ejakulationsausfall gibt es noch eine Form von Samenlosigkeit, die man als mechanischen Aspermatismus bezeichnen kann. Ihre normalste Form ist diejenige, die nach wiederholten Koitusakten eintreten kann, wenn der ganze Vorrat der in den Samengängen und ihren Adnexen vorhandenen Keimzellen erschöpft ist, ein stets nur vor- übergehender Zustand von allerdings individuell verschieden langer Dauer. Der gleiche Füllungsgrad der Samenkaniilehen wie vor der Entleerung wird durchschnittlich erst nach zehn bis zwölf Stunden wieder erreicht, eine relative Füllung tritt indessen bald wieder ein. Immerhin dürfen wir den Angaben gewisser „Renommisten", sie hätten den Beischlaf während einer Nacht zehnmal und öfter ohne Nachlaß des Orgasmus und der Ejakulatsmenge vollziehen können, berechtigte Zweifel entgegenstellen. Organische Behinde- rungen des Austritts der Samenflüssigkeit finden sich bei an- geborenem Verschluß oder Fehlen der Ductus ejaculatorii sowie bei Schrumpf ungs Vorgängen an den Ausfüh- rung s gä n ge n der Vorsteherdrüse. Auch Steinbildungen in der Prostata oder den Ductus ejaculatorii kommen hier in Frage; am häufigsten aber die Striktur der Urethra, sei es die angeborene oder die gonorrhoische, gelegentlich wohl auch die spastische und traumatische. Hier kommt es beim Verkehr zum normalen Orgas- mus, dem sich nicht selten stechende Empfindungen beimischen, wie dies überhaupt beim Orgasmus vorkommt, wenn im Verlaufe der Harnröhre, namentlich im hinteren Teil entzündliche Partien vor- handen sind. Öfter fließt Sperma bei -Harnröhrenverengerungen durch den Samenhügel in die Harnröhre, aber hinter der Striktur III. Kapitel: Impotenz staut es sieh und geht aufwärts nach der Blase ab. Nach der' Er- schlaffung des Gliedes ergießt sieh dann häufig das Ejakulat träge nach außen. Man hat daher geraten, den Penis hei Strikturen nach dem Akte noch längere Zeit in der Scheide zu belassen, doch ist infolge der Erschlaffung dieser Kat leichter zu geben als zu be- folgen. Häufiger noch ist, namentlich wenn die Striktur hochgradig ist, daß das Sperma in die Blase regurgitiert wird und hinterher spermahaltiger Urin entleert wird (S p e r m a tu r i e). Germinale Impotenz beim Weibe. Auch bei der Frau kommt völliger Mangel der Keim- zellen vor, und zwar sowohl angeboren als auf pathologischer Grundlage erworben, sowie auch durch Exstirpation der Eierstöcke hervorgerufen. Der angeborene Mangel ist jedoch bedeutend schwieriger bei der Frau nachzuweisen wie beim Manne, da das Sekret nicht der Untersuchung so leicht zugänglich ist wie das der männlichen Keimdrüse. Allerdings besitzen wir in den Menses ein ziemlich beweiskräftiges Mittel, aus dem wir auf die Produktion und Abstoßung der Ovula schließen können; bleiben diese doch meist erhalten, wenn auch nur kleine Stückchen des Eierstockes zurückgeblieben sind. Befruchtungen, die selbst nach doppel- seitiger Enfernung der Eierstöcke vorgekommen sind, lehren, daß selbst geringe Partien von Qvarhdsubstanzen befruchtungsfähige Eier liefern können. Andererseits ist aber die Menstruation kein vollgültiger Beweis vorhandener oder abgestoßener, befruchtungs- fähiger Eier. Namentlich atrophische Ovarien, wie wir sie so zahl- reich bei virilen Frauen finden, bringen nur äußerst selten be- fruchtungsfähige Eier hervor. Die germinale Impotenz oder Sterilität des Weibes ist jedoch nicht allein von der Abstoßung befruchtungsfähiger Keim- zellen abhängig, sondern auch von der Fähigkeit, daß diese dort- hin geleitet werden, wo sie mit den männlichen Keimzellen in Verbindung treten können. Ferner gehört zum Begriff der weib- lichen Fruchtbarkeit auch die Möglichkeit, die Keime zu voller Entwicklung zu bringen und sie als lebensfähige Wesen ausstoßen zu können. Daher müssen wir bei der Frau neben der Beischlafs- und Empfängnisunfähigkeit, die Unfähigkeit, die Frucht auszu- tragen und sie zu gebären, unterscheiden. Die häufigste Ursache der weiblichen Unfruchtbarkeit dürften, ähnlieh wie beim Manne, Erkrankungen der Leitungswege sein, Ent- zündungen, Veränderungen und Verwachsungen namentlich des tubischen Verbindungskanals vom Eierstock zur Gebärmutter. Auch hier kommen nur doppelseitige Unwegsamkeiten in Betracht, vor allem die Pyosalpinx und Hydrosalpinx, Welche allerdings keineswegs immer dauernde Impotenz bedingen, III. Kapitel : Impotenz 215 sondern der Ausheilung- zugänglich sind, so daß nach derselben noch später Empfängnis beobachtet wurde. Im allgemeinen dürfte es sich dann aber nur um geringere Krankheitsprozesse der Tuben gehandelt haben, während eine größere doppelseitige Hydro- oder Pyo Salpinx die Zeugungsfähigkeit fast stets dauernd aufhebt.» In den meisten Fällen sind diese Tubenentzün düngen auf eine gonorrhoische, seltener auf puerperale In- fektion zurückzuführen, so daß auch hier wieder die Gr e - schlecht skr aifkheiten als häufigste Ursache der Unfruchtbarkeit genannt werden müssen. Die angeborene Verkümmerung des Eierstocks ist fast stets mit Verkümmerung der Gebärmutter verbunden. Sind diese Atrophien des Uterus, über dir wir uns bereits in dem Kapitel Infantiiismus (Bd. 1) und im Abschnitt Vorstufen des Hermäphroditismus (Bd. II) ausgesprochen haben, hochgradig, so bedingen sie auch für sich EnipfängnU- unfähigkeit, gibt es doch rudimentäre Uterusformen, die überhaupt keine Höhlung be- sitzen, weil die Genitalschläuche nur ganz unvollkommen zur Entwicklung gelangt sind. Doppelbildungen der Gebärmutter, namentlich der cinhörnige Uterus verhindern im all gemeinen nicht die Konzeption. Wir unterscheiden den Uterus f ö t a 1 i s mit 2 — 4 cm Sondenlänge, den Uterus infam tili« mit 4 — 5 cm Sondenlänge und den Uterus pubescens oder hypoplastischen Uterus mit 5 — 7 cm Sondenlänge. Der fötale Uterus Erwachsener zeichnet sich. durch eine relative Größe der Zervix gegenüber dem Korpus aus sowie durch Schlaffheit und Dünnwandigkeit. Die Ovarien sind dann meist ebenfalls sehr klein, Menses fehlen. Die Empfängnisfälligkoil kann bei diesem Befunde für ausgeschlossen gelten. Der infantile Uterus hihlei ,\,-n i l.ergang zum hypoplastischen. Hier ist das Verhältnis zwischen Korpus und Zervix meist normal, doch ist die Empfängnisfähigkeit wesentlich herabgesetzt. Ebenso wie beim hypo- plastischen Uterus geht mit der mangelhaften Entwicklung dieses Organs meist ein Zurückbleiben des ganzen Körpers, insbesondere des Gefäßs\ sterns Hand in Hand. Im übrigen kommt es nicht selten vor, daß nach dem 20. Lebensjahre die zurück- gebliebenen Uteri eine Nächentwicklung aufweisen, was allerdings nur selten für die Fälle gilt, bei denen es sich um genitale Hypoplasie auf Grundlage von Yirilismus han- delt. Höchst beachtenswert für die innersekretorischen Zusammenhänge dieser Erscheinungen sind die auch in therapeutischer Hinsicht wertvollen Versuche des Gynä- kologen Prof. S c Ii rode r in Rostock. In der Literatur sind Fälle verzeichnet, in denen sogar bei ursprünglich ver- schlossener Scheide der zurückgebliebene Uterus und die Ovarien die. volle Entwicklung in solchem Maße noch nach dem 20: Jahre nachholten, daß Schwangerschaft eintrat. Nicht selten kommt es in solchen Fällen aber doch zu Aborten. In Laienkreisen hört man oft von einem zu engen Muttermund als angeblicher Ursache der Unfruchtbarkeil reden. Ist auch diese Erscheinung bei weitem nicht so häufig, wie vielfach angenommen wird, so sind doch sowohl angeborene als erworbene Stenosen de.-. Muttermundes nicht gar so seltene Hindernisse der Befruchtung. Erworbene Verengerungen des Uterus bilden sich manchmal infolge der Anwendung von Ätzmitteln, die in der Absicht gebraucht wurden, sich der Leibesfrucht zu entledigen. Seltener kommen diese Verengerungen nach Auskratzungen vor. Sie sind oft mit einer geschwulstartigen Ansammlung von Blut hinter dem Zervikalkanal. der sogenannten Hämatometra, verbunden. Am häufigsten sehließen sich Verwachsungen. Verödungen und Schrumpfungen der Gebärmutterschleimhaut an Endometritis an. Von der vorher beschriebenen Hypoplasie des Uterus ist die Atrophie zu unterscheiden, die sich ge- legentlich nach schweren Wochenbett erkrank engen und Allgemeininfektionen, wie Lues, entwickelt; ein Leiden, das recht häutig Zeugungsunfähigkeit, Empfängnisunfähigkeit, 216 III. Kapitel: Impotenz Unfähigkeit auszutragen und Gebärunfähigkeit im Gefolge hat. Hier kommen wir jedoch zu Fragen, die nicht mehr rler Sexuologe, sondern der Gynäkologe zu beantworten hat. Einige zusammenfassende Bemerkungen noch über die Be- handlung der Potenzstörungen: Die unerläßliche Voraus- setzung für eine erfolgreiche Behandlung der verschiedenen Formen gestörter Potenz ist eine exakte diagnostische Feststellung ihrer Pathogenese, ihres Ursprungs. Die Behandlung der organischen und der funktionellen Potenzstörungen ist naturgemäß von Grund aus verschieden. Bei den organisch* bedingten Potenz- störungen fällt die Behandlung im allgemeinen mit derjenigen der zugrundeliegenden Erkrankung zusammen. Wir haben diese Potenzstörungen als ein Symptom dieser Erkrankungen aufzufassen und dementsprechend das Grundleiden zu behandeln. Man hüte sich aber vor einer Anhäufung örtlicher Maßnahmen, welche die ängstliche Beachtung und Befürchtung des- Kranken unnütz auf die Geschlechtsgegend fixieren und als steigernde psychogene Krank- heitsfaktoren wirken können. Die spinalen Potenzstörungen, wie wir sie vorwiegend bei Tabes und multipler Sklerose auftreten sehen, lassen sich bisweilen durch die Behandlung dieser Rückenmarkserkrankungen bessern. Eine Behandlung der Tabes mit einer energischen, kombinierten Salvarsan-Quecksilberkur, etwa nach Leredde oder Gennerich, kann unter Umständen auch die Hinterstrangsfunktion des Reflexbogens für die Erektion heben. Bei multipler Sklerose geben wir neben Arsen vor allem Strychnin ; keinerlei Erfolg sahen wir indessen von einer Fibrolysihbehandlung. Bei der multiplen Sklerose tritt die Impotenz, ebenso wie andere Symptome, zuweilen spontan nach längerer oder kürzerer Dauer zurück. Andererseits sah ich einen Fall, in welchem sie als fast alleiniges Residualsymptom zehn Jahre lang bestehen geblieben war. Strychnin geben wir in derartigen Fällen spinaler Impotenz allgemein aus der Erwägung heraus, daß es die Reflexerregbarkeit erhöht. Die Berechtigung dieser Über- legung ist natürlich von Fall zu Fall eine verschiedene. Aus einer völlig gleichartigen Erwägung, also lediglich als symptomatisch wirkendes Adjuvans, verwenden wir bei spinaler Impotenz auch die physikalische Therapie: die Galvanisation des Rückgrates, die Fara- disation der Dammgegend, die Hochfrequenzbehandlung der letz- teren eventuell mit rektal eingeführtem Effluvium, und die Röntgen- bestrahlung mit Erythemdosen von besonderer Filterung. Nach unseren Erfahrungen gerade bei organisch bedingten spinalen Im- potenzfällen haben wir keinen x\nlaß, die skeptische Ansicht Lewan- dowskys. ;ils handle es sich hierbei um Suggestivwirkungen, zu teilen. Die funktionellen Formen der Potenzstörungen fassen wir praktisch als Organneurosen des Genitalapparates aufj III. Kapitel: Impotenz 217 und dieser Auffassung entsprechend muß unsere Therapie immer verbunden sein mit einer allgemeinen Behandlung des neurotischen Gesa mtzustan des. Wird diese wichtige Grundregel übersehen, und wird eine Fülle lokaler Maßnahmen wahllos auf die Geschlechtsgegend appliziert, so wird der Kranke in der Regel schlechter anstatt besser. Weise Sparsamkeit in der Verwendung lokaler Therapie und genaueste Individualisierung der Gesamtbehandlung sind die unerläßlichen Vorbedingungen zum Er- folge. Hierzu gehört als dritte Vorbedingung noch: Ausdauer für beide Teile, den Kranken wie den Therapeuten. Eine festein- geschliffene Parafunktion so verwickelter Art, wie sie eine funk- tionelle Potenzstörung mit ihrem Ineinandergreifen psychischer Faktoren, vasomotorischer nmd sekretorischer Reüexmechanismen darstellt, läßt sich nicht von heute auf morgen umstellen. Man tut g-ut daran, dies dem Kranken von vornherein zu sagen. Manche Therapeuten beschränken sich andererseits in ihrer Behandlungs- weise von funktionellen Potenzstörungen allzusehr. Von der rich- tigen Erwägimg ausgehend, daß psychische Komponenten affektiver Art beim Bestehen der Potenzstörungen entscheidend mitwirken, suchen sie diese dadurch unwirksam zu machen, daß sie dem Kranken in suggestivem Tone versichern, die Sache werde von selbst vorbeigehen, er brauche gar nichts zu tun, die Gewohn- h e i t , z. B. des Ehebettes, und die zunehmende Erfahrung werde ihn über alle Schwierigkeiten hinwegbringen. Ich kann zu dieser etwas summarischen Form von Psychotherapie nicht raten. Gewiß mag sie in dem einen oder anderen Fall genügen, wo lediglich das Insuffizienzgefühl, die Schüchternheit und die Befangenheit, die normale Potenz hemmen; das ist aber eine verschwindende Anzahl. Denn noch aus letzter Zeit sind mir mehrere Ehen im Gedächtnis, wo der psychisch-impotente Ehemann — 1 der vor Eingehung der Ehe diesen Rat erhalten hatte — noch nach Jahren eine unberührt jungfräuliche Frau besaß. In einem Falle war die Frau nach einer derartigen Ehe von drei, in einem anderen gar von fünf Jahren noch Virgo intacta. Das qualvolle Eheleben beider Gatten in solchen Fällen kann man sich denken. Ich bin also in jedem Falle von funktioneller Impotenz oder Potenzstörung für eine aktive Therapie. Diese hat in erster Linie Psychotberapie zu sein. Sie muß sich aber sowohl der physika- lischen wie der medikamentösen Verfahren zur larvierten Er- reichung ihrer Zwecke bedienen. Mit anderen Worten, es ist also in jedem Falle von funktioneller Potenzstörung notwendig, eine Kur, ein Regime aufzustellen, welches der psychischen Eigenart des Kranken und der Erkrankung entspricht, seine allgemeine Lebens- weise und sein geschlechtliches Verhalten regelt und die gestörte Funktion spezifischen Behandlungsweisen unterwirft. 218 TU. Kapitel: Impotenz Was die p s y e h i s c Ii e B e Ii a n d 1 u u g anbelangt, so ist zu- nächst eine ganz genaue Aufnahme der sexuellen Vorgeschichte ohne jeden Rückhalt und ein „Abreagieren" aller jener vom Scham- gefühl und der Schüchternheit verdrängten Affekte in die Wege zu leiten; daran kann sieh eine zweckmäßige Belehrung über die Art des Leidens ansehließen. Von einer Psychoanalyse allein habe ich endgültige Heilerfolge nicht gesehen. Auch in der Lite- ratur nehmen viele Psychoanalytiker zu ihrem Verfahren gerade bei Potenzstörungen die Hypnose zu Hilfe (Golouschew, Wyrubow). Dennoch ist die eindringliche Psychoanalyse ein ausgezeichnetes Mittel, um alle die hemmenden psychischen Faktoren, welche bei Potenzstörungeii im Spiele sind und oftmals im Unbewußten sitzen, ans Licht zu ziehen und dadurch für den Kranken zu entwerten. Ich selber bin jedoch ohne Suggestivbehandlung fast nie zum vollen Erfolge gekommen. In der Mehrzahl der Fälle wird diese Suggestiv behandlung sich hinter physikalischen Methoden larviereu können; in einer nicht geringen Zahl von Fällen aber führt die direkte Hypnose zum Ziele. Die Suggestion in der Hypnose muß dreierlei Art sein: sie muß sich auf das ;i 1 1 gern e i ne Befinden des Kranken erstrecken; sie muß die die Potenz ' störenden und hemmenden Erlebnisse, Erinnerungen und Befürchtungen ausschalten; sie muß die positive Versicherung des Gelingens in imperativer Form zum Ausdruck bringen. Jeder einzelne Fall von Potenzstörung erfordert eine andere individuelle Formulierung der Suggestionen. Des weiteren kommt die Regelung des sexuellen Verhaltens bei Behandlung funktioneller Potenzstörungen hinzu. In fast jedem Falle verbiete man zunächst jeglichen Sexualverkehr. Damit ver- stopft man die Quelle psychischer Hemmungen, aus denen die funk- tionellen Potenzstörungen ihr Leben fristen. Man gebe auch bei sich steigernder Libido dieses Verbot nicht auf. Die auf diese Weise angestaute Libido kann bei gewissen Formen von Impotenz unter Umständen den Heilerfolg an sich schon erzwingen. Die medikamentöse u n d 1 o k a 1 e T h e r a p i e dient ein- mal den Zwecken einer larvierten Suggestivbehandlung. Aber sie wäre wenig wert, wenn sich ihre Bedeutung darin erschöpfen würde. Vielmehr müssen die zu wählenden Verfahren selber den Wert symptomatischer Behandlungweisen direkter Art besitzen. Daher muß man sie bei den einzelnen Arten der Potenzstöimngen ver- schieden wählen. Bei der er ektiven Impotenz wird man all- gemein roborierende und tonisierende Medikamente mit solchen verbinden, die von spezifischer reflexsteigernder und vasomoto- rischer Wirkung sind. Arsen in Vei'bindung mit Nux vomica, Ergotin, Adrenalin gehört hierher. Wenig bewährt hat sich mir das vielfach so gerühmte Yohimbin. Bei der funktionellen Im- potenz werden wir auch von den verschiedenen Arten lokaler Elek- III. Kapitel: Impotenz 219 trisierung, Hochfrequenz- und Köntgenreizbehandlung Gebrauch machen. Es sei aber betont, daß diese lokalen Behandlungen die Allgemeinbehandlung nie überwiegen dürfen. Was die zur Behandlung der funktionellen Inipotenz vielfach benutzten Organ extrakte anlangt, so haben sie vorläufig nicht die Erwartungen gehalten, welche man an ihre Herstellung knüpfen mußte. Hatte man doch die Hoffnung, mit ihnen Stoffe zu erhalten, welche dem natürlichen innersekretorischen Sexualch em is - in us entsprachen, der die Tätigkeit der Sexualzentren aktivierte. Ich ziehe die Injektion der innerlichen Verabreichung diu eh Stuhl- zäpfchen oder in Tabletten vor; möglich daß die [mplanta- tionsmethode in Zukunft auch hier das Feld erobern und be- haupten wird, möglich aber auch, dal.! wir noch Organpräparate so verbessern können, daß sie per os oder subkutan angewandt praktisch das erfüllen, was man sieh theoretisch von ihnen versprach. Auch andere operative Eingriffe, wie die Abtrennung der Samenleiter von den Geschlechtsdrüsen können durch Wucherung der Zwischensubstanz, auf Kosten des generativen Anteils, eroti- sierend und damit potenzsteigernd wirken. Die neuesten Veröffent- lichungen Steinachs1) über „Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse" sind nach dieser Rich- tung hin von nicht zu unterschätzender Bedeutung. i) Stein ach, Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse. Berlin, Verlag Julius Springer, 1920. Vgl. M. Hirschfeld, Künstliche Verjüngung, künstliche Geschlechtsumwandlung. Die Entdeckungen Prof. Steinachs und ihre Bedeutung. Verlag: Johndorff & Co.. Berlin 1!>20. IV. KAPITEL Sexualneurosen (Sexualverdrängung) • ,,TJnd die gedrosselte Lust wird ihnen zur Furie.'1 Ant. "Wildgans in ..Liebe". Zusammenfassung der sexuellen Neurasthenie, Hysterie und Hypochondrie unter dem ätiologischen Begriff der Sexualverdrängung und dem nosologischen der Sexualneurosen — Hysteroneurasthenie - Abulie der Sexualneurotiker — Sexuelle Beklemmungen und Angstträume — Die Angst als Flucht aus Schwäche in Erregung — Verstimmung und Überempfindhchkeit des Nerven- systems auf sexueller Basis — Herzneurosen und nervöse Dyspepsie, Coccygodyme und Hodenneuraloien infolge Sexualverdrängung - - Steigerung von Schwäche m Lahmung, von Unruhe in Zittern — Stammeln und Erröten — Ruhetremor und Intentionstremor — Der sexuelle Verdrängungsschrei — Hysterische Spasmen — Harnstottern — Hysterische Ps'eudophthise bei einer Hypererotischen — Sekretionsstörungen der Drüsen und Reüexsteigerungen bei Sexualneurotikern — Seelische und körperliche Ur- sachen des Vaginismus — Penis captivus — Ejaculatio praecox — Sen- sibilitätsstörungen — Heiserkeit und Stimmlosigkeit der Sexualneurotiker — Hystero- gene Druckpunkte und Topalgien — Polydipsie — Phobien und Idiosyn- krasien — Die sexuelle Grübelsucht — Syphilidophobie — Masturbation- ■ und Pollu- tionshypochonder — Kohabitationshypochonder — Unlustreaktion auf sexuelle Betätiguno- — Impotenzhvpochonder — Sexuelles Lampenfieber — Hochzeitsangst — Pathologische Entl-obungen — Deflorationshypochonder — Selbstquälereien über angebliche Mängel am Genitalapparat — Sexual- pathologische Unentschlossenheit als eine der häufigsten Ursachen der Ehelosigkeit — Eifersuchtswahn — Sexueller Beziehungs- und Verfolgungs- wahn — Hysterische Hochstapler und Schreiberinnen anonymer Briefe — Entstehung des sexuellen V e r f o 1 g e r s aus dem sexuellen Verdränger — Ekstasensucht der Sexualneurotiker — Das Verhältnis zwischen neurotischer Disposition und Störungen im inneren Chemismus — Ansichten von Beard, Bin s wanger, Eulenburg und Krafft-Ebing über die sexuelle Neurasthenie — Das Zutreffende der Freud sehen Theorie — Eingeklemmte, verdrängte und abreagierte Sexualaffekte — Toxische Natur der Sexualneurosen - Psychocheraischer Parallelismus - DaL^b' stinenzproblem — Keuschheitsprinzip, Sportabstinenz und Priesterzölibat — Der Maler Menzel als Typus eines sexuellen Negativisten — In welchem Alter treten Abstinenzschäden auf? — Stärkt die Beherrschung des Geschlechtstriebes den Cha- rakter? — Verschwinden schädlicher A b s t i n e n z f o 1 g e n durch sexuellen Ver- kehr — Geschlechtliche Surrogate — Fleischenthaltung als angebliches Mittel gegen „Fleischeslust" — Darf der Arzt zu Heilzwecken den Geschlechtsver- kehr empfehlen? — Frauenüberschuß — Kampf zwischen sexuellen Reflexen und Reflexionen — Dauernde und temporäre Abstinenz — Totale und partielle Ab- stinenz — Absolute und relative Abstinenz - - Sexual Verstopfung — Be- IV. Kapitel: Sexualneuroseu 221 deutung der adäquaten Entspannung unter Berücksichtigung der S e x u a 1 k o n s t i - t u t i o n — Sexualneurosen Abnormaler — Coitus interruptus, reservatus, pro- longatus — Verlobungszeit als Nervenprobe — Masturbatio interrupta et incompleta — Colliculitis seminalis als Ursache reizbarer Nerven- schwäche — Die o n anistische Neurose — Dreiphasige Entwicklung des Ge- schlechtstriebes: autistische, mdifferenzierte und differenzierte Geschlechtsepoche — Sexuell bedingte Schülerselbstniorde — Uberkompensation durch Übertreibung des Gegensätzlichen — Tripperneurasthenie — Erhöhte Reizbarkeit spinaler Zentren durch periphere Sensibilitätssteigerung — Überreizungsneurasthenie in- folge sexueller Exzesse — Hangelnde Ausbalancierung des in erotische Vibration versetzten Nervensystems — Das sexuelle Trauma — Schamver- letzungschok — Hysterische Zustände im Anschluß an die Brautnacht — Nervenschwächende Wirkung der von Weib und Mann gebrauchten Vorbeugungs- mittel — Weibliche Hysteruneurasthenie infolge männlicher Vernach- lässigung — Gab es unter den alten Griechen und Germanen auch Genitalhypochonder und Sexualneurotiker? Unter Sexualneuroseu verstehen wir Beschwerden und Störungen des Zentralnervensystems, welche bei einer Person i n - folge inadäquaten Sexualvorhaltcns auftreten. Jede r Mensch hat sein sexuelles Gesetz und Ma ß; folgt er diesem inneren Gesetz nicht, weicht er von dem, was für ihn nötig ist, zu weit nach oben oder unten ab, in einem Grade, der für seine Indivi- dualität ein zu viel oder zu wenig bedeutet, in einer Richtung, die wider seine eigenste Natur (nicht wider die Natur der anderen) gebt, so leidet er auf die Dauer subjektiv und erkrankt o b j e k t i v. Wenn wir in diesem Kapitel die pathologischen Begriffe der Sexualneurast he nie, Hysterie und Hypochondrie ätio- logisch als Sexual Verdrängung und nosologisch unter der Bezeich- nung Sexualneu r os en zusammenfassen, so findet dieses darin seine wesentliche Begründung, daß die Erscheinungen dieser großen Krankheitsgruppe gerade im Zusammenhang mit Sexualstörungen nicht so abgegrenzt vorkommen, wie es die gesonderten Schilderun- gen in den Lehrbüchern vermuten lassen, sondern in ihren Sym- ptomen fließend ineinander übergehen. Man hat sich daher mit Mischformen wie Hysteroneurasthenie zu helfen gesucht; es sind dies aber ziemlich willkürliche Bildungen, denn in Wirklichkeit gibt es kaum ein neurotisches Symptom, das nicht auch sehr häufig bei Hysterischen und kaum ein hysterisches, das nicht oft bei Neur- asthenikern zu beobachten wäre. Auf der anderen Seite ist auch die Grenze zwischen Hysterie und Hypochondrie ungemein fließend, da die nervöse Skrupelsucht, die sexuellen Phobien und Zwangsvor- stellungen, sehr häufige Begleiterscheinungen der Hysterie ebenso wie der reizbaren Nervenschwäche sind, und auch die Sexual- hypochondrie wohl kaum je ohne anderweitige nervöse Symptome vorkommt. Es hat große Schwierigkeiten, die unzähligen einzelnen Erscheinungen, die uns hier entgegentreten, in Untergruppen ein- zuteilen, die Motilitätsstörungen, Sensibilitätsstörungen, Sekretions- 222 Störungen, meist eng miteinander und mit rein psychologischen Sym- ptomen verbunden. Wir wollen versuchen, im folgenden zunächst, dm hauptsäch- lichsten Krankheitszustände, welche sich bei den Sexualneurosen linden, hintereinander aufzuführen, ohne uns zu verhehlen, daß sich meist nur ein kleiner Teil von ihnen, oft allerdings auch ein" erheb- ürlie Anzahl bemerkbar machen. Eine der ersten Klagen, mit denen uns diese Kranken entgegenkommen, sind verschiedenartige Schwäche zustände unter denen sie leiden; bald ist es mehr ein Gefühl rein körperliche* Abspannung und Müdigkeit, bald mehr eine ausgesprochene Willensschwäche , Gedächtnisschwäche oder Urteilsschwäche, die im Vordergrund steht. Die Abulie im Sinne mehr oder minder großer Entschlußunfähigkeit macht den sexuellen Neuras thenikern oft viel zu schaffen. Ich sah viele Fälle, in denen dieses Symptom die Betreffenden nicht nur selbst, sondern mehr noch ihre Angehörigen aufs Höchste beunruhigte. So suchte mich vor einigen Tagen wieder ein Brautpaar auf, das bereits seit 6 Jahren verlobt ist; beide hatten studiert, doch konnte der jetzt 27jährige Mann, dessen Studium durch den Krieg eine lange Unterbrechung erfuhr, bisher noch nicht zur Ehe schreiten, an die mit Rücksicht auf die ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse beider auf Jahre hin- aus überhaupt nicht zu denken war. Die Braut war anfangs allein zu mir gekommen, um mitzuteilen, daß ihr Bräutigam seit einiger Zeit gänzlich apathisch und willenlos sei; während er früher viel und schnell arbeitete und sehr regen Geistes war, hätte er seine Arbeits- lust und Arbeitskraft seit langer Zeit völlig eingebüßt. Er führe dies auf seine langjährige sexuelle Abstinenz zurück, die er als Bräutigam nicht brechen wolle, aber auch jetzt nicht mehr aufrecht erhalten könne, da nach seiner Ansicht seine Unfähigkeit zu geistiger Arbeit von der Abgespanntkeit abhänge, die ihm die Mühe der stän- digen Beherrschung sexueller Bedürfnisse und Erregungen verur- sache. In der Tat machten die hochgradigen Sehwächezustände völligem Wohlbefinden Platz, als die Brautleute schließlich aus eigenem Antriebe unter Vorsichtsmaßregeln zu sexueller Betätigung übergingen. Oft findet sich bei Sexualneurotikcrn entsprechend ihrer Mattig- keit eine starke, fast iinüberwindlicke Schl af neig ung nament- lich auch während des Tages; öfter aber noch ein sehr unruhiger Schlaf mit schweren unruhigen Träumen und Alpdrücken. Der In- halt dieser Träume trägt nicht selten, aber keineswegs immer ero- tischen Charakter. Am häufigsten finden sich Verfolgungsträume oder anderweitige Angstträume mit Aufschreien, Zähneknirschen und Hin- und Herwerfen im* Schlaf. Oft wiederholen sich immer die gleichen Träume; so bei einem meiner Patienten stets der Traum, er sei vom Gericht wegen sexueller Gewaltakte verurteilt IV. Kapitel: Sexualneurosen 223 worden und befände sich in einer engen Gefängniszelle ohne Aus sieht ins Freie. Sogenannte Waehträume sind seltener, am so häu- figer aber finden sich bei Sexualneurotikern auch am Tage Beklem- mungen und Angstzustände mit allerlei quälenden Sensationen wie Druckgefühl am Herzen oder am Hals. Unter Sexualangst verstehen wir etwas Doppeltes; einen sich auf die Gegenwart und einen auf die Zukunft beziehenden Zu- stand, im einen Falle ein Gefühl innerer Not und Pein um etwas, im anderen eine Empfindung von Furcht und Sorge vor etwas Äußerem. Beide Male handelt es sieh um Uni ustgefühle, dir dort als Asthma sexuale, hier als Phobie, gelegentlich aber auch als beides unliebsam in die Erscheinung treten. Der eng zusammen- gehörige Doppelsinn der Angst steht nicht vereinzelt da, wir linden ihn ähnlich bei dem Begriff der Lust, die bald als Lustempfindung aufzufassen ist, also als etwas gegenwärtig Vorhandenes, bald im Sinne von „Lusthaben", als etwas auf die Zuku n I' t gerichtetes. Allen Sexualneurosen ist die Sexualangst gemeinsam. Eauptsäeh- lich dadurch charakterisieren sie sich als psychogene Leiden. Daß es sich tatsächlich um Sexualangst handelt, ist bei den Sexualneurosen, die wir als- Sexualhypochondrie und Grübelsueht ke nnen, ohne wei- teresklar; aber auch die Sexualhysterie wurzelt in sexuellen Angst- zuständen, allerdings mehr im Sinne durch mangelnde Entspan- nungen entstehender Beklemmungen; endlich rührt auch die Sexual- neurasthenie, deren Symptome so unmerklich in die hysterischen übergehen, von Beängstigungen her, die auf zentralem Umweg von einer in schädlicher Weise oder überhaupt nicht zur Entfaltung ge- langenden Sexualität ihren Ausgang genommen haben. Die innere Angst stellt gewissermaßen einen Übergang von der Schwäche zur Erregung und Unruhe dar. Beide Erscheinungen stehen zueinander in schädigender Wechselwirkung, aus dem Engig- keitsgefühl erwächst ein motorischer Drang, aus der Enge zu flüchten, der dazu führt, daß die Kranken nicht am Platze bleiben können, oft ziellos hin- und herlaufen, wodurch die Abspannung wiederum gesteigert wird. Die Sexualangst ist die Quelle zahl- reicher neurasthenischer und hysterischer Symptome; es steht mit ihr im Zusammenhang auf der einen Seite eine krankhafte Nie- dergeschlagenheit, die bis zur tiefsten Depression führt und auf der anderen Seite eine starke Reizbarkeit, die impulsive Wut- und Zornesausbrüche im Gefolge hat. Fast alle Sexualneurot iker zeich- nen sich durch einen starken Stimmungswechsel aus, für den das Goethesche „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" der entspre- chende Ausdruck ist. Als Grundstimmung steht bei den meisten das zu Tode betrübt, die depressive Stimmungslage voran, die jedoch nicht eine zeitweise über das durchschnittliche Maß weit hinaus- gehende Ausgelassenheit in Gesellschaft anderer verhindert. Ferner- IV. Kapitel: Sexualneurosen stehende sind oft äußerst erstaunt, wenn sie dann eines Tages hören, daß dieser lustige Kumpan, der in der Kneipe alles durch sein Späße erheitert hat, seinem Lehen selbst ein Ende bereitet hat. Manche Sexualneurotiker gehen gewissermaßen an einem mißglückten Selbst- mordversuch zugrunde; es war mehr ein Spielen, ein Kokettieren mit dem Tode, bei dem sie ihr Leben ließen, etwa weil sie sich eine größere Menge Grift einverleibten, als ihr Körper vertrug, oder weil die Pistole losging, noch ehe der Entschluß zur Tat gereift war. Von körperlichen Unlustsensationen finden sich außer Herzschmerzen am häufigsten unangenehme Empfindungen im Kopfe, Druck, Schwere, Eingenommenheit. Empfindlichkeil der Kopfhaut und Haare. Vielfach überwiegt ein migräneartiger, halb- seitiger Kopfschmerz. Nicht selten aber ist es auch hauptsäch- lich der Hinterkopf, welcher betroffen ist. Die Sinnesorgane werden gleichfalls in Mitleidenschaft gezogen. So ist eine Überempfindlich- keit gegen Geräusche ungemein verbreitet, daneben aber auch Soli- störungen wie Einengung des Gesichtsfeldes und Mouches vol;inte>: auch Asthenopie und konjunktivale Kongestionen kommen vor. Neben starker Neigung zum Weinen findet sich recht häufig ein leichtes Tränen der Augen. Auch kommen Sprachstörungen vor; oft ist die Sprache verlangsamt, manchmal ganz leise, oft ver- sprechen sich die Kranken leicht, oder es besteht sogar eine hyste- rische Stummheit (Mutismus). Nervöse Schluckbeschwerden, ner- vöser Husten, Verminderung oder Vermehrung der Speichelabsonde- rung, Hyperästhesien im Munde, namentlich der Zähne und des weiteren Zahnfleisches, sind ziemlich oft zu beobachten. Von weiteren Schmerzen sind hauptsächlich noch Kückenschmerzen zu nennen, Überempfindlichkeit der Wirbelsäule, die manchmal nur auf die Kreuzgegend beschränkt ist, krampfartige Schmerzen in den Waden, sowie im Unterleib. Fast alle Sexualneurotiker sind Vagotoniker, da kaum jemals Kreislaufstörungen in großer Mannigfaltigkeit fehlen: Verlang- samung der Herztätigkeit, verminderte Stärke der Herzkontrak- tionen wechselnd mit Herzklopfen, Herzasthma (Aug. vasomotoria). Veränderungen des Arterientonus, allgemeine und örtliche Anämie und Hyperämie, marmorierte Haut, häufiges Erröten und Erblassen. Auch Kälte in den Händen und Füßen, Gefühl von Brennen oder Trockenheit in der Haut gehören hierher, ebenso die. Quaddelbil- dungen oder andere Aussehlagsformen wie Erytheme auf vasomo- torisch-nervöser Grundlage. Wie bei manchen die Herzneurose, so ist bei anderen die nervöse Dyspepsie die im Vordergrunde stehende Affektion. Offenbar kommt hier die Disposition wesentlich in Frage. Gastrointestinale Atonie mit Appetitverminderung, Aufstoßen von geruchlosen Gasen, gehemmte Verdauung, Verstopfung, Entwick- lung abnormer Gärungen sind bei Sexualneurasthenikern ungemein IV. Kapitel: Sexualnenrosen 225 oft beobachtet worden; anfangs rein funktionell führen diese Be- sehwerden mit der Zeit auch organische Veränderungen wie Magen- erweiterung,-Enteroptose herbei, mit zahlreichen, akuten Symptomen wie Sodbrennen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhöe, Koliken, Gelbsucht. DerCharakter dieser Leiden wird oft erstklar, wenn man wahrnimmt, wie prompt die Störungen bei Rege lung des Sexuallebens schwinden. Es gibt auch viele Neurastheniker, bei denen die kardialen und gastrischen Erscheinungen sehr zurücktreten gegenüber solchen, die sich auf die Urogenitalsphäre beziehen. Hier sind zunächst die Stö- rungen der Harnabsonderung, Vermehrung und Verminderung des Urins zu erwähnen. Phosphaturie und Oxalurie, wie sie zuerst von französischen Porschern behauptet wurden, habe auch ich bei Sexual- neurasthenikern vielfach feststellen können, während Glykosurie und Albuminurie auf dieser Basis wohl große Ausnahmen sein dürften. Nicht ungewöhnlich ist eine typische Steißbeinneuralgie, die sogenannte Coccygodynie, welche namentlich bei Frauen häufig ist, während bei männlichen Sexualnenrotikern T e s t i k e 1 neuralgien überwiegen. Bei beiden Geschlechtern finden sieb nicht selten neuralgische Schmerzen der Harnröhre, während juckende und brennende Empfindungen der genitalen Schleimhäute wiederum öfter bei Frauen vorkommen. Wenn wir von den nervösen zu den im gewöhn Ii dien Sprach- gebrauch mehr als hysterisch bezeichneten Erscheinungen über- gehen, so tritt uns wieder eine ungemein große Vielgestaltigkeit der Symptome entgegen, die ebenfalls die Motilität, die Sensibilität und die Sekretion betreffen. Greifen wir auch hier eine Reihe der wich- tigsten Leidenszustände heraus, wie sie uns in überreicher Fülle nicht nur, wie man früher vielfach annahm, beim weiblichen, son- dern auch beim männlichen Geschlecht begegnen, so wollen wir zu- nächst die meist plötzlich einsetzenden Lähmungen nennen, die bald einseitig, bald doppelseitig, bald mehr paraplegisch, bald mehr pare- tisch auftreten. Sie erstrecken sich auf fast alle Körperteile, mit Vorliebe auf Arme und Beine. Ich sah auf sexualpathologischer Grundlage wiederholt hysterische Mogigraphien (Schreibkrämpfe) und Muskelkontrakturen verschiedener Art. Eine der häufigsten hysterischen Störungen ist das Zittern, das namentlich in den letzten Jahren, besonders während des Krieges sich ungemein ver- breitet hat, zum Teil, wohl auch durch die suggestiven Einflüsse einer psychischen Infektion. Man unterscheidet den Ruhetremor, welcher die häufigere Form ist und den Intentionstremor, der nur bei willkürlichen Bewegungen auftritt. Vielfach sieht man veitstanzartige Bewegungen sowie Tiks von großer Hart näckigkeit. Man kann hier Fälle beobachten, die nach Regelung des sexuellen Lebens völlig weichen. Das gilt auch vom Stottern. Hirschfeld, Sexualpathologie. III. ]5 IV. Kapitel: Sexualneurosen dieser iu so hohem Grade von psychischen Momenten abhängigen Sprachstörung, die ebenso wie die von den Patienten so überaus lästig empfundene Errötungsfurcht (Erythrophobie) meist sexuelle Wurzeln hat. Wie das Stammeln und Erröten sind auch das Auf- stoßen Rülpsen, das Schlucken (Singultus), ferner Nieskrämpfe, Krampfhusten, Ösophaguskrämpfe, oft in Form des bekannten Glo- bus auftretend, krampfartiges Gähnen sowie das nervöse Asthma sehr häufig sexual-hysterischer Natur. Besonders oft habe ich bei sexuellen Hysterikern gellende Schreikrämpfe gesehen, die namentlich mitten aus dem Nacht- oder Nachmittagsschlaf unter dem Bilde des Cri cephalique auftraten. Diese Anfälle hinterlassen oft große Mattigkeit und machen einen fast epileptischen Eindruck. Spasmen der Blase, das sogenannte Harnstottern, Spasmen des Sphincter ani und des Gonstrictor cunni sind weiterhin zu nennen. Bekannt sind auch die eigenartigen Spasmen, die eine Kontraktion der Blutgefäße herbeiführen und bewirken, daß bei Stichen kein Blut fließt. Die vasomotorischen Abweichungen von der Norm spielen bei der Hysterie überhaupt keine unbeträchtliche Rolle. Meist findet sich sehr stark gesteigertes Nachröten bei leisen Berührungen der Haut, gelegentlieh werden auch punktförmige Blutungen m der Haut und Schleimhaut beobachtet sowie vikariierende Menstruation, wah- rend die Menses selbst oft unregelmäßig sind. Hysterische Ödeme sind ebenfalls nicht selten zu konstatieren an fast allen Korper- stellen, besonders auch Schwellungen der Brustdrüse mit Myo- dynie. Über Blutspeien und Blutbrechen auf hysterischer Grundlage wird in der Literatur mehrfach berichtet. Ein hierher gehöriger Fall von hysterischer Pseuüophthise ( Pseudophthisie hyste- rique") steht seit mehreren Jahren in taeiner Beobachtung, Er betritt ein jetzt 25.]ah- riges Mädchen, das mir seinerzeit aus einen Lungenheilanstalt überwiesen wurde Die Patientin hatte von Zeit zu Zeit sehr profuse, sich durch Hustenstoße entleerende Blu- tungen, ohne daß es jemals gelang, einen Herd innerhalb der Lungen nachzuweisen Auswurf fehlte gänzlich. Dieses Mädchen, das einzige Kind stark nervöser Eltern war in hohem Grade e r o 1 o m a n i s c h. Hochintelligent und ^^^8™ ihrem Beruf als Privatsekretärin, erfüllte die sexuelle Sphäre geichwoW ihr. Denken, Fühlen und Wc-llen in äußerst intensiver Weise. Sie verfaßte leiden«* af liehe ■ L ebe » ^dichte und vertiefte sich in die Hauptwerke der sexnalwissenschaftlichen Literatur d e sie von den ältesten bis in die neuesten Zeiten völlig beherrschte Die . Patientin hatte einen stark sadistischen Zug, der sich besonders auf feminin geartete Manner ers reckte. Nach ihrer Übersiedlung aus dem Harz nach Berlin beobachteten wir auch hier häufige Blutungen, die bis zu i/4 Liter stark waren; das Blut war hellrot und schaumig. Der Zu- stand sah oft recht bedrohlich au,, aber alle exakt vorgenommenen Untersuchungen von verschiedenen anderen Ärzten und mir ergaben keinerlei Anhaltspunkte für ein. orga- nisches Leiden. Als sie ungefähr 3/4 Jahre in Berlin war, wo sie inzwischen eine Stellung angenommen hatte, trat sie in nähere Beziehungen zu einem Schriftsteller mit stark femininen und transvestitischen Neigungen. Beide waren in sehr starker Erotik aut- einander eingeteilt Von da ab hörten die Blutungen vollkommen auf ; während früher fast keine Woche verging, ohne daß eine Blutung eintrat, h ieben diese jetzt 7 Monate hintereinander gänzlich fort. Patientin nahm zu und fühlte sich körperlich und seelisch ungemein gebessert. Da kam es zwischen den Liebenden zu einem sehr 227 schweren Konflikt. Der junge Mann entfernte sich nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Patientin in Gesellschaft einer anderen Frau und blieb längere Zeit gänzlich ver- schwunden. Alsbald traten die Lungenblutungen mit erneuter Stärke auf. Ich habe mit anderen Kollegen die Patientin seitdem noch längere Zeit zu beobachten Gelegenheit ge- bäht, und es war unverkennbar, daß die Hämoptoe durchaus abhängig von der nach innen verdrängten oder nach außen entspannten Sexualität der Person war. So trat bei- spielsweise wiederum eine 7, jährige) Pause der Blutungen ein, als sie eine neue, zwar nicht so innige, aber doch immerhin harmonische Verbindung einging. Neben den vasomotorischen und trophisehen Störungen sind auch sekretorische bei der Sexualhysterie keine Seltenheit. Nament- lich die Schweißsekretion ist nicht selten gelähmt, häufiger jedoch gesteigert; vielfach wird örtliche Hyperhydrosis berichtet. Hyper- und Hyposekretion des Speichels, Hyperchlorhydrie des Magen- saftes und Hypersekretion des Darmsaftes, die zu reichlichen Diar- rhoen führen, Sekretionssteigerung der Milchdrüse sowie der Drüsen des Genitaltraktus, Polyurie, Anurie und Oligurie sind in diesem Zusammenhang als weitere hysterische Sekretionsstörungen zu er- wähnen. Die Reflexe zeigen gleichfalls allerlei Abweichungen vom nor- malen Verhalten. So fehlen die Palpebral- und Konjunktivalreflexe dann und wann völlig, sind aber gelegentlich auch gesteigert; ähn- lich ist es mit den plantaren und epigastrischen Reflexen. Auch der Vaginismus ist wohl stets auf hysterische Refiexsteigsrung zu- rückzuführen. Es handelt sich hier um einen mit abnorm erhöhter Reizbarkeit des Scheideneinganges einhergehenden Reflexkrampf der Mus- kulatur des Beckenbodens, der bei der Berührung des Penis mit der Vulva, oft schon bei Annäherung des Gliedes an diese, ausgelöst wird. Die aiisgezeichneten kinematograpkischen Vaginismus-Auf- nahmen von Waithard zeigen, wie sich bei diesen überempfind- lichen Frauen die Schamteile ganz ähnlich wie die Blätter einer Mimosa pudica reflektorisch zusammenschließen, und zwar nicht erst wenn eine Fingerkuppe sie unmittelbar betastet, sondern bereits wenn diese auf sie zielt; es ist der gleiche Vorgang einer automa- tischen Abwehrbewegung, wie wir ihn bei den Augenlidern wahr- nehmen, wenn es den Anschein hat, als ob eine Hand oder ein Gegen- stand das Auge treffen könnte. Die an den weiblichen Geschlechts- teilen sich kontrahierenden Muskeln sind in erster Linie der Con- strictor cunni, dann der Sphincter ani, Levator ani, Transversus perinei; manchmal sind auch die übrigen Muskeln in der Umgebung, besonders die Adduktoren des Oberschenkels, in den Krampf ein- bezogen. Der Krampf tritt oft mit lebhaftem Angstgefühl auf; er geht von selbst vorüber, wenn die Versuche der Kohabitation oder Digitaluntersuehung aufgegeben sind. Nach Eulenbnrg kommen, wenn auch selten, Fälle vor, in denen der Constrictor cunni vom Krämpfe frei bleibt, und nur der Levator 15* 228 ani damit behaftet zu sein scheint. Hierbei ist eine Einführung des Penis zwar möglich, aber die im Scheidengewölbe befindliche Glans wird durch den eintretenden Krampf jenes den oberen Scheidenteil einengenden Muskel eingeklemmt und festgehalten. Es kommt dann zu dem sogenannten Penis captivus. Fritzsch berichtet, daß er einmal eine Frau chlorofomieren mußte, um einen dickgeschwollenen Penis zu befreien. Bei manchen Tieren, namentlich bei Hunden fiudet sich die Erscheinung des Penis captivus häufiger vor wie beim Meuschen. Die diese Reflexaktion vermittelnden, zentripetalen Bahnen verlaufen größtenteils in Ästen des Plexus hypogastricus inferior, speziell des die Hauptmasse seines unteren Abschnittes darstellenden Plexus utero-vaginalis, deren spinale Fasern aus dem zweiten bis vierten Sakralnerven herstammen. Eben denselben Sakralnerven gehören aüch die zentrifugalen Bahnen für den M. transversa perinei, sphincter und Levator am an, die Z dem Ramus muscularis des N. perinei und im H. clitoridis des pudendo-haemorrhoi- dalis verlaufen. Der Ort dieses pathologischen Reflexes ist also der Hauptsache nach iedenfalls in der Höhe der obersten Sakralnerven zu suchen, während bei weiterer Irra- diation auch Gebiete des Plexus ischiadicus und selbst des Plexus lumbalis (N. obtura- torius), also bis zum zweiten und dritten Lumbalnerven hinaufreichende Aste, an der Reflexaktion teilnehmen. Das Zustandekommen des Vaginismus beding insofern nicht selten der Mann, als er entweder, durch ungeschickte Koitusversuche oder ungenügende Potenz die Frau sinnlich sehr aufregt, sie aber nicht befriedigen kann Wird nun der Koitus von neuem unternommen und endet wieder mit einem Mißerlolg, so stellt sich bei der Frau Widerwillen gegen den Beischlaf ein, und es kommt zum Vaginistaus. Auf Seiten der »ran ist wohl stets eine neuropathische Disposition vorhanden. Daneben gehen körperliche Ursachen des Vaginismus, von denen zu nennen sind: ein . sehr starker; oder abnormer Hymen, leichte pathologische Verhältnisse am äußeren Genitale der Frau, die Hyperästhesie verursachen, wie Entzündung und Exkoriation des Hymens und seiner Um- gebung, Fissuren am Introitus vaginae, entzündliche Affektionen der Follikel der Vagina, Entzündung der Carunculae myrtilormes, eigentümliche Entwicklung der Vulva wodurch sich diese über die Symphyse nach vorn erstreckt, so daß die Urethral- und Hymen al- öffnune auf der Symphyse oder auf dem Lig. arcuatum zu liegen kommen, Vulvitis, Herpes und Ekzem der Vulva, Kolpitis, Urethritis, Fissuren, auch Fissura am papilläre Wucherungen, Pruritusknötchen, Karunkeln der Harnröhre, Bartholinitis und zuweilen, gonorrhoische Infektion. Aber nicht nur pathologische Zustände der Vulva und der Vagina, sondern auch Erkrankungen der höher gelegenen Beckenorgane können Vagims- mus zur Folge haben, wie die chronische Metritis, Lageveränderüngen des Uterus und auch Oophoritis. Erschwerend würde noch eine abnorme Größe des Penis und relative Enge des Introitus der Frau wirken. Eine derartige, unüberwindliche Differenz kommt m Wirklich- keit äußerst selten vor, um so häufiger in der Vorstellung. Der Vaginismus kann sieh auch während der' Schwangerschaft und bei der Geburt geltend mach. a. Bei der Geburt kommt der hinter der Vulva stehende Kopf vorwärts unter Berührung des Hymensaums. Da hierbei Schmerzen entstehen, hält die Frau unter Anwe-ndung aller Mittel die Bauchpresse an. Wenige Züge Chloroform beseitigen die Empfindlichkeit des Hymen, und der Kopf kommt mit kräftiger Bauchpresse zum Ein- schneiden. Das sind Erscheinungen von leichtem Vaginismus, die ausnahmsweise so ge- steigert sein können, daß die Geburt so gut wie unmöglich ist. Es ist schon vor- gekommen, daß deshalb zur Perforation geschritten werden mußte. Gewohnlich tritt durch die erste Geburt Heilung vom Vaginismus ein. Doch kann dieser wieder erwachen, wenn die Ursachen (relative Impotenz des Mannes. Reizbarkeit der Vulva) fortbestehen. Erfolgt kurz nach der Entbindung, während die Vulva-Schleimhaut noch leicht verletzlich IV. Kapitel: Sexualneurosen 229 ist, häufige Kohabitation, so können Fissuren entstehen, die wieder zum Vaginismus führen. Es sei noch erwähnt, daß A. Martin Erkältung der Genitalien als Ursache des Vaginismus anführt und daß Sims eine exquisit hyperästhetische Stelle am Hymen an- nimmt, die, so lange sie nicht gereizt wird, auch keine Symptome macht. Ähnlich wie es auch bei Ejaculatio praecox ganz bestimmte Reizstellen am Penis, meist an der Glans oder am Sillens coronanus gibt, deren Friktion sofort zum explosiven Erguß führt. Der Vaginismus kommt häufig bei jungen Eheleuten vor, doch nach -Veit nur bei den besseren Ständen, während er bei der ärmeren Klasse so gut wie gar nicht vorkomme. ,.Hier überwiegt das sinnliche Bedürfnis der Frau, das durch die Kultur noch nicht ge- zähmt ist, selbst über den heftigsten Schmerz der Defloration ohne weiteres, während die , sexuell nervös' gewordene Frau der .besseren Stände' in der Furcht vor dem ihr bevorstehenden Schmerz, in oft durch abnorme Dinge hervorgerufener, sexueller Er- regung oder Überempfindlichkeit oder selten auch in der Scheu vor dem ,Unanständigen' selbst die geringe Unbequemlichkeit der Defloration zu ertragen nicht imstande ist." Ein ganz ähnlicher Ursachenkomplex wie beim Vaginisniiis des Weibes findet sich bei der Ejaculatio praecox des Mannes, der praktisch vielleicht bedeutsamsten Sexualneurose, die sich übrigens noch durch die für das Geschlechtsleben so un- günstigen Verhältnisse des Krieges in ganz enormer Weise vermehrt zu haben scheint; wenigstens vergeht in unserm Institut für Sexual- wissenschaft kaum eine Woche, in der nicht Patienten zu uns kommen, die behaupten, daß dieses Leiden erst nach dem Kriege bei ihnen aufgetreten sei. Anscheinend stellen diese bei geschlechtlichen Erregungen präzipitiert eintretenden Samenergüsse ein Über- maß der Libido dar, tatsächlich beruhen sie aber oft auf einem Mangel derselben, was schon daraus hervorgeht, daß sie sich häufig bei Personen vorfinden, deren Geschlechtstrieb auf ein anderes Objekt gerichtet ist als das, mit dem der Verkehr stattfindet. Die Ejaculatio praecox ist ein ebenso verbreitetes wie lästiges und folgenschweres Leiden, so daß seine Kenntnis für den praktischen Arzt unbedingt er- forderlich ist. Für den Mann ist diese ohne voraufgegangene Luststeigerung überaus schnell und plötzlich, häufig fast gefühllos eintretende Samenausstoßung subjektiv eine schwere Beeinträch- tigung und auch objektiv ein starker Angriff auf sein Nervensystem. Die Frau aber ist durch diesen frustranen Versuch vollends benach- teiligt, da sie in eine gewisse Spannung und Heizung versetzt wird, der keine Auslösung folgt, die vielmehr unmittelbar nach ihrem Beginn aufhört und nur ein unbefriedigtes Gefühl und Enttäuschung hinterläßt (vgl. Tafel V, S. 175). Sie ist infolgedessen nach dem Verkehr sehr niedergeschlagen oder zu Zornausbrüchen geneigt. Viele Frauen nehmen dann ihre Zuflucht zu eignen manuellen Heizungen und ge- langen auf diese Weise zur Onanie. Nach meiner sehr reichlichen Erfahrung auf diesem Gebiet stehe ich nicht an, die Ejaculatio praecox des Mannes als eine der häufigsten Ursachen ehelicher Un- stimmigkeiten anzusehen. Hinsichtlich der Einteilung der Ejacu- 230 IV. Kapitel: Sexualneurosen ratio praecox können wir die vorzeitige Ergießung bei schlaffem, halbschlaffern und erigiertem Penis unterscheiden; erstere ereignen sich oft schon bei leisem Druck, sei es durch die eigenen Ober- schenkel oder im Gedränge an einem fremden Körper. Die vor- zeitigen Ejakulationen bei erigiertem Gliede treten häufig bereits beim Einführen in die Vagina oder beim ersten oder zweiten Zustoß ein, oft auch bei manuellen Manipulationen am Membrum im ersten Beginn. Eine besondere Gruppe bilden noch die Ejakulationen ante portas, die schon bei der bloßen Annäherung durch rein psychischen Reflex stattfinden, ähnlich wie wir dies oben beim Vaginismus be- schrieben. Peyer fand in 14 von ihm untersuchten Fallen von Ejaculatio praecox fast aus- nahmslos starke Hyperästhesie und Hyperämie der Harnröhre, besonders der Pars pro- statica, vor allem des Colliculus seminalis. Dieser erhebt sich auf der in der Mitte dos Prostatateils der Harnröhre befindlichen Crista urethralis zu einem etwa 2 cm langen und ■3 4 mm hohem Hügel; auf dem Colliculus seminalis münden seitlich die Ductus ejaeu- latorii und in der Mitte der Utricuhis prostaticus. Die erhöhte Mündung der Ductus ejaculatorii hat nach! G. Walker den Zweck, das Sekret der Hoden und Samenblasen in die Achse des Harnröhrenlumens treten zu lassen, um eine möglichst gründliche Mischung mit dem Sekret der Prostata zu bewirken, das aus den Ausführungsgängen konvergierend entleert wird. Eine entzündliche Erkrankung dieses Hügels ist nun nahe- zu eine regelmäßige Begleiterscheinung aller Fälle der durch vorzeitige Ejakulation charakterisierten, reizbaren Schwäche. Da auch eine künstliche Reizung des Colliculus bei Bestreichung mit ätzender Flüssigkeit Erektion hervorruft, außerdem die Tatsache häu- figer Erektion, bei akuter Urethritis posterior allgemein bekannt ist, liegt es nahe den Zusammenhaiu; dieser Erscheinungen durch gesteigerte Reflexerregbarkeit auf dem Wege der zentripetalen Nervenbahnen zu erklären; eine Erkrankung ihrer peri- pheren Enden im Colliculus seminalis ruft diese sexuelle Übererregbarkeit hervor. Die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme wird erhöht durch die Besserung der Impotenz, die nach behobener Colliculitis seminalis eintritt. Das Bild, welches sieh der endoskopischen Untersuchung darbietet, ist folgendes: Reizzustand der Pars prostatica mit Infiltration der Schleimhaut und Schwellung des geröteten Colliculus, dessen Schleimhaut auf- gelockert erscheint und hie und da papilläre Auswüchse zeigt; später Verdickung, blasse Färbung, schwielige Degeneration, Bildung derben Bindegewebes. Die Infiltrationen setzen sich längs der Ausführungsgänge der Prostata und am Ductus ejaculatorius in der Tiefe fort. Peyer stellte bei der Hälfte seiner Fälle reizbare Blase fest, in den meisten Fällen leichte Trübung des Urins, dessen Sediment Schleim, Epithelien, Leukozyten als Symptome katarrhalischer Beizung enthält. Vielfach treten noch in derselben Nacht, in welcher die Ejaculatio praecox vorkam, reizlose heftige Erektionen oder auch Pollutionen auf. In etwas mehr als der Hälfte seiner Fälle stellte sich allmählich erhebliehe Ab- nahme des Geschlechtstriebs ein, in drei Fällen Asthma sexuale, in zehn Fällen Magen- und Darmbeschwerden, in einzelnen Fällen Schlaflosigkeit, Herzklopfen, nervöser Husten, Augenschwäche und Hodenneuralgie. In der , Behandlung der Ejaculatio praecox, die zu den wich- tigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben des Sexualarztes gehört, haben sich neben sedativen Arzneien und hydriatisch-physikalischen Medikationen, die sowohl den allgemeinen als den örtlichen Zustand gleichmäßig berücksichtigen, psychische Heilfaktoren verhältnis- mäßig noch am wirksamsten erwiesen. Es sei noch erwähnt, daß ähnlich wie beim Vaginismus auch bei der Ejaculatio praecox ku- 231 tane Reflexpunkte eine Rolle spielen, deren leise Berührung1 sofort die verhängnisvollen Muskelkontraktionen auslöst. Die Reflexveränderungen der Sexualneurotiker richten sich überhaupt nieist nach der lokalen Hautempfindlichkeit; hei Hemi- anästhesie finden wir die Reflexe gewöhnlich nur auf einer Körper- hälfte aufgehoben. Wir kommen damit noch zu den überaus zahl- reichen Sensibilitätsstörungen der Hysterie. Oft besteht eine große Berührungsempfindlichkeit der Haut. Vielfach aber auch Empfin- dungslosigkeit, sei es eine allgemeine Anästhesie oder Hemi- anästhesie oder eine regionäre. Häufig wissen die Kranken nichts von diesen Störungen; in anderen Fällen klagen sie über Taubheit oder Kribbeln in den anästhetischen Teilen. Für Kälte und Wärme- reize besteht bald Anästhesie, bald Hemianästhesie. Ähnlich ist es mit der elektrokutanen Empfindlichkeit. Die Schleimhäute weisen ebenfalls Störungen in der Berührungsempfindlichkeit auf. Manche Patienten spüren weder den Durchgang des Urin.s, noch des Sperma, noch des Stuhls. Im Munde und Schlünde sind auch oft halbseitige Hemianästhesien festgestellt worden, während die Kehlkopfschleimhäute meist doppelseitig betroffen sind. Man findet dann nicht selten Stimmlosigkeit oder Heiserkeit. Hysterogene Druckpunkte sind vielfach beschrieben, so Interkostalpunkte, supraorbitale, Skapularpunkte, kubitale-, mammale-, temporale-, in- guinale- und Wirbelpunkte, um nur einige der häufigsten hervorzu- heben. Am meisten bekannt ist die Druckempfindliehkeit in der Ovarialgegend der Hysterischen geworden, weil man fälschlicher- weise durch sie den sexuellen Ursprung der Hysterie hat beweisen wollen: Charcots „Ovarie". Es handelt sich hier um den „Iliakal- druckpunkt", eine fast konstante Druckempfindliehk^il. Man findet sie, indem man die beiden Spinae iliacae ant. sup. durch eine Gerade verbindet und beiderseits die Mitte zwischen Medianlinie und Spina iliaca bestimmt. Wie aus dieser Bestimmung hervorgeht, kann der Punkt dem Ovarium nicht entsprechen. Es spricht auch dagegen, daß der Iliakaldruckpunkt bei Männern ebenso wie bei Frauen ge- funden wird. Das Auftreten der Ovarialgien beruht, wie Lewan- dowsky hervorhebt, in erheblichem Maße auf der Untersuchungs- technik der Ärzte, die seit langem auf diese Punkte eingestellt sind. Daneben kommen leichte Neuralgien vor, namentlich im Tri- geminus, Ischiadikus und besonders häufig im Intei'kostalgebiet, Noch eine große Menge von Topalgien wäre zu nennen wie der Kla- vus der Hysterischen, die Kardialgie, die Enterai gien und die schon früher erwähnte Koccygodynie und Sakrodynie. Nicht selten treten bei Sexualneurotikern auch lanzinierende Schmerzen, bald mehr an der Oberfläche, bald mehr in tieferen Gegenden des Körpers auf. Auch die hysterischen Störungen der Sinnesorgane zeigen eine Verstärkung der anormalen neurasthenischen Symptome in fast lückenloser Reihenfolge; das Gehör ist 232 1 V . Kapitel : Sexualneurosen bald übermaßig verschärft, bald herabgesetzt, ebenso die Geschmacksempfindung, es zeigen sich halbseitige und doppelseitige Ageusien und auch viele qualitative Geschmacks- abweichungen. Von Störungen des Gesichtsieides sind zu nennen: konzentrische Ein- engungen, ringförmige und sektorenförmige Defekte, Hemianopsie und Amaurose. Der Geruch ist gleichfalls vielfach verändert, sei es nach Seite der Uber- oder Unterempfind- lichkeit. Hunger und Durst endlich bieten allerlei hysterische Eigentümlichkeiten. Ich- hatte längere Zeit eine Patientin in Behandlung, die an hysterischer Poly- dipsie litt, ein Leiden, das sich darin äußerte, daß sie unaufhörlich Wasser trank (bis 15 Liter am Tage'). Das Hungergefühl ist oft gesteigert, nicht selten allerdings auch herabgesetzt. Mannigfach beobachtet man auch seltsame Appetitsverirrungen, sowie vor allem sonderbare Idiosynkrasien. So lernte ich mehrere Fälle kennen, in denen die Patienten nicht imstande waren, Butter zu sich zu nehmen, der bloße Anblick er- zeugte bei ihnen bereits heftige Übelkeit; viele können Speisen, die sie mit besonderer Vorliebe genießen, nicht vertragen. So hatte ich einen Patienten, der leidenschaftlich gern Gurken aß, die ihm aber in kleinsten Mengen schon nachträglich größtes Unbe- hagen verursachten. Einem anderen erging es ähnlich mit Honig. Diese Idiosyn- krasien bilden einen Übergang zu den Phobien, die eine ungemein häufige Begleiterscheinung dieser neuropathischen und psychopathischen Zustände sind. Um nur einige der häufigsten Phobien zu nennen, sei an die Gewitterfurcht erinnert, ferner an die Topophobie mit ihren verschiedenen Unterarten: Scheu vor Plätzen (Agoraphobie), vor engen Räumen der Gl a n s tr o p h o bi e, an die Angst vor ver- schiedenen harmlosen Tieren, wie Mäusen, Kröten, Spinnen usw., die Furcht vor spitzen Gegenständen (Aichmophobie), oder überall mit Bazillen in Berührung zu kommen (Bazillophobie), sowie der krankhaften Menschenscheu (Anthropophobie oder Mis- anthrop i e) mit ihren Unterarten, der Misogynie und Misandrie (Weiberscheu und Männerscheu), ohne daß ein eigentlicher sexueller Antitropismus vorliegt. Eine außer- gewöhnliche Menge seltsamster Zwangsvorstellungen tritt uns hier entgegen bis zur Pantopffobie. die sich schließlich auf fast alles erstreckt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sehr viele dieser Phobien mit dem Sexualleben in engster Verbindung stehen. Bei- spielsweise habe ich die Claustrophobie bei zahlreichen sexuellen Neurasthenikern männ- lichen und weiblichen Geschlechts zu beobachten Gelegenheit gehabt. Diese Kranken fühlen sich im höchsten Maße beklommen und beunruhigt, wenn sie in einem engen Raum, beispielsweise einer Gefängniszelle, Kajüte oder einem Coupe verweilen. Sie können in einem Eisenbahnabteil nur mit dem Gesicht nach vorn am Fenster sitzen, im Bett nur liegen, wenn das Bett entgegen dem Gebrauch den Blick nach außen verstattet. Ein Patient von mir geriet in größte Unruhe, wenn ihm bei Tisch als Gast oder in einem Piestaurant ein Platz angewiesen wurde, auf dem er mit dem Rücken zum Fenster saß. Ich kannte Personen, welche heftige Angstzustände bekamen, wenn sie irgendwo mitten unter Menschen weilten; im Theater, in Konzerten, Vorträgen vermochten sie nur in den vordersten Reihen zu sitzen, sonst wurden sie von schweren Beängstigungen be- troffen. Diesen zahlreichen Störungen schließt sich die Pathop ho bie (Tabophobie, Paralysophobie usw.) an, teils die Furcht vor Krankheiten, in dem Sinne krank zu werden, teils die Furcht, bereits krank zu sein, ein Zustand, der uns in das umfangreiche Gebiet der sexuellen Hypochondrie und Grübelsucht (Zweifelsucht, Skrupelsucht, maladie de doute) hinüberleitet. Freud schreibt in der Sammlung kleiner Beiträge zur Neurosenlehre: ..Zwangsvorstellungen sind jedesmal verwandelte, aus der Verdrängung wiederkehrende Vorwürfe, die sich immer auf eine sexuelle, mit Lust ausgeführte Aktion der Kinderzeit beziehen". Ob dies für alle Fälle zutrifft, ist schwer zu beurteilen, für viele gilt es jedenfalls. Es mögen einige Beispiele aus dem unendlich großen Gebiet sexueller Zweifel su cht folgen. R. leidet an einer sexuellen Zwangsvorstellung, die ihm jeglichen geselligen Verkehr unmöglich mache. Dieselbe besteht in dem fort- währenden Gedanken, daß sein Hosenschlitz nicht in Ordnung sei. Wenn er sich unter- halte, fürchte er, einer oder mehrere Knöpfe ständen offen, und suche sich nun durch unauffälliges Betasten der Beinkleider zu vergewissern, ob dies tatsächlich zuträfe. Weil er diesen Zweifel nicht loswerde, sei er dauernd verlegen, beschämt und unausge- IV. Kapitel: Sexualneurosen 233 s e t z t i n Angst zu erröte n. Eines Tages ereignete sich der folgende Vorfall: Er war während eines Festmahls aufgestanden, um einen Bekannten zu begrüßen. Diese Ge- legenheit benutzte er, um auszutreten, und nachdem er zurückgekehrt war, befühlte er wieder in vorsichtiger Weise die Kleidung, weil er ängstlich war, sie könne wieder nicht in Ordnung sein. Tatsächlich bemerkte er zwischen seinen Oberschenkeln einen Lein- wandzipfel. Heftigst erschrocken, in der Annahme, es sei ein Stückchen seines Hemdes, stopfte er den Zipfel in seine Hose hinein. Während er noch damit beschäftigt war, sagte seine Tischdame: „Ach, Verzeihung Herr R., ich habe auf Ihrem Stuhl mein Taschen- tuch liegen gelassen." R. wurde dunkelrot, stammelte in tödlicher Verlegenheit Worte der Entschuldigung und hat seit diesem Vorfall nie wieder eine Gesellschaft besucht. Ein anderer Fall von Anthrophobic, den ich zu beraten hatte, ging von be- deutungsvolleren Zwangsvorstellungen aus. Patient, 34 Jahre alt, Techniker, macht einen sehr verschüchterten Eindruck er hat geschlechtlich völlig enthaltsam gelebt, will auch nie onaniert haben; er übergibt mir einen Zettel, auf dem er folgende Klagen verzeichnet hat: „Ich lebe in beständiger Angst, jemandem ein Leid anzutun; wenn ich Personen auf Brücken, Treppen, Türmen, Bergen sehe, bin ich bange, daß ich sie herunterstoßen werde, am meisten auf Bahnsteigen beim Einiahren von Zügen. Sehe ich ein Messer, quält mich der Gedanke, ich könnte jemanden damit stechen, sehe ich ein Beil, ich könnte jemanden erschlagen. Stock und Schirm muß ich fest umklammern, um nicht auf jemanden einzu- hauen. Nicht um meine Person ist mir bange, sondern um die anderen. Ich glaube, ich könnte ihnen Schaden zufügen durch Versagen der Willenskraft. Beim Geldwechseln muß ich mehrmals nachsehen, ob der Kaufmann auch meinen Geldschein an sich ge- nommen hat. Einen geschriebenen Brief muß ich mehrere Male durchlesen, ob auch nichts Unrechtes darin steht. Dies könnte ich fortsetzen ad infinitum. Sitze ich oben im Theater und habe ein Glas vor mir, so entsteht eine namenlose Angst, ich könnte es ins Publikum hinunterstoßen." Patient klagt außerdem über große Unruhe, Errötungsfurcht, über- mäßige Schweißabsonderung, Schreibstottern, sehr schlechten Schlaf, unterbrochen durch sehr häufigen Harndrang. Es besteht eine Neigung zur Selbstbezichtigung. Er hat einmal eine anonyme Anzeige gegen sich selbst erstattet wegen Notzucht, an der kein wahres Wort war. Er schließt seine Mitteilungen mit dem Satz: „Die Abstinenz scheint schuld an meinem Nervenleiden zu sein." Ohne uns diese Ansicht völlig zu eigen zu machen, da es sich augenscheinlich um einen Psychopathen a priori handelt, gibt die auffallende Tat- sache zu denken, daß alle Erscheinungen nachließen, als Patient, der durchaus nicht etwa impotent war, zu einem regelmäßigen Geschlechtsverkehr überging. Dieser führte zur Ehe. Nachdem er vier Jahre verheiratet war, sprach ich ihn wieder; er sagte mir, daß die Zwangsvorstellungen kaum noch aufträten, fast nur, wenn er längere Zeit allein sei, auch seine sonstigen nervösen Beschwerden seien nahezu verschwunden. Jeder beschäftigte Arzt dürfte Fälle in der Sprechstunde ge- sehen haben, in denen sich die Patienten grundlos den schwersten, auf sexuellem Gebiete liegenden Befürchtungen hingeben. Eine große Anzahl hypochondrischer Sexualleiden treten uns unter dem Bilde sexueller Phobien entgegen, unter denen am längsten bekannt, wenn auch keineswegs am verbreitetsten, die Sypkilido- p h o b i e ist. Welcher Syphilidologe kennt nicht den Syphilido- p hoben, diese ebenso verängstigte wie auf die Dauer lästige Per- sönlichkeit, die jede Rötung an der Glans für einen Primäraffekt, jeden Rachenkatarrh für einen Rachenschanker hält; diesen „Quäl- geist", der förmliche Entdeckungsreisen an seinem Körper unter- nimmt, um irgendwo ein Fleckchen oder eine Pustel aufzustöbern, die eine entfernte Ähnlichkeit haben mit dem ihm aus Lexiken, medizinischen Atlanten und Enzyklopädien nur allzu gut bekannten 234 IV. Kapitel: Sexualneurosen Bilde luetischer Hautausschläge. Iu ihrer anatomischen Unerfahren- heit stoßen sie dabei häufig auf völlig normal gehaute, bisher aber unbeachtete Stellen ihres Körpers, in denen sie eine krankhafte Neubildung vermuten. Wenn sie in der Tiefe der Gewiebe ein Lymphknötchen tasten, meinen sie, es sei eine luetische Drüsen- sehwellung; erblicken sie post coitum die Lippen der Fossa navicu- laris etwas stärker geschwollen, halten sie sich für infiziert; nament- lich der aderreiche und drüsenreiche Sulcus coronarius glandis ist eine Prädilektionsstelle ihrer Inspektionen und Suspek- tionen. Oft verbringen diese Leute Tag für Tag eine halbe Stunde und mehr in völlig nutzloser Weise damit, jede Partie ihrer Haut und Schleimhaut abzusuchen, die sie ihrem Auge zugänglich machen können, wobei sie sich vielfach eines Hand- und Wandspiegels be- dienen. Nicht selten besitzen diese Besorgnisse insofern eine gewisse Unterlage, als die Betreffenden tatsächlich vor Jahren einmal an einer Syphilis erkrankt gewesen sind. Oft ist aber weder eine frühere Infektion dagewesen, noch hat überhaupt ein Koitus vorher stattgefunden, der so kurze Zeit zurückliegt, daß er als Ansteckungs- quelle in Betracht kommen könnte. Das ist aber auch gar nicht not- wendig, da sie irgendwo gelesen haben, daß es auch indirekte Über- tragungsmöglichkeiten gibt, beispielsweise auf dem Abort, den viele Sexualhypochonder nur auf dem Deckel hockend oder sorg- sam vorher mit Papier bedeckt zu benutzen pflegen. Ich behandelte vor vielen Jahren einen Patienten, der jeden Monat mit einem Mäd- chen zu mir kam, das ich ante cohabitationem auf seinen Gesund- heitszustand untersuchen sollte. Wenn ich ihm aber auch versichern konnte, daß nichts Krankhaftes an dem Mädchen nachzuweisen sei, kehrte er post coitum, trotzdem er niemals ohne Präservativ den Akt vollzog, doch jedesmal wieder, um mir allerlei verdächtige Stellen — meist unschuldige Aknepusteln - - zu demonstrieren. Über die wissenschaftlichen Fortschritte erhalten sich diese Per- sonen natürlich stets auf dem laufenden. Seitdem die Wassermann- schen Reaktionen bekannt sind, lassen sie mit Vorliebe Blutunter- suchungen an sich vornehmen. Fällt der Befund negativ aus, sind sie allerdings keineswegs überzeugt, keine Syphilis zu haben, da sie inzwischen in Erfahrung gebracht haben, daß auch der negative Wassermann keineswegs Syphilis ausschließt. Nicht minder häufig wie der Syphilis- ist der Tripperhypochonder. Jede Wolke im Urin wird als sogenannter Tripperfaden angesprochen, gleichviel ob früher einmal Gonorrhoe bestand oder nicht. Man kann diesen Leuten noch so oft klarmachen, daß die Flüssigkeit, die sie aus der Harnröhre herauspressen oder sich ex libidine entleert, der Pro- stata oder den Oowperschen Drüsen entstammt: sie ruhen nicht eher, bis sie einen Kurpfuscher oder Charlatan gefunden haben, meist IV. Kapitel: Sexualneurosen 235 einen, der Rat und Hilfe in diskreten Leiden annonciert, welcher ihnen bestätigt, daß es sich doch um Tripper, wenn auch, wie er mystisch hinzufügt, möglicherweise nur um einen „Überreizungs- tripper" handelt. Ein sehr großes Kontingent zu den sexuellen Hypochondern stellen die Mastur- bati o n s h y p o c h o n d e r , die aus Angst vor den Folgen der Onanie ihres Lebens nicht mehr froh werden können. Zu der- Furcht gesellen sich hier noch die schweren Selbstvorwürfe darüber, daß sie im Kampf gegen „die Fleischessünde", dem „stummen und geheimen Laster", der „verfluchten Selbstbefleckung" elend unterlegen sind, trotz aller guten Vorsätze und Gelübde. Wie der Syphilidophobe im Kurpfuschertum, finden die Besorgnisse des Masturbationshypoehonders in jenen ebenso gewissenlosen wie marktschreierischen Schriften Nahrung, die, um ein Heilmittel oder eine Heilmethode anzupreisen, die Folgen der Jugendsünden und Jugendverirrungen in den schwärzesten Farben malen, und mehr als einen jugendlichen Selbstmörder auf dem Gewissen haben. Ich habe wiederholt ältere Männer gesehen, die noch fürchteten, rückenmarksleidend zu werden, weil sie vor 20 und mehr Jahren onaniert hatten. Besonders quälen sich die Masturbationshypochonder mit dem Gedanken ab, jedermann könne ihnen ansehen, was sie getrieben haben. Sorgfältig studieren sie ihr Aussehen vor dem Spiegel und sind tief niedergeschlagen, wenn sie die sogenannten blauen Ränder oder Schatten unter den Augen zu beobachten glauben, die in Wirklichkeit mit Onanie nicht tlas ge- ringste zu tun haben. Ein junger Mann, den ich vor einigen Jahren behandelte, redete sich ein, daß sein Haupthaar infolge der Onanie ganz dünn, „schütter", wie er sagte, geworden wäre; er traute sich nicht in ein Theater, Konzert oder einen Vortrag zu gehen, weil jede hinter ihm sitzende Person dies wahrnehmen würde. Dieser Mann hatte allerdings ungewöhn- lich stark masturbiert, seit 10 Jahren täglich 3 — 4mal, war aber im übrigen ein sehr robuster Mensch. Trotzdem die Onanie namentlich in Form der Klitorisreizung unter den Frauen kaum weniger verbreitet ist wie beim männlichen Geschlecht, findet man die sexuelle Hypochondrie im allgemeinen und die Masturbationshypochondrie im beson- deren unter ihnen weniger häufig. Immerhin habe ich eine ganze Anzahl Mädchen und verheirateter Frauen "zu beobachten Gelegenheit gehabt, die infolge der Onanie an schweren B e ä n g s t i g u n g s z u s t«ä n d e n litten. So eine Dame, die in der Ehe dazu gelangt war, jedesmal post coitum zu masturbieren. Ihr Mann litt an Ejaculatio praecox, die, wie oben erwähnt, eine der häufigsten Gründe matrimonialer Onanie ist, da sie eine nervöse An - und Abspannung, aber keine) Entspannung herbeiführt. Später nahm sie die Reizung der Klitoris auch ohne vorausgegangene Kohabitation vor. Sie ka'm zu mir in der Annahme, daß sie durch ihr Vorgehen sich ein Unterleibsleiden zugezogen hätte. Sie machte sich darüber die bittersten Selbstvorwürfe, und es war nicht leicht, sie davon zu überzeugen, daß es sich in Wirklichkeit nur um einen verhältnismäßig harmlosen Fluor albus handelte. Den Masturbationshypocbondern schließen sieh die P o 1 1 u - tionshypoebonder an, die nicht von der Vorstellung los- kommen können, daß jede unfreiwillige Samenentleerung eine sehr bedenkliche Krankheitserscheinung sei, die zum mindesten einer er- heblichen Schwächung ihres Körpers gleichkomme. Von dem Arzt, der ihnen sagen würde, daß 3^-4 Pollutionen im Monat bei einem sonst abstinent lebenden Menschen nichts zu bedeuten hätten, wollen sie nicht viel wissen. Es gibt aber auch Personen, die nicht nur glauben, die Ipsation und Pollution, sondern selbst der Koitus innerhalb und außerhalb der Ehe sei ihrer Gesundheit schädlich. Viele dieser Kohabitationshypochonder haben sich für 236 IV. Kapitel: Sexualneurosen ihre sexuelle Betätigung ein Höchstmaß zurechtgelegt und sind sehr mißmutig, wenn sie, was fast stets vorkommt, dieses Maß um ein Beträchtliches überschreiten. Unmittelbar nach dem Koitus fangen sie an zu jammern und zu klagen, zeihen sich der Schwachheit und hevorwürfen nicht nur sich selbst, sondern den anderen Teil mit ernstlichem Tadel-; sie nehmen der Frau das Ehrenwort ab, oder lassen sich wenigstens von ihr in die Hand versprechen, daß sie sich nicht wieder von ihnen verführen läßt; ja, es sind mir Fälle aus Ehescheidungsprozessen bekannt geworden, in denen diese sexu- ellen Feiglinge die Frau, die sie eben noch mit Liebkosungen überschütteten, gleich nach dem Akte beschimpften und mißhan- delten. Dieser Umschlag ist nicht ausreichend durch die Unlust- reaktion erklärt, welche vielfach zunächst der Lusthöhe folgt, ehe das Gefühl eines wieder balancierten und beruhigten Nervensystems Platz greift, in jener Erscheinung, die in dem bekannten Satz „omne animal post coitum triste" zum Ausdruck gelangt, es spielen hier vielmehr hauptsächlich hypochondrische Zwangsideen eine Rolle, der Koitus als solcher schade der geistigen und körper- lichen Gesundheit, er sei etwas „Niedriges", -„Tierisches", eine „Schwäche oder Sünde des Fleisches". Praktisch bedeutsamer als alle bisher genannten ist aber die Impotenz hypo- chondric, das sexuelle Lampenfieber, bei dem das Hauptsymptom der Mangel jeder objektiven Unterlage der Impotenz ist. Den Impotenzhypochon- dern fehlt nichts als das sexuelle Selbstvertrauen. Oft haben sie das erstemal, als sie zu einer Dirne gingen, aus irgendwelchen meist berechtigten Hem- mungen heraus den Koitus nicht vollziehen können und scheuen jetzt — neuropathisch, wie sie sind — vor jedem weiteren Versuch zurück aus Furcht vor der sogenannten Blamage. Denn trotzdem sie genau wissen, daß. Ehre und Erektion nichts mit- einander zu tun haben, empfinden sie den Mangel der Erektion doch als etwas Schimpf- liches und Ehrenrühriges. Das Übelste an diesen Fällen ist, daß die Impotenzhypochondrie, also eingebildete Impotenz, wirkliche Impotenz zur Folge haben k a n n. Die Besorgnis, daß die Erektion ausbleiben wird, bewirkt eine innere Unruhe, die- ihrem automatischen Eintreten nichts weniger als günstig ist; es gibt Leute, für die jeder Geschlechtsverkehr eine Art Examen rigörosum ist. Die Erwartung des Mißerfolges vollends hat eine suggestive Kraft. Ich habe Männer gesehen, die sich bis hoch in die Dreißiger nicht an ein Weib herantrauten, trotzdem es ihr sehnlichster Wunsch war, mit ihm zu- verkehren. Hie und da nahmen sie einen Anlauf; je näher sie dem Ziele kamen, um so unsicherer, unbeholfener und befangener wurden sie, und wenn es vielleicht nur noch eines letzten kurzen Entschlusses bedurft hätte, ergriffen sie die Flucht, um daheim zu dem verhaßten Surrogat solitärer „Handarbeit" zu greifen. Vor einem Jahre behandelte ich einen Chemiker, der im Januar 1915 in Polen als Kriegsfreiwilliger gefallen ist. Es war ein ausgezeichneter, geistig hochbedeutender Mensch. Als ich ihn sah, war er 36 Jahre alt; mit 23 Jahren war er verlobt gewesen; seine Braut, die er sehr liebte, wurde einen Monat vor der festgesetzten Hochzeit geisteskrank und mußte einer Irren- anstalt überführt weiden, in der sie sich noch jetzt befindet. Er litt ungemein unter der Entlobung, die sich nach einiger Zeit als notwendig herausstellte. Später ging er nach Amerika und suchte in äußerst intensiver, erfolgreicher Arbeit Trost und Vergessenheit. Etwa 30 Jahre alt, entschloß er sich, ein Bordell aufzusuchen, mit negativem Ergebnis. Seitdem war er von seiner Impotenz fest überzeugt. Kurz bevor er mich aufsuchte, fand ein erneuter Versuch statt, gleichfalls vergeblich. Durch Bcrsuasion und Hypnose ge- IV. Kapitel : Sexualneurosen 237 lang es, sein Selbstvertrauen so weit zu heben, daß er sich nach etwa einem Monat ein „Verhältnis" suchte, mit ihr verkehrte und reüssierte. Er war sehr glücklich, blieb mit dem Mädchen zusammen und holte viel Versäumtes nach. Im Sommer reisten beide nach der Schweiz, wo er dann vom Ausbruch des Krieges überrascht wurde. Er meldete sich als Kriegsfreiwilliger und4iel am ersten Tage, den er an der Front verbrachte. — Nament- lich treten in der Verlobungszeit ziemlich oi't Impotenzzwcifel und -skrupel auf. Ich kann wohl sagen, daß ich mehr als einen Bräutigam, der mir immer wieder die schweren Bedenken schilderte, mit denen er dem Hochzeitstag und der Brautnacht ent- gegensah, bildlich genommen, förmlich in das Ehebett stieß. Viele glauben, den Akt nicht vollziehen zu können, weil sie nicht mit dem Bau der weiblichen Organe genau Be- scheid wissen; sie hätten zwar gelegentlich mit Prostituierten verkehrt, bei denen aber doch die Hauptschwierigkeiten durch manuelles'Entgegenkommen fortfielen. Trotz eifrigen Studiums anatomischer Atlanten wären sie nicht klüger, sondern eher kon- fuser geworden. So manchem von diesen Skrupeln gequälten Bräutigam und jungen Ehemann habe ich auf seinen dringenden Wunsch in meiner Sprechstunde die Lage der einzelnen Teile, vor allem des Introitus vaginae aufgezeichnet, ohne ihn indes dadurch vollkommen beruhigen zu können. Eine Untergruppe für sich bilden die Deflorationshypo- c hon der. Die Zerstörung des weiblichen Hymens erscheint ihnen als eine Leistung, der sie sich .nicht gewachsen fühlen. Vor kurzem zeigte mir ein Kichter aus Mitteldeutschland die Geburt eines Sohnes an; der Herr war 10 Monate vorher bei mir gewesen mit dem Er- suchen, seiner Frau das Hymen einzuschneiden. Ich nahm den ein- fachen Eingriff vor. Der Mann war bereits 8 Jahre verheiratet, ohne sich bisher zur Defloration entschließen zu können; er glaubte nicht, die körperliche Kraft zu besitzen, die erforderlich sei, das Hymen zu zerstören, „dazu müsse das Glied doch so hart sein, wie ein Stein", meinte er, auch könne er sich nicht von dem Gedanken losmachen, daß es sich im Grunde doch um eine Körperverletzung handle. Andere verfallen auf die Zwangsidee, ihre Frau sei „zu eng ge- baut", eine weitverbreitete laienhafte Vorstellung. Auch hier muß man oft, da verbale Methoden versagen, zu realeren Mitteln seine Zuflucht nehmen. So schlug ich in einem solchen Falle dem Ehe- mann vor, ich würde der 'Frau die Vagina mit Mutterspiegeln von zunehmender Stärke allmählich erweitern. Er war damit ein- verstanden. Ich fährte ein Milchglasspekulum nach dem anderen in die Vagina, und er ging sehr beruhigt von dannen, als ich ihm das letzteingefükrte demonstrierte, das den Umfang seines Membrums um ein Beträchtliches übertraf. Am schwierigsten sind nach meiner Erfahrung die Selbstquäle- reien zu beseitigen, die sich auf die eigene Beschaffenheit des Sexualhypochonders beziehen. Sie tragen meist auch noch in stärkerem Grade den Charakter von Zwangsvorstellungen im West- phalschen Sinne, der „obsessions" Magnans, als die ebengenannten Skrupel. Da gibt es Männer mit völlig normal gestaltetem Sexual- apparat, die sich einreden, ihr Membrum sei zu klein, damit könnten sie doch nicht heiraten, da würde sie ja jede Frau auslachen. Andere peinigen sich mit dem Gedanken, es sei zu groß; sie müßten sich 238 IV. Kapitel: Sexualneurosen schämen, einer Frau dergleichen zuzumuten; ein Patient suchte mich kürzlich mit dem Bemerken auf, seine Eichel wäre zu kalt. Wieder andere quälen sich mit der Vorstellung, ihr Glied sei infolg'e ex- zessiver Onanie ganz unförmig geworden, während einige behaupten, es hätte nicht die richtige Stellung; statt einer aufrechten nähme es in statu erectionis eine wagerechte Richtung an. Viele entdecken eines Tages vor dem Spiegel, ihr rechter Hode läge tiefer als der linke, und glauben, der Arzt wolle sie nur beruhigen, wenn er ihnen versichert, das sei meistens so und schade nichts. Manche sind be- kümmert, weil ihre Hoden zu klein, andere weil sie zu groß seien. Eine seltsame Zwangsidee beobachtete ich mit Dr. Burchard vor längerer Zeit. Ein Mann von etwa 50 Jahren fand sein Skrotum, das im übrigen von völlig normaler Größe war, zu winzig. Er wollte wissen, ob es nicht Mittel gäbe, den Hodenbehälter bis zur Mitte des Oberschenkels zu verlängern. Es wäre sein sehnlichster Wunsch, einen so großen Hodenbehälter zu besitzen. Wir sollten dies durch Paraffininjektionen bewerkstelligen. Man kann sich kaum vor- stellen, wie dieser Mann sich mit dieser grotesken Idee abquälte; er weinte wie ein Kind, als wir ihm seine Bitte abschlugen; waren wir doch, wie er immer wieder sagte, seine letzte Hoffnung gewesen. Wiederholt sah ich auch Männer, die zwitterhafteBildungen an sich gefunden haben wollten. Manche zeigten die Verlängerung der Hodensackraphe am Damm, in der sie eine rudimentäre oder blinde Scheidenöffnung vermuteten. Ich betonte, daß einige dieser sexuellen Skrupel hauptsächlich während der Verlobungszeit auftreten. Das gilt noch in höherem Maße bei einer nicht minder bedeutenden Serie sexueller Zweifel und Bedenken, nämlich bei denen,, die sich nicht sowohl auf das körperliche, als das seelische Zueinanderpassen be- ziehen. An sich sind ja im Sinne des Schillerschen: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet" sorgsame Überlegungen gewiß vor Eingehung jeder Ehe, angebracht; es gibt aber Fälle, in denen die hier zutage tretende Unentschlossenheit und Grübelsucht einen entschieden krankhaften Charakter tragen. Vor längerer Zeit suchte mich einmal ein spaniolischer Jude aus Rotterdam auf. Er hatte sich auf einem Balle kurz entschlossen mit der '20jährigen Tochter einer angesehenen Familie verlobt. Er selbst war 28 Jahre alt. Als er am Tage nach dem Verlöbnis seiner Braut den Ring brachte, fand er, daß ihre Finger eine ihm abstoßende zu runde Form und Röte hätten; die Hand, um die er an- gehalten hatte, gefiel ihm nie ht mehr. Vor allem aber wäre das Mädchen ihm zu kühl entgegengekommen; es sei klar, daß sie ihn nur aus Berechnung nehmen wolle, da er wohlhabend sei. Diese Auffassung gewann in ihm immer mehr die über- hand, und als am Sonntag nach der Verlobung die eingeladene Verwandtschaft zum Gratulationsempfang erschien, gab er ihr während des Empfangs den Ring zurück und löste das Bündnis auf. Unmittelbar darauf wurde er von Gewissensbissen gepeinigt; Tag und Nacht zermürbte er sich mit dem Gedanken, er habe dem Mädchen ein schweres Unrecht zugefügt, sie in unverzeihlicher Weise bloßgestellt. Er leistete Abbitte und hielt schriftlich das zweite Mal um sie an. Als er ihr Jawort hatte, begannen seine Zweifel von neuem. Nach einer Woche wieder Entlobung. Das wiederholte sich im ganzen dreimal. Nach der vierten Verlobung kam er mit seinem alten Vater in ver- zweifelter Selbstmordstimmung zu mir; er wußte tatsächlich nicht mehr ein noch aus. Wir kamen überein, daß die Verlobung endgültig aufgehoben werden und er vorläufig IV. Kapitel : Sexualneurosen 239 hier bleiben sollte; es bedurfte aber langer Zeit, bis er sein altes Gleichgewicht wieder- erlangt hatte. Sind so krasse Fälle auch verhältnismäßig- selten, so sind m i n d e r s c h w e r e doch nichts Ungewöhnliches. Ich habe mit der Zeit den Eindruck gewonnen, daß die auf sexueller Hypochondrie und Skrtipelsueht beruhende Unent- schlossenheit neben den sexuellen Perversionen eine der häufigsten Ursachen der Ehelosigkeit ist. Bei Frauen sind ähnliche Zustände etwas seltener, doch habe ich beispielsweise bei einer Telephonistin, die mir von ihrem Bräutigam zugefübrt war, während vieler Jahre einen ähnlichen Fall beobachten können. Auch hier war die schließliche Lösung des Verlöbnisses nicht zu umgehen, nachdem der Hochzeitstag nicht weniger als sechsmal angesetzt und immer wieder einig% Tage vor dem Termin auf Veranlassung der Braut abgesetzt worden war. Be- sonders häufig sind es Eifersuchtsskrupel, die den Inhalt der Zwangsvorstellungen bilden. So suchte mich ein Regierungsrat auf, der von der fixen Idee verfolgt wurde, seine Gattin sei, als er um sie warb, nicht mehr Jungfrau gewesen. Schon vor der Hochzeit hätte er sich dieses Verdachts nicht erwehren können ; er sei in seiner Meinung bestärkt worden, als der erste Verkehr sich verhältnis- mäßig sehr leicht vollzogen hätte. Bisher hätte er seiner Frau den wahren Grund seiner Verstimmung verschwiegen, aber jetzt könne er es nicht mehr, er müsse endlich Gewißheit haben. In einem anderen Falle malträtierte ein junger Ehemann seine Gattin unausgesetzt, ihm jede sexuelle Annäherung zu schildern, die ihr von männlicher oder weiblicher Seite in ihrem Leben vor- gekommen sei. Einige Beischlafsakte, die vorehelich von zwei Offizieren mit ihr vollzogen waren, mußte sie mit den kleinsten Einzelheiten berichten. Offenbar lag diesen Quälereien eine algolagnistische Komponente zugrunde, die überhaupt bei skrupelsüchtigen Patienten häufig ist, sie fühlen sich um so wohler, je mehr sie leiden und leiden um so mehr, je wohler sie sich fühlen. Recht intensiv ist der bei manchen Neuropathen auftretende Eifersuchtswahn, welcher sich auf die Vorstellung eines Ver- kehrs aufbaut, den ihre Bräute oder Frauen früher einmal gehabt haben. Manchmal ermangeln diese Zwangsgedanken jeglicher Unterlage; in andern Fällen dringen sie so lange mit Fragen in die armen Opfer ihrer Liebe ein. bis diese irgendein Interesse für irgend- einen Mann in längst vergangener Zeit zugeben. Ein auswärtiger Kollege, der außer vielen anderen Ärzten auch mich um Rat anging, — vor allem wollte er wissen, ob er unter den vorliegenden Um- ständen heiraten dürfe — , litt unsagbar unter der Eifersucht auf einen seit langem verstorbenen Mann, von dem 240 IV. Kapitel: Sexualneurosen seine Braut sich auf sein unausgesetztes Quälen hin das Geständnis hatte abpressen lassen, er habe einmal mit ihr verkehren wollen. Auch der folgende! Brief eines dänischen Patienten gehört in das Gebiet sexueller Skrupelsucht; er lautet: „In untenstehenden Zeilen will ich den Versuch machen, Ihnen ein Bild meines trostlosen Seelenzustandes zu geben. Ich stehe jetzt im 39. Lebensjahre und war von frühester Jugend an äußerst empfindlich gegen alles, was sich auf das Sexuelle bezog. In späteren Jahren hat sich diese Empfindlichkeit noch bedeutend ge- steigert, so daß mir zeitweise dadurch die Ausübung meines Berufs fast zur Unmöglich- keit wurde, da meine Kräfte durch den vergeblichen Kampf gegen diese sexuellen Zwangsvorstellungen und Gedanken vollständig aufgerieben wurden. Seit nun ungefähr 16 Jahren verfolgen mich fast unausgesetzt die qualvollsten Vorstellungen, die sich auf das Vorleben meiner Braut beziehen, und zwar auf den Verkehr, den sie früher mit anderen Männern gehabt hat. Meine Phantasie spiegelt mir da Handlungen vor, die in mir eine rasende Eifersucht bewirken und mich derartig erregen und ängstigen, daß mir Selbstmiflfe nur als einziger Weg übrig- zu bleiben scheint. Die Sprache ist zu arm. Worte zu finden, um Ihnen diese entsetzliche Seelenpein zu schildern. Wenn ich diese Vorstellungen und Erinnerungen mit Gewalt abzuschütteln suche, so sind sie im nächsten Augenblick gleich wieder in einer anderen Gestalt und auf einen anderen Eall sich be- ziehend da. Mit einem Wort, ich bin machtlos dagegen und muß unterliegen, wenn ich keine Hilfe finde. Ohne Unterlaß kämpfe ich dagegen an, aber leider ohne jeden Erfolg. Ich bin gezwungen, meine Braut fortwährend zu befragen über das, was sie am liebsten vergessen möchte. Trotzdem es meinem Feingefühl aufs höchste widerstrebt, an dem zu rühren, was ihr so überaus peinlich ist, zwingen mich diese Vorstellungen und Gedanken, die sich nicht zurückdrängen lassen, dazu, sie immer wieder über Einzelheiten zu befragen, so daß auf diese Weise das Leben für beide Teile zur unerträglichen Qual wird, und ich mir nicht ausdenken kann, wie das enden soll. Eine unbeschreibliche Angst bis zum Schweißausbruch geht immer Hand in Hand mit diesen Vorstellungen und Gedanken, so daß ich mir manchmal kaum mehr zu helfen weiß. Bemerken möchte ich noch, daß der eben beschriebene Zustand, nämlich diese eifer- süchtigen Zwangsvorstellungen, meistens anfallsweise auftritt und manchmal 14 Tage bis 1 Monat, diesmal sogar schon über 6 Wochen dauert. — Gewöhnlich folgt, nachdem der Anfall vorbei ist, ein Zeitabschnitt, während dem ich verhältnismäßig Ruhe habe, ob- wohl ich eigentlich nie ganz frei bin. Meistens tritt der heftigste Anfall in den Monaten Oktober, November, Dezember auf, seltener im Frühjahr oder Sommer. — Zum Schluß möchte ich hier noch wieder- holen, daß ich nur in der höchsten Verzweiflung, nachdem ich alles ohne Erfolg versucht habe, mich an Sie gewandt habe." Ein ähnlicher Fall von Eifersuchtsneurose dürfte auch der Gerichtsverhandlung zugrunde liegen, über welche neuerdings eine Zeitungskorrespondenz unter der Marke: „Eifersüchtig auf Möbel" berichtete: „Der Bankbeamte D. und seine Gattin Else W. haben beim Zivilgericht das Ansuchen um Trennung ihrer Ehe gerichtet und dies mit unüberwindlicher Abneigung begründet. Heute fand hierüber vor einem Senate die Verhandlung statt. D. W. hatte seine Gattin kennen gelernt, als ihr1 erster Gatte noch lebte. Er bestürmte sie, sich von ihrem Manne scheiden zu lassen und ihn zu heiraten; sie ging auf diesen Vorschlag nicht ein. Als aber ihr Gatte nach kurzer Ehe starb, heiratete sie ihn. In der Ehe zeigte es sich, daß der Gatte von einer krankhaften Eifer- sucht befallen war; er war eifersüchtig nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen, mit denen seine Frau verkehrte. Dieser krankhafte Zustand erstreckte sich sogar auf die Möbel; die Erinnerung an den ersten Gatten tat dem zweiten so weh, daß Else W. die Möbel verkaufen mußte. Er schrieb ihr vor, wie sie sich kleiden, welche Frisur sie tragen sollte und quälte sie aufs äußerste, wenn sie diesen Vorschriften nicht nachkam. Die Gattin schrieb diesen Zustand einer schweren Neur- 241 astheme zu, unter der ihr Gatte leide und die das Zusammenleben zu beiderseitiger Qual machte. Als ihr Gatte einmal vom Felde auf Urlaub nach Wien kam, hatte er sie nicht einmal besucht. Aus der glühenden Liebe von einst war scheinbare Gleicho-ültio- keit geworden. Der Ehebandvertreter führte aus, man habe es mit einem offenbar Nervenkranken zu tun. Es müsse, ehe es zur Ehetrennung komme, von ärztlicher Seite das letzte Wort gesprochen werden. Handle es sich etwa um einen vorübergehenden Zu- stand, der Aussicht auf vollste Wiederherstellung bietet, so sei dem derzeitigen Wunsch nach Ehetrennung nicht stattzugeben. Die Eheleute haben keine unüberwindliche Ab- neigung gegeneinander, das beweist die Art ihres Verkehrs in ruhigen Stunden. Die beiden von höchster Intelligenz erfüllten Leute werden sich wiederfinden." In den letzten Jahren bin ich besonders häufig- der Vorstellung begegnet, die Ehefrau oder der Ehemann seien homosexuell. Geraume Zeit grassierten diese Vermutungen förmlich epidemisch unter Ehe- leuten. Noch vor nicht langer Zeit bat mich eine Frau aus dem Arbeiterstand, ich möchte doch ihrem Manne die Idee ausreden, mit der er sie unausgesetzt verfolge, daß sie gleichgeschlechtlich ver- anlagt sei. Als ich mir den Mann kommen ließ, berief er sich darauf, er habe gesehen, wie ein Mädchen, das seiner Frau begegnete, die Zungenspitze hin- und herbewegt habe. Das hätte den Verdacht, den er schon längst gehabt hätte, zur Gewißheit gesteigert. Ein anderer Patient schreibt mir: „Mir ist aufgefallen, daß meiner Frau andere Frauen zunickten und einen spitzen Mund machten; dann habe ich festgestellt, daß junge Mädchen, auch eine Verkäuferin mit hübschem Gesicht, stark gebaut, mit gesunder Gesichtsfarbe und schönen roten Lippen, von meiner Frau auffallend lange angesehen wurden, so daß die Mädchen gar nicht aufzublicken wagten. Selbsl meine' Tochter aus erster Ehe wird von meiner Frau stark fixiert, und hauptsächlich der Mund hat es ihr angetan. Ich habe bemerkt, wie das Auge meiner Frau ein ganz anderes Aussehen bekam, wenn sie meiner Tochter nach dem Hund gesehen hatte^wobei auch das untere Augenlid anschwoll. Dann habe ich beobachtet, da!.',, wenn sie längere Zeit meiner Tochter nach dem Mund gesehen hatte, .sie eine Hand auf dem Schoß" hat, und einen Finger da, wo der Kitzler liegt, durch die Kleidung stark eindrückt, oder wenn es nicht anders geht, wenn sie denkt, ich könne es beobachten, dann geht sie in einen anderen Raum und reibt ein wenig." . Oft trägt die Zuversicht, mit der diese Vorstellungen auftreten, einen fast paranoiden Charakter. In noch höherem Grade ist dies der Fall bei der letzten Gruppe sexueller Selbst q u ä 1 e r e i e n , die ich noch kurz besprechen möchte. Es handelt sich um die meist, wenn auch durchaus nicht immer geschlechtlich abnorm fühlenden Männer und Frauen, bei denen sich ein förmlicher Verfolgungswahn herausgebildet hat. Da kam eines Tages ein Mann aus Hamburg zu mir, der behauptete, jedermann hielte ihn für homosexuell, weil er keinen Ehering am Finger trage. Den sehr naheliegenden Rat, einen eheartigen Ring aufzuziehen, um von seinen Skrupeln frei zu werden, lehnte er ab. Viele, die sich vielleicht vor Jahren einmal normwidrig betätigt haben, schrecken bei jedem ungewöhnlichen Klingelgeräusch zusammen: „jetzt sei alles verraten", „die Kriminalbeamten ständen gewiß schon draußen, um sie abzuholen"; schrillt das Telephon, fürchten sie einen Er- Hirschf eld, Sexualpathologie. ITI. 26 IV. Kapitel: Sexualneurosen Dresser- auf der Straße glauben sie sich von Geheimpolizisten ver- folgt Wenn ich nur eine Wohnung fände, in der man nicht von außen hineinsehen könnte", sagte mir ein solcher Skrupulant der mir schon seit 12 Jahren von Zeit zu Zeit die Verfolgungen schildert, denen er durch Nachbarn, Portiers, Geschäftsleute und andere Per- sonen ausgesetzt ist; die Anfälle treten bei ihm periodisch auf. Als ich ihn. das leztemal sah, traute er sich seit 5 Tagen nicht m seine Wohnung Ein Mann, den er für einen Geheimpolizisten hielt, wäre vor dem Hause auf- und abgegangen, offenbar um aufzupassen, wer bei ihm ein- und ausginge. Es war sehr schwer, den Patienten zu beschwichtigen. Mit Hilfe und in Begleitung eines ihm befreun- deten Rechtsanwalts begab er sich schließlich in seine Wohnung zurück, gewann aber erst allmählich die Uberzeugung, daß die Freundlichkeit und Harmlosigkeit, mit der er von den Hausbewoh- nern begrüßt wurde, keine Verstellung war. Er fürchtete verhaftet zu werden, trotzdem in Wirklichkeit nicht der geringste Grund zu der Besorgnis vorhanden war, daß die Sexualhandlung, die er allerdings begangen hatte, zur Kenntnis dritter Personen gekommen war „Im Gasthaus" - so erzählen diese armen Kranken - „tuscheln die Kellner über sie", „die Gäste am Nachbartisch machten Bemerkun- gen über ihre auffallenden Körper formen", „im ganzen Ort wisse man über sie Bescheid, es würde geflüstert und gewispert, und wenn sie hereinkämen, werde abgebrochen; im Bureau empfinge man sie mit eisigem Schweigen, ironischen Gesichtern oder leisem Klebern Bekommen sie in der Garderobe die Marke 175 oder 606 oder 69 so halten sie sich für entdeckt, zum mindesten sei es beabsichtigter Spott; wird in ihrer Gesellschaft der Name eines bekannten Sexuo- logen genannt, so erblicken sie darin eine ganz deutliche Anspielung auf ihr unnormales Geschlechtsleben. Sie trauen sich nicht, zu einem Kinde freundlich zu sein, weil man ihnen sexuelle Motive unterlegen könnte, sei doch in der Zeitung oft genug von gefährlichen Kinder- freunden die Eede; sie schweben in tausend Ängsten wenn eine Person desselben Geschlechts ihnen in harmloser Vertraulichkeit den Arm reicht; wenn sie jemand so sähe, sei ja alles heraus. Nicht selten unterhalten sie sich mit Vorliebe mit Personen, die sie nicht leiden mögen; ein homosexueller Rechtsanwalt nannte eine schone Iran, mit der er überall zu sehen war, seinen „Alibibeweis"; ein anderer traute sich nicht, zwei Personen einander vorzustellen, weil er sich dadurch der Kuppelei verdächtig machen könnte. Zitternd offnen sie Briefumschläge mit ihnen unbekannter Handschrift, es konnten Ent- hüllungen und Drohungen in ihnen verborgen sein. Wird ihnen gar einschreiben mit amtlichem Stempel, irgend ein Schriftstuck von der Polizei zugestellt, geraten sie ganz außer Fassung". Auch Personen gegenüber, von denen sie genau wissen, daß sie an das Berufsgeheimnis gebunden sind, wie Ärzten, Rechtsanwälten, IV. Kapitel : Sexualneurosen 243 nennen sie sich mit falschem Namen. Vor einiger Zeit suchte mich einmal ein Student auf, der sich „Samter" nannte. Ich hatte keinen Argwohn, daß dies nicht- sein richtiger Name wäre. Erst als sich im Laufe der Unterredung ergab, daß er eine fetischistische Zuneigung für Samt und samtartige Stoffe hatte, sagte ich : „Dann heißen Sie wohl gar nicht Samter ?" was er dann auch errötend zugab. Zu dem Bezieh ungs- und Verfolgungswahn gesellen sich nicht selten auch Sinnestäuschungen; namentlich wird von den Kranken versichert, man habe ihnen unanständige Worte nachgerufen, aus denen deutlieh hervorginge, daß man sie für ab- norme Leute hielte. Augenblicklich habe ich zwei Damen in Behand- lung, die unter dem eben beschriebenen Krankheitsbild leiden. Bei- des ledige Frauen Mitte der Vierzig. Sie sind nicht homosexuell, be- haupten aber, von allerlei Personen dafür gehalten zu werden. Die eine dieser Frauen bleibt aus diesem Grunde niemals mit einer an- deren Frau allein in einem Zimmer. Namentlich im weiblichen und männlichen Klimakterium kann man diese Zustände auftreten sehen, die sich von der echten Paranoia eigentlich nur dadurch unterscheiden, daß sie verhältnismäßig eine viel gün- stigere Prognose geben. Nicht selten wird aber die Besserung nicht erst abgewartet, indem diese unglücklichen Geschöpfe, um ihren ver- meintlichen Feinden zu entgehen, ihrem gequälten Dasein selbst ein Ende setzen. Angesichts der Wichtigkeit dieser in ihrer Bedeutung noch keineswegs genügend gewürdigten Krankheitsgruppe füge ich noch einige Belege aus der Praxis bei. Fall F. 20jähriger Student der Mathematik. Erblich nicht belastet, neuropathi- sches Kind gewesen, rechtzeitig Pubertät. In der Schule vorzügliche Leistungen auf allen Gebieten, aber sprunghaftes und ungleichmäßiges Wesen. Früh Neigung zu Tag- träumen. Pat. kommt in völliger Verdüsterung mit einer langen schriftlichen Erklärung, da er sich mündlich nicht auszusprechen vermag, wegen allzugroßer Befangenheit. Er bittet um Amputation des Penis undExstirpationderHoden. Er onaniere seit der Pubertät täglich, dies habe seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten völlig untergraben. Er könne sich nicht konzentrieren, nichts arbeiten, nicht denken. Von morgens an sei er von quälender innerer Unruhe erfaßt, so daß er zur Onanie greife, nur um Ruhe zu finden. Danach sei er völlig schlaff und versinke in stundenlange Träumereien mit Größenideen. Er onaniere bei allen heftigen Gemütserregungen: in der Schule z. B., wenn er mit einer Aufgabe nicht gleich fertig wurde, aus Angst. Seine Vorstellungen seien perverser Art gewesen, daß ihn Mädchen schlügen, eine Zeitlang habe er sich auch seine Schul- kameraden als Schlagende vorgestellt.- Aber nicht diese Vorstellungen bedrückten ihn, sondern der verwüstende Einfluß, den er dem onanistischen Akt zuschreibe. Die sexuelle Reizwirkung gehe immer nur von Phantasiegestalten aus, niemals von wirklichen Men- schen, denen er begegne. So habe er auch noch keinerlei reale Geschlechtsbeziehung ge- habt, weder mutuelle Onanie als Schüler, noch später irgendwelche Verführung. Psy- chische Behandlung könne ihm nicht helfen. Und selbst wenn sie es könne, würde er sie ablehnen und der Entfernung seiner Geschlechtsteile auf chirurgischem '"Wege den Vorzug geben. Das Aufsuchen eines realen Geschlechtsverkehrs lehne er ab, als un- vereinbar mit seinen sittlichen Anschauungen. Auch eine Liebesheirat würde er ab- lehnen, selbst wenn sie ihm helfen könne: denn erstens glaube er an eine derartige Hilfe 16* 244 IV. Kapitel: Sexüalneurosen nicht und zweitens könne er die Verantwortung dafür nicht übernehmen, ob nicht der onanistische Drang stärker sei als jeder wirkliche Geschlechtsverkehr. Auf Ampu- tation der Geschlechtsteile bestehe er auch dann, wenn diese ihm nicht helfen würde, denn er habe dann wenigstens alles getan und erduldet, was möglich sei, um sich von dem Druck der Verantwortung für seine Geschlechtlichkeit zu befreien. Pat ist tief verbittert, verschlossen, deprimiert und gehemmt, dabei schüchtern und leicht mißtrauisch. Er geht schwer aus sieh heraus und verhält sich ärztlichem Zu- spruch gegenüber sehr ablehnend. Dennoch ist bei genauer Beobachtung kein Anhalts- punkt für eine paranoide Psychose zu finden. Epikrise; S e x u e 1 1 e S k r u p e 1 s u c h t auf der Basis eines sensitiven ne ur opath i sahen Charakters, mit Nei-ung zu Wachträumereien. Reaktive Depression mit starkem Insul ti- z i e n z o- e f ü h 1 , in welcher die sexuellen Skrupel zum Hauptinhalt depressiver Selbst- vbrwiirfe werden und sich ins Ungeheuerliche steigern. Überwertigwerden radikaler selbst- zerstörerischer Kastrationswünsche. Bei einer Psychoanalyse, die Pat. leider ablehnte, würden sich, wie aus den bisherigen Andeutungen ersichtlich, vermutlich Anknüpfungen an die Christusneurose ergeben, welche Stekel bei grüblerischen Fetischisten beob- achtet hat. ' T j -i Fall K., 18jähriger Gymnasiast. Erblich schwer belastet, russischer Jude; weitaus der Beste in 'der Schule. Ruhiges, stilles Kind. Pubertät ohne Besonderheit. Er kommt, um zu hören, ob er geisteskrank wäre. Seit der Pubertät onaniere er fast täglich, er könne es auch bei Aufbietung! aller Willenskraft ein oder zwei Tage lassen. Er denke meist an befreundete Mädchen. Er greife zur Onanie, um wenigstens fur_ kurze Zeit still und arbeitsfähig zu werden, wie andere zum „Morphium". Die Onanie habe ihn körperlich und seelisch ruiniert; er könne nicht mehr arbeiten, sich nicht konzentrieren, mit niemandem sprechen, niemandem in die Augen sehen. Stundenlang starre er in ein Buch, ohne seinen Inhalt zu verstehen. Das Gedächtnis sei leer, die früher starke Phantasie sei dahin. Körperlich: sein Gesicht sei welk geworden, die Augen trübe, die Haltung gebückt. Die Nerven seien schlapp, die Knochen seien weich ge- worden, die früher hohe und grade Stirn sei schräg und fliehend geworden, der Hinterkopf weich. Kein Zweifel, er habe die Ge- hirnerweichung, über die schädlichen Folgen der Onanie habe er nichts gelesen. Pat der aus manisch-depressiver Familie stammt, ist nach Angabe der Seinigen seit etwa dreiviertel Jahren im Wesen verändert, traurig, verstimmt, still, stark gehemmt. Er hat sich völlig von allem zurückgezogen. Im Laufe der Untersuchung und Behandlung tritt die völlige Unbeeinfiußbarkeit der hypochondrischen Ideen klar zutage, ebenso die objektiven und subjektiven Symptome einer melancholischen Depression. Epikrise: Kon- stitutionell depressiver Charakter, bei welchem die erste Betätigung des Geschlechts- triebes eine Depression ausgelöst hat, in der sich als Hauptsymptom eine sexuelle Skrupelsucht mit Krankheitsfurcht bis z u m Extrem entwickelt hat. Im folgenden handelt es sich' um Männer mit Triebinversionen, welche an sich in ihrer geschlechtlichen Triebrichtung nichts ihrer Persönlichkeit Widersprechendes sehen Sie haben aber die Befürchtung, bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Anomalien der öffentlichen Verachtung oder sonstigen Schädigungen ausgesetzt zu werden und, von Hause aus verschlossen, schamhaft, mißtrauisch, neigen sie dazu, diese Befürch- tung in skrupelsüchtiger Weise zu übertreiben. Sie deuten alle mog liehen harmlosen Vorkommnisse im Sinne ihrer Skrupel und steigern damit ihre Be- fürchtungen ins Maßlose. So kommt es in vereinzelten Fällen bis zur Bildung- überwertiger, aus Mißtrauen geborener, paranoider Vorstel- lungen, zu sogenannten paranoiden Charakterentwicklungen. Scharf von diesen, als psychopathische Typen aufzufassenden Fällen sexueller Skrupelsucht, müssen unterschieden werden Fälle von echter paranoider Geistesstörung im Sinne der Dementia prae- cox, bei denen die Wahnbildung im Sinne sexueller Skrupelsucht verläuft. Besonders im Beginn einer derartigen Erkrankung kann es sehr schwer sein, solche Fälle von denen des oben genannten Typus zu unterscheiden. Im folgenden zeigen die beiden IV. Kapitel : Sexualneurosen 245 ersten Fälle das Anwachsen derartiger sexueller Skrupelsucht von der Grenze des Nor- malen bis zur Entwicklung ausgesprochener überwertiger paranoider Bildungen, während der dritte Fall eine Dementia praecox mit Wahninhalten skrupel- süchtig sexueller Art darstellt. Fall L., 32 jähriger Kaufmann. In der allgemeinen Vorgeschichte nichts Besonderes. Pat. kommt nach langem Zögern und der immer wiederholten Bitte um völlige Diskretion endlich mit seinem Anliegen heraus. Er sei homosexuell, und zwar sei sein Trieb auf ältere Herren mit Vollbärten gerichtet. Da er Kaufmann und in exponierter Stellung sei, habe er große Furcht, daß diese Triebneigung durch irgend ein unvorsichtiges Verhalten von anderen erkannt oder vermutet werden könne. Sobald er einen Herrn mit Vollbart sehe, der seinem Typus entspreche, erfasse ihn sofort A ngst, der Betreff eil de könne aus seinem Bliek od. dgl. auf seine Neigung schließen; er wage kaum ihn anzusehen, habe immerzu Angst, zu erröten, werde verlegen und befangen, wisse nicht wie er sich verhalten solle. Dadurch falle er erst recht auf; hinterher könne er stunden- lang nachgrübeln, ob er sich auch keine Blöße gegeben habe im Sinne seiner Befürch- tungen. Das sei immer schlimmer geworden. Er vermeide, aus Furcht sich zu verraten, alle Bekanntschaften, insbesondere in Hotels, wo er berufshalber wohne; er spreche mit niemandem, wo es nicht unbedingt nötig sei; immer habe er Angst, Anspie- lungen zu hören; so sei das Leben für ihn allmählich unerträglich. Auch fürchte er, in seiner Triebrichtung erkannt zu werden, weil er noch unverheiratet sei. Er bittet um Vornahme der Steinachschen Operation, nicht weil er nicht gerne bei seiner Anlage bleiben möchte, sondern weil . er fürchte, früher oder später doch einmal seine Trieb- neigung zu verraten; dann würde er vor Scham in die Eide sinken. Pat. macht einen durchaus intelligenten, aber sensitiven und vergrübelten Eindruck. Schüchternheit und Mißtrauen paaren sich bei ihm. Nachdem er nach langem Zögern und Widersprechen sich entschlossen hat, einen psycho-biologischen Fragebogen über sich selber schriftlich auszufüllen, — natürlich unter Chiffre — , bombardiert er die Arzte mit den besorgtesten Briefen, sie möchten ihm den Fragebogen ja wiederseriden, es könne sonst seine Ver- anlagung trotz verstellter Schrift doch noch herauskommen. Fall X., 28jähriger Kaufmann aus D., erblich belastet, kommt mit der Bitte, wir möchten auf hypnotischem Wege seinen Augenausdruck und die Art seines Stirn- runzelns verändern. Jeder Mensch müsse ja daran erkennen, daß er homosexuell sei. Er gebe zu, es sei keine allgemeine Eigenschaft der Homosexuellen, die Stirne so zu runzeln, und so zu blicken wie er; aber die meisten Homosexuellen würden ja auch nicht als solche erkannt. Bei ihm sei das anders: in seinem Blick liege etwas Be- gehrliches, das fühle er wohl; und die anderen Menschen merkten das auch. Sie machten auch ab und zu anzügliche Bemerkungen darauf: ,, Komisch wie der einen an- sieht, wie ein Freier." Einmal sei in seiner Bank ein Herr zu ihm gekommen, um ihn etwas zu fragen. Als Pat. den Herrn aber anblickte, habe dieser sich wortlos um- gewandt und sei beleidigt davongegangen. Einmal hätten die Mitangestellten in der Bank aus Übermut das Benehmen zweier Homosexueller karikiert und dabei gesagt: „So machts der X. auch." Er müsse jetzt seinen Wohnsitz wechseln; denn er sei überzeugt, ganz D. (eine Stadt von über 100 000 Einwohnern) wisse um seine Triebrichtung. Pat. bringt diese Dinge in tiefer seelischer Erschütterung vor. Den Beginn seiner Wahr- nehmungen datiert er um; 6 Jahre zurück. Eine genaue Untersuchung und Beobachtung, sowie die Feststellung der Einzelheiten ergab, daß es sich nicht um eine Dementia praecox handele. Seine skrupulösen Ideen blieben unbeeinflußbar bestehen; es handelt sich um eine beziehungswahnhafte Paranoia als charakterolo- gische Entwicklung. Fall S., Student der Eechte, 22 Jahre alt; sucht uns aus dem Sanatorium E. auf. Er wisse nicht, ob er homosexuell sei; er habe jede Onanie streng unterdrückt; eine eigent- liche Libido mit bestimmt gerichtetem Triebe will er nicht gehabt haben. Ihm sei seit 2 Jahren aufgefallen, daß die Leute ihn für homosexuell hielten. Das sei eine unerhörte Verdächtigung; wenn nicht einmal er das wisse, könne er die Schande eines solchen Ver- 246 IV. Kapitel: Sexualneurosen dachtes nicht auf sich sitzen lassen. Er möchte Klarheit, wie er veranlagt sei. Zur Be- gründung dieser mit etwas unangemessener Ironie vorgetragenen, nicht recht klar zu- sammenhängenden Ideen gibt er noch folgendes an: Zuerst hätte man in seiner Korpo- ration über ihn getuschelt. Man hätte sich von ihm zurückgezogen, die Köpfe zu- sammengesteckt, wenn er kam; er habe deutlich Ausdrücke gehört wie: der ist ja warm, den können wir nicht bei uns behalten usw. Habe er dann seine Korpsbrüder zur Rede gestellt, so hätten sie alles bestritten. Einmal habe ihm der erste Vorsitzende des Kon- vents sogar sein Ehrenwort gegeben, daß ihn niemand für homo- sexuell halte. Aber dies Ehrenwort sei falsch; er wisse das Gegenteil; er habe ja das Tuscheln gehört und das autfallende Benehmen gesehen. Er habe vor Zorn und Kumtaer nicht mehr arbeiten können, habe immer nur gedacht: wie beweise ich den Leuten das Gegenteil? Sein Vater habe ihn ins Sanatorium bringen lassen, angeblich zur Nervenbehandlung, in Wirklichkeit aber, wie er ganz genau wisse, um feststellen zu lassen, ob er nicht vielleicht doch homosexuell sei. Also auch sein Vater habe Zweifel bekommen. Im Sanatorium habe er gemerkt, daß er durch Spiegelungen beobachtet, werde; die Ärzte unterhielten sich hinter der Wand über seine Sexualität; aucli Magnus Hirschfeld (den er heute zum erstenmal sieht) sei dabei gewesen, wie er jetzt an der Stimme erkenne. Er habe ihni ganz deutlich reden hören. Fat. macht anfangs einen geordneten Eindruck; er bringt aber diese Dinge mit unmotiviertem Lächeln vor, läßt sich in keiner Weise vom Gegenteil überzeugen, und ist von recht inadäquater Inaktivität. Die Diagnose: h e b e p h r e n e Dementia praecox — unterliegt keinem' ZweifeL Ein hierhergehöriger Fall liegt auch dein folgenden Gutachten zugrunde, bei dem es; sich um einen Erbschaftsstreit handelt. Ein Mann hatte sich vier Wochen nach seiner Hochzeit erhängt, ohne mit seiner Frau Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Da er kein Testa- ment hinterlassen hatte, beanspruchte diese das alleinige Erbe. Von den Geschwistern des Mannes wurde nun die Ehe als ungültig ange- fochten, da der Mann, als er die Ehe einging, unzurechnungsfähig gewesen sei; er hätte1 bei der Frage des Geistlichen in der Kirche auch nicht ja gesagt, im Gegensatz zu der Braut, die ihr Ja ganz be- sonders laut und vernehmlich „herausgeschmettert" hätte. Auf das von mir erstattete Gutachten wurde die Ehe für ungültig und die Frau für nicht erbberechtigt erklärt. Das Gut- achten lautete: Von dein beauftragten Herrn Richter des Kgl. Landgerichts III, ZK 12 ersucht, ein schriftliches Gutachten über den Geisteszustand des infolge Selbstmord am 8. Sept. 1907 verstorbenen Restaurateurs Otto R. zur Zeit seiner am 28. Juli 1907 erfolgten Eheschließung abzugeben, äußere ich mich auf; Grund persönlicher Wahrnehmungen, so- wie der mir vorgelegten Gerichtsakten wie' folgt: Anfang Juni 1907 wurde ich zum •erstenmal zu R. gerufen und zwar von seiner Schwester; der mir bereits bekannten Frau Sch.; „ihr Bruder litte an heftigen Angstzuständen, die seiner Um- gebung Besorgnis einflößten". Ich traf R. in einem Nebenzimmer seines Lokals an einem Tisch sitzend an, und er machte auf mich den Eindruck eines tief- niedergedrückten Menschen. Von den Angehörigen wurde mir mitgeteilt, er habe bereits früher zweimal ernstliche Selbstmordversuche ge- macht, glaube sich von Kriminalbeamten verfolgt, bezöge Zei- tungsartikel, die ihn nicht beträfen, auf seine Person, er weine viel, sei ganz schwermütig, habe vor kurzem eine Verlobung zurückgehen lassen, sei jetzt wieder verlobt, sei aber von großer Angst erfüllt, die Ehe einzugehen. Es handelte sich bei R. um einen mittelgroßen, ziemlich kräftigen Mann mit weichen Zügen, zarter Hautbeschaffenheit und schlaffer Muskulatur, der nichts von der IV. Kapitel: Sexualneurosen Nonn Abweichendes bot. Auf meine zahlreichen Fragen, die ich nicht nur im Beisein der Verwandten, sondern auch nach Entfernung derselben an ihn richtete, antwortete er kaum. Seine subjektiven Klagen bezogen sich auf Kopfschrnerzen, Schlaflosigkeit, Schwere in den Gliedern, Mattigkeit und großer Unruhe. Einen Grund, weshalb er glaube, daß man ihn verfolge, wußte er nicht anzugeben, auch auf meine Frage, ob er etwa die Ehe scheue, weil er sich impotent halte oder geschlechtlich abnorm, etwa homosexuell ver- anlagt sei, blieb er die Antwort schuldig, verneinte dies sogar später ausdrücklich. Ich beobachtete den Kranken einige Tage, nachdem ich zunächst sorgsamst« Bewachung und eine nervenberuhigende bzw. nervenstärkende Kur verordnet hatte; und riet, als der Zustand keine Veränderung zeigte, dringend, den Patienten sobald wie möglich in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen; ferner setzte ich der Familie auseinander, daß R. zur Zeit keinesfalls heiraten dürfe, und erbot mich, in diesem Sinne bei der in der Küche befindlichen Braut vorstellig zu werden, was auch geschah, allerdings mit negativem Er- folg; sie hätte sein Wort und gäbe es1 ihm nicht zurück; sie würde ihn nach der Hoch- zeit schon von seinen trüben Gedanken kurieren. Meine Diagnose war, daß R. an einer schweren Psychose litt, und zwar an hoch- gradigem melancholischem Irresein mit typischen Wahn- und Selbstmordideen. - Durch die nach dein freiwilligen Tode des R. angestellten Ermittelungen und die in den Akten niedergelegten Beweisstücke finde ich nun meine ursprüngliche Diagnose be- stätigt; zunächst stellt sich der Verdacht, daß R. an einer sexuellen Anomalie gelitten habe, als begründet heraus: Die Aussage des Zeugen F. aus Hcringsdorf, welcher zugibt, daß R. ihn geschlechtlich berührt habe, der bei den Akten befindliche Brief dieses Zeugen an den R., in dem das Verhältnis beider mit Ausdrücken charakterisiert wird, wie sie der einfachen Freundschaft nicht eigen zu sein pflegen, — u. a. spricht F. von der Freun- desliebe des R. — , vor allen Dingen die Andeutungen, welche der Verstorbene selbst be- züglich homosexueller Vorkommnisse verschiedenen Personen auch seiner Braut gegen- über getan hat, ferner seine Abneigung gegen die Ehe — nach Bogen 39 der Akten war die Beklagte seine vierte Braut — alles dies zusammengehalten mit einer neur.o- pathischen Familiendisposition, die auch in dem schwer nervösen Zustand der Schwester, Frau Sch., ihre Bestätigung findet. Man kann daher mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, daß R. tatsächlich ein auf konstitutioneller Basis homo- sexuell veranlagter Mensch gewesen ist. Nun wird von dem Prozeßbevollmächtigten der Beklagten, dem Herrn Justizrat T. der gewichtige Einwand erhoben, daß, wenn B. wirklich homosexuell war, dieser Um- stand seine tiefe seelische Depression, die Verfolgung^- und Selbstmordgedanken, die Ab- neigung vor der Ehe doch in sehr natürlicher Weise erkläre, weiter, daß die Homo- sexualität keine Geisteskrankheit sei, jedenfalls infolge dieser R. sich dann nicht in einem seine freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe. Demgegenüber muß von vornherein zugegeben werden, daß die Homosexualität allerdings nach Ansicht fast aller Spezialsachverständiger, auch der meinigen, keine Erscheinung ist, die ihren Träger derart beeinflußt, daß er nicht weiß, was er tut. In dem vorliegenden Falle trat aber die homosexuelle Veranlagung völlig hinter der den Kranken totaliter beherrschenden, deutlieh ausgesprochenen Melan- cholie zurück. Für die Zeit der Eheschließung, auf die es ja in erster Linie ankommt, fallen außer unserer eigenen Wahrnehmung die Vorkommnisse ins Gewicht, welche der Neffe des R.. Arthur Sch., der einen durchaus zuverlässigen Eindruck macht, bekundet. Als er in der Nacht vor der Hochzeit erwachte, sah er den R. über sich ge- beugt mit angstverzerrtem Gesicht rufend : „Ich muß ins Zucht- haus, man will mich verhaften!". Anscheinend schwebte ihm die Ehe wie ein Zuchthaus, seine Braut als ein ihn verhaftender Polizist vor Augen. Nach der kirch- lichen Trauung meinte er zu dem Zeugen : „die Kirchendiener seien verklei- dete Kriminalbeamte gewesen, die ihn verhaften wollte n." Auch 248 die weitere Äußerung: „die Verheiratung sei ihhi als Strafe auferlegt", ist überaus charakteristisch. Es ist anzunehmen, daß die geschlechtliche Anomalie des R. auf Inhalt und Fär- bung seiner Verfolgungs- und Versündigungsideen einen ■wesentlichen Einfluß hatte, und es ist auch die Annahme berechtigt, daß die schwere Psychose auf der Basis derselben neuro- und psychopathischen Disposition entstanden ist, wie die Homosexualität — doch ist es ein zweifelloser Irrtum, wollte man glauben, daß die Psychose lediglich durch die Homosexualität als solche bedingt sei. Wenn sich ein Homosexueller mit einer ebenso wie er selbst veranlagten erwach- senen Person im geheimen einläßt, so ist sehr wenig Grund vorhanden, diese Handlung könne zur Kenntnis der Behörden oder der Zeitungen gelangen, und tatsächlich habe ich bei vielen Tausenden Homosexuellen, die ich in meiner Praxis zu sehen Gelegenheit hatte, das Auftreten derartiger Zwangsvorstellungen wie bei R. nicht gesehen, trotzdem die meisten ihrem Triebe zeitweilig nachgegeben haben. Der Mann, von welchem R. glaubte, er wolle ihn verhaften, hatte nicht die geringste Kenntnis von R.s homo- sexuellen Beziehungen, die Zeitungsartikel hatten auf ihn nicht Bezug, und gleichwohl fühlte sich R. Tag und Nacht gepeinigt, verfolgt und bedroht. Selbst Wenn B. sich einmal hatte etwas zu schulden kommen lassen, so ändert das nichts an der Tatsache, daß er ein Geisteskranker war, dessen freie Willensbestimmung nicht in- folge der Homosexualität, sondern infolge der Psychose aufgehoben war. Vollkotn- men apathisch und mechanisch, sozusagen willenlos ließ der schwere Melancholiker mit sich geschehen, wozu seine Verwandten, nament- lich seine Schwester und seine Braut ihn veranlagten, von der laienhaften Ansicht ge- trieben, in der Ehe und durch die Ehe würde sich der krankhafte Zustand bessern. In seinem Lehrbuch der Psychiatrie schreibt Kraepelin in dem Kapitel Melancholie: „Das Handeln des Kranken pflegt bei den einfachen Formen der Melancholie regelmäßig die Kennzeichen der Gebundenheit und Unfreiheit zu tragen. Der Kranke ist schlaff, mutlos, außerstande, sich aufzuraffen, sitzt tage- und stunden- lang im dumpfen Hinbrüten da, die Hände in den Schoß gelegt. Ein esthnischer Bauer sagte mir, er komme sich vor wie ein Rad am Wagen, das willenlos mitlaufen muß." Das trifft auch hier zu. . Nach allem fasse ich mein nach besten Wissen und Willen abgegebenes Gutachten wie folgt zusammen: Der verstorbene Restaurateur Otto R war zur Zeit der Eingehung seiner Ehe geisteskrank und zwar dergestalt, daß seine freie Willens- be Stimmung als nicht vorhanden angesehen werden muß. Der Psychiater sollte in keinem Fall von Geistes- krankheit unterlassen, nach sexuellen Wurzeln zu fahnden. Wie die Paranoia, die wir eben berührten, in der Mehrzahl der Fälle, wenn nicht in allen in ihrer Ätiologie eine sexuelle Komponente besitzt, so die verschiedenen Formen der so eng an die genitale Entwicklungs- und Involutionszeit gebundenen De- menz, die Hebephrenie sowohl wie die Dementia senilis. Bei der Manie scheint ein Hyperandrinisinus in Frage zu kommen, wofür die mit Vorliebe bei virilen Frauen auftretenden manischen Erregungszustände sprechen, während die melancholischen und depressiven Gemütsverfassungen wohl in der Hauptsache mit sexuellen Verdrängungs- und Rückbildungserscheinungen zusammen- hängen. Hinsichtlich der Hysterie, der Hypochondrie, den Phobien und Zwangsvorstellungen haben wir die Beziehungen zwischen dem , Psychischen und Sexuellen in diesem Werke bereits verscbiedentlich 249 berührt, aber auch für die Epilepsie und die epileptischen Äquivalente wie die Dipsomanie ist nach unseren Erfahrungen diese Kausalität von hohem Belang-. Nimmt man hierzu die Bedeutung, welche die Geschlechtskrankheiten, vor allem die Syphilis, für die Entstehung von Gehirnkrankheiten vornehmlich für die p r o g r e s - sive Paralyse haben und zieht die ebenso keim- wie seelen- schädigende Wirkung der Rauschmittel, vor allem des Alkohols in Betracht, welche ihrerseits nur zu oft Notbehelf und Ersatz aus- fallender natürlicher Rauschzustände sind, so sollte wohl nach diesem allem klar sein, daß für den Psychiater und Neurologen die Sexual- wissenschaft sowohl nach der Seite der Sexualpsychologie als nach der des S e x u a 1 c h e m i s m u s von nicht zu überbietender Wichtig- keit ist, — was freilich nicht hindert, daß sie für die heutige Psy- chiatrie unter Münchener Führung nach wie vor nicht nur ein Stein des Anstoßes, sondern zugleich ein Buch mit sieben Siegeln ist. Einiges noch über die Ekstasensucht der Sexualneurotiker: Das Gemeinsame dieser Drangzustände ist der mehr oder minder schwer beherrschbare, oft anscheinend unwiderstehliche Trieb, ge- wisse Schranken des Regelmäßigen, Gleichmäßigen und Mittel- mäßigen in irgendeiner Weise zu durchbrechen, die Psyche zu be- täuben, zu erregen, über die Alltäglichkeit herauszuheben. Der sexuell normale, stabile, gesättigte, geschlechtsbefriedigte, inner- sekretorisch ausgeglichene Mensch bietet diese drangvollen Zustände viel seltener als der in geschlechtlicher Hinsicht unausgeglichene, dessen Zentralnervensystem durch Disharmonien, denen objektiv quantitative oder qualitative D y s h o r m o n i e n entsprechen, ge- stört ist. Eines der häufigsten bisher nicht genügend bekannten und be- achteten Symptome unausgeglichener Sexualität und aus ihr sich er- gebender nervöser Labilität ist der Drang, die innere Unruhe und Angst durch Mittel zu beseitigen, die auf das Zentralnervensystem beruhigend wirken und eine, wenn auch nur vorübergehende Stabi- lisierung bewirken. Meist dürfte es sich wohl, um eine zufällige, wenn auch unbewußt, zielstrebig herbeigeführte* Bekanntschaft mit derartigen Mitteln handeln, welche nur zu bald -eine Gewöhnung an dies im Gefolge hat. Die meist mit Willensschwäche und' oft mit , Urteilsschwäche gepaarte Nervenschwäche kommt nur zu bereitwillig einem Mittel entgegen, das einen Rausch- und Ruhezustand herbei- führt, über dessen verhängnisvolle Konsequenzen man nicht nach- denkt oder sich täuscht und hinwegsetzt. Der Einfluß, den Nar- kotika auf Neurastheniker ausüben, muß um so höher veran- schlagt werden, weil diese Personen eine merkwürdige Neigung haben, anderen die Wirkung solcher Mittel zu empfehlen, sie ihnen anzubieten. 9g0 IV. Kapitel: Sexualneurosen In den letzten Jahrzehnten konnte man die Ausbreitung einer narkotischen Epidemie beobachten, die sich zum weitaus größten Teil auf sexuelle Neurastheniker erstreckte und bereits eine beträchtliche Anzahl Todesopfer gefordert hat. Es ist der Kokainismus. In Berlin tauchte diese Sucht als Epidemie kurz nach dem Jahre 1JUU auf Es lebten damals liier mehrere Geschwister, junge Mädchen und Männer zwischen 18 und 25 die einer eingewanderten polnischen Familie entstammten und samtlich der Prostitution ergeben waren, zu der sie von ihrer Mutter mehr oder weniger angehalten wurden. Sie trugen sich alle sehr elegant, fehlten bei keinem Rennen, traten äußerst ge- wandt auf, verkehrten auch außerhalb ihres eigentlichen Gewerbes viel in der Lebewelt und zeichneten sich durch starke Internationalst aus. Häufig machten sie in derselben Woche Veranstaltungen in London, Berlin und Paris mit und waren regelmäßige Saison- erscheinungen in den Hotelhallen von Monte Carlo, Cairo, Rom und anderen mondänen Plätzen Ein Viertel der männlichen und weiblichen Personen ihres Anhanges war bald von der Seuche ergriffen. Im Laufe des Krieges nahm die Sucht noch zu und jetzt gibt es eine große Anzahl von Vergnügungsstätten, deren Besucher fast samtlich kokscn . Von Berlin hat sich durch die reisende „Lebewelt" der Kokaingebrauch auf andere deutsche Großstädte wie München, Dresden und Hamburg übertragen, und wie ich höre, soll die Kokainsucht auch in ausländischen europäischen Großstädten, vor allem in London und Paris, einen erschreckenden Umfang angenommen haben. Es sind mir mehrere Personen jugendlichen Alters bekannt geworden, die man eines Tages tot ita Bette fand nachdem sie eine reichliche Menge Kokain zu sich genommen hatten. Es scheint mir, als ob es sich in den meisten Fällen dieser Art weniger um beabsichtigten, als zufälligen Selbstmord handelt. Ich schließe dies daraus, daß die Per- sonen meist keinerlei Erklärungen hinterließen, und auch kurz vor ihrem Verscheiden ihren nächsten Verwandten und Bekannten keinerlei Anzeichen boten, die auf Selbst- mordabsichten hindeuteten. So ist mir ein Fall in Erinnerung geblieben, m dem mich ein 24jähriger Soldat im Kriege während seines Urlaubes aufsuchte. Ich kannte ihn seit Jahren als starken sexuellen Neurastheniker mit vielen hysterischen Symptomen. Es ging ihm verhältnismäßig gut; er war froh,- vielen Gefahren entronnen zu sein, und nichts deutete in seinem Beiinden darauf hin, daß er lebensüberdriissig sei. Er war seit Jahren Kokainist, doch war es ihm schließlich gelungen, die Kokainmengen, die er zu sich nahm, nicht unbedeutend herabzusetzen. Er bat mich während seines Besuches an einem Nachmittage um eine kurze Bescheinigung, die er für seinen Stabsarzt brauchte, und die er am anderen Vormittage abholen wollte. Zur verabredeten Stunde rief seine Schwester bei mir an. um mir mitzuteilen, daß man ihren Bruder ata Morgen tot im Bette gefunden habe. Auf dem Nachttisch stand eine zur Hälfte mit Kokain gefüllte Dose. Er war einer Herzlähmung erlegen, die auf Kokainvergiftung zurückzuführen sein dürfte, wobei sicherlich von Bedeutung ist, daß fast alle Kokainiston an Herzneu- rose leiden. Diese scheint nicht ausschließlich eine Folge ihrer Rausch sucht zu sein, 'als vielmehr eine Begleiterscheinung ihrer allgemeinen, meist auf sexueller Basis beruhenden Neurasthenie. Der Kokainismus stellt nur ein Beispiel der Betäubungssucht dar,' der an Bedeutung noch weit von dem Alkoholismus und Morphi- nismus, dem sich viele ähnliche Drangzustände nach Narkoticis an- gliedern, übertroffen wird. Ein kürzlich von mir behandelter Fall von Morphinismus betraf einen jungen Akademiker, den eine 5jährige Gefangenschaft zu ungewohnter sexueller Abstinenz zwang; allmäh- lich begann er an dauernder Unruhe und Schlaflosigkeit, verbunden mit sexuellen Angstzuständen zu leiden; der Schlaf reduzierte sieb auf zwei Stunden innerhalb der Nacht. Dieser Zustand nahm eine derartige Intensität an, daß auch das körperliche Befinden sich mehr nnd mehr verschlechterte, und er innerhalb von 3 Monaten 22 Pfd. 251 an Körpergewicht verlor. Um einen vorübergehenden Ruhezustand zu erwirken, griff er schließlich' zum Morphium, das er etwa 5A Jahre gebrauchte. Der Versuch einer Entwöhnung scheiterte zunächst. Erst, nachdem sich ihm die Möglichkeit zu sexueller Entspannung geboten hatte, konnte man zu einer Entziehungskur schreiten, die dann aber auch von gutem und bleibendem Erfolge war. In wie hohem Grade der Betäubungs- drang bei manchen Leuten mit harmonischen oder disharmonischen Empfindungen auf sexuellem Gebiet zusammenhängt, geht aus einer Beobachtung hervor, die ich besonders oft an Transvestiten machte; . diese sind in Herrenkleidern oft leidenschaftliche Raucher oder Trinker, empfinden dagegen, sobald sie als Frau ge- kleidet sind, den heftigsten Ekel vor Tabak und Alkohol . Nach allem kann es für einen Forscher, der viele Tausende sexuell Labiler gesehen hat, nicht zweifelhaft sein, daß die Rauschsucht wie die Rauchsucht ganz ungemein häufig auf dem Boden sexueller Un- ruhe erwachsen. Oft setzt sich diese Ruhelosigkeit auch in einen bald mehr anfallsweise auftretenden, bald mehr gleichmäßig bestehenden Bewegungsdrang um, in Abenteurersucht, in Reisesucht, in Tanz- sucht, Scheuerwut, Wasehsucht, im Drang auf einige Tagen oder Wochen spurlos zu verschwinden, fortzulaufen — Dromomanie — oder halbe oder ganze Nächte unterwegs zu sein. So ist mir ein sexuell unausgeglichener Fetischist bekannt, pensionierter Offizier, der sich bereits seit Jahrzehnten f r üh zwischen 7 und 8 Uhr zu Bett begibt und um 5 Uhr nachmittags aufsteht, nachdem er während der ganzen Nacht die Straßen kreuz und quer durchirrt hat. Ein andere Form, in der sich die ekstatische Spannung äußert, ist die Spiel- undWettsucht, der leidenschaftliche Drang, dem Glück, dem Zu- fall die Hand zu bieten, sei es an der Börse, am Spieltisch oder mit dem 'Würfelbecher, am Totalisator. Ich habe im Laufe der Jahre Personen kennen gelernt, bei denen dieser Trieb jeder Überlegung, allen Gelübden und Vorsätzen trotzte und die meist psychopathischen, immer aber hochgradig neurasthenischen und sich gewöhnlich auch in geschlechtlicher Hinsicht entweder exzessiv betätigenden oder mangelhaft entspannten Menschen ins Verderben führte. Manchmal, wenn auch keineswegs immer, vertiefen sich die periodisch auftreten- den Drangzustände zu ausgesprochenen Dämmerzuständen. So wurde mir ein 23jähriger Student von seinem älteren Bruder zugeführt, der von seinen Angehörigen, — er entstammt einer alten, hanseatischen Kaufmannsfamilie, — längere Zeit vermißt war und überall gesucht wurde, bis man ihn eines Tages als Eisenbahnarbeiter im Ruhrbezirk auffand. Patient gab folgendes an: von Zeit zu Zeit befalle ihn ein) heftiger Drang, seinen Anzug mit schmutziger Arbeiterkleidung zu vertauschen und in dieser unerkannt harte Arbeit zu verrichten. Die bloße Vorstellung, solches auszuführen, sei bei ihm mit lange andauernden Erektionen verbunden, die schließlich zu lustbetonter Absonde- rung einer klebrigen Flüssigkeit aus der Harnröhre führe. Manuelle Onanie hätte er niemals getrieben, auch noch nie Geschlechtsverkehr ausgeübt, und nie, weder für Per- sonen des anderen noch des eigenen Geschlechts, sexuelle Zuneigung empfunden. Zwei 252 IV. Kapitel: Sexualneurosen .Ahl! hätte er bisher dem überaus starken inneren Antrieb nicht mehr widerstehen können, es sei ihm dabei vorher gewesen, als ob er nicht mehr Herr seiner Gedanken sei und mechanisch einem Befehle folge. Er könne sich an Einzelheiten nur unvollkommen, an manche Handlungen gar nicht erinnern. So wisse, er zwar wohl,, daß er seine guten Kleider für ein Spottgeld bei einem Trödler verkauft habe und wisse, wo dieser wohne (auf ein von uns abgegebenes Gutachten entschied das Gericht, daß der Trödler die für 1200 Mark gekauften Kleider und Schmuckgegen- stände, die einen achtfachen Wert hatten, dem Besitzer wieder zurückgab oder ihm, soweit sie bereits verkauft waren, den Erlös aus ihnen erstattete). Er erinnere sich aber nur unvollkommen, wie und wo er in Arbeit getreten sei, doch sei er sich deutlich bewußt, daß er während der körperlich schweren Arbeit stundenlange Erek- tionen gehabt hatte. Das erste Mal hatte er sich 2 Wochen als Träger in den schmutzigsten Hafenvierteln Hamburgs, das zweite Mal 4 Wochen als Bahnarbeiter in D. betätigt. Er selber habe das Gefühl, als ob sich bei ihm — er selber drückt sich un- wissenschaftlicher aus — eine L i b i d o s t a u u n g in z i s v e s t i t i s c h e und d romomanische Energie umsetze. Sehr bemerkenswert ist in diesem selt- samen Fall der genitale Befund, der übrigens von keinem der Ärzte, die seine Familie früher konsultiert hätte, beachtet wurde („nach meinem Geschlechtsleben hat mich keiner gefragt"): kleine, kaum taubeneigroße Testikel, völlige- Azoospermie; der generative Anteil der Geschlechtsdrüse scheint verkümmert zu sein, womit eine ab- normale Entwicklung der Zwischendrüse vergesellschaftet zu sein pflegt. Finden sich die bisher genannten Ekstasen — die Kauschsncht, der Wandertrieb und die. Spielleidenschaft — überwiegend, wenn auch keinesfalls ausschließlich bei Männern und virilen Frauen, so findet man eine Eeihe anderer Drangzustände verhältnismäßig häu- figer bei Frauen und femininen Männern; es sind dies besonders die krankhafte Kauf sucht — die Oniomanie — und der als K 1 e p t o - manie besonders bekannt gewordene Stehltrieb sowie der Brand- stiftungstrieb, die sogenannte Pyromanie. Alle diese triebhaften Vorgänge ereignen sich, wie mir eine reichliche Gerichtserfahrung in Übereinstimmung mit anderen Autoren gezeigt hat, besonders oft während, kurz vor oder kurz nach der Menstruation und sind häufig von Erregungen begleitet, die ausgesprochen wollustbetont sind. Die beiden folgenden Gutachten, welche zwei analoge Fälle von Kleptomanie behandeln, bieten lehrreiche Beispiele für das Gesagte: I. Ich bin ersucht worden, ein psychiatrisches Gutachten abzugeben über den Geisteszustand der am 29. November 1891 zu Berlin geborenen Frau Martha T., zur Zeit der von ihr am 28. August 1918 in N. begangenen Straftaten. Frau T. hatte sich am 18. August 1918 von Berlin aus auf einen Erholungsurlaub nach Bayern begeben, der sie auch nach Dinkelsbühl führte, wo sie «ich für einige Tage im Hotel „Goldene Rose" in Pension gab. In ihrer Gesellschaft befand sich Herr Hauptmann F., der dort zu- fälligerweise eine bekannte Familie aus Köln, namens S., antraf. Bei den Mahlzeiten begegneten sich in der Folge Frau T. und Herr Hauptmann F. dann fast regelmäßig mit Frau S., die mit Mutter, Sohn und Tochter in dem gleichen Hotel wohnten, während_ sie sonst nicht viel miteinander verkehrten. Eines Abends nun, während Familie S. in einer musikalischen Unterhaltung waren, saß Frau T. mit Herrn Hauptmann F. unten in der Gaststube der Goldenen Rose. Um 10 Uhr wollte Frau T. schlafen gehen, forderte ihren Begleiter, Hauptmann F., der ein anderes Zimmer in demselben Stock bewohnte, auf, mit ihr die dunkle Treppe nach oben zu gehen. Dieser aber wollte noch etwas unten bleiben und Zeitung lesen, so daß Frau T. allein heraufging. Als sie nun an Frau S.' Zimmer vorüberkam, sah Frau T. die Tür lose angelehnt. Es kam ihr nun plötzlich der Gedanke IV. Kapitel: Sexualneurosen 2f>y an den ihr von einem früheren Besuch bekannten Kleiderständer, der mitten im Zimmer stand. Sie ging hinein und nahm vom Kleiderständer einen blauseidenen Regenmantel, eine punktierte Mädchenbluse (gehörte der 15jährigen Tochter) und einen dazu gehörigen Rock. Damit begab sie sich in ihr Zim'mer, freute sich über die Sachen, ohne an irgend- welchen Gebrauch zu denken, legte sie beiseite, versteckte sie dann später, als der Wirt mit einem Schutzmann kam, um sie am Morgen in Stücke zu zerschneiden. Darauf nähte sie die Sachen in eine Jacke bzw. ein Handtuch. Als die Schutzleute früh gegen 8 Uhr nochmals in ihr Zimmer kamen und wegen herumliegender Knöpfe ihr die Tat auf den Kopf zusagten, gestand sie allmählich alles ein. Frau T. will die Sachen nicht aus Not oder Putzsucht genommen haben, sondern aus einem unwiderstehlichen Drang, der namentlich zur Zeit der Periode bei ihr auftritt] Dieser Drang erstreckt sich besonders auf Kleidungsstücke und Wäsche, namentlich Sieide, Spitzen und feine weiche Stoffe. Zu eigenem Gebrauch begehrt sie an- geblich die Sachen nicht, sondern nur weil der Vorgang sie sinnlich reizt. Der Gedanke, daß die Sachen vermißt werden, reizt sie zur Selbstbefriedigung, und zwar durch Friktion an den Brüsten. Sie reibt unter diesen Vorstellungskomplexen ihre Brüste so lange, bis ein Orgasmus eintritt. Als sie merkte* daß Frau S. nach den Sachen suchte und mit dem Wirt davon sprach, stellte sie sich hinter die verschlossene Tür und m'a n i - pulierte an ihren Brüsten. Heimlichkeit hätte auf sie von jeher einen sinn- lichen Reiz ausgeübt. Die Angeschuldigte wurde als 9. Kind des Engros-Obsthändlcrs Johann P. geboren. Die Mutter soll an hochgradigen Erregungszuständen und starkem Stimmungswechsel leiden. Von den Geschwistern starb ein Bruder an Gehirnschlag mit 42 Jahren, dessen Tochter starb mit 17 Jahren an einer Blutkrankheit; drei GeschwiMer starben jung. Die Erziehung war streng; die Kindheit durch viel Zwistigkeiten der Eltern verbittert. In der Schule lernte sie leicht, vergaß aber schnell wieder. Als sie 8 Jahre war, wurde sie von einem Mann überfallen, der sie zu vergewaltigen versuchte. Dieser Vorfall hat sie seelisch sehr erschüttert. Mit 10 Jalucn heiratete die Angeschuldigte ihren um 15 Jahre älteren Mann, mit dem sie von 1911 bis 1915 zusammenlebte. Die Ehe war unglücklich. Der Mann trink, sorgte nicht für den Unterhalt der Frau und infizierte sich gleich nach der Ehe mit Tripper und Syphilis. Sie befand sich jahrelang in spezialistischer Behandlung. IUI" trennten sich die Eheleute. Zur Zeit schwebt das Ehescheidungsverfahren. Die An- geschuldigte litt viel an Kopfschmerzen und heftigen Depressionen, die im Jahre 1917 zu zwei Selbstmordversuchen führten. Auch wegen Herzstörungen (Herzerweiterung und Herzneurose) stand Frau T. bei verschiedenen Ärzten in Behandlung. Psychisch sind folgende Erscheinungen bei Frau T. bemerkenswert: a) Kopfschmerzen und das Gefühl von „Zersclilagenheit", besonders zur Zeit der Periode, mit Übelkeit, Erbrechen. b) Hochgradige Mattigkeit und Unruhe, ebenfalls am meisten während der Men- struation. c) Starke seelische Depressionen. Patientin weint sehr leicht und viel. Sie fühlt sich auch ohne äußere Ursache oft tiefunglücklich. Diese an Schwer- mut grenzende Stimmungslage steigert sich bis zu Lebensüberdruß, und zwar auch' in periodischem Kreis'- 1 a u f. b) Vergeßlichkeit und Gedächtnisschwäche, die seit 2 — 3 Jahren (namentlich seit der geschlechtlichen Infektion) sehr erheblich ist. Oft läßt sie kostbare Sachen liegen. e) Mit dieser Vergeßlichkeit geht eine gewisse Vernachlässigung ihrer äußeren Erscheinung Hand in Hand. f) Schlaflosigkeit. Patientin schläft wenig, sehr unruhig, hat viel Alpdrücken und Angstträume. Sie nimmt viel Schlafmittel. 254 IV. Kapitel: Sexuale eurosen g) Patientin macht einen hilflosen, kindischen Eindruck. Ihre Umgebung hebt diese Unselbständigkeit und Kindlichkeit besonders hervor. Die genannten Erscheinungen sind auf verschiedene Ursachen zurückzuführen, vor allem: a) auf die psychopathische Konstitution der Patientin mit vielen Zügen von Infantilismus und Hysteroneur- asthenie; b) auf die luetische Infektion, die namentlich auch die Kopfschmerzen und die Schlaflosigkeit beeinflußt; e) auf seelische Menstruationsstörungen sehr erheb- lichen Grades. . Patientin hatte vom 27. bis 31. August ihre Menstruation. In diese Zeit fiel der inkriminierte Vorfall. Es ist wissenschaftlich über jeden Zweifel sicher- gestellt, daß Handlungen, wie sie die Beschuldigte begangen hat, für seelische Menstrua- tionsstörungen typisch sind. Namentlich von Krafft-Ebing ist dies hervorgehoben, ebenso in meiner Sexualpathologie. Da bei der Beschuldigten außerdem anderweitige psychische Störungen vorliegen, die teils in das Gebiet des Infantilismus, teils ins Bereich der Hysteroneurasthenie fallen, teilweise auch auf Lues zurückzuführen sind, — die Wassermannsche Blutprobe zeigt das Resultat: stark positiv — , so kann mit einer an Ge- wißheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß; die Beschuldigte sich zur Zeit der Begehung des ihr zur Last gelegten Diebstahls in einem krankhaften Zu- stand der Geistestätigkeit befunden hat, der ihre freie Willensbestimmung ausschließt. II. Frau Martha R. aus T., über welche das folgende Gutachten erstattet wird, be- findet sich seit 10 Tagen in unserer fachärztlichen Behandlung und Beobachtung. Den Anlaß dazu, ein Gutachten von uns zu erfordern, nimmt sie aus einer gegen sie schwe- benden Anschuldigung wegen Diebstahls. Das Gutachten soll sich auf den Geisteszustand der Angeschuldigten zur Zeit der Begehung der inkriminierten Handlungen erstrecken, unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob für dieselben die Voraussetzungen des § 51 RStGB. ganz oder teilweise gegeben sind. Aktenmäßiges Material über diese angeb- lichen Anschuldigungen ist uns nicht bekannt geworden. Wir sind bezüglich derselben lediglich auf Angaben unserer Patientin selber angewiesen. Ein endgültiges, forensisches Gutachten müßten wir uns daher bis zur Kenntnis objektiver Unterlagen und zum Ab- schluß der Behandlung und Beobachtung! vorbehalten. Lediglich der krankhaft überreizte Nervenzustand, in welchem sich unsere Patientin momentan befindet, veranlaßt uns, aus ärztlichen Gründen unser vorläufiges gutachtliches Urteil schon jetzt schriftlich zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich nach den wiederholten Angaben unserer Patientin um folgende Vor- kommnisse, mit Bezug auf welche ihr Geisteszustand einer Beurteilung zu unterliegen hat: acht Tage vor Pfingsten dieses Jahres fuhr Frau R. nach L. zwecks Anprobe eines vorher dort gekauften Kleides. Sie brachte, wie das in diesen Zeiten üblich ist, der Ver- käuferin einige Eier aus, ihrem Gutsbetriebe mit. Als die Verkäuferin sich zwecks Be- zahlung der Eier zu der im unteren Stockwerk liegenden Kasse begab und Frau R. allein ließ, trug sich folgendes zu: Frau R. wartete erst eine Weile, dann sah sie den offenen Schrank voller Kleider, es packte sie ein unbezwin glich er Drang, eines dieser Kleider zu nehmen, sie ging auf den Schrank zu, griff hinein, nahm das erste beste Kleid heraus und stopfte es in ihre Handtasche. An diesen ganzen Vorfall hat sie volle Erinnerung. Sie gibt an, nach einem kurzen Moment inneren Kampfes ganz mechanisch wie unter einem Zwange gehandelt zu haben; sie habe sich nicht das Ge- ringste weiter gedacht, habe auch während der Handlung selber nicht das Bewußtsein eines Unrechtes gehabt; ihr Inneres sei völlig leer ge.wesen. Der Vorfall blieb unbemerkt. Etwa eine Woche nach Pfingsten sei nun die Pa- tientin wieder in das gleiche Geschäft gekommen, und es habe sich ganz genau der gleiche Vorfall wiederholt, Als diesmal die Verkäuferin sich entfernte, habe Frau R. genau in der gleichen impulsiven Weise, ohne den geringsten Gedanken dabei, zwei Kleider an sich genommen und in ihre Reisetasche gestopft. Frau R. gibt hierzu noch IV. Kapitel : Sexualneurosen 255 an: sie habe die Kleider ganz wahllos ergriffen, so wie ihr Blick darauf fiel, ohne einen Gedanken an die Brauchbarkeit. Tatsächlich hätte sie keines von ihnen brauchen können. Sie habe das beim erstenmal fortgenommene Kleid, als sie zu Hause ange- kommen sei, ohne es weiter anzusehen, geschweige denn es zu probieren, ohne selbst das Etikett zu entfernen, in den Schrank getan. Materiell sei sie in so guter Lage, daß von einem Motiv der Begehrlichkeit und Bereicherung nicht gesprochen werden könne; sie habe selber viel bessere Kleider. Sie habe wie im Traum gehandelt. Der erste Vorfall spielte wenige Tage vor, der zweite gegen Ende der ungewöhnlich heftigen und von jeher mit vielen Störungen verbundenen Menstruation. Als wenige Minuten nach der Ausführung der zweiten Handlung ein Polizist ihr den Vorfall auf den Kopf zusagte, sei sie ohnmächtig hingestürzt, wobei sie sich die Hand verletzt habe. Krämpfe seien nicht aufgetreten. Als sie wieder zu sich kam, sei sie in einem völlig anderen Seelenzustand gewesen, habe ein Bewußtsein des getanenen Unrechts gehabt und bittere Reue empfunden. Unsere Patientin stellt diese Sachlage mit allen Zeichen seelischer Erschütterung in subjektiver durchaus glaubwürdiger Weise dar. Sie fügt hinzu, daß sie diesen impul- siven zwangsartigen Stehltrieb seit ihrer Pubertät besonders zu Zeiten der Menstruation periodisch immer wieder sie beherr- schen fühle. Als Beispiel führt sie an: am gleichen Tage, an welchem der zweite ge- schilderte Vorfall sich abgespielt habe, sei ihr kurz zuvor folgendes passiert. Sie habe in einem Geschäft eine Puppe für ihr Kind gekauft und sollte 12 Mark 75 Pf. dafür be- zahlen. Sie bezahlte mit drei Fünfmarkscheinen. Während die Verkäuferin wechseln ging und sie allein ließ, habe sie der ihr bekannte Trieb aufs heftigste gepackt. Ein impul- siver Drang sei über sie gekommen, irgend etwas fortzunehmen. Auf dein Ladentisch habe ein kleiner Perlbeutel gelegen im Werte voni 75 Pfennigen, auf den sich ihr Trieb erstreckt habe. Sie habe nach heftigem inneren Kampf noch die Kraft besessen, sich loszureißen und das Geschäft zu verlassen, um ihrem Zwangstrieb nicht anheimzu- fallen. Sie habe dabei auf die Mitnahme der 2 Mark 25 Pf., die sie noch zu erhalten hatte, verzichtet, bloß um fortzukommen. Unmittelbar hinterher sei die Sache mit den Klei- dern in dem anderen Laden passiert. In der Pension, in welcher sie als junges Mädchen zwei Jahre gewesen sei, sei sie wegen ihres Stehltriebes überall bekannt gewesen. Wenn etwas fortkam, habe man schon gewußt, daß sie es genommen habe, und kein Mensch habe es ihr übel genommen, weil alle es für krankhaft gehalten hätten, geradeso wie sie selber auch. Bezüglich ihrer Menstruation gibt sie noch an, daß der Stehltrieb sich fast aus- schließlich zur Zeit derselben einstelle, ebenso wie vielerlei andere Störungen. Die Men- struation selber ist sehr unregelmäßig, alle 14 Tage bis alle acht Wochen, sehr lang- dauernd, stark und schmerzhaft. Etwa drei bis vier Tage vor ihrem Eintritt macht sich Wesensänderung bei ihr geltend, sie errötet und erblaßt ab- wechselnd, bekommt starke Gesichtsneuralgien, wird etwas benommen im Kopf und grundlos tieftraurig verstimmt, so daß sie fast ständig weint. In diesen Zeiten sind ihre Gedanken oft wie verschwunden. Genauere Feststellungen über die erbliche Belastung und den Entwicklungsgang unserer Patientin ergaben nun folgendes. Ihr Vater starb mit 56 Jahren an Herzschwäche. Er war zeitlebens nervös gewesen und konnte deshalb kein Amt bekleiden. Seine Nerven- schwäche bestand in „Anfällen", welche mit Ohnmacht und Aussetzen der Herztätigkeit verbunden gewesen sein sollen. Die Mutter ist gesund. Die Mutter der Mutter war wegen Geisteskrankheit, und zwar Schwermut, 4 Jahre lang in einer Anstalt. Der einzige Bruder der Patientin leidet seit dem 9. Jahre an epileptischen Anfällen, hat zeitweise Absenzen und ist auch im übrigen eine schwer abnorme Persönlichkeit. Er konnte deshalb die Schule nicht be- suchen und kam auch vom Militär frei. Die Patientin selber entwickelte sich als Kind regelrecht, litt aber an Skrofulöse. Infolgedessen war sie sehr schwächlich und körperlich zurückgeblieben. In der Schule lernte sie schlecht, begriff schwer und mußte deshalb in eine Privatschule umgeschult 256 werden. Auch das Behalten von Namen und Zahlen fiel ihr schwer. Außerdem bot sie von klein auf eine Reihe abnormer psychischer Symptome. Fast immer standen ihr die Tränen nahe. Sie weinte oftmals grundlos schon als Kind. Ferner war sie sehr schreck- haft, zuckte oft zusammen, ohne daß ein Reiz vorhergegangen war. Sie litt an nächtlichem Aufschrecken und vor allem an Schlafwandeln.- Mehrfach wurde beobachtet, wie sie als Kind mit geschlossenen Augen zum Fenster lief; und es aufmachte. Rief man sie an, so schrak sie auf und war fassungslos und desorien- tiert. Ähnliche Störungen hat auch der uns gleichfalls bekannte Bruder. Endlich traten während der Schulzeit öfters Ohnmächten auf, und zwar ebenfalls ohne jeden äußeren Anlaß, so daß sie aus der Klasse getragen werden mußte. Eigentliche Krämpfe waren nicht dabei. Noch weitere sehr bezeichnende Symptome ließen sich feststellen, welche zeitweise in der Entwicklung der Patientin aufgetreten sind: so hat sie zeitweise typische Ab- senzen: sie ist einen Moment wie weg, hört gar nicht, was um sie vorgeht, und schreckt dann ohne Erinnerung daran auf. Ferner hat sie periodische Kopfschmerzen heftiger Art, besonders in den Schläfen, welche anfallartig auftreten. Endlich leidet sie an zeit- weisen grundlosen, traurigen Verstimmungen und ist gegen Alkohol völlig in- tolerant. Körperlich bietet unsere Pationtin bei blühendem Äußeren das Bild einer hoch- gradigen nervösen Ubererregbarkeit der Reflexe und des Gefäßsystems. Die Störungen der Blutverteilung infolge dieser nervösen Übererregbarkeit sind sehr augenfällig. Psychisch ist dem bisher Gesagten nur soviel zuzufügen, daß ein' intellektueller Defekt stärkeren Grades nicht besteht, daß aber zur Zeit eine geradezu krankhafte Niedergeschlagenheit und Gedankenlosigkeit bei der Patientin sich geltend macht, welche wahrscheinlich die seelische Reaktion auf die Anschuldigung darstellt, der sie sich ausgesetzt glaubt. Gutachtlich ist — vorbehaltlich späterer mündlicher Begründung — zu dem Gesagten zu bemerken, daß alle Symptome für jeden Fachmann den typischen Charakter der epileptoiden Konstitution auf erblicher Grundlage tragen. Schon der Vater besaß diese Konstitution, ebenso der einzige Bruder. Bei der Patientin tritt sie in Ohnmachtsanfällen, Absenzen, anfallsweisen Kopfschmerzen, _ Verstimmungen, Schlafwandeln, sowie mehreren anderen Äquivalenten des großen epileptischen Anfalls in die Erscheinung. Daneben bestehen vasomotorisch-neurotische Störungen, welche sich auch in bezug auf die Menstruation geltend machen, und allgemeine psychopathische Symptome. Das Bestehen dieser letzteren beiden Gruppen veranlaßt uns, das Gesamt- bild der Krankheit als psychopathische Konstitution vom Typus der degenerativen Epilepsie aufzufassen. Innerhalb dieses Gesamtbildes bewerten wir den Stehltrieb, die sogenannte Klepto- manie, nur als ein Symptom. Derartige Symptome impulsiver Triebhandlungen sind gerade bei epileptoiden Konstitutionen etwas ungemein Häufiges. Diese impulsiven Trieb- handlungen können sich nach den verschiedensten Richtungen bewegen. Man findet beim Epileptiker dieses Typus von degenerativer Konstitution sehr häufig den impulsiven Wandertrieb (Dromomanie), Brandstiftungstrieb (Pyromanie) und Stehltrieb (Kleptomanie). Das Bewußtsein kann für die einzelne impulsive Handlung völlig aufgehoben sein, so daß jede Erinnerung fehlt; aber auch wenn die Erinnerung vorhanden ist, ist das Be- wußtsein für die einzelne impulsive Handlung stets in' eigentümlicher Weise leer und eingeengt. Bei unserer Patientin fanden wir genau das gleiche. Man faßt, diese impul- siven Handlungen als direkte Äquivalente des großen epileptischen Anfalls auf, und somit als unmittelbar bedingte Äußerungen der konstitutionellen krankhaften Geistesanlage. Forensisch unterliegen sie prinzipiell den Kriterien des Begriffes der Bewußtlosigkeit im Sinne des § 51 KSlGB. Wir stehen nicht an, mit absoluter Überzeugung auch für die betreffenden Handlungen unserer Patientin, die eingangs dargestellt wurden, die foren- sischen Konsequenzen dieser grundsätzlichen Beurteilung zu ziehen: zur Zeit der Be- gehung derselben befand sie sich in eineni Zustande von Bewußtlosigkeit, durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. In beiden obigen Fällen wurde auf unsere Gutachten das Verfahren eingestellt. • 257 Weniger dem weiblichen als dein männlichen Geschlecht eigen ist eine aus der normalen Breite in das Pathologische übergehende Sammelsucht, während eine andere sehr verbreitete krankhafte Sucht, die pathologische Lüge, sich bei beiden Geschlechtern gleichmäßig vorzufinden scheint. Vielfach ist die in falscher Scham und Furcht basierende sexuelle Lebenslüge für beide Ge- schlechter derAusgrangspunktderallgemeinenLebens- 1 ü g e. Wenn diese auch in sich gefestigte Naturen nicht an sonstiger Verläßlichkeit, Gradheit und Aufrichtigkeit hindert, so fördert "sie bei neuropathischen und psychopathischen Menschen doch leicht durch Überkompensierung: zwei Extreme, indem die Unoffenkeit ent- weder zu abnormer Verschlossenheit oder phantasti- sch e r P s e u d o 1 o g i e führt. Diese in Richtung oder Maß in sexu- eller Hinsicht von der Norm abweichenden Personen sprudeln über von allerlei Hirngespinsten und Wahrheitsverfälschungen. Den meisten fehlt dabei das klare Unterscheidungsvermögen zwischen Wirklichkeit, Ausschmückung- und völliger Erdichtung-, namentlich wenn sie eine Geschichte immer wieder erzählen, glauben sie schließ- lich selbst daran. Vor einiger Zeit traf ich im Vorraum eines Theaters einen alten Patienten von mir, einen trotz Impotenz in sexueller Hörigkeit befindlichen, hochintellektuellen Neurotiker. Bei allen ihm durch seine Anlagen gewordenen Schicksalsschläge stets freundlich und glücklich wie ein Kind, führt er ein Leben im Reich der Träume, in dem er weite Reisen durch alle Weltteile macht, wäh- rend er tatsächlich kaum jemals den Bannkreis seiner Vaterstadt Ber- Hn verlassen hat. Auf meine Frage nach seinem Ergehen erzählte er, daß er erst gestern im Luftschiff „Bodensee" von der Schweiz zurückgekommen sei und schilderte nun begeistert mit allen Einzel- heiten die unvergeßliche Fahrt, die ihn in 4 Stunden von Friedrichs hafen nach Berlin gebracht hätte. Noch während er seinen Bericht fabulierte, trat ein auch mir bekannter Freund von ihm hinzu, be- grüßte ihn, und erkundigte sich, wie ihm der Vortrag bekommen sei, den er vorgestern mit ihm gemeinsam in der Urania über die Fahrten des Luftschiffes „Bodensee" gehört habe. Er lächelte verlegen, und ich suchte ihm die Beschämung über den tatsächlichen Untergrund seiner „Reise" durch einige freundliche Worte zu ersparen. Von den mit der Pseudologiaphantasticaim engen Zu- sammenhang stehenden Erscheinungen seien zwei erwähnt, von denen die eine beim männlichen, die andere beim weiblichen Geschlecht häufiger zu beobachten ist. Die eine ist das pathologische Hoch- staplertum, die andere die Sucht, anonyme Brief e zu schreiben. Einen bemerkenswerten Fall, der in das letzte Gebiet schlägt, teilte mir vor einiger Zeit Kriminalkommissar K. mit. In einem kleinen Orte wurde seit mehreren Jahren die Frauen- welt, namentlich ältere ledige Mädchen, durch anonyme Briefe be- Hirschfeld, Sexualpathologie. III. -17 9gg IV. Kapitel: Sexualneurosen lästigt, die unanständige Anspielungen schlimmster Art enthielten. Die Ortsbehörden hatten einen bestimmten Verdacht, der bereits so- weit gediehen war, daß man zur Verhaftung eines Mädchens, einer Gutsbesitzerstochter schreiten wollte, als man sich entschloß, noch einen Berliner Kriminalkommissar zu Rate zu ziehen. Als dieser die Dame vernahm, welche die Anzeige erstattet und auch die meisten Briefe erhalten hatte, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, ob nicht diese etwa selbst die Täterin wäre. Mit äußerstem Geschick verfolgte er die Fährte, die seine Vermutungen bestätigte. Es han- delte sich um eine schwere Hysterika. Auch in akuteren Ekstasen, wie im Blutrausch, Kampf- und Kriegsrausch kann sich viel geschlechtliche Spannung entladen, wie ich in meiner kleinen Schrift „Kriegspsychologisches" des näheren ausgeführt habe. Eine weitere Ekstase, von der seit jeher angenommen wird, daß sich in ihr viel aufgespeicherte „Brunst" auslebt, ist die religiöse „In- brunst", wie schließlich überhaupt in jeder sich über das durch- schnittliche Maß weit erhebenden Produktivität in jeder fanatisch vertretenen Überzeugung „viel umgewandelte Zeugungskraft" steckt. Die Freudsche Schule hat in diesem Sinne von Sublimierungen, Bloch von sexuellen Äquivalenten gesprochen; man kann diese Erschei- nungen aber auch einfach als Ablenkungen des Sexualtriebes auffassen, denn tatsächlich liegt kaum etwas anderes vor, als daß die latente Kraft der Sexualität mehr oder weniger unbewußt von ihrer eigentlichen Äußerung ab in eine andere Betätigungsform gelenkt wird, was in den meisten Fällen allerdings nur bis zu einem ge- wissen Grade möglich ist. Gegen den Trieb, an dessen Unter- drückung instinktiv gearbeitet wird, herrscht naturgemäß eine Ab- neigung, die sich gewöhnlich auf den bekämpften Trieb im allge- meinen, also auch bei anderen hier oft noch mit einer Eifersuchts- komponente gepaart, ausdehnt. So entsteht aus dem sexuellen Ver- dränger der sexuelle Verfolgertypus; je mehr nämlich der Trieb unter- drückt, verdrängt und abgelenkt wird, je größere Anforderungen liierfür erforderlich sind, um so stärker ist die sich daraus ergebende Gegeneinstellung gegen den Trieb, ein psychologischer Vorgang, der zum großen Teil die Anti-Erotik erklärt, die für subjektive Abwehr- gefühle nach objektiven Gründen strebt und durch diesen Kontra- mstinkt eine für viele geschlechtliche Empfindungsäußerungen un- gemein verhängnisvolle Verfolgung bewirkt und dauernd wach er- halten hat. Zu den wichtigsten ekstatischen Umsetzungen verdrängter Sexualität gehört auch noch die T a n z n e u r o s e. Ich habe in dieser Hinsicht sehr markante Fälle beobachtet. Es handelt sich hier Dicht um jene allgemeine Tanzwut, wie sie sich nach Kriegen und in Revolutionszeiten besonders heftig äußert, offenbar als Revers eines seelischen Drucks, der sich Ventile schafft, sondern um eine bei einzelnen meist sexualpathologischen Personen übermächtig auftretende Leidenschaft, die die davon Er- griffenen so beherrscht, daß sie nahezu unbeherrschbar erscheint. Oft paart sich diese 259 Sucht 'mit dem Drang nach eigenartiger Drapierung, Bemalung und sonstiger Verzierung des Körpers; manchmal sind es mehr schlängelnde Arm- und hebende Schulterbewegungen, bald mehr ein Wiegen des Bauches und der Hüften, manchmal mehr ein Schleifen, Wippen, Schnellen der Beine, durch die sich Tanzekstatiker entspannen. Dem- entsprechend bevorzugt der eine schmiegsame Walzerweisen, der andere Bauchtänze, wieder andere Tempeltänze, Schleiertänze, Schlangentänze, wilde Nigger-, Indianer- oder groteske Springtänze. Die meisten befinden sich in einer von der Umgebung losgelösten narzißtischen Ekstase, die fast an somnambule Zustände erinnert, wie man sie bei Schlaf- tänzerinnen beobachtet hat. Dali es sich hier um eine mehr oder minder starke Sexual- ekstase handelt, geht daraus hervor, daß der aufmerksame Beobachter nicht selten während des Tanzes einen feuchten Fleck in der Genitalgegend des Trikots oder Lendenschurzes erscheinen sieht; in einem Fall trat bei einem bekannten Tänzer fast regelmäßig am Schlüsse seiner Produktion, während das Publikum stark applaudierte, eine Pollution auf. Eine Solotänzerin von Rang berichtete mir: seit sie als Tänzerin auftrete, onaniere sie nicht mehr; beides bereite ihr die gleichen Empfindungen und dieselbe Lust. Von Eulenburg rührt der Ausspruch her : „Man wird in den meisten Fällen nicht Neurastheniker, sondern ist es. Die von Anfang an vorhandene Neurasthenie wird nur herausgebildet, entwickelt; allerdings auch durch die Umgebung, Erziehung und Selbstzucht ge- hemmt." Ich halte diese Bemerkung ebenso wie eine ganz ähnlicbe von Lewandowsky in bezug auf die Hysterie : „Man wird hyste- risch geboren, man wird es nicht" (Die Hysterie, Berlin, Springer 1914, S. 122) auf Grund meiner Erfahrungen in der Praxis nur in sehr beschränktem Maße für zutreffend. Gewiß ist die neuropathische Dis- position auch für die leichte oder weniger leichte Entstehung der Sexualneurosen von hohem Belang. Doch sieht man zweifelsohne auch Menschen mit sehr stabilem, gut verankertem Nervensystem gerade durch schädigende Einflüsse, die von der Sexualsphäre ihren Ausgang nehmen, zermürbt werden. Vor allem scheint beim Weibe auch das festeste Nervensystem zu erliegen, wenn ihm die normale Sexualbetätigung dauernd vorenthalten wird; ja es will uns fast bedünken, als ob eine Frau um so eher und stärker der Hysterie und Neurasthenie anheimfällt, je gesünder ihre Konstitution von Hause aus war und je stärker sie nach der Erfüllung ihrer natürlichen Bestimmung Verlangen trug. Ich habe diese Beobachtung namentlich bei jungen Ehefrauen machen können, die an inipotente Männer verheiratet waren; sie traten blühend, körperlich und seelisch völlig ausgeglichen in die Ehe, in liebevoller Erwartung der Umarmung des Gatten entgegen- . harrend und erfüllt von Sehnsucht nach Empfängnis und Mutterschaft. Unmittelbar nach der Hochzeit begann die Enttäuschung meist? mit frustranen Versuchen des Ehegatten, die alsbald als aussichtslos empfunden und aufgegeben wurden. Anfangs meinte die Frau dann vielfach, die eheliche Abstinenz leicht überwinden zu können, doch stellte es sich nur zu rasch als große- Selbsttäuschung heraus, indem die harmonische Stimmung beim besten Willen nicht aufrecht zu erhalten war und einer übergroßen Erregbarkeit alsbald das ganze Heer neurasthenischer und hysterischer Symptome folgte. So befindet sich augenblicklich in meiner Behandlung ein Ehepaar aus Schweden, das seit 2 Jahren ver- heiratet ist, ohne daßi die Ehe bisher konsumiert werden konnte. Bei deta bis zur Ehe- schließung enthaltsam lebenden Gatten fehlt jede Affinität an das weibliche Geschlecht. 17* 2gQ IV. Kapitel : Sexualneurosen Er war nicht wenig stolz auf seine völlige Keuschheit gewesen, die in Wirklichkeit doch weiter nichts war als mangelndes Geschlechtsempfinden. Die eingehende Exploration er^ab, daß offenbar eine starke gleichgeschlechtliche Komponente in ihm vorhanden war, die er jedoch in pädagogischer Betätigung auszuleben verstand. Seine Gattin hatte einige Semester Medizin studiert und fand bald mit sicherem Instinkt die psychischen Ursachen seiner Impotenz heraus; wie sie sehr bezeichnend darlegte, war es hauptsächlich die Art, wie er ihren Liebkosungen auswich, die sie zur Erkenntnis führte. In den ersten zwei Monaten der Ehe hoffte sie, daß die starken geistigen Interessen und die aufrichtige Kameradschaft, die beide Teile verband, auf die Dauer für ein harmonisches Zusammen- leben ausreichten. Während der dritten der Hochzeit folgenden Menstruation stellten sich jedoch bei ihr tiefe seelische Depressionen ein. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr meistern, weinte und schluchzte fast während des ganzen Tages und der Nacht. Früher sehr robust, magerte sie mehr und mehr ab und fühlte sich sehr hinfällig. Es stellten sich dann zitternde Bewegungen der Arme und Beine und Zuckungen des ganzen Körpers ein. Sie blieb im Bette liegen und behauptete, nicht mehr ^ehen zu können, ihre Beine seien wie gelähmt. Alle Suggestionen und Medikationen erwiesen sich als erfolglos. Das einzige, was sie beruhigte, war, wenn der geliebte Mann seine Hand auf ihre Stirn legte. Aber selbst diese Berührung verursachte ihm ein physisches Unbehagen, das er nur schwer überwinden konnte; die weiblichen Haare losten diesen Kontra-Instinkt in ihm aus. Im weiteren Verlauf litt die Frau an heftigen Be- ängstigungen, die sie mit den Worten schilderte: es sei ihr, als ob jemand sie würge, oder es sei ihr, als ob ein Schrei in der Kehle sitze, der heraus müsse: Tatsächlich schrie sie dann auch zeitweise laut auf,; was ihr eine gewisse Erleichterung gewährte. Allmählich trat auch eine Magendarmneurose hinzu. Sie verweigerte die Nahrungsaufnahme und war gänzlich obstipiert, so daß zur Regelung der Ernährung und Verdauung Schläuche von oben und unten eingeführt werden mußten. Nach einem halben Jahr hatte dieser Zustand einen solchen Umfang angenommen, daß tatsächlich das Schlimmste zu befürchten war. Diese Fälle zeigen deutlich, w ie ge- fühllos und rücksichtslos es ist, wenn immer wieder von Ärzten und Laien behauptet wird, die nervösen Störungen, die schlimmstenfalls nach Totalabstinenz eintreten könnten, seien nicht der Rede wert, und mit Geschlechtskrankheiten an Bedeutung nicht zu vergleichen. Abgesehen davon, daß solche Gegenüberstellungen zweier Übel als Trost eines wissenschaftlichen Forschers und Helfers unwürdig sind, lehren Beispiele, wie das soeben angeführte, eine wie schwerwiegende Beeinträchtigung des Lebens eine ausgespro- chene Hysteroneurasthenie herbeiführen kann. Eine relative Besserung trat in der Er- krankung der Frau ein, als sie in einer medizinischen Zeitschrift las, es könnte durch Implantation normaler Keimdrüsen das Empfinden des Mannes umgeformt werden. Auf dringendes Bitten der Frau erklärte sich der Mann bereit, die Operation an sich vor- nehmen zu lassen nicht seinetwegen, sondern ihretwegen, wie er hinzufügte. Von Stunde an trat in dem Befinden der Frau eine sichtliche Besserung ein. Die Hoffnung, ihre Ehe könne auf diesem Wege zur Perfektion gebracht werden, wirkte auf ihren Zustand m hohem Grade belebend ein. Vor allem schwand die seit mehreren Monaten bestehende Abasie und Astasie völlig. Sie stand auf und traf, wenn auch noch mit erheblicher Mattigkeit, alle Vorbereitungen zu einer gemeinsamen Reise nach Berlin, wo der ent- scheidende Eingriff vorgenommen werden sollte. Mit einem ausführlichen Bericht des schwedischen Kollogen, dem obige Mitteilungen entnommen sind, traf das Ehepaar hier ein. Bis zur Beschaffung des zur Einpflanzung geeigneten Testikels vergingen mehrere Wochen. Ich benutzte die Zeit, um auf die Frau psychisch beruhigend zu wirken, doch gelang es mir nur ganz vorübergehend. Sie sei entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu machen, wenn die Gefühlskälte ihres Mannes nicht beseitigt werden könne. Vor kurzem teilte mir der Mann mit, daß die Hodeneinpflanzung zwar keine Potentia coeundi bei ihm herbeigeführt hätte, immerhin jedoch seelische Zuneigung zu seiner Ehefrau, und (woran ihr besonders lag) die Fähigkeit, ihre Zärtlichkeit zu ertragen, so erheblich gebessert hätte, daß ihre Ehe jetzt als relativ glücklich zu bezeichnen sei. IV. Kapitel: Sexualneurosen 261 Auch dieser Fall zeigt wie so viele andere den psychogen- zentralen Ursprung der Sexualneurosen. Diese Erkenntnis ist gegenüber der alten Lehre von der peripheren und exogenen Entste- hung der Neurosen verhältnismäßig neueren Datums und noch keines- wegs Allgemeingut. Der ausgezeichnete amerikanische Arzt B e a r d , der als erster den Ausdruck Neurasthenie prägte und mit Inhalt erfüllte, verstand darunter eine chronische, funktio- nelle Erkrankung, deren Grundlage „eine Verarmung der Nervenkraft" sei. Arndt versuchte dann den Begriff der Neurasthenie anatomisch zu erklären. Nach ihm ist die Neurasthenie „eine Äußerung des Nervenlebens, die ebenso, wie alle anderen Äußerungen desselben, dem Nervenzuckungs- oder Nervenerregungsgesetz folgt, aber nicht dem des gesunden, sondern des ermüdeten oder absterbenden Nerven". Er unterscheidet zwei Stadien im Verhalten des ermüdeten Nerven, das erste ist das Stadium der einfachen Ermüdung, ausgezeichnet durch eine relative Steigerung der Er- regbarkeit; das zweite das Stadium der Erschöpfung, charakterisiert durch eine Herab- setzung der Erregbarkeit. Nach Eulenburg hat dann L e c h n e r die Zustände der gesteigerten Reizbar- keit und raschen Ermüdung nicht auf die Nervenele'mente allein bezogen, sondern ver- möge einer Art von Wechselwirkung zwischen Nerv und Muskel in der Weise zu verteilen gesucht, daß bei der Nerventätigkeit das Element der gesteigerten Reizbarkeit, bei der Muskeltätigkeit das der raschen Ermüdung in den Vordergrund trete. Dementsprechend überdauert die Tätigkeit des ermüdeten Muskels die Funktion der Nerven und prägt sich im Bewußtsein ein, so daß auf diese Weise psychische Eindrücke entstehen, die sonst unter der Bewußtseinsschwelle geblieben wären. Die Neurasthenie charakterisiert sich durch dieses ausgeprägte Bewußtwerden der psychischen Aktionen: einerseits Über- reizbarkeit der Nerven, andererseits Schwächezustände der Muskulatur, endlich körper- liche Empfindungen, die, auf ungewohnte Weise sich aufdrängend, eine Menge von abnormen Vorstellungen im Bewußtsein erzwingen. Dieser Fassung schließt sieh Eulenburg im wesentlichen an und sagt, daß zu» besseren Verständnis der Neurasthenie der Hauptakzent „auf eine abnorm lange und starke Nachdauer der Empfindungen gelegt werden müsse, die sich eben deswegen als verstärkte Unlustgefühle im Bewußtsein geltend machen". Krafft-Ebing , bezeichnet die Neurasthenie als eine Neuropsychose, da sie eine das ganze Nervensystem heimsuchende Neurose sei, bei der psychische Störungen eine hervor- ragende Rolle spielen. Schon B e a r d selbst zweigte von der allgemeinen Neurasthenie eine spezielle Gruppe, die sexuelle Neurasthenie ab. Ein erst nach seinem Tode von Rockwell herausgegebenes Manuskript ist ausschließlich dieser Krankheitsgruppe gewidmet, ohne daß man allerdings behaupten könnte, daß der Begriff scharf bestimmt und vor allem die sexuelle Ätiologie klar herausgearbeitet ist. Dieses gelang erst Freud. In einer 1898 (in der Berliner klinischen Rundschau) veröffentlichten Arbeit über: „Die Sexualität in der Ätiologie der Neurose" sagt Freud : „Durch ein- gehende Untersuchung bin ich in den letzten Jahren zur Erkenntnis gelangt, daß Mo- mente aus dem Sexualleben die nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen eines jeden Falles von neurotischer Erkrankung darstellen." In dem Werke von Löwen- feld: „Sexualleben und Nervenleiden" gibt Freud dann selbst eine genaue Schilde- rung seiner Theorie über die ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neurosen, und zwar indem er der Entwicklung seiner Lehre nachgeht. Ursprünglich bezog sich seine Lehre nur auf die als Neurasthenie bezeichneten Krankheitsbilder, unter \ 262 denen er die eigentliche Neurasthenie von der Angstneurose unterschied. Daß sexuelle Momente bei diesen Leiden eine ursächliche Rolle spielen, wurde allerdings langst vor Freud angenommen, doch glaubte man nicht, daß dieselben regelmäßig in Betracht kamen öder auch nur häufiger als andere Einflüsse. Je mehr Freud darauf ausging, in der Vor- geschichte der Nervösen nach Störungen in der Vita sexualis zu suchen, je geschickter er wurde die Untersuchungen trotz anfänglicher Ablehnung fortzusetzen, um so regel- mäßiger stieß er auf die sexuelle Ätiologie, bis an ihrer Allgemeinheit wenig mehr zu fehlen schien. Daß infolge der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse mangelnde Sexualentspannung sehr oft vorhanden sein würde, war von vornherein anzunehmen. Zweifelhaft war nur, welches Maß abweichender S e x u a 1 f u n k 1 1 o n als Krankheitsursache wirksam sein dürfte. Nach Freud sind die sexuellen Schädigungen^ welche zur Angstneurose führen, verschieden von denjenigen, welche die eigentliche Neurasthenie herbeiführen. Bei der Neurasthenie handele es sich mehr um akutere Anlässe, wie Coitus Interrupts, frustrane Erregungen, Masturbation und Enthaltung bei starken geschlechtlichen Be- dürfnissen. Hinsichtlich der Ätiologie der Angstzustände äußert sich Freud: „Die Er- scheinungen der Angstneurose kommen zustande, indem die von der Psyche abgelenkte somatische Sexualerregung sich sub- kortikal in ganz und gar nicht adäquaten Reaktionen ausgibt. Hei den Mischformen von Neurasthenie und Angstneurose sah Freud eine 'vermengung beider ursächlicher Momente. In jener Zeit war hinsichtlich der Psychoneurose, Hysterie und Zwangsvorstellung derselbe Autor noch der Meinung, daß diese allgemein psychogen bedingt seien, ohne daß hier dem sexuellen Moment eine andere als emotionelle Bedeutung zukäme. Gemeinsam mit Breuer hatte er bereits längere Zeit vorher Beobachtungen an Hysterischen angestellt, um den Mechanismus der Entstehung der Hysterie durch das Erwecken von Erinnerunsen in der Hypnose zu ergründen. Beide waren zu der Uber- zeugung gelangt, daß die hysterischen Erscheinungen nicht nur W irkungen seelischer Traumen seien, die von der bewußten Wahrnehmung abgedrängt seien und sich abnorme Wege innerhalb des Nervensystems gebahnt hätten. Man sprach in diesem Sinne von eingeklemmten Affekten und Konversionen einerseits, sowie auf der änderet Seite von a b r e a g i e r e n. Nach und nach kam man nun bei diesem k a t h a r 1 1 s c h e n Verfahren auch zu Erlebnissen sexueller Natur, die gewöhnlich in der Kindheit Er- krankten angehörten, so daß immer mehr die Erkenntnis Platz griff, daß sich hinsicht- lich der Ätiologie die einfachen Neurosen kaum vori den Psychoneurosen unterschieden, was bei der nahen Verwandtschaft ihrer Symptome auch kaum verwunderlich war. Freud kam zu dem Satz: Die Hysterie sei der Aus- druck eines besonderen Verhaltens der Sexualfunk- tionen des Individuu m s. Als Gipfel seiner Lehre bezeichnet er die These: Bei nor m aler v i t a sexualis ist eine Neu- rose unmöglich. Später fügte Freud die hysterischen Phanta- sien als wesentliche Ergänzungen hinzu, wobei sich ihm eine über- raschend^ Analogie zwischen unbewußten Erinnerungsdichtungen der Hysteriker und den wahnhaft scheinenden Erinnerungsdichtungen bei der Paranoia ergab. Hierbei wurde den infantilen Sexual- erlebnissen zwar eine ausschlaggebende Rolle zuerteilt, ohne jedoch konstitutionelle und hereditäre Momente zu leugnen. Freud hatte gehofft, das Problem der Neurosenwahl, die Entscheidung also, welcher Form von Psychoneurosen der Kranke verfällt, durch die Einzelheiten der sexuellen Kindererlebnisse zu lösen, indem er meinte, daß passives Verhalten bei diesen Vorkommnissen zu Hysterie, aktives dagegen zur Zwangsneurose führe. Ein großes IV. Kapitel: Sexualneurosen 263 Verdienst war es hierbei, daß er die bis dabin im Vordergrund stehende allgemeine neuropathisehe Disposition durch die sexuelle Konstitution ersetzte. Für die pathogene Wirksamkeit galt als Be- dingung, daß sie in dem Ich ein Bestreben zur Abwehr hervorrief. Auf diese Abwehr führte Freud die psychische Spaltung der Hysterie zurück. Die Erkrankung entsprach einem Mißglücken der Abwehr. Den größten Wert legt Freud auf die infantilen Sexualtraumen . Hier führte er den Begriff der Verdrängung ein, anstatt der früheren „Abwehr". Es kam also weniger darauf an, was eine Person in ihrer Kindheit an sexuellen Erregungen erfahren hatte, als auf die Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob .jemand diese Eindrücke mit Verdrängung beantwortete oder nicht. Der geschlechtsreife Neurasthcniker bringt nach ihm regelmäßig ein Stüc.k S e x u a 1 v e r d r ä n g u n g aus seiner Kindheit mit. Die Psychoanalysen zeigen, daß die Erkrankungen auf einem Kon- flikt zwischen Lihido und Sexualverdrängung beruhten und die Symptome Kompromisse darstellen zwischen den beiden seelischen Strömungen (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905). Bei den Per Versionen handelt es sich, immer nach Freud, um eine übermächtige zwangartige Entwicklung einzelner Partialtriebe des in der Kindheit „polymorph pervers" veranlagten Individuums, bei den Neurosen um eine zu weit gehende, für das Individuuni undurchführbare Verdrängung libidinöser Strebungen. In gewisser Beziehung ist die Neurose als Negativ der Perversion zu bezeichnen, da der infantilen Anlage alle perversen Triebe inne- wohnten. Freud hält es der Hervorhebung wert, daß seine An- schauungen über die Ursachen der Psychoneurosen bei allen Wand- lungen zwei Gesichtspunkte nie verlassen habe: die Schätzung der Sexualität und des Infantilismus. Erst die psychoanalytische Er- forschung hat die Bedeutung der sexuellen Faktoren bei den Psycho- neurosen erwiesen, die man sonst auf die banalsten Gemüts- bewegungen und allerlei körperliche Anlässe zurückführte. Nicht nur, daß sich die hysterische Symptomatologie zum großen Teil als Äußerung sexueller Erregtheit darstellt, die kompliziertesten Symptome selbst ergeben sich als konvertierte Darstellungen sexueller Phantasie. Demnach sind die Psychoneurosen Störungen der Sexual Vorgänge bzw. jener Vorgänge, welche die Bildung und Bewegung der geschlechtlichen Libido be- stimmen; Freud meint, daß man sich diese Vorgänge in letzter Linie als chemische vorzustellen habe, so daß man in den aktuellen Neurosen die rein körperliche, in den Psychoneurosen außerdem noch die psychische Wirkung dl e r Konstitution in Verbindung mit Stö- rungen im Sexualstoffwechsel ersetzte. Er hebt die Ähnlichkeit der Neurosen mit Intoxikations- und 264 IV. Kapitel: Sexualneurosen Abstinenz ersehe i'nungen nach gewissen Toxinen, sowie mit der Basedowschen und Addisonsehen Krankheit hervor. Dies ist sehr augenfällig und legte die Vermutung nahe, daß diese anscheinend funktionellen Erkrankungen gleichfalls toxischer Natur sind. Im übrigen ist das ätiologische Problem bei den Neurosen nicht weniger verwickelt wie bei der Krankheitsverursachung überhaupt, ja wie vielleicht bei jeder Verursachung. Eine einzige pathogene Einwirkung ist fast niemals hinreichend. Die Erkran- kung ist auf eine Summation ätiologischer Bedingungen zurück- zuführen, auf ein Maß, das von irgendeiner Seite vollgemacht werden kann. Freud schließt seine Ausführungen: „Die Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der Heredität oder in der Kon- stitution zu suchen, wäre keine geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die akzidentellen Beeinflussungen im Leben zur Ätio- logie erheben wollte, wenn sich doch die Aufklärung gibt, daß das Wesen dieser Erkrankungen nur in einer Störung der Sexual - Vorgänge im Organismus gelegen ist. Hinsichtlich der Zwangs- vorstellungen sagt Freud: „Die verdrängten Regungen und Vor- stellungen, aus denen das Zwangsprodukt hervorgeht, stammen ganz allgemein aus dem Sexualleben. Löwenfeld teilt die Ansichten Freuds, daß für die Zwangsvorstellung» krank heit die sexuellen Momente ausschlaggebend seien. Meinen eigenen Standpunkt zu Freud möchte ich unter Zu- grundelegung obiger Darlegungen und meiner 25jährigen Arbeit auf sexualwissenschaftlichem Gebiet, in der ich Gelegenheit hatte, eine in die Tausende gehende Anzahl von Sexualneurotikern kennen zu lernen, wie folgt präzisieren. Hinsichtlich der Art, wie ein Mensch seine Sexualität verarbeitet, und den Fol- gen dieser Verarbeitung auf das Nerven- und Seelenleben stimme icli in allem Wesentlichen mit Freud überein; die Sexualität aber als solche, vor allem ihre Richtung und Stärke beruht auf der eigenen Sexual - konstitution, die von den Geschlechtsdrüsen und ihrem Che- mismus abhängig ist und fast nichts mit psychischen Ursachen, Komplexen und Infantilerlebnissen zu tun hat. Es dürfte sich mit der inadäquaten Sexualität einer- seits . und der Hysteroneurasthenie und den Psycho- neurosen andererseits ganz ähnlich verhalten , wie mit der Tabes und P a r a ly s e in ihrem Verhältnis zur Lues. Auch hier nahm man noch in meiner Studentenzeit (Erb in Heidelberg) einen zwar häufigen, keineswegs aber regelmäßigen Zusammenhang an, gelangte allmählich dazu, daß nur selten eine andere als syphili- tische Ätiologie in Frage käme, bis man schließlich auf Grund sero- logischer und anderweitiger Feststellungen die Gehirnerweichung IV. Kapitel: Sexualneurosen und Rückenmarksschwindsucht als einfach metaluetische Er- krankungen erkannte. Eine ähnliche Entwicklungsgeschichte be- obachten wir jetzt in bezug auf die Lehre der Beziehungen zwischen mangelhafter Sexualentspannung und allgemeinen Neurosen. Daß diese Analogie mehr als ein Vergleich ist, zeige der Hinweis, daß es sich auch bei dieser Ätiologie der Sexualneurosen keineswegs um rein seelische „Verknotungen" handelt, sondern um Autointoxi- kationen. Im folgenden will ich nun noch die hauptsächlichsten Momente besprechen, von denen wir annehmen, daß sie sich so weit von dem sexuellen Optimum, Maximum und Minimum, sei es in qualitativer und quantitativer Beziehung, entfernen, daß sie sich als Schä- digungen für den menschlichen Organismus erweisen, deren un- mittelbare Folgen in den Sexualneurosen zum Ausdruck gelangen. Diese Momente sind: a) Sexual abstinenz, b) ein nicht adäquater Sexualverkehr, c) „unglückliche Lieb e", d) der Coitus interruptus und prolongatus, e) Eiaculatio praecox, f ) die Ipsation, g) Geschlechtskrankheiten, vor allem Tripper, h) geschlechtliche Unmäßigkeit, i) sexuelle Traumen. In der Frage der sexuellen Abstinenz stehen sich immer noch verschiedene Meinungen gegenüber. Eine Anschauung geht dahin, daß die geschlechtliche Enthaltsamkeit für niemanden nachteilig sei und von jedermann durchgeführt werden könne. Sie wird nament- lich von Laien in den sogenannten Sittlichkeitsvereinen vertreten, jedoch auch durch medizinische Gutachten gestützt; allerdings können diese keinen Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit machen, die nur dann vorhanden wäre, wenn sich die Angaben auf tatsächliche, umfangreiche Erfahrungen und vorurteilslose Be- obachtungen stützen würden. Das trifft aber bei keiner der Ausfüh- rungen zu, auf welche immer wieder zurückgegriffen wird, um dar- zutun, daß weder Mann noch Weib sexueller Betätigung bedarf. Entsprechend der Auffassung und sehr affektbetonten Kampfesweise der Sittlichkeitsvereine heißt es bezeichnend in einer ihrer Flug- schriften: „Die Lehre, daß Keuschheit der Gesundheit nachteilig sein könne, stammt aus dem Bordell." Eine ganze Reihe von An- hängern der Abstinenzpropaganda vertreten und verbreiten die An- schauung, daß ganz allgemein die geschlechtliche Enthaltung die körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen hebe. Die Stoffe der Keimdrüsen würden angeblich resorbiert und dadurch dem Auf- 266 hau des Organismus nutzbar gemacht. Es kommt hier noch der theo- retische Gedanke der Sublimierung des Geschlechtstriebes hinzu, etwa in dem Sinne Nietzsches, der einmal sagt, daß der Geschlechts- trieb auch an die Maschine gestellt werden könne. Wenn die Ver- treter dieser Kichtung sich gewöhnlich darauf berufen, daß viele geistig hochhedeutende Männer, namentlich die Philosophen, ein Leib- niz, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, wie schon ' Spinoza und Car- tesius als Junggesellen ihr Leben verbracht hätten, so ist damit zu- nächst nicht erwiesen, daß sie wirklich geschlechtlich abstinent ge- lebt haben, namentlich wenn man nicht außer acht läßt, daß mög- licherweise sexuelle Triebstörungen bei ihnen vorhanden gewesen waren. Vor allen Dingen kann das, was für diese Ausnahm e- menschen gilt, keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Denn das scheint in der Tat zuzutreffen, daß das Sexualleben von Per- sonen, die intensiv geistig produzieren, im Durchschnitt nicht mit dem körperlich stark produktiver Menschen übereinstimmt. Wenn der hervorragende Maler Adolf von Menzel in seinem Test;, ment erwähnt, daß er niemals in seinem Leben ein Weib berührt habe, so muß angenommen werden, daß dieser schöpferische Geist in o'e'schlechtlicher Hinsicht von der Norm wesentlich abwich, ohne daß" damit etwa gesagt sein soll, daß sein Geschlechtstrieb sich nach anderer Kichtung hetätigt hätte. Wer Menzel persönlich kannte, wird über den sexuellen Negativismus dieses genialen Gno- men, der höchstwahrscheinlich endokrin bedingt war, kaum erstaunt sein. Die Keuschheitsvertreter berufen sich auch darauf, daß schon im Altertum wie in der Neuzeit bei der Vorberei- tung zu Wettspielen auf die Enthaltung von sexuellem Verkehr ein besonderer Wert gelegt wurde. Schon für die Teilnehmer an den olympischen Spielen forderte ein strenges Gebot, daß alle Exzesse in Baccho et Venere vermieden werden mußten. Man übersieht aber, daß es sich doch hier nur um temporäre Abstinenz handelt im Sinne der wirklichen Bedeutung des Begriffes der Askese. Denn dieses Wort heißt ursprünglich nur „Übung", zeitweilige Enthal- tung, also Mäßigkeit, nicht wie es später vielfach gebraucht wurde: dauernder Verzicht. Auch die Berufung auf die im Cölibat leben- den Priester als Beweismittel der Entbehrlichkeit geschlechtlicher Betätigung ist nicht durchschlagend; abgesehen davon, ob und in- wieweit Ehelosigkeit tatsächlich Keuschheit bedeutet, gibt der Um- stand zu denken, daß, wie von Lehensversicherungen festgestellt wurde, die Sterblichkeitsverhältnisse katholischer Geistlicher un- günstiger sind wie die verheirateter protestantischer. Von einigen Autoren wird angenommen, daß die geschlechtliche Enthaltung bis zu einem gewissen Alter für beide Geschlechter nutz- bringend oder jedenfalls nicht nachteilig sei, über diese Grenzen aber Bedenken hätte. IV. Kapitel: Sexualneurosen 267 Dieses Alter wird sehr verschieden artgenommen, mein Lehrer Erb in Heidelberg- erklärte die geschlechtliche Enthaltung bis zum 20. Lebensjahre für nützlich, nach dieser Zeit für schädlich, namentlich für nervöse Menschen. Erbs Antipode Ley den gab das 30. Lebensjahr als Grenze an, nach dem 30. Lebensjahre, meinte er, könne die Ab- stinenz allerlei seelische Störungen, namentlich depressiver Art herbeiführen; bis dahin sei sie ungefährlich. Für die Mitte, also etwa für das 25., entscheidet sich Tarnowsky, während andere wiederum das Alter, in dem Abstinenzstörungen eintreten können, wesentlich früher ansetzen. Zu berücksichtigen sind neben individuellen Mo- menten auch solche der Umwelt, die auf den Sexualtrieb erregend wirken. Mit Recht sagt Neißer: „Eine 'etwas länger als heute fortgesetzte Abstinenz würde wohltätig sein, aber unsere Zivilisation reizt in sexueller Hinsicht. Natürlich liegt für gesunde Männer im normalen Geschlechtsverkehr nichts Schädliches." Die dritte Ansicht, welche in der Abstinenz eine psychische Kastration erblickt, faßt am prägnantesten Max Marcuse in dem Satz zusammen: „nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft und Praxis ist die geschlechtliche Enthaltung eine gewichtige Ursache geistiger und körperlicher Krankheiten". Die Anhänger dieser Lehre sind in stetiger Zunahme be- griffen, namentlich durch den Einfluß der Veröffentlichungen Freuds. Freud schreibt: „Die Abstinenz weit über das z w a n z i g s t e Jahr hinaus ist aber für den jungen Mann nicht mehr unbedenklich und führt zu anderen Schädigungen, auch wo sie nicht zur Nervosität führt. Man sagt zwar, der Kampf mit dem mächtigen Triebe und die dabei erforderliche Betonung aller ethischen und ästhetischen Mächte im Seelenleben stähle den Charakter, und dies ist für einige besonders günstig organisierte Naturen richtig- zuzugeben ist auch, daß die in unserer Zeit so ausgeprägte Differenzierung der indi- viduellen Charaktere erst mit der Sexualeinschränkung möglich geworden ist. Aber in der weitaus größeren Mehrheit der Fälle zehrt der Kampf gegen die Sinnlichkeit die verfügbare Energie des Charakters auf und dies gerade zu einer Zeit, in welcher der junge Mann all seiner Kräfte bedarf, um sich einen Anteil und Platz in der Gesellschaft zu erobern . . .", und an anderer Stelle: „Die allen Autoritäten genehme Behauptung, die sexuelle Abstinenz sei nicht schädlich und nicht gar schwer durchzuführen, ist viel- fach auch von Ärzten vertreten worden. Man darf sagen, die Aufgabe der Bewältigung einer so mächtigen Kegung wie des Sexualtriebes anders als auf dem Wege der Befriedigung ist eine, die alle Kräfte eines Menschen in An- spruch nehmen kann. Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkungen der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziel weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl und auch wohl dieser nur zeitweilig, ata wenigsten in der Lebenszeit feuriger Jugendkraft, die meisten anderen werden neurotisch oder kommen sonst zu Schaden. Die 'Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der unsere Gesellschaft zusammen- setzenden Personen der Aufgabe der Abstinenz konstitutionell nicht gewachsen ist; wer auch bei milder Sexualeinschränkung erkrankt wäre, erkrankt unter den Anforderungen unserer heutigen kulturellen Sexualmoral um so eher und um so intensiver, denn gegen die Bedrohung des normalen Sexuallebens durch fehlerhafte Anlagen und Entwicklungs- störungen kennen wir keine bessere Sicherung, als die Sexualbefriedigung. Je eher jemand zur Neurose disponiert ist, desto schlechter verträgt er die Abstinenz." Freud sagt einmal: „Im allgemeinen habe ich nicht den Ein- druck gewonnen, daß die sexuelle Abstinenz energische selbständige Männer der Tat, oder Originale, Denker, kühne Befreier und Reformer heranbilden hilft, viel eher brave Schwächlinge, die später in die große Masse eintauchen und den von starken Individuen gegebenen Bahnen folgen. Wenn ich mir selbst diejenigen Personen vergegenwärtige, welche ich in meiner Praxis als Abstinenten bis zum 30. Lebens- jahre kennen lernte, so muß ich bei ganz objektiver Prüfung sagen, daß diese Personen ausnahmslos einen eigentümlichen Eindruck machten, der alles in allem kein überdurchschnittlicher, sondern eher 268 IV. Kapitel: Sexualneurosen das Gegenteil war. Es waren meist scheue, verängstigte, dem Leben nur mangelhaft gewachsene Männer, oft Menschen von hypochon- drischen Skrupeln und merkwürdigen Zwangsgedanken. Nahezu alle lernte ich dadurch kennen, daß sie mich nach Eingehung der Ehe aufsuchten und nun sich nicht in der Lage sahen, den Beischlaf zu vollziehen. Mehr noch wie sie selbst waren darüber gewöhnlich ihre Frauen unglücklich. Fast alle diese Abstinenten rechneten sich ihre Keuschheit bis zur Ehe als Verdienst an, während es sich in Wirk- lichkeit nur um einen schwach entwickelten Geschlechtstrieb oder um mehr oder minder nervöse Hemmungen handelte. Das Auftreten von Impotenz als Folge geschlechtlicher Enthaltsamkeit wird von den meisten bezweifelt und ist auch früher von mir bezweifelt wor- den, bis ich durch eine größere Anzahl männlicher Personen meiner Praxis, die bis zu ihrer Ehe völlig abstinent gelebt haben, anderer Meinung geworden bin. Man muß dabei allerdings beachten, daß Männer, die bis zum 30. Jahre völlig abstinent gelebt haben, ver- mutlich an und für sich einen nicht allzu heftigen Geschlechtstrieb gehabt haben dürften, vielmehr im Gegenteil oft sehr geringe sexu- elle Eegungen besaßen. Es wird hier wie so oft Anlage und Ver- dienst verwechselt. Es sind mir nicht selten jung verheiratete Männer zu Gesicht gekommen, die wegen völliger Impotenz zu mir kamen und bereuten, daß sie sich nicht vor der Ehe vorher verge- wissert hätten, ob ihnen der Beischlaf mit dem Weibe möglich wäre. Einer bemerkte: „Das habe ich nun von meiner Keuschheit bis zur Ehe, daß ich meine Frau nicht befriedigen kann.*' Ein anderer, 38 Jahre alt, meinte: „Hätte ich gewußt, daß ich meine Manneskraft verlieren würde, wäre ich nicht dem Weißen Kreuz (Keuschheits- verein) beigetreten." Auf Grund meiner großen Erfahrungen in dieser Frage stehe ich nicht an, zu erklären, daß ein Mann, dessen Potenz nicht sichergestellt ist,, nicht das Recht hat, eine Frau an sich zu fesseln. Sicherlich dürfte ebenso oft die Abstinenz eine Folge mangelnder Potenz als die man- gelnde Potenz eine Folge der Abstinenz sein. Ein Beispiel dafür, wie ein impotenter Ehemann auf ein gesundes Eheweib wirkt, will ich an Hand folgenden Eheanfechtungsgutachtens geben: Der Herr stud. phil. Paul Seh., geboren am 10. Januar 1890, und seine Ehefrau Gertrud geb. M., geboren am 5. Juni 1894, haben sich gemeinsam an uns gewandt zwecks ärztlicher Beurteilung ihrer ehelichen Gemeinschaft. Sie erklären, daß seit Be- ginn ihrer am 3. Mai 1915 geschlossenen Ehe eine geschlechtliche Vereinigung niemals zustande gekommen wäre und beabsichtigen, eine Nichtigkeitserklärung dieser Ehe herbeizuführen. Herr und Frau Sch. lernten sich zweieinhalb Jahre vor ihrer Verheiratung kennen. Sie wurden von einer gemeinsamen Bekannten zusammengebracht, die der Meinung war, daß sie sich zur Ehe miteinander eigneten. Herr Sch. war damals Seminarlehrer. Ob- wohl eine eigentliche erotische Anziehung oder tiefere seelische Neigung zwischen beiden nicht bestand, beschlossen sie nach Kenntnis ihrer gegenseitigen Verhältnisse, sich zu verloben. Von Seiten der Frau war der Wunsch maßgebend, von Hause fortzukommen, IV. Kapitel: Sexualneurosen 269 ^inen eigenen Hausstand zu führen, und vor allem die Sehnsucht nach dem Manne, ein natürliches geschlechtliches Liebesempfinden, verbunden auch mit mütterlichen Instinkten. Für alle diese Wünsche glaubte sie in ihrem Manne einen geeigneten Partner gefunden zu haben, trotzdem ihr von Anfang an seine Leidenschaftlosigkeit und Sachlichkeit auf- fiel. Die Mutter, mit der sie über diese Leidenschaftlosigkeit des Verlobten sprach, meinte, das fände sich alles in, der Ehe; ihr Verlobter sei eben sehr moralisch und zu anständig, um schon vor der Ehe zärtlich zu werden. Die für Herrn Sch. ausschlaggebenden Gründe der Verlobung waren in erster Linie der Gedanke, daß er im eigenen Haushaltung bessere Pflege und Abwartung haben würde; vor allem aber dachte er an seine Wissenschaft, die Mathematik, für die er von jeher starkes Interesse besaß. Um sich ganz diesem Fach unter Aufgeben seines bisherigen Lehrerberufs widmen zu können, bedurfte er mate- Tieller Mittel, die ihm von seinen gut situierten Schwiegereltern gern zur Ver fügung gestellt wurden. Obwohl es bereits in der Verlobungszeit zu mancherlei Meinungsverschiedenheiten kam, scheuten beide Beteiligten doch vor der Aufhebung der Verlobung zurück. Sch. schob aber den Hochzeitstag immer wieder hinaus, bis endlich ein Machtwort des Schwiegervaters die Entscheidung brachte. Die Ehe erwies sich von vorn- herein als unhaltbar. Zwar bemühten sich beide Ehegatten, einander mit Achtung und Neigung zu begegnen. Aber nach der übereinstimmenden Angabe beider Beteiligten gelang der eheliche Geschlechtsverkehr kein einziges Mal. Und zwar lag die Ursache zu diesem Mißlingen beim Ehegatten, Herrn Sch., dessen Glied entweder überhaupt nicht in erigierten Zustand geriet, oder nach ganz flüchtiger Erektion in begattungsunfähigen Zustand zurückverfiel.' Unter den häufigen vergeblichen Versuchen, die zur Erzielung ehe- lichen Verkehrs unternommen wurden, litt vor allem die Ehe- frau; und noch mehr litt dieselbe unter der Abstinenz, dem Mangel an ehelichem Glück unter derartigen Umständen. Es kam zu Unausgeglichenheiten beider Ehegatten, ja so- gar zu Zusammenstößen, durch welche die Nerven beider Beteiligten noch weiter bean- sprucht wurden. Während des ersten Halbjahrs der Ehe waren beide Ehegatten geneigt, die Ursache der Unfähigkeit des Herrn Sch., mit seiner Frau in ehelichen Geschlechts- verkehr treten zu können, in einer vorübergehenden Nervenschwäche zu suchen. Herr Sch. bereitete sich damals unter Aufwand aller Energie zur Reifeprüfung vor. Beide Ehegatten nahmen an, daß nach Bestehen derselben eine Erholung und Kräftigung im Gesamtbefinden des Herrn Sch. eintreten würde, welche ihn zur Ausübung des ehelichen Geschlechtsverkehrs wieder fähig mache. Nachdem aber im November 1019 das Examen bestanden war, und eine Änderung in dem Gesundheitszustande und der Be- gattungsfähigkeit des Ehegatten nicht eingetreten war, kam Frau Sch. im Laufe der fol- genden Monate mehr und mehr zu der Überzeugung, daß sie sich über eine wesentliche Eigenschaft in der Person ihres Gatten im Irrtum befunden habe, deren Kenntnis sie bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe vom Eheschluß abgehalten haben würde. Es war die Aufgabe der ärztlichen Untersuchung, festzustellen, ob diese Auffassung der Frau Sch. über die Ehefähigkeit ihres Gatten objektiv berechtigt war. Zu diesem Zwecke prüften wir den Gesundheitszustand des Ehegatten Sch., speziell im Hinblick auf die Art und die Dauer der behaupteten Begattungsunfähigkeit. Ferner aber untersuchten wir Frau Sch., um festzustellen, ob sie selben tauglich zur Ehe mit diesem Ehegatten ge- wesen sei, und ferner ob ihr aus dem Versagen ihres Ehegatten in sexueller Hinsicht gesundheitlicher Schaden erwachsen sei. Herr Sch. stammt aus gesunder Familie, bot aber als Kind einige neuropathische Zeichen. Seine Entwicklung war eine regelrechte und frei von schweren Krankheiten. Seine geistige Begabung war eine gute. Jedoch blieb er ein sensibler und dabei stiller, etwas in sich gekehrter Mensch ohne große äußere Aktivität. Im Kriege wurde er im Septe'mber 1915 verwundet: er verlor durch ein Infanteriegeschoß das rechte Auge. Das 270 IV. Kapitel: Sexualneurosen Gehirn wurde nicht in grober Weise in Mitleidenschaft gezogen; immerhin erlitt er eine Gehirnerschütterung mit Brechanfällen und war mehrere Monate lang sehr apathisch. Am bedeutsamsten sind seine Angaben über seine geschlechtliche Beanlagung. Hiernach hat er von seiner Mutter eine äußerst geringe geschlechtliche Bedürftigkeit er- erbt. Auch nach der Geschlechtsreife, die regelrecht sich vollzog, trat ein eigentlicher Geschlechtstrieb bei ihm nicht auf. Gewi ß fühlte er sich zu fraulichen Erscheinungen hingezogen, aber, ohne eigentliches Bedürfnis nach geschlechtlichem Verkehr. So ist er ohne geschlechtliche Befriedigung ausgekommen. Vor Eingang der Ehe habe er gehofft, die ihm felüende Leidenschaft werde sich in der Ehe selber finden. In der Ehe aber habe diese Hoffnung sich als falsch erwiesen. Oft- mals habe er den Versuch gemacht, in ehelichen Verkehr mit seiner Frau zu treten. Nie- mals sei ihm dies geglückt. Nach den ersten Versagern hätten sich jedesmal Angstgefühle und andere seelische Hemmungen eingestellt und eine Erektion verhindert. Diese ge- schlechtliche Nichtbefriedigung mit vorangehender vergeblicher Erregung habe auch auf seine Nerven ungünstig eingewirkt. Er habe den Mißstimmungen seiner Frau, so ver- ständlich sie ihm waren, nicht mehr mit der nötigen Ruhe begegnen können, sei selber immer nervöser und unausgeglichener geworden und habe die sichere Überzeugung, daß es ihm völlig unmöglich sei, mit dieser Frau jemals zu einer ge- schlechtlichen Vereinigung zu kommen. Versuche bis in die letzte Zeit hinein hätten ergeben, daß seine geschlechtliche Erregung um so mehr nachlasse, je mehr die seiner Frau anwachse, und je mehr er sich bemühe, dem Rechnung zu tragen. An eine Einführung des Gliedes sei überhaupt nicht zu denken. Auch der Gedanke an Nach- kommenschaft, die beide Teile sich sehnlichst wünschten, vermöge daran nichts zu ändern. Seine sehr seltenen Samenergüsse seien Schlafpollutionen. Körperlich ist Herr Sch. ein gutgebauter Mann von gesunden Organen und normaler Entwicklung der Geschlechts- organe, aber mit ganz geringen Zeichen funktioneller Schwäche des Nervensystems: leicht erhöhten Reflexen und ganz geringem Zittern der Lider und Hände. Die Ehefrau Sch. ist ihrerseits eine Frau von völlig gesundem und natürlichem Ge- schlechtse'mpfinden. Sie ist auch sonst in geistiger und körperlicher Hinsicht eine völlig- gesund beanlagtc Frau. Sie gibt außer dem bisher Gesagten noch folgendes an: Unter der mangelnden geschlechtlichen Befriedigung im ehelichen Verkehr habe sie um so mehr gelitten, als sie die Behausung und das Schlafzimmer des Gatten teilte. Vorher völlig n e r v e n g e s u n d , sei sie infolge der vergeblichen Erregungen und Entbehrungen im letzten Jahre in einen Zustand geraten, der ihr früher gänzlich fremd ge- wesen sei. Sie habe 14 Pfund innerhalb dieses einen Jahres an Gewicht verloren, schlafe sehr schlecht und unruhig, sei ständig unausgeglichener und reizbarer Stimmung, weine äußerst leicht und sei sehr streit- süchtig geworden. Herzklopfen und Beklemmungen seien nicht selten. Die objektive Untersuchung bestätigte diesen Befund. Frau Sch. ist von gesunden inneren Organen, sie ist durchaus begattungs- undi empfängnisfähig. Die Herztätigkeit ist eine leicht ge- steigerte und unregelmäßige mit starker Atemschwankung. Die Haut und Sehnenreflexe sind stark erhöht. Es besteht heftiges Hände- und Zungezittern. Auf psychischem Gebiet fällt ihre Affektlabilität auf: sie gerät mehrmals grundlos ins Weinen. Auf Grund des Vorgetragenen kommen wir zu folgenden gutachtlichen Schlüssen: Herr Sch. leidet in bezug auf seine Ehefrau an einer seelisch-nervös be- dingten Begat-tung sunf ähigkei t. Diese ist, nach dem bisherigen Verlauf des Leidens, ihrer Natur nach nicht als bloß vorübergehende Störung anzusprechen. Sie beruht vielmehr auf einer abnormen psychosexuellen Anlage und ist ärztlicher Behandlung nicht mehr zugänglich; jeder neue Versuch eines Verkehrs steigert vielmehr das Leiden. Frau Sch. hat zur Zeit der Eheschließung von diesem Leidenszustande ihres Mannes ebensowenig Kenntnis halten können, wie er selber. Sie mußte während der ersten Monate der Ehe mit der Möglichkeit rechnen, daß das Leiden vorübergehender Art sein könne. Seit dieser Zeit mußte sie sich darüber klar werden, daß sie sich zur Zeit der Ehe- 271 Schließung in einem wesentlichen Punkte, nämlich in der Begattungsfähig- keit des Ehegatten ihr gegenüber, hinsichtlich der Person des Ehegatten einem Irrtum hingegeben hatte. Dieser Irrtum würde sie bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eheschließung abgehalten haben. Dafür spricht der Zustand nervöser Übererregbarkeit und reizbarer Schwäche, in welchem Frau Sch. durch das Leiden ihres Mannes und dessen Folgewirkungen für sie selber hineingeraten ist. Daß ein ehelicher Geschlechtsverkehr der beiden Betei- ligten überhaupt nicht stattgefunden hat, ist nach den Be- funden bei beiden mit Sicherheit als erwiesen anzunehmen. Vom ärztlicheu Gesichtspunkte aus ist eine derartige eheliche Gemeinschaft als unhaltbar und dem Wesen nach als materiell nicht bestehend anzusehen. Die Voraussetzungen des § 1333 BGB. sind in vollem Umfange erfüllt, Die Ehe wurde für nichtig erklärt. Beim Weibe erkannten schon die ärztlichen Schriftsteller im alten Griechenland, vor allem Hippokrates, daß der physische und psychische Zustand der Frau nicht unwesentlich in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn ein Jahrzehnt und länger nach dem Ein- tritt der Reife die Fortpflanzungsorgane untätig bleiben. Von dem Namen des Unterleibes, „hysteron", leiteten sie den Namen der Hysterie ab. Wir sehen, daß bei einigen Frauen früher, bei an- deren später, gewöhnlich aber von Mitte der 20er Jahre ab, wenn kein Verkehr, keine Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt und Stillung stattfindet, allmählich die Nerventätigkeit und der ganze Organismus leidet. Es stellt sich eine große Erregbarkeit des Ner- vensystems, Neigung zur Heftigkeit, zum Weinen und starke Er- schöpfbarkeit ein. Seelisch ist damit eine Änderung des Charakters verbunden, bald macht sich ein mehr verbittertes, verbissenes Wesen, bald schwärmerische Exaltiertheit oder zum Mystizismus neigende Verschrobenheit geltend. Gleichzeitig finden wir in körper- licher Hinsicht Blutarmut und einen Verlust der runden weiblichen Formen, Magerkeit, Hagerkeit, oft sogar das Auftreten eines leicht männlichen Habitus. Empfängt der weibliche Körper kein An drin, bleibt er verschlossen, ohne die be- lebende Wechselwirkung adäquaten Hautkontaktes, dann verwelkt und verdorrt er wie eine Pflanze, die nicht begossen wird. Es entwickelt sich der Typus der alten Jungfer, eines der bedauernswertesten Erzeugnisse unserer Schein- kultur, ein Wesen, das nie ein Gegenstand des Spottes, sondern un- seres tiefsten Mitleids sein sollte. Die Prostitution auf der einen, die alte Jungfer auf der anderen Seite, vernichtender kann wohl schwer- lich für einen nachdenklichen Biologen der Sexualunsinn unserer Zeit gebrandmarkt werden. Von einigen Frauenärzten werden auch örtliche Störungen, Scheiden- und Gebärmutterkatarrhe; Amenor- rhoe, Dysmenorrhoe, Atrophie des Uterus und der Ovarien auf lange Enthaltsamkeit zurückgeführt. Die vaginale Flora scheint in der Tat in einem seiner natürlichen Funktion dauernd entzogenen 272 IV. Kapitel: Sexualneurosen Genitalscilla uch einen geeigneteren Nährboden zu finden, als in einem normal verwandten Organ. Eine sehr bemerkenswerte Beobachtung war, daß während des Weltkrieges bei uns in Deutschland im zweiten und namentlich im dritten Kriegsjahre bei vielen Frauen die Periode monatelang aus- setzte (Kriegsamenorrhoe). Es scheint, als ob nicht nur hier die Unterernährung, sondern auch das Fehlen geschlechtlicher Betätigung eine Rolle spielte. Ich habe eine sehr große Anzahl weiblicher Personen zu sehen Gelegenheit gehabt, welche unter der geschlechtlichen Abstinenz psychisch außerordentlich litten. Ich führe zum Beispiel den Brief einer 25jährigen Dame an, den ich vor längerer Zeit erhielt: „Lieber Herr Doktor. Ich komme zu Ihnen, weil ich niemand mehr weiß, der mir helfen kann. Zehn Jahre liegen hinter mir, Jahre, in denen ich grenzenlos einsam war. Ich habe kein Vermögen, und darum fragten die Männer nicht nach mir. Und mein Leben war doch nur ein einziges Warten auf den Mann, der mich lieb haben würde, für den ich leben dürfte. Wieviel Lebenskraft habe ich darangegeben, um mich nieder- zuringen und zu bewahren für den Einen, der niemals kam. Meine Zugehörigkeit zu den oberen Gesellschaftsschichten — mein Vater ist Pro- fessor — bildet fast das größte Hindernis zur Erfüllung meiner Wünsche. Erziehung und eigene Anlagen machen es mir unmöglich, die mir angeborene und anerzogene Zu- rückhaltung zu überwinden, und doch könnte ich manchmal die Prostituierten beneiden, die von allen verachtet werden und denen der Mann doch sein Bestes schenkt (die ganze Glut erster Sinnlichkeit): die junge wilde Kraft der ersten Mannesjahre, ach, all die scheinbare Achtung und Ehrerbietung, mit denen er die Frauen unserer Kreise behandelt, gäbe ich hin für eine Nacht in seinen Armen, für eine einzige Stunde jauchzender Seligkeit. — Ich habe mich immer an die Hoffnung geklammert, mit den Jahren ruhiger zu werden: ich habe getan, was ich wußte, um diese heiße, bittere Sehnsucht nach Liebe zur Ruhe zu bringen, ihr ein Gegengewicht zu bieten: Musik, gute Bücher, geistige An- regung, Arbeit — es hilft ja alles nichts. Und nun weiß ich nichts mehr. Ich könnte die Hände ballen, wenn ich sehe, wie die Männer sich satt trinken (bis zum Überdruß) und wir verhungern daneben. Wir sind doch auch Menschen. Warum verlangt man von uns als etwas Selbstverständliches, was dem Manne unmöglich erscheint: lebenslängliche Enthaltsamkeit? Die geistige Arbeit fällt mir sehr schwer, und besonders die Gedankenkonzentration. Ich muß oft die Zähne aufeinanderbeißen, damit mein Chef meine Arbeitsunfähigkeit nicht merkt und Anlaß zur Klage nimmt. Ist der Dienst glücklich überstanden, bin ich total fertig und lege mich gleich hin; ich beneide höchstens die Spatzen an meinem Fenster, deren Leben wahrscheinlich mehr Inhalt und Zweck hat, als das meinige. Manchmal renne ich auch ziellos durch die Straßen, nach irgendeiner Betäubung suchend. Meine Angehörigen und Bekannten sind außer sich, daß ich wie verschollen für sie bin und keine Zeile von meiner Hand an sie gelangt. Allen diesen Menschen kann ich's auch nicht sagen," wie elend mir zumute ist. Ich bin vollkommen zermürbt und ohne Lebensfreude. Dieses künstliche Hochreißen mittels Sporen und Kandare, das nenne ich wirklich kein Leben, das ist ein elendes Vegetieren, nicht wert gelebt zu werden. Glauben Sie, ich hätte auch schon oft ein Ende gemacht, wenn ich nicht zwei Gründe hätte, die mich immer wieder davon abbringen. Da sie zum Teil ins religiöse "Moment hineinspielen, also sehr abschweifend sind, möchte ich heute eine Auseinandersetzung derselben unterlassen; ich würde auch Ihre Geduld, mein hochver- ehrter Herr Sanitätsrat, zu sehr in Anspruch nehmen. Ich weiß es ganz genau, daß mein Nervensystem durch diese fortwährenden Kämpfe und die Nichtentspannung in sexueller Hinsicht jetzt schon stark geschädigt ist. Ich glaube auch, daß die menstrualen Stö- 273 rungen, die sich seit 5 Monaten bei mir bemerkbar machen, die sich in starken Rücken- und Kopfschmerzen, die ich früher gar nicht kannte, großer Übelkeit usw. äußern, auf das erotische Unbefriedigtsein zurückzuführen sind. Ich habe jedesmal vor der Mensis ein unbeschreibliches Gefühl des Verrücktwerdens. "Mein Innenleben leidet unter dem ständigen Zwange; will ich ehrlich gegen mich selbst sein, so darf ich mir nicht ver- hehlen, daß ich im Charakter immer häßlicher werde. Ich stoße oft auf direkte Gemein- heiten meinerseits, vor denen ich in lichten Stunden selber erschrecke, auf Dinge, die mir früher vollkommen fremd waren. Ich bin oft grenzenlos neidisch, boshaft und be- kannten Frauen gegenüber, die ein faiblc für mich haben, und gerne mit mir zusammen sein möchten, unzugänglich, oft direkt grausam. Es mag lächerlich klingen, wenn ich Ihnen sage, daß ich z. B. einem kleinen Mädchen, das mich abgöttisch liebt, nicht gönne, daß es mit mir zusammen ist. Dieses 18jährige Mädchen ist sehr glücklich und befrie- digt, wenh es mit mir zusammen sein kann, und ich bin einsam und unzufrieden. Sie werden rnich wohl verstehen. Ich werde immer gemeiner und möchte doch so gern gut sein. Ich weiß es so bestimmt, daß der Besitz eines Freundes, der mir körperlich und geistig etwas wäre, mich wieder gut machen würde, und ich könnte dann anderen Menschen auch wieder etwas sein und geben. Ich möchte so gern gut sein. In einem Sonett von Wildgans stellen folgende Zeilen: Weil ich mein Wesen so mit Härte gürte, Glaub nicht darum, daß ich aus Härte bin. Tief reicht in mir ein fröhlich milder Sinn. Den nur Geschick zu hartem Knoten schnürte. Wirf einem, der die Hand nach heiliger Myrthe Sich auftun hieß, Unkraut und Dornen hin! Und reich' dem Durste Wein, wo Galle drin. Dies ist das Leben, das ich immer führte. Das könnte ich auch von mir sagen. Aber was hilft das alles, heute habe ich nun einen stillen, hellen Tag, mein besseres Ich hat die Oberhand, aber wie wird es morgen vielleicht, wahrscheinlich, schon wieder sein. Da schüttelt mich das erotische Unbefrie- digtsein, es läßt mich nicht zur Ruhe kommen und macht mich schlecht. Es macht mich zur geistigen Dirne, schlimmer als die, die alle Konsequenzen auf sich nimmt und ihren Körper tatsächlich dem ungeliebten Manne gibt. Ich will es Ihnen ganz offen sagen, sehr verehrter Herr Sanitätsrat, daß ich mich in letzter Zeit oft bei dem Ge- danken ertappe, da dieses Vegetieren doch vollkommen nutzlos ist, und ich durch die gezwungene Enthaltsamkeit körperlich und geistig ruiniert werde, mich irgendeinem Manne, sei es meinem Chef oder sonst einem Menschen, der mir gerade in den Weg kommt, an den Hals zu werfen. Ich will mich einmal in normaler Weise austoben und dem Triebe nachgeben, mich einfach wegwerfen. Wenn ich so sagen kann, ist mein Schutzgeist in solchen Augenblicken, da ich der Anrede eines mir Unbekannten aus dem körperlichen Drange heraus, nachgeben möchte, nur meine große Angst vor einer Emp- fängnis und die Ansteckungsgefahr; in Gedanken bin ich ja schon zur Dirne geworden. Bitte — verstehen Sie mich recht, in meinem Grundcharakter ist mir die Dirnennatur zuwider, und hätte ich einen Freund, der mich sexuell befriedigte (da Körper und Geist eins sind, nach meiner Meinung, so wäre durch eine, ich möchte sagen, „reine" Hingabe auch die Lücke in meinem geistigen Leben ausgefüllt), so wäre ich diesem treu, und wollte ihm Kamerad in Freud und Leid sein. Da ich kein Fischblut besitze, da ich keine Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung habe, wird der Trieb immer stärker in mir, und ich werde immer mehr aus der Bahn des gesunden körperlichen und geistigen Empfindens gerissen. Z. B. kommt durch die Nichtentspannung der pathologische Trieb, mit Tieren zu verkehren, den ich schon seit frühester Kindheit an mir kenne, wieder stärker zum Ausdruck. Ich könnte aufschreien vor Qual. Auf die Straße könnte ich gehen und mich dem ersten besten hinwerfen mit der Wild- Hirschfeld. Sexualpathologie. III. 18 274 heit nie gestillter S.ehn sucht — nur um endlich einmal satt zu werden.. Und wenn ich auch am Tage meinen Stolz zu Hilfe rufe, um die Maske sogenannter Ehrbarkeit festzuhalten — > dieser Ehrbarkeit, die mich meine ganze Jugend kostete •— » es wird alles wieder zu nichte in- diesen langen einsamen Nächten, in denen die Sehn- sucht mich quält, bis ich müde und wehrlos bin, bis mein Leib wenigstens im Traum den Mann umarmt, den ich nie gekannt, willenlos und reuelos. Eine Zeitlang habe ich unter dieser fortwährenden Spannung Weinkrämpfe bekommen, diemit Perioden exaltierterLustigkeit oder Wochen- stumpfer Melancholie wechselten. Vergebens nahm ich Ärzte in Anspruch, die mich auf Blutarmut und Nervosität behandelten. Als mir die Ursache durch inten- sives Selbststudium klar wurde, suchte ich durch Aufbietung aller Willenskraft gegen mich anzugehen. Ich kann mich jetzt auch wohl äußerlich beherrschen, weil ich zu stolz bin, um dem ersten besten meine Not zu zeigen. Aber diese immerwährende Entbeh- rung, diese Unmöglichkeit, für tausend ruhelos drängende Empfindungen die befriedigende Auslösung zu finden, drücken mich so nieder, daß ich eine harmonisch ausgeglichene Stimmung' kaum mehr kenne. Ich fühle mich nicht nur körperlich matt und unbefriedigt, sondern auch in meiner geistigen Arbeitsfähigkeit fortwährend, beeinträchtigt. Zwei- oder dreimal bisher hat mir der Zufall die Möglichkeit einer seelischen und körperlichen Be- friedigung in greifbare Nähe gerückt — ich weiß noch heute, wie der bloße Gedanke daran auf mich wirkte, wie er tausend körperliche Fähigkeiten, eine bis dahin ungeahnte geistige Frische und Spannkraft in mir erweckte und mich in einem Rausch jauchzender Lebensfreude versetzte. Eine ähnliche Zuschrift, die für das weibliche Abstinenzproblern nicht minder lehrreich ist, lautet: Es fällt mir schwer, über mein Inneres zu sprechen, darum will ich Ihnen heute schreiben und ich hoffe zuversichtlich, daß Sie mich verstehen und mich nicht verachten. Es" ist gut, hochverehrter Herr Sanitätsrat, daß ich in Ihnen einen Menschen fand, bei dem ich alle Scheu abtun und mein Herz erleichtern kann. Wir unverheirateten Frauen haben die gleichen Bedürfnisse in sexueller Hinsicht, wie unsere verheirateten Geschlechtsgenossinnen. Es müßten sich Mittel und Wege finden lassen, dem geschlechtlichen Mißstande, der wohl viele physisch und psychisch zugrunde richtet, abzuhelfen, ohne daß das ästhetische Empfinden der Mitwelt verletzt wird. — Warum wird uns das Leben so färb- und freudlos gemacht? Es könnte doch so schön, so wunderschön sein! — Es ist nicht gut, so einsam zu sein. Für Leib und Geist nicht gut. Wir befriedigen alle unsere Triebe, wenn sie sich bemerk- bar machen, Hunger, Durst usw. — nur den einen, der Körper und Geist zugleich aufwühlt und erschüttert, den müssen wir bezwingen und müssen die Zähne aufeinanderbeißen und uns bezwingen und stille sein, damit die anderen Menschen, die „Reinen" nichts merken und die Qual noch größer machen. Körper und Geist sind so voneinander abhängig, daß die Leiden des einen auch die Leiden des anderen sind. Ich bin im Laufe der Zeit so mürbe geworden. Ich habe an nichts mehr Freude, und mein früheres Interesse an so vielen Dingen ist total erloschen. Viel- leicht, wenn mein Leben sich ändern sollte, daß es wieder zu erwecken wäre. Dieser sexuelle Drang, dieses Verlangen nach einer körperlichen Vereinigung und niemals eine Entspannung, das ist so quälend, und nur der kann es verstehen, der es an sich selbst verspürte. Soviel ich mit? mir kämpfe, es wird immer schlimmer und Leib und Seele werden geschädigt. Die Nächte sind oft grauenhaft. Dieser Drang nach einem geliebten Manne ist so stark in mir, daß ich den Körper des an- deren an dem meinigen und seinen Mund in wilden Küssen auf dem meinigen zu f ü h 1 e-n . g 1 a u b e , und strecke ich die Arme aus, dann greife ich wie immer in das Nichts, die Leere und zerbeiße in der Verzweiflung die Kissen, meine Arme und was sonst da ist. Da ich Ihnen gegenüber, hochverehrter Herr Sanitätsrat, ganz offen sein will, muß ich auch bekennen, daß ich in solchen Nächten, wenn sie zu IV. Kapitel : Sexualneurosen peinigend für mich sind, zur Selbstbefriedigung greife, und das ist das schlimmste, denn wie ich unter dem Ekel, der der momentanen kleinen Betäubung folgt, leide, kann ich keinem Menschen sagen. Von Befriedigtsein kann ich nicht reden — nur Ekel, Ekel und Selbstverachtung. Dann möchte ich Wein trinken, um mich und mein elendes Dasein zu vergessen. — i Träume erotischen Inhalts, wirres abscheu- liches Zeug, habe ich fast jede Nacht. Sie können sich wohl denken, wie zerschlagen ich am andern Morgen bin, — müde und arbeitsunfähig. Ich suche dann eben meine letzte Energie zusammen und verwende die für die Arbeitszeit. Am liebsten würde ich über- haupt nicht aufstehen, und es wiederholt sich jeden Morgen der gleiche Kampf, bis mein Dienstmädchen nach mehrfachem Wecken es endlich erreicht, daß ich mich ankleide. Ich kann eben nicht mehr. Es ist keine Faulheit bei mir, wie das wohl viele annehmen. Die geistige Arbeit fällt mir sehr schwer. In einem anderen Briefe eines 30.iährigen Mädchens an mich heißt es: Hochgeehrter Herr Sanitätsrat! Endlich weiß ich eine Stelle, ander ich offen von dem, was mich quält, sprechen kann, ohne voll Verachtung angesehen zu werden. Es ist gut, wenn einmal alles vom Herzen herunterkommt. Sie können es sich nicht denken, wie ich unter den geschlechtlichen Entbehrungen zu leiden habe. Immer und immer allein, ohne jede sexuelle Entspannung, man wird müde und aller Schwungkraft beraubt. Wer das nicht kennt, weiß überhaupt nicht, wie ein Mensch darunter leiden kann. Ich weiß, daß ich viel leichter und besser arbeiten könnte, würde nicht meinem Geist durch die Entbehrung einer geschlechtlichen Vereinigung mit einem Manne, ich möchte sagen, ein Hemmschuh angelegt. Man ißt, wenn einem hungert, trinkt, wenn einem durstet, aber da, wo es einen packt und Leib und Seele aufwühlt, da s'teht man vor einem Nichts; oft habe ich abends im. Bett das Gefühl, ein Mann liege neben mir, nur schwer schlafe ich ein, werde durch scheußliche erotische Träume gequält, und in letzter Zeit passiert es mir wiederholt, daß ich plötzlich erwache und durch den Schmerz aufmerksam gemacht, Bißmale am rechten Oberarm finde. Sie können sich wohl denken, wie zerschlagen ich nach solchen Nächten aufstehe, ohne Freude und Interesse an irgendeiner Sache. Ich bin vollkommen zermürbt und fühle es ganz deutlich, daß mein ganzes Nervensystem schwer unter dieser Quälerei leidet. Ich weiß genau, daß durch einen geregelten Geschlechtsverkehr all' diese traurigen Zustände ver- schwinden würden, und ich wieder Freude am Leben empfinden würde. Das, was ich jetzt führe, ist weiter nichts als ein Vegetieren. Ich sage es Ihnen ganz offen, lange geht es so nicht weiter. Entweder so oder so Schluß. In letzter Zeit kämpfe ich oft mit dem Drange, mich einfach einem Manne an den Hals zu werfen. Ich muß einmal den sexuellen Trieb befriedigen und sollte ich mich auch dadurch erniedrigen. Durch meine Dienst- stelle habe ich täglich mit mehreren jungen Lebemännern zu tun, sie behandeln mich als Dame; was ich aber nächstens tun werde, das weiß ich nicht. Ich würde in letzter Zeit auch in einem oder dem anderen Falle einer Anrede Unbekannter Folge leisten, hätte ich nicht eine so große Angst vor Krankheiten. Sie sehen, ich beichte Ihnen ganz offen; Sie werden mich verstehen, das hoffe ich bestimmt. Man wird so gleichgültig, und durch diese unhaltbaren Zustände im Leben der unverheirateten Frau kommen, was ich an mir beob- achten kann, die Schattenseiten des Innenlebens immer mehr zum Vorschein, und das würde durch einen geregelten Verkehr wieder voll und ganz verschwinden. Es ist ein großes Elend. Wüßten Sie Rat und Hilfe für mich? Von Herzen dankbar wäre ich. Die asketische Richtung- früherer Zeiten wollte nichts da- von wissen, daß die hysterischen Zustände der Frauen auf man- gelnde geschlechtliche Funktionen zurückzuführen seien. Erst vor einigen Jahrzehnten griffen einige Autoren die alte Lehre desHippo- krates wieder auf, und heute stehen wohl die meisten Ärzte auf dem Standpunkte, daß unter den Ursachen der Hysterie keine so sehr in 18* 276 IV. Kapitel: Sexualneurosen Frage kommt, wie die sexuelle Enthaltsamkeit. Es ist nur noch un- entschieden, ob dieses Motiv das alleinige ist. Nach meiner Erfah- rung liegt dies wohl so: Auch andere seelische Erschütterungen, Aufregungen, Unfälle usw. kommen ursächlich in Betracht, doch bringen sie vor allem die hysterischen Komplexe da zum Ausbruch, wo durch sexuelle Spannung ein empfänglicher Boden für hyste- rische Symptome geschaffen ist. Fragen wir uns ganz unvoreingenommen, ob die Nichtbefriedi- gung eines so starken Dranges, wie es der Geschlechtstrieb in einer großen Anzahl der Fälle ist, als natürlicher und für den Organismus vorteilhafter Zustand anzusehen ist, so lehrt ein Blick in die ge- samte Natur, daß der Mensch, träfe dies zu, hier eine ganz besondere Sonderstellung einnehmen und ebenso auch das genitale Organ- system im menschlichen Körper, wenn es zum Unterschied von allen anderen ohne Schaden außer Funktion gesetzt werden könnte. J edes andere Organsystem des Körpers würde, zu solcher Latenz verurteilt, die heftigsten Störungen im körperlichen Zusammenhang hervor- rufen. Man wendet zwar häufig ein, daß im Sexuellen ein Ventil ge- schaffen sei, indem die männlichen und weiblichen Keimzellen sich periQdisch unwillkürlich von den Geschlechtsdrüsen nach außen ab- sondern. Doch wird bei dieser Erwägung die innere Sekretion des Sexualchemismus gänzlich außer acht gelassen und vor allem, daß von der sexuellen Enthaltsamkeit keineswegs nur die Keimdrüsen betroffen werden, sondern die vielen komplizierten Nervenbahnen und Organe, welche mit dem Geschlechtsleben auf das innigste zu- sammenhängen. So sehr eine Selbstregulierung der sexuellen Vor- gänge vor allem im Sinne der Mäßigkeit und der Vermeidung jeder Unmäßigkeit zu billigen ist, so unverständlich ist es, daß geschulte Naturforscher unvoreingenommen zu der Überzeugung gelangen können, daß der Geschlechtstrieb des Mannes und' des Weibes der Betätigung nicht bedarf und die Geschlechtsorgane und -funk- tionen ohne eine Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens brachliegen könnten. Jeder im körperlichen Stoffwechsel nach seiner Bestimmung nicht ver- wandte Stoff wirkt im Blute toxisch, war u m sollte es sich im S ex u a 1 st o f f w e c h s e 1 anders verhalten? Treten bei der Andrinämie und Gynäcinämie die nachteiligen Wir- kungen, auch nicht so akut und markant in die Erscheinung, wie bei der Urämie und Cholämie, so ist keineswegs damit gesagt, daß sie nicht vorhanden sind. Mein Freund Rütgers, der vortreffliche holländische Sexualforscher, drückt sich einmal wie folgt aus: „Oh, man stirbt nicht so leicht daran, man wird sogar nicht immer förmjich krank, so wie ein Vogel im Käfig oder ein geblendeter Vogel doch noch singen kann. Aber ein Lebender ist man doch nicht, wenn eine der wichtigsten, reizvollsten organischen Funktionen ausgeschaltet wird." 277 Erb erwähnt Fälle von blühenden, jungen Mädchen, die durch Nichtbefriedigung ihrer Sehnsucht nach Liebe und Mutterschaft, in der Mitte der -zwanziger Jahre seelisch und körperlich erkrankten. Es traten psychische Störungen mit erotischer Betonung, sexuelle Vorstellungen und Halluzinationen und schwere Depressionen auf, die häufig mit Unterleibsbeschwerden verbunden waren. Das Wesentliche ist, daß alle diese Erscheinungen abnehtaen und schwinden, wenn die be- treffenden Frauen heiraten oder geschlechtlich verkehren. Wer ältere Mädchen vor und nach der Ehe beobachtet hat, wird wahrgenommen haben, wie nicht nur das subjektive Befinden sich besserte, eine Erleichterung und Erfrischung ein- trat, sondern wie sich auch organische Leiden, vor allem Blutarmut und Unterernährung, nach Eingehung der Ehe verlieren. Es seien einige Beispiele angeführt: Frau Sch., 40 Jahre alt, war vom 20. bis 25. Jahre verheiratet. Aus dieser Ehe stammen zwei Söhne. Seit 15 Jahren ist sie abstinent, seit 12 Jahren leidet sie an Schlaflosigkeit, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, starkem exzentrischen Wesen, heftigen Wein- krämpfen und sexuellen Zwangsvorstellungen. Der Kopf sei ihr wie eingepreßt. Wieder- holte Sanatoriumskuren erwiesen sich ebenso erfolglos wie Arzneien. Vor 5 Jahren unterhielt sie 2 Monate lang Geschlechtsverkehr mit einem verheirateten Schriftsteller. Trotzdem sie die stärksten moralischen Bedenken dagegen hatte, fühlte sie sich in dieser Zeit wie befreit. Schlaf und Appetit stellten sich ein, die Stimmung wurde harmonisch, ■sie war, um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen, „wie neugeboren". Ein zweiter Fall betrifft einen Mann, der bis zu seinem 54. Jahre weder mastur- biert, noch sexuell verkehrt hatte. Er lebte in einer kleinen Stadt unter Verhältnissen, die den Verkehr sehr erschwerten. In Großstädten fürchtete er die Infektion. Sein Geschlechtstrieb scheint relativ mäßig gewesen zu sein. Trotzdem war seine Arbeits- fähigkeit schwer beeinträchtigt, er litt an kolossaler innerer Unruhe, reiste in der ganzen Welt umher, — der Reisetrieb alter Jungfern und Junggesellen ist nicht selten ein Aus- fluß verdrängter Sexualität — , klagte über Schmerzen in den Gliedern, Zerstreutheit, Unlust zu irgendeiner Tätigkeit, Angstträume, nächtlichen Schreikrämpfen und nervöse Dyspepsie. Arztliche Kuren und das "von amerikanischen Ärzten empfohlene ..natur- gemäße Leben", das „simple life", zu dem vegetarische, alkoholfreie Kost, Luft- und Wasserkuren, Gymnastik usw. gehören, nützten nichts. Seit er geschlechtlich verkehrt, die Woche einmal, sind seine Beschwerden verschwunden, nur die schreckhaften Träume treten noch zeitweise auf. Er sagt, es käme ihm vor, als hätte er früher nur halb gelebt. Im dritten Falle handelt es sich um einen 20jährigen Zahnarzt. Masturbation fand vom 15. bis zum 16. Jahre statt. Seitdem lebt Patient 3 Jahre total abstinent. Vor 2 Jahren stellten sich die Woche zwei- bis dreimal Pollutionen ein, durch die er sich sehr angegriffen und unglücklich fühlt. Außerdem litt er an sogenannten Herzbeklemmungen. Angstzuständen, die zeitweise so stark waren, daß er fürchtete, er könne sich selbst ein- mal ein Leid antun. Behandlung von 4 Ärzten sowie mehreren Kurpfuschern, an die er sich nach der bei ihm von keinem Arzt erreichten Hilfe wandte, hatten keinen Erfolg. Im Januar d. J. entschloß er sich, ohne daß ihm jemand dazu riet, geschlechtlich zu ver- kehren. Er ging zu Prostituierten. Trotzdem diese, sowie der Präservativverkehr ihm sehr unsympathisch waren, sind seine nervösen Beschwerden, seit er regelmäßig ver- kehrt, völlig verschwunden. Er fürchtet sich nun sehr, seit er die Scylla der Abstinenz- störungen überwunden, in die Charybdis der Geschlechtskrankheiten zu fallen. Aus diesem Grunde strebt er eine möglichst frühzeitige Ehe an. In allen diesen Fällen war der alterierende Einfluß sexueller Betätigung so augenfällig, daß man sehr voreingenommen sein muß, wenn man in dem postea hier nicht zugleich ein propterea er- blicken will. Die nachteiligen Folgen sexueller Abstinenz sind individuell ungemein verschieden. Zweifellos gibt es viele Personen, die unter ihr nur wenig leiden. Es hängt 278 IV. Kapitel: Sexualneurosen dies hauptsächlich von der Stärke des Triehes ah, auch von der sexuellen Artung- im allgemeinen. So kann man heohachten, daß bei virilen Frauen viel weniger die Zeichen der Altjüngferlichkeit auftreten. Die Tatsache, auf die ich schon in meinen älteren Schriften hinwies, daß intersexuelle Per- sonen, weihliche Männer ebenso wie männliche Weiber, zwischen 40 und 50 Jahren oft noch wie in der Mitte der zwanzig aussehen, gewinnt im Lichte der Steinachschen Verjüngungsversuche an Inter- esse. Wir gehen kaum fehl, wenn wir annehmen, daß es sich hier um Einflüsse der Pubertätsdrüse handelt, deren F- und M-Zellen sich nicht antagonistisch vernichten, sondern synergetisch die Wage halten. Offenbar unterliegen in solchen Fällen die Evolutions- und Involutionsvorgänge innerhalb der Geschlechtsdrüse anderen Ge- setzen als dort, wo in viel höherem Grade der auf die Fortpflan- zung gerichtete generative Anteil das Terrain beherrscht. Je weniger ein Bedürfnis nach heterosexueller Betätigung vorhanden ist, um so geringer sind auch die körperlichen und seelischen Abstinenzfolgen beim Ausbleiben sexuellen Verkehrs mit dem anderen Geschlecht. Viele Abstinenten sind ganz menschenscheu, wobei schwer zu unterscheiden ist, ob die Enthaltung vom geschlechtlichen Verkehr oder die nervöse Anthro- pophobie der primäre Zustand ist. Von einigen Seiten ist be- hauptet worden, daß namentlich beim weiblichen Geschlecht dauernde Abstinenz zu Exaltationen führen kann, die sich bis zu Sinnestäuschungen steigern. Besonders von älteren fran- zösischen Autoren werden halluzinatorische und sogar epileptische Anfälle mit sexueller Enthaltung in Verbindung gebracht. Steht auch dafür noch ein absoluter Beweis aus, so ist doch soviel sicher, daß hysterische Leiden aller Art, namentlich sogenannte „Herz- krämpfe" mit schweren Beängstigungen bei Frauen nach längerer Abstinenz nicht zu den Seltenheiten gehören. Meine Erfahrung stimmt hier völlig mit der Freuds überein, der sagt: „Angst ist eine von ihrer Verwendung abgelenkte Libido." Ganz ähnlich meinte schon Gattel (Über die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und Angstneurose, Berlin 1898) : „Die Angstneurose tritt überall da auf, wo eine Beduktion der Libido stattfindet." Nicht anschließen kann ich mich der Meinung, die dahin geht, daß echte Homo- sexualität und andere dauernde Triebstörungen infolge von normalsexueller Abstinenz auftreten. Es widerspricht dies dem konstitutionellen Charakter der Homosexualität und ist noch niemals von mir beobachtet worden. Offenbar liegt hier eine der häufigen Ver- wechslungen von pseudohomosexueller Betätigung und wirklicher Homosexualität vor. Daß Personen, denen die Gelegenheit zu normalem Geschlechtsverkehr für lange Zeit mangelt, zu gleichgeschlechtlichen Handlungen gelangen, beispielsweise in Gefangenen- lagern und auf Schiffen, ist eine zutreffende Tatsache, doch unterscheidet sich dieser Vorgang von der wirklichen Homosexualität dadurch, daß, sobald wieder Gelegenheit zu normalsexuellem Verkehr vorhanden ist, solcher auch ausgeübt wird, was beim Homo- IV. Kapitel: Sexualneurosen 279 sexuellen nicht der Fall ist, auch wenn, reiclüich die Möglichkeit zu normalsexuellem Ver- kehr vorhanden ist. Im übrigen machen sich die Abstinenzerscheinungen bei homo- sexuellen Männern und Frauen ganz in derselben Weise geltend wie bei Normalsexuellen. Es kommt eben ganz auf die dem Trieb und Bedürfnis entspre- chende adäquate Entspannung an. Ähnlich wie zu pseudohomosexuellen kommt es infolge von normalsexueller Abstinenz auch zu onanisti.schen Akten und zwar bei beiden Geschlechtern. Von eigentlicher Abstinenz kann in solchem Falle nicht die Rede sein, höchstens von relativer, da die Surrogatakte auch dann, wenn sie mit dem ursprünglichen Sexualtriebe divergieren, immerhin eine Betätigungsform dar- stellen, die mit dem Wesen der totalen Abstinenz nicht vereinbar ist. Längere Zeit fort- gesetzt ist allerdings die Wirkung solcher Surrogatakte bei der Unvollkommenheit ihrer Art fast ebenso nachteilig wie die völlige Abstinenz. Wenn wir auch anführten, daß es sicherlich eine ganze Anzahl von Individuen gibt, denen die Abstinenz wenig schadet, so ist ihre Zahl doch gering, verglichen mit denen, wo das Gegenteil der Fall ist. Völlig- zutreffend sagt Neißer: „Enthaltsamkeit, die dem einen leicht ist, wird von dem an- deren kaum ertragen. Sicherlich kann sie schädigende Wirkungen für das ganze Leben mit sich bringen." Mit dem Einwände grundsätzlicher Sexualgegncr, es handle sich doch nur um „nervöse Beschwerden", ist die Frage ebenso wenig gelöst wie mit der ebenso häufigen Äußerung, es sei dieses Leiden doch bei weitem nicht so schlimm, wie die häufigen Folgen außerehelichen Geschlechtsverkehrs, die Geschlechtskrankheiten. Die Lebensfreudigkeit und Leistungsfähigkeit wird durch das eine wie durch das andere wesentlich beeinträchtigt. Die Aufgabe des Arztes ist es, nicht abzuwägen, welches von beiden Übeln das größere ist, sondern für möglichste Beseitigung beider Sorge zu tragen. Von einigen wird behauptet, daß für Abstinenzschädigungen vor allen solche Männer und Frauen disponiert erscheinen, deren Psyche infolge erblicher Belastung be- sonders labil sei. Ihre Zahl wäre beträchtlich. Von anderen wird angenommen, daß gerade robuste, voll gesunde Individuen mehr Gefahr laufen, unter dem Einfluß der Ab- stinenz Schaden zu nehmen, als degenerierte Schwächlinge. Hier ist die individuelle Beherrschungsmöglichkeit von der Folgenschwere wohl zu unterscheiden. Richtig ist wohl, daß ein widerstandsfähiges Nervensystem eher imstande ist, mit dem sexuellen Triebe fertig zu werden, und daß es deshalb gerade eine der Hauptaufgaben in der Prophylaxe und Therapie der Abstinenzstörungen ist, das Nervensystem zu kräftigen. Hierbei kommt es allerdings nicht auf Medikamente, sondern auf die Lebensweise im allgemeinen an. Manche Mittel wie Brom setzen zwar den sexuellen Trieb etwas herab,: schwächen aber zugleich die nervöse Widerstandsfähigkeit. Wichtig ist es, Stoffe zu meiden, welche das Nervensystem stark erregen, wie Kaffee und mancherlei Gewürze. Im übrigen ist die Bedeutung der Diät gerade hinsichtlich der Steigerung der Beherrschungskräfte nicht zu hoch zu veranschlagen. Ich habe Gelegenheit gehabt, eine ganze Anzahl von Personen sowohl homosexuelle als heterosexuelle kennen zu lernen, die, um abstinent leben zu können, Vegetarier geworden sind, doch hatte die Enthaltung von Fleisch ge- wöhnlich nur einen sehr vorübergehenden, oft negativen Erfolg. Dabei sei auf die merk- würdige Tatsache hingewiesen, daß bei den Tieren die Pflanzenfresser geschlechtlich leb- hafter und leidenschaftlicher erscheinen als die Fleischfresser, der Stier und Hengst also geschlechtlich erregter sind als Löwe und Tiger. Als das geeignetste Mittel gegen schädliche Abstinenzfolgen muß die Regelung des Sexuallebens, der geschlechtliche Ver- kehr-angesehen werden, wobei allerdings die Frage auftaucht, ob der Arzt berechtigt ist, Männern und Frauen, die an Abstinenzschädigungen leiden, zum Geschlechtsverkehr zu raten. Man hat diese Frage vielfach verneint. Stellen wir uns aber auf rein medi- zinischen Boden, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein. Immerhin wird sich ein gewissenhafter Arzt, dem das „nihil nocere" das oberste Gesetz ärztlichen Handelns bleibt, sich sehr schwer entschließen können, einem Patienten oder einer Patientin den Geschlechtsverkehr anzuraten, der so viele Möglichkeiten anderweitiger Schädigungen in sich schließt. Die Verantwortung ist groß, und so sehr der Mut anzuerkennen ist, mit dem Persönlichkeiten wie Forel, Näcke und andere sich verpflichtet fühlten, Männern und Frauen, die infolge geschlechtlicher Enthaltsamkeit erkrankten, den sexuellen Verkehr zu 280 raten, so scheint mir doch der objektivste Weg, im Einzelfalle genau mit dem Unter- suchten durchzugehen, welche Vorteile und Nachteile die sexuelle Betätigung und welchen Nutzen und Schaden die sexuelle Enthaltsamkeit im Gefolge haben. Die ganze Frage ist vor allem auch für das weibliche Geschlecht von äußerster Wichtigkeit, ist doch der Frauenüberschuß, der schon von dem Kriege mehrere Millionen betrug, in Deutschland durch den Krieg um das Doppelte, auf gut 4 Millionen vermehrt worden. Von 100 Frauen zwischen 20—30 Jahren sind über 60 ledig. Eine wirkliche Lösung dieses schweren Problems ist nur dann zu erzielen, wenn der soziologische Faktor sich auf den biologischen gründet. Der nervöse Symptomenkomplex, welcher sich hei gesunden sexuell abstinenten Männern und Frauen mit der Zeit infolge Sexual Verstopfung fast ausnahmslos einzustellen pflegt, tritt verstärkter und akuter in solchen Fällen auf, in denen sich ein intensiver Sexualtrieb reaktionslos auf eine bestimmte Per- sönlichkeit erstreckt, also in Fällen von sogenannter unglücklicher Liebe, jenes intensiven Affektzustandes, den ich im II. Kapitel dieses Bandes als monogame Form des Hypererotismus geschildert habe. Von den ältesten bis in die neuesten Zeiten sind immer wieder Gelehrte trotz der Verhöhnung, der sie sich mit dieser Behauptung auszusetzen pflegten, dafür eingetreten, daß Liebe eigentlich eine Krankheit, und der Ausdruck jemand sei „liebeskrank" mehr als ein Vergleich sei. Schon Plato erzählt von einem Menschen, der an einer übergroßen Liebe zugrunde gegangen sei; zwar habe er ihn selbst nicht gesehen, doch sei der Philo- soph Empedokles dabei gewesen, als der Leichnam dieses Liebesopfers zerlegt wurde; die Ärzte wollten wenigstens nach dem Tode sehen, was dem Manne gefehlt habe, dessen Leiden zu ergründen ihnen bei seinen Lebzeiten nicht möglich gewesen wäre. Sie fanden, immer nach Plato, ein Heiz, das wie vom Feuer versengt, eine Leber, die von Rauch ge- schwärzt, eine Lunge, die ausgetrocknet war, so daß ersichtlich das Leben des Verstor- benen vom Feuer der Leidenschaft zerstört gewesen wäre. Neuerdings soll in Italien in einem medizinischen Blatt ein Artikel von Dr. Barett erschienen sein, der sich dahin aus- spricht, daß die „Liebe" eine Vergiftung sei, die besonders die Nervenzentren und das Blutgefäßsystem in Mitleidenschaft ziehe. Besonders schwer trete diese Erkrankung auf, wenn die Patienten noch jung seien und durch frühere Anfälle noch keine Immunität er- langt hätten (eine Beobachtung, die übrigens mit den Erfahrungen meiner Spezialpraxis- nicht übereinstimmt). Dr. Barett will in dem Blute Verliebter viel mehr weiße Blut- körperchen, als in dem „Gesunder" festgestellt haben. Er behauptet, daß hochgradig an Liebe Erkrankte besonders empfänglich für Tuberkulose seien und daß, wenn nicht recht- zeitig eine Liebeskuii eingeleitet würde, nervöse Symptome schwerster Art, die sich bis zum Wahnsinn steigern können, beobachtet würden. Er schließt seine Ausführungen mit der Bemerkung, daß diese Krankheit die Eigentümlichkeit habe, daß die von ihr^ Be- fallenen gewöhnlich lieber weiter unter ihr leiden, als geheilt sein wollen. Erweckt dieser Auszug, den ich einer deutschen Tageszeitung entnehme (Königsberger Hartungsche vom 22. Juli 1918), auch gerade keinen wissenschaftlichen Eindruck, so unterliegt es doch Keinem Zweifel, daßeineheftigeLeidenschaftinderTatnichtselteo ein ganzes Heer nervöser, geistiger und körperlicher S t ö r u n - gen im Gefolge hat, die, wenn keine Möglichkeit adäquater Ab- reaktion und Entspannung gegeben ist, oft genug zum freiwilligen Tode führen, der den namenlosen Qualen einer unglücklichen Liebe vorgezogen wird. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, daß die Herstellung sexueller Harmonie nicht durch jeden, sondern nur durch den adäquaten Verkehr zu erzielen ist. Das gilt für alle Männer und IV. Kapitel: Sexualneurosen 281 Frauen, die aus irgendwelchen Gründen einen Geschlechtsakt voll- ziehen, der mit ihrer* seelischen Neigung im Widerspruch steht, — ich teile hier völlig die von Kurella in seinem Aufsatze „K örper- s e e 1 e" vertretenen Anschauungen — , das gilt ferner aber auch für alle Personen, deren Geschlechtstrieb von der Norm abweicht. Ich habe bei früheren Gelegenheiten, besonders in dem Kapitel über Transvestismus dargelegt, wie ungemein stark das Nervensystem durch die dauernde Unterdrückung eines die Person beherrschenden Zwangstriebes leidet. Wer Gelegenheit gehabt hat, das Aussehen und Wesen von Transvestiten zu beobachten in verschiedenen Kleidungen, wird den außerordentlichen Unterschied wahrgenommen haben, der vorhanden ist, wenn die Außenprojektion dem inneren Drange entspricht, oder wenn dies nicht der Fall ist. Derselbe Mensch, der im höchsten Maße hysterisch, neurasthenisch und hypo- chondrisch, äußerst Unruhig und tief deprimiert war, bekommt eine ruhige, gehobene, ausgeglichene Verfassung, wenn er sich ent- sprechend bewegt. Will der Arzt einem solchen Patienten wirklieh von Nutzen sein, so darf er seine Aufgabe nicht darin erblicken, auf die Unterdrückung des transvestitischen Triebes hinzu- arbeiten, sondern muß nach Möglichkeit bestrebt sein, für eine Aus- wirkung des Dranges zu sorgen, vor allem dann, wenn kein effektiver Schaden damit angerichtet wird. In der großen Mehrzahl aller sexuellen Anomalien trifft dies zu. Ich habe sehr nervöse Feti- schisten beobachtet, deren Erregungszustände bei bloßer Be- rührung ihres F e t i s c h s wichen. So ist mir ein Mann in der Erinnerung, der sehr niedergedrückt war und an einer schweren Form von Asthma sexuale litt. Diese Erscheinungen wichen, sobald er einen Damenpelz streichelte. Bei anderen übte Leder (Stiefel) die gleiche Wirkung aus. Es kommt hier oft auf Momente an, die dem Nichtkenner höchst unwesentlich erscheinen, welche jedoch vollkommen ausreichen, nicht nur eine Besserung, sondern sogar eine Heilung des nervösen Symptom - komplexes herbeizuführen. Ich kenne eine Reihe von Beispielen, in denen die Nervosität eines Mannes völliger Ruhe Platz machte, wenn er den 'Geschlechtsverkehr als Succubus vollziehen konnte. Mußte er als Incubus fungieren, befand er sich tagelang im Zustand hochgradiger Reizbarkeit. i Unter den mangelhaften sexuellen Entspannungen hat man eine Form, die gewissermaßen auch als eine Art relativer Enthaltung zu gelten hat, von jeher als sehr, schädigend für das Nervensystem angesehen, das ist der Coitus interruptus. Gewöhnlich wird darunter das Zurückziehen des Membrum virile vor dem Eintritt des Orgasmus verstanden und zwar mit der präventiven Absicht, den Samenerguß nicht in die Scheide gelangen zu lassen. Genau ge- nommen handelt es sich weniger um eine Unterbrechung des Aktes 282 IV. Kapitel: Sexualneurosen als solchen, als nur um eine besondere Art der Ausführung, so daß die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung res er vatus besser das Wesen des Vorganges ausdrückt. Unter einem Coitus interruptus würde man dann. besser eine völlige Unterbrechung des Geschlechts- verkehrs ohne eigentliche Entspannung verstehen, eine gleichfalls ungemein häufige Betätigungsweise. So stellt für manche Männer und Frauen beispielsweise die ganze Verlobungszeit einen Coitus interruptus dar, indem fortgesetzt dauernd starke Erregungen stattfinden mit kongestiven Blutüberfüllungen sowohl der männlichen wie der weiblichen Genitalorgane und Sekretabson- derungen der geschlechtlichen Drüsen, ohne daß eine normale Ab- ebbung vorkommt, es sei denn, daß gelegentlich Ejakulations- orgasmen in die Leibwäsche hinein erfolgen.. Aus diesem Grunde stellt die Brautzeit für viele Männer und Mädchen eine erhebliche Nervenprobe dar. Ein Mittelding zwischen dem Coitus interruptus und reservatus ist der ebenfalls sehr verbreitete Coitus prolongatus, der zwecks Lustverlängerung absichtlich pro- trahierte Akt. Zwischen allen diesen Manipulationen kommen Übergänge vor, namentlich ist der Coitus interruptus oft auch ein Coitus prolongatus. Der Congressus interruptus ist das älteste und wegen seiner Einfachheit noch heute häufigste Mitte! zur Verhütung der Konzeption. M. Marcuse sagt darüber (Der eheliche Präventivverkehr, seine Ver- breitung, seine Verursachung und Methodik, Stuttgart 1917): „Als Form des Präventiv- verkehrs seitens der Männer kehrt am häufigsten der Coitus interruptus wieder, der in 52 von 203 Ehen als alleinige Vorsicht geübt wird, im Verein mit noch anderen Prä- ventivmaßnahmen außerdem noch 78mal genannt wird, und in der großen Mehrzahl der Fälle die vorherrschende Methode ist," Der Coitus interruptus stellt eine Erscheinung dar, die in den sozialen Verhältnissen begründet ist. Es bedienen sich dieses Mittels sowohl Unverheiratete, besonders auf dem Lande, wo es keine Prostitution gibt, wie Ehemänner, besonders solche, die mit Kindern bereits gesegnet sind, und aus Sparsamkeitsrücksichten' oder zur Schonung der Frau der Emp- fängnis vorbeugen wollen. Bei einer großen Anzahl von Männern, die wegen Erschei- nungen sexualneurasthenischer Natur zum Arzt kommen, wird der Coitus interruptus als einzige wesentliche Ursache genannt. Über seine schädlichen Folgen gehen die Mei- nungen der Sachverständigen weit auseinander. Viele Autoren, darunter auch fast sämt- liche Psychoanalytiker, halten die Gepflogenheit der Unterbrechung für äußerst nach- teilig und sehen in ihr eine Hauptursache der Neurasthenie; ein Arzt, der allerdings sehr eigene Bahnen wandelte, Dr. Damm in Wiesbaden, erblickte in dem Coitus interruptus sogar den wesentlichsten Grund der Nervenschwäche unserer Zeit. In einem Vortrage, den ich von ihm vor mehr als 25 Jahren hörte, schilderte er seine Wirkungen auf Gehirn- und Kückenmark in den schwärzesten, Farben. Demgegenüber sind einige der hervor- ragendsten Spezialisten wie Krafft-Ebing, Fürbringe r und Oppenheim der Ansicht, daß diese Anschauungen mit den wirklichen Erfahrungstatsachen nicht über- einstimmen; sie vertreten den Standpunkt, daß „der mit Maß und Ziel ausgeübte Coitus interruptus bei gesunden Personen die ihm zugeschriebenen Störungen keineswegs ver- ursache und nur bei lange fortgesetztem Abusus und von vornherein neurasthenisch veranlagten Individuen von Nachteil sei." Nach meinen Ermittelungen muß man hier einen Unterschied zwischen dem Coitus reservatus, interruptus und prolongatus machen. Der Coitus reservatus — „mein Mann sieht sich vor", pflegen die Frauen zu sagen, um dieses übrigens keineswegs unbedingt sichere Vorbeugungsverfahren zu bezeichnen, bei welchem der Akt zwar usque ad orgasinum et ejaculationem fortgesetzt, das Ejakulat je- doch außerhalb der Scheide, meist inter femora entleert wird — ist eine Form, welche IV. Kapitel: Sexualneurosen 283 für den Mann kaum einen nennenswerten Schaden im Gefolge haben dürfte, es sei denn, daß die immerhin in actu eine gewisse Willenskraft erforderliche Herausnahme des Membrum ein an sich empfindliches Nervensystem zu irritieren geeignet ist; bei der Frau dürfte durch den ausbleibenden Erguß ein nicht unwesentlicher Moment der vollbefrie- digenden Entspannung fehlen, was bei häufiger Wiederholung wohl eine' Nervenschädi- gung bedeuten kann. Ganz anders liegt es aber bei dem Coitus interruptus im eigent- lichen Wortsinn; hier liegt das Bestreben, sich in den nervösen Genuß des Wollustgefühls zu setzen, dabei aber den substantiellen Samenverlust zu vermeiden. Der physiologische Vorgang beim normalen Beischlaf ist der, daß mit der Erektion eine Blutüberfüllung des gesamten kavernösen Gewebes im Penis, der Urethra und Caput gallinaginis eintritt, welche mit der Ejakulation durch die begleitende Zusammenziehung der Genitalmuskel eine elementare Entladung erfährt. Der Erfolg ist eine schnelle voll- ständige Erschlaffung des Genitale. Anders beim Coitus interruptus. Hier wird der Bei- schlaf bei Eintritt des Wollustgefühls unterbrochen; an Stelle der schnellen vollständigen Entlastung des Genitalschlauches bleiben Hyperämien zurück, die bei regelmäßiger Wiederholung zu einer chronischen Reizung der Pars prostatica urethrae führen und so die Ursache für spätere sexualneurasthenische Erkrankungen werden können. Nicht ganz so schlimm wie hei dem interruptus ist es hei dem Coitus prolongatus, dem in die Länge gezogenen, bei Eintritt der Wollustempfindung aussetzenden und dann immer wieder ein- setzenden Akt, um die Vorlust möglichst auszudehnen und die Lusthöhe nach Möglichkeit aufzusparen. Es gibt Personen, die die Fähigkeit besitzen, die Kohabitation, welche gleichmäßig ausgeführt kaum 5 Minuten in Anspruch nehmen würde, auf 40 Minuten bis eine Stunde hinzuziehen. Auch hier findet eine nicht unerhebliche Reizung des sehr sensiblen Samenhügels im Vorsteherdrüsenteil der Harnröhre statt, aber da schließlich doch ein Durchbruch des Samens und damit eine Entlastung erfolgt, tritt immerhin eine natürliche Lösung ein, so daß die Ausdehnung und Wiederholung dieser Ver- kehrsform einen ziemlich hohen Grad erreichen müßte, um Schaden zu verursachen. Der Nachteil, den diese Koitusabarten auf den weiblichen Körper haben, hängt ganz davon ab, ob und inwieweit dieser Verkehr bei den Frauen eine Entspannung herbeiführt; namentlich beim prolongierten, oft aber auch beim unterbrochenen Akt tritt bei ihnen ein oder mehrere Male der Orgasmus ein. In solchen Fällen dürften kaum örtlich kongestive und allgemein ner- vöse Störungen resultieren, doch gibt es sicherlich auch sensitive Frauen, bei denen sich auf dem Boden dieser, der Norm nicht ent- sprechenden Beischlafsformen hysterische Zustände entwickeln können. Diese künstlichen Verlängerungen und Unterbrechungen wer- den aber von vielen Personen nicht nur bei der eigentlichen Kohabi- tation vorgenommen, sondern auch bei allen Abarten sexueller Be- tätigung, vor allem bei der Masturbation. Rohleder hat in diesem Sinne auch mit Recht von einer Masturbatio interruptaund incompleta (Zeitschr. f. Sexual w. 1908, S. 459) gesprochen. Er 284 IV. Kapitel: Sexualneurosen versteht unter Masturbatio interrupta den Zustand, bei dem ein Indi- viduum mit Absiebt oder auch gegen seinen Willen die Ausspritzung des Samens verhütet. Hammer ist der Meinung, daß die Mastur- batio interrupta auf einem Hemmungsinstinkt beruht, der mit der Vorstellung einer Schwächung durch den Samenverlust zusammen- hängt. Als Masturbatio incompleta bezeichnet Rohleder eine anscheinend etwas seltenere Form, bei der der Orgasmus ohne Ejakulation ausgelöst wird. Für die unterbrochene und verlängerte Ipsation gilt im wesentlichen das über die Unterbrechung und Ver- längerung des Beischlafs Gesagte. Auch hier sind beide Formen, die eine mehr, die andere weniger geeignet, einen chronischen Reizungs- zustand der Urethralschleimhaut zu bewirken, namentlich des Colli- culus seminalis, sowie der Urethraldrüsen, bei denen es schließlich nur eines ganz geringen Reizes bedarf, um eine Ejakulation herbei- zuführen. Wir berühren damit wieder eine der bedeutsamsten Ur- sachen und eins der zugleich wichtigsten Symptome der sexuellen Neurasthenie, die „C o 1 1 i c u 1 i t i s seminalis" und die oft mit ihr verbundene, wie verbreitete „Ejaculatio praeco x". Von den ursächlichen Momenten, die oft mit, nicht selten aber auch ohne nachweisliche Colliculitis seminalis und vorschneller Eja- kulation zu Sexualneurosen führen, seien neben dem Coitus inter- ruptus und der Ipsatio interrupta und prolongata vor allem noch drei genannt: Die Ipsation, die akute und in noch höherem Grade die chronische Gonorrhoe und sexuelle Exzesse. Ihre Folgen treten uns in der onan istischen Neurose, der Tripperneu r- asthenie und der reizbaren Schwäche der Hyperero- t i k e r entgegen. Viele Autoren, beispielsweise Binswanger, messen der Onanie die bei weitem größte Bedeutung für die Entstehung sexueller Neurasthenie zu. Auch Krafft-Ebing* gibt unter 114 Fällen von Sexualneurasthenie beim Manne 88mal Masturbation als Ursache an. Binswanger vertritt allerdings die Ansicht, daß die Onanie nur dann Bedeutung ge- winnt, wenn das Individuum schon durch andere Ursachen neurasthenisch geworden sei, daß aber die Folgezustände exzessiver Masturbation das bestehende Leiden zweifellos verschärfen können. Curschmann ist der Anschauung, daß der neurasthenische Sym- ptomenkomplex nicht von den Samenverlusten veranlaßt ist, sondern diesen koordi- niert ist, so daß beide ihre Entstehung einer dritten Ursache verdanken, nämlich einer erhöhten Reizbarkeit und Erschöpfbarkeit des Nervensystems. Bereits in dem Kapitel über Ipsation habe ich ausgeführt, daß die Folgen dieser so überaus häufigen Betätigungsform in früheren Zeiten ungemein übertrieben wurden. Mit unserer zuneh- menden Erfahrung nähern wir uns immer mehr dem Standpunkte Stekels, der in dieser monosexuellen Entspannungsform ein physiologisches Vor- kommnis sieht. Es scheint, als ob eine sehr große Anzahl männlicher und weib- licher Personen eine dreiphasige- Entwicklung durchmachen, eine autistisch onanistische, eine ,i n d i f f e r e n z i e r t e — bisexuelle Periode und eine dritte differenzierte, größtenteils heterosexuelle, im gewissen Prozentsatz aber auch homosexuelle Epoche. Die Schädlichkeit der onanistischen Be- tätigung liegt im Ubermaß. Dieses „Zuviel" zu bestimmen, ist darum 285 schwierig, weil dabei wesentliche individuelle Momente in Frage kommen. Es besteht kein Zweifel, daß die gleiche Anzahl sexueller Entspannungen für einen Menschen nach- teilig, für einen zweiten belanglos, für einen dritten sogar vorteilhaft sind. Es| hängt dies von der Stärke des Bedürfnisses, der Lebensweise, dem konstitutionellen Faktor, zum Teil auch von psychischen Momenten ab. So ist gerade in bezug auf die Onanie fest- stehend, daß die große Furcht vor den Folgen dieser „Jugendsünden" auf das Gemüts- und Nervenleben vieler Menschen sehr viel schädlicher einwirkt als die Handlung selbst. In einem Berliner Gymnasium ereignete sich vor einigen Jahren der Fall, daß innerhalb einer kurzen Zeit drei Schülerselbstmorde in einer Klasse vorkamen, darunter auch der Primus, ein hochbefähigter Knabe. Durch einen in meiner Behandlung befind- lichen Mitschüler konnte ich ermitteln, daß in allen drei Fällen mit sehr großer Wahr- scheinlichkeit die Furcht vor den Folgen der Onanie und vor allem das starke Gefühl der Keue und des Ärgers, immer wieder dieser Schwäche zu erliegen, die Selbstmord- ursache war. So sehr jedoch die verhängnisvolle Irrlehre verurteilt werden muß, es könnten durch Onanie unheilbare geistige und körperliche Leiden entstehen, so soll doch nicht die Entstehung einer mehr oder weniger starken Neurasthenie von bald kürzerer, bald längerer Dauer als Folge häufiger Masturbation in Abrede gestellt werden. Auch hier ist natürlich die zeitliche und ursächliche Folgte oft schwer voneinander zu trennen, auch ist zu berücksichtigen, daß oft schon die neuropathische Disposition als solche stärkere Ipsation im Gefolge hat. Doch bleibt bestehen, daß die typischen Erscheinungen der reizbaren Nervenschwäche, vor allem körperliche Erschlaffungs- zustände, verbunden mit Energielosigkeit und deprimierter Gemüts- stimmung, meist zusammen mit erhöhter Reizbarkeit, Unruhe, Herz- klopfen und anderen Zirkulationsstörungen bei Onanisten sehr häufig sind. Vor allem sind es die hypochondrischen Zu- stände, die diesen Kranken viel zu schaffen machen. Diese werden durch die von ihnen reichlich betriebene Lektüre, vermeintlich be- lehrende Schriften über die großen Gefahren der Samen Verluste noch erheblich verschlimmert. Zu diesen gehören nicht nur etwa die Schriften, die mehr oder weniger von Laien herrühren, wie die Selbstbewahrung von Retau, Bernhardis „Jugendspiegel", sondern auch die Bücher und Vorträge vieler Sittlichkeitsfanatiker, auch mancher Sexualhygieniker, die den Mangel exakter Forschungen durch die Bestimmtheit, mit der sie ihre Behauptungen aufstellen, überkompensieren. Ich gebe ein Beispiel aus vielen: Philipp P., 18 Jahre; Vater starb mit 30 Jahren an Kehlkopftuberkulose. Mutter ist stark nervös, und hat einen Kropf. Er selbst besitzt ebenfalls seit seinem 12. Jahre einen kleinen Kropf. In seiner Kindheit war er sehr ängstlich, besonders fürchtete er „Böse Buben". Wurde von Mutter und Großmutter er- zogen und lernte in der Schule sehr leicht/. Zur Onanie wurde er im Alter von 12 Jahren verführt. Gewöhnlich befriedigte er sich einmal täglich, doch manchmal auch öfter. Mit 17 Jahren stellte er das häufige Onanieren ein und tat es nur ungefähr einmal in der Woche. Die erste Pollution erfolgte im 16. Jahr. Er bemerkt, daß die Pollutionen auf- träten, wenn er abends oder tagsüber erotische Phantasien gehabt hätte und abends viel äße. Früher hatte er die Gewohnheit, ständig an den Fingerspitzen sowie an der Haut 286 zwischen Daumen und Zeigefinger zu riechen. Seine Libido erstreckt sich auf Frauen, die sozial und geistig über ihm stehen. Koitiert hat er noch nicht. Sein ganzer Cha- rakter wäre als melancholisch zu bezeichnen. P. besitzt einen schwachen Willen, und unterschätzt seine Person, ist leicht beeinflußbar und träumerisch veranlagt. Die Gesell- schaft flieht er. Seine nervösen Beschwerden sind mannigfacher Art. Vor allem leidet er unter sehr großer Gedächtnisschwäche und Unaufmerksamkeit; er errötet sehr leicht und wird beim Schreck sehr blaß. Nach dem Aufstehen hat er sehr starke Kopfschmerzen und fühlt sich sehr matt. Körperliche Arbeit strengt ihn sehr an. Turnen kann er überhaupt nicht. Beim Klim'mzug bekommt er einen sehr schmerzhaften Krampf in der Magengrube, beim Spreizen der Beine in den Oberschenkeln. Nach größerer Anstrengung wird er von Schwindel und Zittern befallen. Er trägt sich häufig mit Selbstmordgedanken. „Meine elende Verfassung und die Er- kenntnis ihre Entstehung geben mir den Anlaß dazu." In diesem letzten Satze ist der Grund seiner Neurose zu suchen. Wie weit seine Schuldvorstellungen gehen, bezeichnen folgende Worte: „Die Onanie kam mir in letzter Zeit in sozialer Hinsicht als Ver- brechen an der Gemeinschaft vor, weil ich nicht das leisten kann, was ich als Gesunder leisten könnte." Iu älteren Zeiten war die Meinung verbreitet, daß die in ihrer Zusammensetzung ja damals fast vollkommen unbekannte Samen- flüssigkeit aus dem Rückenmark und Gehirn flösse und daß die Er- güsse daher für diese Teile einen Substanzverlust bedeuteten. Wie es nicht selten vorkommt, daß die Folgerungen vielfach sich noch erhalten, wenn die Voraussetzungen sich längst als hinfällig er- wiesen haben, so hat sich auch hier der Gedanke, daß der Samen- verlust als solcher substantiell der Gesundheit nachteilig sei, als eine fast unausrottbare Anschauung festgesetzt. In Wirklichkeit ist aber dieses Sekret, welches in sehr großer Fülle vom Körper produ- ziert wird, vom Organismus ebenso sehr zur Absonderung vorge- sehen, wie jedes andere Drüsensekret, etwa das der Magensaftdrüsen, Speicheldrüsen, Schweißdrüsen, wenn auch der organische Gehalt konzentrierteres Eiweiß darstellt, als die meisten anderen Drüsen. Die Samengänge zeigen schon einige Stunden nach einer Ejakulation die gleiche Füllung wie vor dieser. Immerhin ist es nicht unwahr- scheinlich, daß allzu häufige Samenverluste, etwa mehr als 5 — 10 g pro Tag, auf die Dauer auch als Plasmaverlust nicht ganz ohne Bedeutung sind. Doch muß dies sicherlich individuell sehr verschieden sein, entsprechend der organischen Stoff menge des Körpers im allgemeinen und der Geschlechtsdrüsen im besonderen. Dabei ist es bemerkenswert, daß starke, korpulente Personen ge- wöhnlich weniger Samen produzieren als hagere. Man könnte ver- muten, daß das ursächliche Verhältnis ein umgekehrtes ist, indem Leute, die weniger Samen absondern, massiger werden als Menschen mit häufigem Samenverlust. Doch ist dieser Schluß nicht zutreffend, da die zu Fettansatz oder zur Magerkeit tendierende Körperkonsti- tution als das Primäre in Erscheinung tritt. Dasjenige, was beim sexuellen Übermaß für den Körper abträglich ist, dürfte sicherlich die starke nervöse Erschütterung sein, falls diese gar zu IV. Kapitel: Sexualneurosen 287 häufig vorkommt. Hierzu kommt, daß die mit der sexuellen Erregung verknüpfte Blutfülle und Irritation der Genitalorgane auf die Länge einen Zustand hervorruft, welcher örtlich unangenehme Wirkungen zeitigen kann. Diese nervöse und kongestive Beeinflussung ist nun aber die gleiche, ob ein Samenerguß erfolgt oder nicht. Es ist sogar die Spannung und Rückbildung eine natürlichere, wenn die Erre- gung in normaler Weise abflutet, als wenn keine völlige Entspan- nung stattfindet. Jedenfalls bedürfen die ganzen Anschauungen über die Bedeutung freiwilliger und unfreiwilliger Samenentleerung einer exakten Revision durch sacbverständige Ärzte, da die jahrtausende- lange Tradition und Suggestion auf diesem Gebiet in Verbindung mit der asketischen Weltanschauung so machtvoll geworden ist, daß kaum jemand sich unvoreingenommen dieser Frage nähert, und sich, wenn auch meist unbewußt, der Wucht überlieferter Vor- und Nachurteile nicht entziehen kann. Daß auch sexuelle Ausschweifungen, allzu häufig aus- geübte Kohabitation, namentlich solche, die mehrmals hintereinander bis zu sechsmal und mehr während einer Nacht forciert sind, einen katarrhalischen Überreizungszustand des Samen- 1) ü g e 1 s herbeizuführen vermögen, ist theoretisch wahrscheinlich und auch in praxi durch örtliche Befunde erwiesen. Wesentlich dürfte in solchen Fällen die allgemeine Schwächung des Nerven- systems ins Gewicht fallen, dem keine ausreichende Zeit bleibt, seine durch die Geschlechtserregung heftig erschütterten Neurone ge- nügend auszubalancieren. Doch kommt auch hier viel auf den indi- viduellen Faktor an, der auf keinem Gebiete so viele Variationen aufweist, wie auf sexuellem. Eine nicht ganz seltene Ursache einer mit Ejaculatio praecox verbundenen Sexual- neurose scheint die Urethritis gonorrhoica chronica posterior pro- st a t i c a zu sein, wenigstens sehen wir ziemlich häufig Patienten mit ausgesprochener Sexualneurasthenie, bei denen keine andere nachweisbare Ätiologie nachweisbar ist, als der Tripper. Die endoskopische Urethrauntersuchung ergibt das Bestehen einer Kolliku- litis, gelegentlich auch Prostatitis chronica, von der die Patienten keine Ahnung haben. Die Ejaculatio praecox ist hier so zu erklären, daß dem Erektionszentrum von den zentri- petalen Nerven, deren Enden in dem entzündlichen Infiltrate dauernd erregt sind, per- manent erhöhte Reize zuströmen, welche in dem Erektionszentrum zunächst eine Phase der Reizung, dann eine solche der Erschöpfung bedingen. — Die Anamnese ergibt oft eine frühere Epididymitis und im Urin Tripperfäden. Endoskopie zeigt mit oder ohne gonorrhoische Herde Schwellung, Rötung, Lockerung der Schleimhaut in der pars pro- statica, Vergrößerung des Colliculus seminalis, der mit geröteter aufgelockerter Schleim- ' haut bedeckt ist. Der Patient klagt oft über zeitweisen heftigen Harndrang, Stiche und Schmerzen im Augenblick der Ejakulation. Ein bisher in der Literatur kaum beachtetes Entstehungsmoment der Hyperoneurasthenie ist das sexuelle Trauma. Es ist dar- unter eine meist plötzlich eintretende Einwirkung auf die Sexual- sphäre zu verstehen, welche sich gegen den Willen der Betroffenen 288 ereignet. Dieses sexuelle Trauma ist etwas wesentlich anderes, wie der „Choc fortuit", von dem französische Autoren wie Binet sprechen. Diese glaubten, daß ein zufälliger äußerer Eindruck im Zusammen- treffen mit einer geschlechtlichen Erregung bestimmend auf die sexuelle Richtung eines Menschen einwirken kann, daß beispiels- weise jemand Fetischist wird, weil ein gewisser Teil des Körpers oder der Kleidung auf einem Menschen mit neuropathischer oder psychopathischer Konstitution geschlechtlich erregend wirkte. Wir haben an früherer Stelle klargelegt, daß hier ein Trugschluß vor- liegt, indem in Wirklichkeit die endogen vorhandene, zielstrebig ein- gestellte sexuelle Individualität beim erstmaligem Zusammentreffen mit einem adäquaten Gegenstand reagiert. Das sexuelle Trauma wirkt nicht in der Weise determinierend ein, daß die Richtung der Sexualität als solche nennenswert beeinflußt wird, sondern nur in- sofern, als es auf die sexuelle Sphäre im allgemeinen stark irri- tierend wirkt. Um den Begriff 'des sexuellen Traumas zu veranschaulicht!), will ich einige Beispiele anführen: Ein Mädchen von 25 Jahren steht in meiner Behandlung. Auf Drängen ihrer Angehörigen hat sie sich mit einem sehr ehrenwerten, aber ihr wenig sympathischen Manne verlobt. Wenige Tage nach der Verlobung hat sich bei ihr eine starke seelische Depression eingestellt, Sie kann keinen Schlaf finden, ist äußerst unruhig, verängstigt, sieht sehr schlecht aus, fühlt sich ungemein schwach und bekommt Anfälle, in denen sie schreit und mit den Gliedmaßen um sich schlägt. Vor den Zärtlichkeiten des Bräutigams fürchtet sie sich und denkt mit wahrem Entsetzen an die Möglichkeit des Beischlafs. Dieses Mädchen hat bisher, abgesehen von einigen kurzen Perioden im 13. und 15. Lebens- jahre, weder onaniert, noch zeigt ihr Trieb Abweichungen nach irgendwelcher Richtung. Das Mädchen gibt jedoch an, daß sie eine schwere sexuelle Erschütterung dadurch er- litten habe, daß ihr Großvater, ein 70jähriger Mann, in ihrem 8. bis 10. Jahre sich häufig an ihren Geschlechtsteilen zu schaffen gemacht habe. Er hatte sie auf den Schoß genommen, seine Finger in ihre Vagina gebohrt. Das Kind empfand dabei eine namen- lose Angst, wagte aber niemals, darüber zu sprechen. Seit dieser Zeit hat sie vor allem, was mit dem Geschlechtsleben zusammenhängt, eine große Furcht empfunden. Auch glaubt sie, daß ihre natürliche Lebensfreudigkeit durch diese Insulte eine schwere Ein- buße erfahren hatte. Von Zeit zu Zeit hat sie an Angstträumen gelitten, in denen stets die Betastung des Großvaters wiederkehrte. Der Gedanke an die Berührung durch einen Mann, vor allem die Vorstellung einer Betastung ihrer Geschlechtsteile, hat bei ihr seit jenen Insulten bis zum heutigen Tage stets schwere Beklemmung ausgelöst. Die Ver- lobung mußte wegen schwerer Hysterie der Patientin aufgehoben werden. Die Entlobung bewirkte relative Heilung. Über einen analogen Fall, der einen jungen, sehr femininen Mann betrifft, sei kurz berichtet. Dieser ist im Alter von 12 Jahren häufig von einer älteren Frau am Ge- schlechtsteil berührt worden, die ihn schließlich auch veranlaßte, den Koitus bei ihr zu vollziehen. An diesen sexuellen Vorgang, der dem Jungen äußerst unsympathisch war, schloß sich eine nervöse Zerrüttung, welche darin ihren Ausdruck fand, daß der Knabe viel an Lebenslust verlor, ganz apathisch wurde und dauernd über Kopfweh, Schlaflosig- keit, Magen- und Darmbeschwerden nervöser Art, klagte. Mit 16 Jahren erkrankte er an einem starken Tic convulsiv. Bei dieser Gelegenheit gab er als Ursache seiner Be- schwerden die sexuellen Vorkommnisse an, und wenngleich es immer schwer bleibt, in solchen Fällen das danach und dadurch mit Sicherheit auseinanderzuhalten, schien nach dem ganzen Eindruck der Erkrankung und des Patienten seine eigene Vermutung doch manches für sich zu haben. IV. Kapitel: Sexualneurosen 289 Ein anderer Fall meiner Beobachtungen trug sich wie folgt zu: Ein Junggeselle von etwa 55 Jahren erhielt den Besuch der Tochter einer Jugendfreundin, einer 30jährigen Dame aus der Provinz. Zwi- schen ihm und der hochintelligenten, aber sehr nervösen Frau bil- dete sich ein inniges Freundschaftsverhältnis heraus, das jedoch von Erotik gänzlich frei zu sein schien. Als nun eines Sonntags das Mäd- chen die Wohnung des Herrn betrat, öffnete dieser ihr selbst die Türe und überraschte sie mit einem Kuß auf den Mund, wobei er die Lingua ihr zwischen die Lippen schob. Als sie nicht widerstrebte, legte er sie auf ein Bett und nahm allerlei Manipulationen vor, die sie sich gefallen ließ. Unmittelbar nach diesem Vorgang verlangte das Mädchen, daß der Mann sie nun heiraten müsse, nachdem er ihr in dieser Weise seine Liebe bekundet habe und ibr außerdem die Unschuld genommen hätte. Der Herr suchte sie zu beschwichtigen und ihr auseinanderzusetzen, daß eine Verpflichtung zur Ehe für ihn aus seinem Vorgehen nicht hergeleitet werden könne. An diesen Vorfall schloß sich nun bei dem Mädchen ein hyste- rischer Anfall stärksten Grades. Sie lief zu ihren und seinen Verwandten, schilderte überall in heftigsten Ausdrücken, was ihr passiert sei, schrieb dem Mann abwechselnd glühendste Liebes- briefe und exaltierte Beschimpfungen und wurde so erregt, daß es unmöglich war, sie zu Hause zu behalten. Sie mußte in eine ge- schlossene Anstalt überführt werden, wo sie viele Monate schwer leidend verblieb. Der Fall gelangte dadurch zu meiner Beobachtung, daß der Bruder des Mädchens, ein höherer Regierungsbeamter, gegen den Junggesellen Entschädigungsansprüche erheblichen Grades stellte. Er verlangte nicht nur Ersatz der gesamten Kurkosten, son- dern erhob darüber hinausgehende Schadenersatzansprüche wegen dauernder Gesundheitsschädigung und daraus sich ergebender Ver- schlechterung der Heiratsaussichten seiner Schwester. Der Beklagte, ein Mann in hochangesehener Stellung, regte sich über die ganze Angelegenheit ungemein auf und erkrankte selbst an einem hoch- gradigen Nervenzusammenbruch mit tiefer Depression, so daß er schließlich seinem Leben durch Vergiften ein Ende machte. Ein nicht unbeträchtliches Kapitel bilden auch die hysterischen Zustände und nuptialen Manien, die sich bei manchen weiblichen Personen an die Brautnacht anschließen. Ich habe eine be- trächtliche Anzahl solcher Fälle zu beobachten Gelegenheit ge- habt. Der letzte betraf eine Person, die sich im 36. Lebensjahre mit einem aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Unteroffizier verheiratete, den sie im Straßengedränge zufällig kennen gelernt hatte. Es stellten sich bei ihr am Tag nach der Hochzeit akute Ver- wirrtheitszustände ein. Sie deklamierte laut, sprach ihren Mann mit falschem Namen an und verlangte von ihm in Anwesenheit anderer, er sollte wieder mit ihr den Koitus vollziehen, liebkoste im Beisein Hirschfeld, Sexualpathologie. III. • 19 IV. Kapitel: Sexualneurosen Fremder seine Genitalien und war so erregt, daß sie gleichfalls in eine geschlossene Anstalt kam. Der Mann focht die Ehe wegen geistiger Störung der Frau an, doch wurde seiner Forderung nicht stattgegeben, da die Erkrankung erst nach vollzogener Ehe einge- treten war. Gelegentlich kommt es auch vor, daß von Männern ausgeübte exkibi tionis tische Akte bei Frauen als sexuelle Traumen wirken, so daß langanhaltende nervöse oder hysterische Symptome bei ihnen auftreten. Es ist auch behauptet worden, daß alle Maßnahmen zur Verhütung der Empfängnis sexuelle Neurosen im Gefolge haben können. Von den schädlichen Wirkungen des Coitus interrup- tus war bereits die Rede, aber auch in bezug auf andere Präventiv- mittel bin ich geneigt, diese Frage zu bejahen. Insonderheit bei der Frau geht von den meisten Schutzmitteln ein lokaler Reiz aus, der ihre sexuellen Nerven nicht selten zum Nachteil beeinflußt. Ich habe mehr als einmal gesehen, daß die bloße Entfernung eines jahrelang aus antikonzeptionellen Gründen getragenen Pessars un- gemein erleichternd und beruhigend bei weiblicher Hystero-Neur- asthenie wirkte. Es bedarf hier nicht erst einer Vaginitis mit Fluor albus, wie sie oft durch den Gebrauch von Mutterringen auftreten, sondern der ständige Druck des Pessars als solcher genügt, auch wenn er sich nicht durch örtliche Empfindlichkeit bemerkbar macht, die Genitalnerven zu belasten. Ähnlich ist es auch mit den in den Muttermund eingeführten Schutzstiften, mit Pulverbläsern und den zahlreich auf den Markt geworfenen Schutztabletten, die auf die Dauer selten ohne nervöse Beizung- angewandt werden. In allen solchen Fällen schließt sich an die lokale Neurose leicht eine spinale und zerebrale an. Auch die vielfach den Frauen von den Männern post coitum zugemuteten Vorbeugungsverfahren scheinen in dieser Richtung nicht unbedenklich. In einem Ehescheidungsfalle, in dem ich bereits etwa vor zwei Jahrzehnten als Sachverständiger zugezogen war, gab die Ehefrau an, daß nach dem ersten Kinde ihr Mann sich ein System zur Verhütung weiterer Befruchtung zurecht- gelegt hätte, das darin bestand, daß die Frau unmittelbar nach dem Akt lOmal Kniebeuge machen, dabei gleichzeitig ihre Bauchpresse durch Husten in Tätigkeit setzen, und darauf Ausspülungen mit kaltem Salzwasser machen mußte. Sodann sollte sie unter ständigem Husten lOmal im Trab um das Schlafzimmer laufen und zum Schluß nochmals ausspülen. Der Gatte hätte streng auf die Durchführung dieses Systems gedrungen, während er selbst im Bette verbleibend wie ein Sklavenhalter gemächlich ruhte. Von Natur sehr demütig und nachgiebig, sei ihr bei diesem Verfahren schließlich der Ge- duldsfaden gerissen und verzichte sie daher lieber auf solche Ehe. IV. Kapitel: Sexualneurosen 291 Die vorn Manne angewandten Schutzmittel, vor allem die Prä- servativs, wirken in viel geringerem Grade als örtliche Irrita- mente, es sei denn auf rein psychischem Wege hei sehr empfind- samen Männern, oder solchen, die eine antifetischistische Einstel- lung gegen diese Artikel haben, welche übrigens, wie ich häufig in meiner Praxis erfahren habe, auch bei Frauen vorkommt. So behandelte ich vor Jahren eine schwere Hysterika, die von hoch- gradigem Brechreiz befallen wurde, wenn sich der Mann eines Über- zugs bediente. Die Vorstellung, daß das Lustgefühl als solches durch die ja auch für Vorbeugung der Ansteckung so bedeutsame und viel- fach gebrauchte Schutzbedeckung eine wesentliche Verminderung erfährt — ein Küraß für das Gefühl und ein Spinngewebe als Schutz, lautet ein von Männern viel variierter Ausspruch — beruht in der Hauptsache auf Autosuggestion und läßt den Einwand zu, daß, wenn man schwerwiegende Nachteile vermeiden will, man auch wohl auf leichte Vorteile verzichten kann. Die Frau kann jedenfalls, auch wenn der Mann Fischblase, Gummi oder die Neißer-Siebertsche Schutzsalbe anwendet, zum Or- gasmus und völliger Entspannung gelangen, was, wie wir sahen, bei der Ejaculatio praecox fast niemals und oft auch bei dem Coitus interruptus nicht der Fall ist. Überhaupt trägt das sexuelle Verhalten des Mannes viel häufiger Schuld daran, daßdasWeibanHystero-Neurasthenie erkrankt, als daß umgekehrt der Mann durch die Frau Neurasthe- niker wird. Neben den bereits geschilderten frustranen Erre- gungen kommt hier vor allem die sexuelle Vernachlässigung der Frau durch den Mann in Betracht, wie sie durch eine der vielen Impotenzformen verursacht ist; es stellt einen kaum entschuldbaren Mangel an Verantwortungsgefühl dar, wenn ein Mann, der weiß, daß er nicht mit der Frau den Verkehr vollziehen kann, weil ihm jede heterosexuelle Empfindung abgeht, dennoch ein Weib an sich fesselt, ein doppeltes Unrecht, weil es meist höchst materielle Gründe sind, die ihn zu einem solchen Schritt veranlassen. In dem folgenden Gutachten wird ein solcher Fall behandelt: Ich.- bescheinige, daß Freifrau Th. R. mich im Sommer 1917 spezialärztlich kon- sultierte. Sie klagte über schwere seelische Depressionen, heftige Er- regungszustände, Schlaflosigkeit, Unruhe, Angstzustände, Beklemmungen, Herzklopfen, Schwindel, Kopf- und Unterleibsschmerzen, hochgradige Mattigkeit und ein kaum zu ertragendes Wehgefühl, besonders in der Herz- gegend. Die objektive Untersuchung ergab eine ernste Form sehr starker IPy stero-Neurasthenie. Es lag die Wahrscheinlichkeit für einen Spezialarzt vor, daß1 diesem Leiden ein psychosexuelles Trauma zugrunde lag. Diese Vermutung fand ihre volle Bestätigung. Frau v. R. hatte, kurze Zeit bevor sie mich aufsuchte, einen Mann geheiratet, an dem sie mit zärtlicher Liebe hing. Hirem weiblich-zarten Empfinden konnte es, wie sie ein- 19* 292 IV. Kapitel: Sexualneurosen sehend schilderte, nicht entgehen, daß die Zärtlichkeiten und Liebkosungen, die sie ihrem Manne entgegenbrachte, bei diesem keinen Widerhall fanden, vielmehr auf eine immer mehr zunehmende Kälte stießen. Anfangs vermutete Frau v. R., daß die Liebe ihres Gatten einem anderen Weibe gehörte, dann glaubte sie, er triebe Selbstbefriedigung und sei infolgedessen sexuell relativ unzugänglich; allmählich aber wurde es ihr klar, daß seine geschlechtliche Zuneigung sich überhaupt nicht auf das weibliche, sondern auf das männliche Geschlecht erstreckte. Sie gab an, daß sie durch eigene und fremde Beobachtungen festgestellt habe, daß er seine freie Zeit fast ausschließlich in Gesellschaft mit jungen Männern verbringe, denen gegenüber er sich viel liebevoller benahm, wie ihr gegenüber. Es wurden ihr auch; junge Burschen genannt, mit denen, wie sie mitteilt, ihr Mann in geschlechtlichen, wenn auch nach § 175 nicht strafbaren Beziehungen gestanden hätte. Als mir Frau v. R. diese Angaben machte, hielt ich es für meine Pflicht, mich mit ihrem Gemahl in direkte Ver- bindung zu setzen, doch lehnte dieser eine Rücksprache ab. Trotz aller angewandten Mittel, vor allem psychotherapeutischer Behandlung, ver- schlimmerte sich das seelische und nervöse Leiden der Frau v. R. zusehends und nahm schließlich einen Charakter an, daß ein weiteres Zusammenleben mit ihrem Gatten von den Sachverständigen als ernstliche Schädigung ihres Befindens erklärt werden mußte, die objektive Richtigkeit der in ihrem Zusammenhange allgemeinen wissenschaftlichen Feststellungen tntsprechenden Angaben vorausgesetzt. Ich verweise nach dieser Richtung auf das Kapitel „Homosexualität und Ehe" in meiner Monographie: „Die Homo- sexualität des Mannes und Weibes". In diesem Abschnitt finden sich ganz ähnliche Fälle, wie der des Ehepaares v. R. eingehend beschrieben. Ich komme zu dem Schluß- ergebnis: Das schwere Nervenleiden der Frau v. R. ist bei einer an und für sich vorhan- denen nervösen Disposition der Patientin in der Hauptsache auf das sexuell negative Verhalten ihres Ehemannes — seine mangelnde Affinität — zurückzuführen. Die Sexualneurosen allein würden schon die Ein- führung der Sexualwissenschaft als medizinischen Lehrgegenstand rechtfertigen, damit die praktischen Ärzte recht sachgemäß diesen bedauernswerten Menschen Rat und Beistand leisten können. Die sexuelle Neurasthenie, Hysterie, Grübel- und Skrupelsucht ist so recht eine Krankheit unserer Zeit Es ist kaum anzunehmen, daß unter den alten Hellenen oder Ger- manen so viele Genitalhypochonder und Sexualneurotiker herum- gelaufen sind, die in völlig überflüssiger Weise sich ihr Leben ver- gällten und zugrunde richteten. Es fehlt uns der antike Hedo- nismus, jene naive, unbefangene' Geschlechts- freudigkeit, die zwar ebenfalls das Übermaß verpönte, ohne aber aus Furcht 'vor dem einen Extrem in das andere noch schlim- mere zu verfallen. Hier muß das, was der mit dem religiösen Begriff der Sünde verquickte sexuelle Aberglaube an der Menschheit ver- schuldet hat, die frei von Voraussetzungen arbeitende Sexualwissen- schaft wieder gut zu machen suchen, damit die nur allzuwahren Worte des Dichters Wildgans, die wir diesem Kapitel voran- setzten: „und die gedrosselte Lust wird ihnen zur Furie" ihren Doppelinhalt — Erdrosselung durch Selbstverdrä n gung und Verfolgung anderer — baldmöglichst verlieren. Für den einzelnen Sexualneurotiker ist damit auch zugleich der Weg gezeigt, auf den er noch am ehesten Aussicht hat, Heilung IV. Kapitel: Sexualneurosen zu finden: Behebung- der Sexualverdrängung - — hier bietet sich der psychoanalytischen Methode ein weites Feld — und Regelung der Sexualität in einer der individuellen Wesenheit adäquaten Form. Alles, was sonst angewandt werden kann, die zahllosen Beschwerden der Sexualneurotiker durch noch zahllosere Mittel zu beseitigen, hat mehr oder minder symptomatischen Wert. Das Arsenal geistiger, physikalischer und chemischer Waffen, über welche der Therapeut im Kämpfe gegen die geschilderten Leiden der Neurotiker verfügt, ist unerschöpflich; wirkliche Dauererfolge wird aber nur der Arzt erzielen können, der sich nicht an die Folgen, sondern an die Ursachen der Sexualverdrängung hält und diese behandelt. V. KAPITEL Exhibitionismus Der krankhafte Entblößungsdrang — Ursprung und Etymologie dieses sexualwissen- schaftlichen Begriffs — Seltsamer Widerspruch zwischen der Schamhaftigkeit und Schamlosigkeit der Exhibitionisten — , Selbstbekenntnisse eines Exhibitionisten — Seheu der Exhibitionisten vor dem weiblichen Geschlecht — Exhibi- tionismus und Fetischismus — Exhibitionismus und Hypererotismus — Uberkompensa- torische Leistungsfähigkeit eines Exhibitionisten — Krankhaft gesteigerte Abwehrtendenzen — Flucht in Krüppel haftigkeit — Exhibitionismus und Narcißmus — Wie spielt sich ein exhibitionistischer Anfall ab? — Was geht ihm voraus? — Der endogene und exogene Faktor im Zeigezwangstrieb — Die Bedeutung der unteren Extremitäten als auslösende Ursache der Entblößung — • Exhibitionistische Reaktion auf Gesäß und Brüste — Die Teilerscheinung als Index der Gesamtvor- stellung — Schulmädchen und Dienstmädchen als Hauptobjekte exhibitionistischer Attentate — An welchen Orten und zu welchen Zeiten findet die Exhibition statt? — Der Exhibitionsmantel — Der zielstrebige und stereotype Ablauf des Exhibi- tionsakts — Exhibitionistische Zurufe — Sprachlicher Exhibitionismus — Re- aktionsformen auf exhibitionistische Angriffe — Typische Ausreden der Ex- hibitionisten — Der angebliche Demonstrationssadismus — Schaustellung und Bloßstel- lung — Überschreitung der Schamgrenzen ohne fetischistischen Anreiz — Die psychopathisch-infantile Konstitution des Exhibitionisten — Ex- hibitionisten — Exhibition senil Dementer — Imbezille, epileptische und idiopathische Exhibitionisten — Gerichtsurteile über Exhibitionisten — Anti- reflektorische Einflüsse — Verhütung und Behandlung des Exhibi- tionismus — Willkürliche Beherrschung der Inkretion — Nachwort. Unter Exhibitionismus verstehen wir den "krankhaften Drang, sich durch Entblößung der Geschlechtsteile vor den Augen geschlechtlich anziehender Personen sexuell zu befriedigen. Der Ausdruck leitet sich von dem lateinischen Wort exhibere = herausholen ab ; er wurde im Jahre 1877 in die Wissen- schaft durch einen Aufsatz des französischen Professors Lasegue eingeführt, welcher in der Zeitschrift „l'Union medicale" (Nr. 50 vom 1. Mai 1877) erschien und den Titel führte „Les Exhibitio- nist es". Seitdem ist über den Zeigezwangstrieb eine ziem- lich große Literatur veröffentlicht, die sich auf mehrere hundert Be- obachtungen stützt, ohne daß es gelungen wäre, das Wesen der Er- scheinung zur völligen Klarheit zu bringen. Bei fast allen Beobach- tungen handelt es sich um Gerichtsfälle, denn ohne daß sie mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gekommen sind, gehen die Exhibitio- V. Kapitel : Exhibitionismus 295 nisten, deren Zahl eine recht erhebliehe ist, fast niemals zum Arzt. Ihre Schamhaftigkeit steht mit der anscheinenden Schamlosigkeit ihrer Handlungen in seltsamstem Widerspruch. In meiner sexual - pathologischen Klinik habe ich die Erfahrung gemacht, daß keine Gruppe von Patienten sich so ungern mit Kollegen ausspricht, als gerade Exhibitionisten, trotzdem sich alle wohl bewußt sind, daß ihr Zeigetrieb ein gänzlich unverschuldetes Leiden darstellt. In meiner Gerichtspraxis habe ich Gelegenheit gehabt, bisher 157 Fälle von Ex- hibitionismus mündlich oder schriftlich zu begutachten, manche wie- derholt und fast alle nach sehr eingehender Exploration. Ich möchte als Grundlage der weiter unten im Zusammenhange mitzuteilenden Ergebnisse eine Keihe von Gutachten hier zum Abdruck bringen, die als kasuistisches Material am besten geeignet sind, Ärzte in das für viele noch so dunkle Gebiet einzuführen. Voranschicken will ich die Selbstbekenntnisse eines Exhibitionisten, eines einfachen, sehr fleißigen, von seinem Entblößungsdrang abgesehen, in jeder Hinsicht durchaus korrekten Arbeiters; er schreibt: „Auf dem Lande bin ich groß geworden, habe daselbst die Schule besucht, bin in einer Kleinstadt in die Lehre gegangen und habe von da den Ausflug in die Welt begonnen. Ich war ein überaus scheues Kind, traute mich in den ersten Schuljahren nicht an meine Schulkameraden heran, drückte mich stets in Ecken und Winkeln, von wo aus ich verlangenden Auges dem Spiel meiner Kameraden zusah. Später, als ich größer wurde, bekam ich zwar etwas mehr Courage, zumal ich kein schlechter Schüler war, und ich mich deshalb vor meinen Mitschülern, nicht zu schämen brauchte, aber da trat ein neues Moment hinzu, was mich alle Zeit verlegen sein ließ, der Hunger. Zahlreiche Geschwisterschaft, wenig Einkommen der Eltern; wenn die Schulpause war, die anderen Knaben ihr Frühstücksbrot verzehrten, und ich zusehen mußte, trieb mich die Scham, so arm zu sein, abermals in die Ecken und Winkel. Zu Hause eine lieblose Stiefmutter, kam der Vater abends nach Hause, roch er meist nach Schnaps, und wieder mußte man sich abseits verkriechen. Froh atmete ich auf, als die Konfirmation vorüber war, und ich dem Elternhause den Rücken kehren durfte. In der benachbarten Kleinstadt wurde ich bei einem Bäcker in die Lehre gebracht. Soviel ich mich erinnern kann, hatte ich die ersten Erektionen im 13. Lebensjahre. Dieselben quälten mich in Gedanken sehr. Da ich der einzige Lehrling war — einen Gesellen beschäftigte der Meister nicht—, war ich auch hier allein. Anschluß an andere junge Männer zu suchen, traute ich mich nicht; so hatte ich niemanden, der mir die Rätsel des sexuellen Drängens und Begehrens deuten konnte. Die Mädchen betrachtete ich mit verlangenden Blicken, ohne es jedoch zu. wagen, mich auch nur einer zu nähern. Ich mochte wohl 15 Jahre sein, als ich durch zwei Magdeburger Schuljungen, die bei meinem Meister zu Besuch waren, zur Onanie verleitet wurde; diesem Tag fluche ich noch heute. Zur Samenentleerung kam es in der ersten Zeit noch nicht. Doch stellte sich das Wollustgefühl ein; wann es zum erstenmal zur Samenentleerung kam, kann ich nicht sagen. Nun frönte ich der Onanie. Wöchentlich; einige Male habe ich das ganze Junggesellenleben hindurch onaniert, mit Ausnahme der Zeit, wo ich ein in- times Verhältnis hatte. Aber auch in diesen Zeiten vermochte ich der Onanie nicht völlig zu entsagen. Mit dem Einsetzen der Onanie wurde die heiße Flamme des Begehrens etwas gemildert, doch trat als Folgeerscheinung eine noch größere Scheu vor dem weiblichen Geschlecht auf. Es1 wäre mir unmöglich gewesen, ein Mädchen an- zusprechen; liebte ich eine, so war es platonisch. Verhältnisse mit intimem Charakter (vor dem 20. Lebenswahre hatte ich noch kein solches) sind es ohne mein Zutun geworden. Es waren Mädchen, die mich direkt zum Geschlechtsgenuß veranlaßten. Ich mochte 17 Jahre zählen, als ich die erste Broschüre las, die über die sexuelle Frage handelte, 296 V. Kapitel: Exhibitionismus doch war mein Wille bereits so geschwächt, auch war die Sprache des Buches wohl nicht eindringlich genug, als daß es mich hätte bewegen können, der verfluchten Leidenschaft zu entsagen. Mit dem Eintreten der Geschlechtsreife machte sich zu gleicher Zeit, noch ehe ich zur Onanie verführt wurde, der seltsame Drang, mich zu entblößen, an Orten, wo es nicht üblich ist, bemerkbar, und zwar geschah die Entblößung mit dem Wunsche, es möge mich jemand. vom anderen Geschlecht sehe n. Ich kann nicht sagen, daß dieser Drang von vornherein in mir übermächtig auf- trat. Ich denke aber, daß, er die Folge des scheuen Wesens war, und ich auf diesem Wege (natürlich unbewußt) mein sexuelles Leben in Kontakt mit dem des weiblichen Geschlechts bringen wollte. Die ganz schüchternen ersten Ver- suche, mich zu entblößen, blieben vereinzelt, bis ich im Jahre 1904 nach Berlin kam. Ich trat in die Charite als Wärter ein. Im Frühjahr 1905 überkam es mich plötzlich wie ein Fieber. Es trieb mich hinaus, zwang mich durch die Straßen zu hasten, und die Geschlechtsteile aus dem geöffneten Hosenschlitz heraushängen zu lassen. Es war nicht das Bestreben, vor den Augen der Mädchen zu onanieren, vielmehr genügte es mir, zu sehen, daß die weib- lichen Personen durch Hinblicken Notiz von der) Sac'he nahmen. Glaubte ich an ihren Mienen Erheiterung lesen zu dürfen, so erhöhte dies die Be- friedigung; Nichtachtung dagegen machte mich niedergeschlagen. Übte ich auch während des Zurschaustellens der Geschlechtsteile die Onanie nur in größten Erregungszuständen aus, so geschah es doch zumeist dann, wenn ich müde und abgehetzt nach Hause kam. Genau so, wie beim normalen Menschen der Wille zur Aus- übung des Beischlafes konstant genannt werden kann, so muß ich bei ehrlicher Prüfung zugeben, daß das Verlangen zum Exhibitionieren ein konstantes war und ist. Wie der normalfühlende Mensch durch Arbeit geistig wie körperlich, durch besonders lebhaftes Interesse an einer Sache zeitweise vom Geschlechtsleben abgelenkt wird, so auch ich vom Entblößen. — Und dennoch glaube ich, daß der Trieb periodenweise übermächtig wird, daß es Zeiten gibt, in denen er alles andere Denken und Fühlen in den Hintergrund zu drängen vermag, in denen er nur allein herrscht. In diesen' Zuständen ist jeder Nerv in zitternder Erregung; ja mir kommt es vor, als ob jede einzelne Muskelfaser, jede Zelle im Leibe in Aufruhr sei. In diesen Zuständen ist von Überlegung keine Spur mehr vor- handen. Da schreit der ganze Organismus nach Befriedigung des krankhaften Triebes. Nichts vermag mich dann zurückzuhalten, keine Gefahr wird gescheut. Hunger und Durst, Hitze und Kälte, auch nicht körperliche Ermüdung vermögen der Leidenschaft Einhalt zu tun. Es sind nun nahezu 15 Jahre, daß ich von dieser Leidenschaft herum- gepeitscht werde. Alles, was ich in dieser Zeit in Angriff genommen habe, ist nur halb gediehen, immer, wenn die Arbeit oder das Studium so weit fortgeschritten war, daß es Erfolge versprechen durfte, überfiel mich diese höllische Macht, und Tage, ja Wochen lang trieb es mich dann hinaus. Im Frühjahr 1912 wurde ich zum erstenmal festgenommen. Da ich den Sommer und Herbst 1912 in England zubrachte, erfolgte meine Bestrafung erst im Sommer 1913 in Dessau, wo ich wegen der gleichen, öffentliches Ärgernis erregenden Handlung fest- genommen worden war. 2 Monate Gefängnis waren die Sühne für die beiden Straftaten. 1905 hatte ich mich verheiratet; ich hatte die leise Hoffnung, daß ich durch die Er- füllung der ehelichen Pflichten von meinem Leiden geheilt werden würde. Merkte aber zu bald, daß gerade dadurch, daß äußere Fesseln mich hinderten, nach Belieben dem Exhibitionismus zu frönen, derselbe an Intensität wuchs. Qualvolle Zeit habe ich durch- lebt, das Ende vom Liede war, daß alle heiligen Schwüre und Gelübde, die ich. mir selbst gelobt hatte, zu nichts zerrannen, und ich 1rotz Ehefrau meiner Leidenschaft nachgab. Wieder wurde ich gefaßt (1905) und zu 100 Mark Geldstrafe verurteilt. Gezwungenerweise mußte ich meine Frau mit meiner Perversität bekannt V. Kapitel: Exhibitionismus 297 machen. Sie nahm es gefaßter auf, als ich zu glauben wagte, lebt aber in ständiger Angst, daß ich wieder Dummheiten mache. Bedauerlicherweise ist diese Angst nicht un- begründet, denn nach wie vor verfolgt mich dieser höllische Dämon. Außerordent- lich selten ist es. daß ich allein fortgehe, dennoch geschieht es, und dann ist auch das Unglück gleich da. Bis zum 21. Nov. 1918 war ich Soldat (g. v.). Im Frühjahr 1919 nach recht langer Abstinenz zwingt's mich wieder, hinaus, ich werde gefaßt, erhalte 1 Woche zudiktiert. Wegen dringender Arbeit erbitte ich Strafaufschub. Derselbe läuft am 25. Febr. ab. Da will es das Verhängnis, daß ich Anfang Februar abermals aufgegriffen werde. Noch weiß meine Frau nichts davon, ich habe auch nicht den Mut, esi ihr zu sagen. Würde mich nicht ein Rest religiösen Pflichtbewußtseins halten, ich würde dieser Hölle entfliehen. Heilungsversuche habe ich verschiedene unternommen. So habe ich als Krankenpfleger monatelang nur Nachtwachen gemacht, um so das Ausgehen am Abend unmöglich zu machen, habe versucht, durch Autosuggestion und Hypnose die Onanie so- wie auch den Exhibitionismus zu bekämpfen, habe Hydrotherapie angewandt, viel regu- lären Beischlaf, um mich sexuell satt zu machen, alles umsonst. Ich habe schwere Montagearbeit ausgeführt, wo ich den ganzen Tag entweder schwere eiserne Träger schleppen, oder den Niethammer schwingen mußte. Zerschlagen an allen Gliedern kam ich abends nach Hause. Eine Stunde später war ich schon auf verbotenem Wege. Das Menschenmöglichste habe ich getan, um freizu werden; daß ich es nicht geworden bin, nötigt rnich zu glauben, es mit einem Laster zu tun zu haben, das eine krankhafte Erscheinung ist. Dies Ursache mag vielleicht in der Zurück- dämmung des individuellen Lebens in der Kindheit und in dem Jünglingsalter zu suchen sein, begründet durch die schon geschilderte Schüchternheit. Doch glaube ich, daß ich erblich belastet bin. Die Tatsache, daß ein Bruder meines Vaters durch Selbstmord endete, und einer im Irrenhaus starb, daß der Vater selbst am Schnapsgenuß sehr großen Gefallen fand, muß doch mit meinem Zustand irgendwelche Verkettung haben. Es muß sich um Degenerationserschei- nungen handeln, die die psychischen Hemmungen auf das Mindestmaß herabdrücken, so nur kann ich mir das perverse Handeln erklären. Ich sehließe dieser ebenso schlichten wie lehrreichen Selbst- sehildemng ein Gutachten an, das ich über einen sehr typischen Fall von Exhibitionismus abzugeben habe. Der Unterzeichnete ist aufgefordert worden, ein Sachverständigengutachten abzu- geben über den Geisteszustand des früheren Leutnants, jetzigen Studierenden der Han- delshochschule, Hans T. Dieser ist beschuldigt, Ende Oktober 1914 abends gegen 1j2S Uhr im Kleistpark zu Berlin dadurch öffentliches Ärgernis gegeben zu haben, daß er vor 6 Mädchen im schulpflichtigen Alter im Vorbeigehen seinen Geschlechtsteil entblößt haben soll; er soll ihn dabei mit der Hand hin- und herbewegt haben; ein Mädchen behauptet, sie hätte gesehen, daß T. den Teil schon entblößt gehabt hätte, als* er noch auf einer Bank saß, ein anderes Mädchen sagt, er hätte, wenn Leute vorübergegangen wären, den Geschlechtsteil tnit seinem Schirm verdeckt. Drei Mädchen bekunden, er hätte, als er an dem Zaun vorüberging, auf dem sie saßen, zu ihnen gesagt: „Macht doch nicht so ernste Gesichter" und ihnen Geld angeboten. Der Angeschuldigte T. gibt eine abweichende Darstellung des Vorfalls. Er sei an dem Oktobertage, an dem sich der Vorgang abspielte, gegen 7 Uhr von seiner Wohnung in der A.-Straße fortgegangen, um seine etwa 10 Minuten vom Kleistpark entfernt wohnende Braut zu besuchen; da er erst um */29 Uhr erwartet wurde, ging er noch etwa eine halbe Stunde in dem am Wege liegenden Park spazieren. Schließlich setzte er sich auf eine Bank, die an einem Platze stand, wo sonst niemand weilte. Nach kurzer Zeit kamen 6 Mädchen und einige Knaben; sie setzten sich auf eine Bank, die etwa 6 in von der entfernt war, auf der er ruhte. T. berichtet weiter, daß die Mädchen sich recht un- 298 gezogen benommen hätten, sie hätten unanständige Lieder gesungen, miteinander ge- tuschelt, mit hochgezogenen Beinen gesessen und mit den Knaben, die sich später ent- fernten,' in obszöner Weise gesprochen. Zwei Mädchen kamen zu T. und fragten ihn, wieviel Uhr es sei. Nachdem er den Kindern entsprechend geantwortet, sei er auf- gestanden und fortgegangen. Sein Bruchband — er leidet tatsächlich an einem links- seitigen Leistenbruche — habe ihn gescheuert, deshalb habe er in den Hosen- schlitz gefaßt, um der Pelotte eine bequemere Lage zu gehen. Ob beim Zurechtrücken des* Bruchbandes der Geschlechtsteil aus dem Schlitz geschoben und sichtbar geworden sei, wisse er nicht. • \ '" " r ' Er hätte nur bemerkt, daß in der Nähe des Ausgangs der Anlagen drei der Mad- chen auf einem Zaun gesessen und ihn merkwürdig angestarrt hätten. Er habe halblaut vor sich hingesprochen: „Macht nicht so freche", nicht, wie die Mädchen behaupten, „so ernste Gesichter." Nach dem Verlassen des Parks in der Potsdamer Straße bemerkte er, daß die drei Mädchen ihm mit einem Wächter des Parks auf den Fersen waren. T. blieb stehen und fragte, ob der Wächter etwas von ihm wollte. Der Wächter sagte, die Mäd- chen behaupteten, er habe sie seinen Geschlechtsteil sehen lassen; er wolle ihn deshalb feststellen lassen. Man begab sich zur nächsten Polizeiwache; T., der den Aussagen der Mädchen nicht traute, ließ sich Namen, Wohnung und Schule der Kinder aufschreiben. Er begab sich dann zu seinem eigenen Polizeirevier, um das Vorgefallene zu melden und zu fragen, was er tun solle; am nächsten Morgen suchte er in gleicher Absicht die Rektoren der Schule auf. An beiden Stellen suchte man ihn zu beruhigen, die Mädchen würden wohl irrtümlicherweise, was Zufall war, für Absicht gehalten haben; irn allgemeinen seien solche Angaben von Kindern unglaubwürdig und unzuverlässig; es sei nicht anzu- nehmen, daß ihm aus dem Vorfall noch weitere Unannehmlichkeiten erwachsen würden; gegenseitige Beeinflussung, Verwechslung von Einbildung und Wirklichkeit spielten bei Kindern in diesem Alter — sie waren wohl alle etwas unter 12 Jahren — eine große Rolle. T. hielt die ganze Angelegenheit bereits für erledigt, als er im Januar d. Js. eine Vorladung zur Vernehmung beim Landgericht II erhielt und daraus ersah, daß ein Ver- fahren bei der Staatsanwaltschaft gegen ihn im Gange sei. Hans T. ist 33 Jahre alt. Sein Vater ist der Geheimrat Professor Dr. T., sein ein- ziger Bruder aktiver Oberleutnant. Beide Eltern leben und sind gesund. Er wurde streng und gewissenhaft, dabei sehr liebevoll erzogen. Auf' der Schule machte .er gute Fort- schritte, besonders interessierte ihn Physik und Chemie. Mit etwa 13 Jahren trat die Geschlechtsreife ein; er bemerkte um diese Zeit auch ein Anschwellen der Brüste. Etwa in demselben Alter begann er auf Veranlassung gleichaltriger Kame- raden mit der Onanie. Er stellte sich da bei gleichaltrige Mädchen vor. Mit 19 Jahren verließ Hans T. das Elternhaus und trat als Fahnenjunker in ein Regiment in R. ein. Hier begann eine für sein weiteres Geschlechtsleben verhängnisvolle Zeit. Die Mädchen dieser Stadt waren sehr scharf auf Offiziere: Fähnrichen und Einjährigen stellten sie förmlich nach und gaben sich ihnen in reich- lichem Maße hin, ohne daß den Herren Unkosten erwuchsen. Namentlich auch in den Parks und Anlagen der Stadt, sowie in der schönen, seenreichen, bewaldeten Umgebung betätigte sich T. vielfach geschlechtlich. Im Januar 1909 kam er auf Kriegsschule nach N. In den 9 Monaten, die er hier verbrachte, hatte er weniger Gelegenheit zu sexuellem Ver- kehr, immerhin kam es hin und wieder doch dazu, und zwar auch wieder im Freien, in den Anlagen, an den Ufern der N. und in der Umgebung der Stadt. Umso intensiver setzte seine sexuelle Betätigung ein, als er nach B. zurückkehrte und Offizier wurde. Wie fast alle seine Kameraden hatte er ein „Verhältnis", später noch ein zweites und drittes; gemeinsame Ausflüge, die in einem Segelboot veranstaltet wurden, das T. gemietet hatte, endeten oft in nächtlichen Gelagen auf den Inseln der H., bei denen man sich erst an Alkohol und Musik berauschte, um sich schließlich, wiederum im Freien, starken erotischen Exzessen hinzugeben. Das währte so einige Jahre. Da wurde im Sommer 1912 in B. ein Hauptmann des dortigen Artillerieregiments verurteilt, der sich Verfehlungen gegen minderjährige Mäd- I V; Kapitel: Exhibitionismus 299 chen hatte zuschulden kommen lassen. Im Anschluß daran tauchten viele Gerüchte auf und schwirrten durch die Stadt, die sich auf geschlechtliche Beziehungen zwischen Offi- zieren und Bürgermädchen erstreckten. Auch Leutnant T. wurde in die Klatschereien hineinverwickelt. Es i kam schließlich zu einern Strafverfahren gegen ihn; er wurde freigesprochen, doch erhielt er durch Spruch des Ehrengerichts im Anschluß an diese Vorfälle den schlichten Abschied. Seelisch aufs tiefste deprimiert, kehrte er im Februar 1913 in sein Elternhaus zurück, um sich durch angestrengtes Studium auf technischem und kauf- männischem Gebiet Kenntnisse zu erwerben, die ihm bald wieder eine seinen Fähigkeiten und seinem Stande entsprechende Berufstätigkeit ermöglichen sollten. Zum Geschlechts- verkehr fehlte ihm die Gelegenheit und in seinem fast schwermütigen Seelen- zustand vor allem auch die Neigung; er wurde von Hause aus sehr knapp gehalten und verfiel wieder in die alte Onanie zurück, die er durch den regen Sexualverkehr in R. für längst überwunden angesehen hatte. Er litt an überaus großer Mattigkeit, heftiger Unruhe, Zittern, Neigung zum Weinen, sehr mangelhaftem Schlaf, Kopf- und Rücken- schmerzen. Dieses Bild ausgesprochenster' reizbarer Nervenschwäche ■ — sexueller Neurasthenie — verbunden mit hochgradiger, objektiv nachweisbarer Reflex- steigerung bot Herr Hans T., als ich ihn im Januar d. Js. kennen lernte. Nachdem es mir gelungen1 war, mir sein Vertrauen zu erwerben, konnte ich mit Zuhilfenahme einer methodischen Exploration noch folgende wichtige Anhaltspunkte zur Beurteilung seines Geschlechtslebens und Geisteszustandes gewinnen. Herr T. gibt an, daß gewisse äußere Anlässe ihn unwillkürlich in einen Zu- stand heftiger sinnlicher Erregung und unbezwinglicher innerer Unruhe versetzten. Solche Anlässe wurden durch den Anblick von Damen gegeben, die Toilette machten, oder „die bei schlechtem Wetter die Kleider rafften, so daß die Wade und womöglich etwas vom Beinkleid zu sehen w a r", ferner durch den Anblick „schön geformter" Beine beim Einsteigen in die Bahn, endlich auch durch den zufälligen Anblick weiblicher Personen in verfänglichen Stellun- gen, z. B. solchen, die mit hochgezogenen Beinen rodelten, schaukelten, oder bei denen man sonst „alles" sehen könne. Einen ähnlichen Einfluß hätten Schlitzröcke und dünne Sommerkleider, die ohne Unterröcke getragen, die Körper formen durch- schimmern ließen, ferner auch Badekostüme. Bei solchen äußeren Anlässen überkomme ihn ein ganz gewaltiger sinn- licher Drang, dem gegenüber er sich machtlos fühle, sein sonst starker Wille versage vollkommen. Es sei, als ob ein Dämon ihn überwältige, der ihn rastlos umhertreibt. Seit er mit seinen Nerven so herunter sei, wäre es wieder- holt vorgekommen, daß er stundenlang, ja die ganze Nacht, durch die Straßen gegangen sei, um nach den geschilderten weiblichen Reizen zu spähen. Er werde dabei nie müde, verspüre weder Hunger noch Durst, weder Hitze noch Kälte. Begegne er dann einer Dame, die die Kleider stark raffe, so daß er die Waden und Beinkleider erblicke, dann hätte er das Gefühl, als ob der Dämon — • wie er sich ausdrückt — - ihn ganz besonders heftig peitscht. Es gäbe dann für ihn keine Beherrschungslnöglichkeit mehr; als ob er von Sinnen sei, dränge ihn eine innere Gewalt dazu, sein Glied herauszunehmen und im Anblick des ihn an- reizenden Objekts zu onanieren. „Eine unbeschreibliche Macht" — so schreibt er wörtlich — „veranlaßt rnich in dieser Lage, auch dann mein Handeln nicht zu unter- brechen, wenn die Betreffende dieses merkt. Das letzte wirkt noch besonders aufregend und hat sehr schnell Ejakulation zur Folge. Der Gedanke, daß ich dadurch gegen die Gesetze verstoße oder beleidigend wirke, kommt während dieser Handlungen gar nicht bei mir auf. Es liegt mir auch voll- kommen fern, irgendwie verletzend gegen ein Mitglied des weiblichen Geschlechts zu werden, das ich sehr schätze." Er fährt dann fort: „Mit der Ejakulation ' tritt Befriedi- gung ein. Die Unruhe weicht. Ich merke, wie der Dämon mich verläßt. Meist fühle ich mich etwas abgespannt. Erst jetzt ist es mir möglich, Gedanken über das Vorgefallene 300 V. Kapitel: Exhibitionismus zu machen. Das erste, worüber ich nachdenke, ist das Empfinden, das die Betreffende äußerte, als sie mich in dieser Verfassung sah. Unwillen bei ihr, ruft in mir ein gewisses Angstgefühl, verbunden mit Herzklopfen, hervor. Freude bei ihr ruft auch große Freude bei mir hervor, verbunden mit einem Gefühl der Dankbarkeit." Bisweilen tritt auch nach der Tat E r n ü c h t e r u n g ein, doch meistenteils mehr eine Art freudiger Genugtuung, in der Vorstellung, erfreut zu haben. Das Bewußt- sein einer Zudringlichkeit oder gar einer Erregung öffent- lichen Ärgernisses fehle während der Vornahme der Entblößung völlig. Bemerkenswert ist auch der folgende von T. entwickelte Gedankengang. „Ebenso" — meint er — - „wie ich durch die Reize der Frau erregt werde, die sie mir gewährt, und die sehen zu! können ich mich freue, ebenso angenehmes Empfinden muß auch, wie ich glaube, die Frau haben, die mich ihre Reize sehen läßt, wenn sie sieht, wie ich durch sie erregt werde; ja ich glaube, zu diesem angenehmen Empfinden, das der Wollust an- gehört, gesellt sich auch noch ein gewisser Stolz der Frau, weil sie es ist, die erregend wirkt und mich ganz in ihren Bann nimmt. Ich fühle mich dann verpflichtet, ihr meine Erregung -nicht zu verbergen, gewissermaßen als wollte ich ihre Reize loben undmiehdaifir revanchieren, daß sie mich dieselben sehen 1 ä ß t." Gutachte n. In der sexualwissenschaftlichen Fachliteratur ist der von Spezial- ärzten in einer nicht geringen Anzahl von Fällen beobachtete krankhafte Zwang, die Geschlechtsteile vor anderen Personen zu entblößen, unter dem Namen „Exhibitionis- mus" beschrieben worden. Es ist nun unsere Aufgabe, auf Griind des sich uns darbieten- den und eingehend geschilderten Tatsachenmaterials zu untersuchen, ob bei der Ent- blößung, die Herr T. im Oktober v. J. im Kleistpark vorgenommen haben soll, ein der- artiger Fall von krankhaft bedingtem Exhibitionismus vorliegt. Mit anderen Worten: Befand er sich, als er durch diese Handlung öffentliches Ärgernis erregte, also objektiv eine strafbare Handlung beging, subjektiv in einem Zustande der Bewußtlosigkeit oder krankhaften Störung der GPeistestätigkeit, welche seine freie Willensbestimmung ausschloß? Es gibt eine Reihe von Autoren, die den Standpunkt vertreten, daß eine so läppische, sinn- und zweckwidrige Handlung wie die Selbst- entblößung der Schamteile vor Zuschauern an und für sich den Stempel des Krankhaften trage. Im Wesen und in der Natur jeder geschlecht- lichen Betätigung liege so sehr das Diskrete, Intime, die Öffentlichkeit Ausschließende, daß, wenn ein feingebildeter, strebsamer, ordentlicher Mensch aus guter Familie — und T. ist dies alles zweifellos in hohem Grade, wird er doch geradezu als „pedantisch" bezeichnet — sozusagen im völligen Widerspruch mit sich selbst öffentlich die Scham und Sittlichkeit verletzt, indem er seinen Geschlechtsteil rücksichtslos offen heraushängen läßt — , daß dann im Seelenleben eines solchen Mannes etwas nicht in Ordnung sein müsse, was das sonst Unbegreifliche erklärt. Lassen wir aber einmal diesen Rückschluß, dem die Logik sicherlich nicht abzu- sprechen ist, außer acht, so finden sich in der Tat selbst alle Anzeichen gegeben, die darauf hindeuten, daß wir es mit einem krankhaften Impuls, einer sogenannten Zwangshandlung, zu tun haben. Alles was für die sogenannten Obsessionen als pathognomisch, für den krankhaften Charakter als beweisend angesehen wurde, ist bei diesen Entblößungen der Schamteile in ausgesprochenem Grade vorhanden: Zunächst die sich steigernde Unruhe und- Beklommenheit vorher, der immer mehr zu einer Entspannung drängende, innere Druck, dann die Unfähigkeit, dem Impuls zu widerstehen, die der W i 1 - l' iisbeeinflussung nicht mehr zugängliche Ausführung der Tat und das Gefühl der Erlösung und Erleichterung unmittelbar nach vollbrachtem Akt; das gestörte Nervensystem kehrt wie von einer schweren 301 Last befreit wieder in die Gleichgewichtslage zurück. Alles dies gehört zu einer p a t h o logischen Zwangshandlung, und alles dies ist dem Exhibitionismus in hohem Maße eigen. Der Exhibitionismus stellt aber keine Krankheit für sich dar, sondern nur eine Krankheitserscheinung, entstanden auf dem Boden einer Allgemeinerkrankung des Zentralnervensystems. Es sind hauptsächlich drei Krankheitsgruppen, bei 'denen man ihn beobachtet hat. Erstens kommt diese rücksichtslose Entblößung der Schamteile bei Schwachsinnigen vor, sowohl den senilen Dementen, als den kindisch Ver- blödeten, oder den auf infantiler' Stufe gebliebenen Lappischen. Ein solcher Fall liegt bei dem geistig recht hochstehenden Hans T. sicher nicht vor. Zweitens tritt der Exhibitionismus bei Epileptischen auf, indem er die Stelle eines epileptischen Anfalls vertritt, ähnlich wie etwa die periodisch einsetzende Dipso- manie oder Dromomanie. Auch für diese Annahme haben wir bei T. keine Anhalts- punkte. Die dritte, umfangreichste Gruppe der Exhibitionisten stellen die schweren Neuropathen, bei denen wir so häufig auch andere nervöse Zwangsvorstellungen linden, dar. Auf einer solchen fixierten Idee .beruht auch der Entblößungsdrang, welcher auf neuropathischer Grundlage gedeiht und zeitweise so übermächtig wird, daß alle Hemmungen über rannt werden. Ein derartiger Fall liegt bei dem Angeschuldigten T. vor. Daß er ein schwerer Neuropath ist, erweist seine mitgeteilte Krankengeschichte; auch konnten wir feststellen, daß die Entblößung der Schamteile bei ihm als ein Zwang auftritt, der stärker ist als seinWille. Ich halte nacli den bei anderen Exhibitionisten gemachten Erfahrungen das Leiden bei T. für heilbar; als Heilmittel kämen u. a. in Frage: sachkundige Behandlung des nervösen Grundübels, dadurch Kräftigung des Nervensystems und Hebung der Wider- stände, ferner Regelung der Sexualbetätigung in normaler Weise, zugleich Vermei- dung aller Anlässe und Begleitumstände, die nach der in Ein- zelfällen gewonnenen Kenntnis bei ihm den Drang und Zwang begünstigen; beispielsweise sollte T. nur am hellen Tage ausgehen, jedenfalls abends niemals allein Wege machen, und Anlagen meiden. T. steht zur Zeit in einer «olchen zweckentsprechenden, nervenärztlichen Behandlung. Man könnte geneigt sein, eine Überlegung und Hemmungsmöglichkeit bei Exhibitio- nisten daraus zu schließen, daß sie trotz der Stärke des Antriebs gewisse Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht lassen. Der eine sieht sich um, ob er nicht etwa von männlichen Personen beobachtet wird, der andere, wie dies aucli ein Mädchen von dem Angeschuldigten T. behauptet, hält sich den Schirm oder Mantel vor, wenn unerwartet Leute vorübergehen, vor denen die Entblößung nicht stattfinden soll. Jeder erfahrene Psychiater weiß jedoch, daß selbst in schwersten Dämmerzuständen ein scheinbar konsequentes, bedachtes und zielstrebiges Handeln nicht zu den Selten- heiten gehört, um wieviel mehr gilt dies bin-, wo das Bewußtsein zwar getrübt, aber keineswegs völlig erloschen ist; das Krankhafte ist ja hier in erster Linie der nacli ganz spezieller Richtung zielende Zwang, dem eben der Wille nicht ge- wachsen ist, ein Zwang, dessen Intensität gegenüber die natürlichen Schranken und Hemmungen versagen. Das schließt aber durchaus nicht aus, daß anderweitige Willensäußerungen bestehen bleiben, die sich nicht unmittelbar auf das Objekt des Exhibitionismus beziehen. Vergleiche ich alles das, was die wissenschaftliche Erforschung des Exhibitionismus durch Lasegue, Krafft-Ebing, Leppmann, Cramer und andere hervorragende Sexualforscher gelehrt hat, mit dem, was die gewissenhafte Beobachtung des vorliegenden Falles ergibt, so kann es auch nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß sich Hans T., als er im Oktober v. Js. im Kleistpark seine Schamteile entblößte und dadurch öffentliches Ärgernis erregte, sich in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, •der seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 RStrGB. aufhob. 302 V. Kapitel: Exhibitionismus Das gegen T. bereits eingeleitete Strafverfahren wurde auf das obige Gutachten hin eingestellt. In dem folgenden Fall hatte schon eine Verurteilung zu einer recht erheblichen Freiheitsstrafe statt- gefunden, welche durch sachverständige Begutachtung in einer höheren Instanz in Geldstrafe umgewandelt wurde. Dieses Gutachten lautete: Auf seinen Wunsch habe ich den Kaufmann Herrn Fritz R., gehören am 4. April 1879, während mehrerer Wochen wegen seiner nervösen Beschwerden behandelt. Herr R. steht nun unter der Anklage, durch eine unzüchtige Handlung öffentlich ein Ärgernis gegeben zu haben, und zwar durch ein Verhalten, welches von nervenärzt- licher Seite aus als Exhibitionismus beurteilt werden muß. Infolge meiner fachlichen Er- fahrungen auf dem Gebiete der seelischen Regelwidrigkeiten des geschlechtlichen Ver- haltens war ich in der Lage, das unter Anklage stehende Verhalten des Herrn R. sowohl auf Grund der allgemeinen wissenschaftlichen Feststellungen zu beurteilen, als auch es in Verbindung zu bringen mit den besonderen nervösen Symptomen, die ich bei dem An- geklagten feststellen konnte. Ich gebe darüber das folgende Gutachten ab. Der inkriminierte Fall spielte sich nach den Angaben des Angeklagten etwa folgen- dermaßen ab: Am 15. Okt. 1918 gegen 1/28 Uhr abends begab sich der Angeklagte, um zu telephonieren, zu der öffentlichen Fernsprechstelle vor dem Hause ... Er fand dieselbe besetzt und wartete außerhalb der Zelle, wo noch ein etwa 11 jähriges, ihm unbekanntes Mädchen stand. Nach Freiwerden der Zelle ging das Mädchen hinein, während der An- geklagte weiter wartete. „Als etwa 15 Minuten verstrichen waren," berichtet der An- geklagte, „erschien es mir unwahrscheinlich, daß das Mädchen noch immer sprach, ich öffnete die Tür und hörte, daß es mit seinem Vetter zu sprechen verlangte, ohne Amt und Nummer zu wissen, und sich nicht von dem Amt zurückweisen lassen wollte. Das Mäd- chen machte einen ziemlich dreisten, jedoch schmeichelhaften Eindruck. Ich bat, mir den Vortritt zu lassen, womit es einverstanden war, und während ich telephonierte, kniete es mit einem Fuß auf dem Stuhl. Beim Anblick seiner Haltung — das Bein war bis zum Knie frei — \ so daß die Beinkleider zu sehen waren, fühlte ich einen unwiderstehlichen Drang, meinen Geschlechtsteil zu entblößen. Es kostete mich große Überwindung, es nicht zu tun. Ich verließ dann zusammen mit dem Mädchen das Telephon. Auf meine Frage, wo es wohne, wies es auf das Haus in der . . . -Straße und ging vor mir hinein. Das Mädchen übte durch seine schöngeformten Beine einen derartigen Reiz auf mich aus, daß ich immer wieder einen unwiderstehlichen Drang fühlte, mein Glied vor ihm zu ent- blößen. Ich wurde immer unruhiger und ging mit dem Mädchen über den Hof. Mir wurde glühend heiß, und ich zitterte am ganzen Körper, bis ich plötz- lich mein Glied entblößte. Ich muß in dem Moment meiner Sinne nicht mehr mächtig gewesen sein; ich wußte nicht, was ich tat." Das Mädchen habe nun ohne weiteres unaufgefordert an dem Geschlechtsteil des Angeklagten manipuliert. Als der Zeuge T. hinzukam, „wurde ich von grenzenlosem Schamgefühl gepeinigt und versuchte davonzu- laufen." Der Angeklagte gab mir an: Von jeher habe sein Geschlechtstrieb sich in dem unwiderstehlichen Drange geäußert, vor dem Gegenstande seiner ge- schlechtlichen Begierde sein Glied entblößen zu müssen. Dieser Drang komme mit zwingender Gewalt über ihn, sobald er Kinder mit ausgeprägten Waden in dem Alter dieses Mädchens zu Gesicht bekomme. „Mit diesem inneren teuflischen Triebe, den ich geradezu als dämonisch bezeichnen möchte, habe ich schon sehr häufig zu kämpfen gehabt, so daß ich mich kaum noch beherrschen konnte." Der Trieb überfalle ihn plötzlich; heftige Beklommenheit der Atmung, glühende Hitze im Kopfe und eine Art Lähmung bis zu völliger Willenlosigkeit ergreife von ihm Besitz. Mit dem letzten Aufgebot aller Willenskräfte sei es ihm bisher stets nur ge- lungen, in solchen Momenten davonzulaufen und dem dämonischen Zwange zu entfliehen. V. Kapitel :: Exhibitionismus 303 Das sei so von Beginn der Geschlechtsreife an gewesen. Der eigentliche Ge- schlechtsverkehr übe einen nur äußerst geringen Reiz auf ihn a u s. Ebenso kommen die sonst als geschlechtliche Reizobjekte geltende»- weiblichen Formen usw. und Verhaltungs weisen für seinen Geschlechtstrieb nicht in Frage. Einzig und 'allein Waden und Beine von Mädchen, die in dem geschilderten Alter stehen, wirken geschlechtlich erregend, und zwar nicht als Antrieb zum Geschlechtsverkehr, sondern als Auslösung dazu, seinen Ge- schlechtsteil zu entblößen. ' Der Angeklagte ist von mütterlicher Seite erblich in erheblichem Maße be- lastet. Der Bruder seiner Mutter starb an Gehirnerweichung; dessen beide Kinder, ein Sohn und eine Tochter, starben ebenfalls in geistiger Umnachtung. Eine Tochter dieser Tochter ist im 7. Lebensjahre erblindet; ein Sohn derselben leidet an epileptischen An- fällen. Der Angeklagte ist von jeher in hohem Grade nervös gewesen. Schon in der Schul- zeit litt er an Angstzuständen. Seine Nervosität zeigte sich auch später sein ganzes Leben hindurch in jähen Stimmungsschwankungen, Unruhe, Reizbarkeit, Schüchternheit im Verkehr mit anderen, Mangel an Konzentrationsfähigkeit und Entschlußkraft. Zeitweise bestand Schlaflosigkeit, Herzklopfen, Zittern der Glieder. Durch seinen Beruf wurde die nervöse Schwäche in den letzten Jahren noch gesteigert. Bei der ärztlichen Untersuchung zeigen sich die Anzeichen der Nervosität in erheb- lichem Grade auf körperlichem Gebiet, in erhöhter Reflexerregbarkeit, feinschlägigem Zittern der Lider und. der Hände, Zucken der Lippen und jähem Wechsel in der Blut- füllung der Hautgefäße. Auf psychischem Gebiet zeigt sich, daß die intellektuellen Funk- tionen gut entwickelt sind. Jedoch besteht stockende Sprache, schüchternes, etwas gehe'mmtes und ungewandtes Verhalten, deprimierte Stimmung, nervöse Un- ruhe und Sprunghaftigkeit des Gedankenablaufs, leichte Vergeßlichkeit. Herr R. macht den Eindruck eines durchaus glaubwürdigen Mannes, der unter seinem Triebe auf das schwerste leidet, und weniger durch den Vorfall, der ihn unter Anklage brachte, als viel- mehr durch das tragische Los, welches er nun schon viele Jahre über sich schweben fühlt, tief getroffen ist. Auf Grund dieser Befunde beurteile ich Herrn R. nach seinem allgemeinen Nerven- zustand als einen Fall von schwerer neuropathischer Konstitution. Die nervösen Symptome auf körperlichem und seelischem Gebiet, die ihn in wechselnder Stärke das ganze Leben hindurch begleitet haben, sind offenbar der Ausdruck einer krank- haften angeborenen Anlage. Für diese Annahme ist die in der Bluts- verwandtschaft des Angeklagten aufgetretene Häufung geistiger Störun- gen ein weiterer Beleg. Der Trieb, seinem Geschlechtsteil zu entblößen, ist offenbar eine Teilerscheinung, die neben den anderen krankhaft nervösen Symptomen auf der Basis dieser ererbten degenerativen Anlage erwachsen ist. Da er der forensischen Beurteilung hier besonders zu unterliegen hat, seien ihm noch einige Ausführungen ge- widmet. Es handelt sieh dabei um eine krankhafte Abweichung von der Norm in mehrfachem Sinne. Erstens ist die Triebrichtung eine abweichende. Sie erstreckt sich auf Mädchen des Entwicklungs alters und wird ausschließlich durch deren Beine fixiert. Dies ist ein beim Exhibitionismus nach meinen Erfahrungen sehr häu- figes1 Verhalten. Zweitens ist die Triebhaltung ihrer Qualität nach abweichend: sie be- steht in der Demonstration des Geschlechtsteils und erschöpft sich im wesentlichen darin. Drittens ist die Stärke des Triebes eine abweichende. Dies zeigt sich einmal in den körper- lichen Begleiterscheinungen: der Beklommenheit, dem Blutandrang, dem Gefühl der Läh- mung — alles Anzeichen körperlich nervöser Störungen, wie sie in solcher Stärke und Häufung nur bei sehr heftigen, plötzlich einsetzenden und überwältigenden Affektspan- nungen nervöser Menschen zur Beobachtung gelangt; ferner zeigt es sich auf seelischem Gebiet. Hier wirkt das jähe Auftreten des Geschlechtstriebes wie ein Zwangsimpuls. Er drängt mit überwältigender Kraft, vor welcher alle Widerstände zu erlahmen drohen, zu triebhafter Entladung. Derartige Zwang simpulse oder Obsessionen, nicht 304 nur geschlechtlicher Art, finden sich ebenfalls gerade bei krankhafter nervöser Veranlagung sehr häufig. Uber die forensische Beurteilung des Exhibitionismus im allgemeinen — ohne Rück- sicht auf den vorliegenden Fall — kann nur das wiederholt werden, was der größte Kenner dieser Fragen, Kraft-Ebing, ausgeführt hat: „Schamhaftigkeit ist in dem Kulturleben der heutigen Menschen eine durch Erziehung vieler Jahrhunderte so gefestigte Charakter- erscheinung und Direktive, daß sich vorweg Vermutungen einer psychopathologischen Be- ziehung ergeben müssen, wenn der öffentliche Anstand in gröblicher Weise verletzt wird. Die Vermutung wird berechtigt sein, daß ein Individuum, welches derart das Sittlich- keitsgefühl seiner Mitmenschen und zugleich seine eigne Würde verletzt, der Gefühle der Sittlichkeit nicht teilhaftig werden konnte (angeborener Schwachsinn), oder verlustig ging (erworbener Schwachsinn), oder in einem Zustand von Trübung seines Bewußtseins gehandelt hat." . . . Die läppische Art und Weise dieser Geschlechtsbetätigung oder eigentlich sexuellen Demonstration weist auf Schwachsinn oder wenigstens auf temporäre Hemmung intellektueller und ethischer Funktionen bei erregter Libido auf Grund einer erheblichen Bewußtseinstrübung hin. Von einem angeborenen oder erworbenen Schwachsinn kann bei dem Angeklagten keine Rede sein. Ebensowenig liegt ein ethischer Tiefstand vor; im Gegenteil, der An- geklagte ist im übrigen durchaus von ethischer Feinfühligkeit, und steht diesem Triebe wie etwas Fremdem und Feindseligem gegenüber, das sein Leben ver- giftet. Es entfallen mithin alle diejenigen Geistesstörungen chronischer Art, bei welchen Exhibitionismus als Symptom auftritt. Ebenso liegt Epilepsie nicht vor. Der konstitutionelle Neuropath hingegen, der im allgemeinen foren- sisch als zurechnungsfähig zu erachten ist, kann bei solchen Handlungen, die aus Affekten entstehen, ganz oder teilweise unter den Voraussetzungen des § 51 RStrGB. stehen. Jeder Affekt von krankhafter Stärke, welcher aus der abnormen seelischen An- lage der Neuropathien entstammt, setzt eine Trübung und Einengung des Be- wußtseins von mehr oder weniger großer Tiefe und Dauer voraus. Dieselbe braucht nicht soweit zu gehen, daß der Kontakt mit der Umwelt gänzlich verloren geht; auch braucht die Erinnerung nicht gestört zu sein. Steht die Trübung des Be- wußtseins und des geistigen Ablaufes durch den Affekt fest, steht ferner die krankhafte Art des Affektes fest, steht endlich sein Ursprung aus krankhafter Anlage fest: so wird eine Einschränkung der freien Willensbestimmung, unter Umständen ein völliger Aus- schluß derselben gemäß den Voraussetzungen des § 51 RStrGB. anzunehmen sein. Diese Schlußfolgerung findet sich nun im Falle des Angeklagten und der ihm zur Last gelegten Handlung voll verwirklicht, und es fragt sich nur noch, ob eine weitgehende Einschränkung oder ein völliger Ausschluß der freien Willensbestimmung zur Zeit der Begehung dieser Handlung als vorliegend zu erachten ist. Diese Frage möchte ich nun nach reichlicher Erwägung aller in Betracht kommenden Umstände im letzteren Sinne beantworten. Und zwar bringt mich dazu vor allem die zwangsartige, obsessive Natur des Impulses, welcher die inkriminierte Handlung auslöste. Wenn ein geistig und sittlich feinfühlender Mensch sein Leben lang unter Anfällen dieses Zwangstriebes gelitten hat, weil er krankhaft veranlagt ist, und demselben doch immer hat widerstehen können, und wenn der Zwangstrieb eines Tages doch einmal Herr über ihn wird: so scheint es mir kein besseres Beispiel für den Ausschluß des eigenen Willens zu geben, als dieses, in welchem der sonst vom Willen stets noch mühsam gebändigte Zwang des Willens Herr wird. Hätte der Angeklagte gegenüber seinem „teuflischen Triebe" auch nur noch eine Spur von eigener Willensbestimmung gehabt, so wäre es bei seinem sonstigen Charakter eben nicht zu der inkriminierten Handlung gekommen. Daß es dazu kam, beweist die restlose Aus- tilgung des eigenen freien Willens für das krankhafte affektive "Zwangs- g e s c h e h e n. Ich gebe mithin mein Gutachten dahin ab: Der Angeklagte befand sich zur Zeit der ihm zur Last gelegten Handlung in einem Zustand, in welchem gemäß den Voraus- setzungen des § 51 RStrGB. die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. 305 Weitere grundlegende Feststellungen zur allgemeinen Beurtei- lung des Exhibitionismus sind auch in dem folgenden Gutachten niedergelegt: „Auf Veranlassung des Kaufmanns L. erstatten wir das nachstehende Gutachten über den Geisteszustand desselben zur Zeit der Begehung einer Handlung, wegen der der Ge- nannte nach § 183 RStrGB. angeklagt ist. Der 36jährige verheiratete Mann ist der Enkel zweier blutsverwandter Ehegatten. Er hat 7 Geschwister, von denen eiie Schwester geisteskrank ist. Ebenso ist der Bruder seines Vaters in der Irrenanstalt verstorben. Ein zweiter Bruder des Vaters beging Selbstmord. Der Vater selber soll nach Angaben des Untersuchten an einem krankhaften Übermaß ge- schlechtlicher Erregung gelitten haben. Unter den Schwestern des Angeklagten befinden sich noch mehrere Sonderlingsnaturen von teilweise ebenfalls hemmungsloser geschlechtlicher Erregbarkeit. Als Kind war der Angeklagte mit Rückgratsverkrümmung behaftet und litt an Rückenschmerzen und Kopfschmerzen. Ferner bestand in der Kind- heit Alpdrücken und vor allem Nachtwandeln im Schlafe. In einem solchen Zustand ist er einmal mit geschlossenen Augen aus dem Fenster hinausgeklettert. Hinter- her bestand Erinnerungslosigkeit. Auch sonst bot er als Kind viele neuropathische Zei- chen : er war ängstlich, schreckhaft, weinerlich, stotterte', konnte nie mit anderen Kindern spielen, sondern war immer allein. Er hatte schon damals aus- schweifende, erotische Träume. In der Schule war er ein Musterknabe, lernte spielend, er war das gute Beispiel für alle anderen und sollte auf Gemeindekosten studieren. Mit 12 Jahren wurde er von der eigenen Schwester und der eigenen Cousine verführt. Seitdem hat er einen starken Hang zur Onanie, der niemals von ihm gewichen ist. Damals trat auch die Pubertät ein. Nach derselben begann eine Periode psychischer Unruhe und Entgleisungen. In der Lehre hielt es der bis dahin so gute Schüler nirgends aus; nacheinander absolvierte er vier Lehrstellen, ohne auf irgendeiner auszulernen. Er ging mit 17 Jahren auf Reisen und lernte auf diesem Wege seine Frau kennen. Er heiratete im 22. Lebensjahre. Kurze Zeit später erlitt er eine Vorstrafe wegen Betruges. Seit deren Verbüßung soll sich seine Nervosität verschlimmert haben., Auch sein jüngster Sohn hietet Zeichen derselben: er spielt fortgesetzt an. seinem Geschlechtsteil (im Alter von 3 Jahren), faßt andere Mädchen unter die Röcke, ist leicht erregt und jähzornig und schwer erziehbar. In der Folgezeit gelang es dem Angeklagten durch rastlose Arbeit, sich wieder em- porzuarbeiten. Er eignete sich soviel chemische Kenntnisse an, um eine Fabrik von Seifen und Parfürmerien selbständig zu führen. Vor acht oder neun Jahren wurde er wegen Er- regung öffentlichen Ärgernisses, auf Grund eines Deliktes, welches dem jetzigen völlig gleich ist, zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt. Den Krieg machte der An- geklagte seit Beginn 1914 im Osten und im Westen an der vordersten Front mit, bis er im Frühjahr 1018 nach der Schlacht von Cambrai wegen Ruhr ausscheiden mußte. Soweit der äußere Lebenslauf. Der Angeklagte gibt noch an, er arbeite Tag und Nacht auf das angestrengteste, noch im Bett sei er geistig tätig. Er könne nicht eine Minute untätig dasitzen. Er leide stark an linksseitigen Kopf- schmerzen, häufiger Schlaflosigkeit, Mattigkeit bis zum Zusammenbrechen, innerer Unruhe, leichtem Erröten, Zittern der Hände und Schwindel- an f ä 1 1 e n beim Bücken. Ferner sei er von geschlechtlichen Zwangsvorstellungen be- herrscht. Sein Wesen sei weich, gutmütig, von Stimmungen abhängig, willenlos, dabei außerordentlich reizbar und beeindruckbar. Sein Gedächtnis sei sehr schlecht. In geschlechtlicher Hinsicht gibt er an: er leide von jeher an dem periodisch wiederkehrenden und besonders stark nach irgendwelchen Auf- regungen eintretendem Drange, seinen entblößten Geschlechtsteil zu zeigen. Er könne sich den Ursprung dieses völlig unbeherrschbaren Triebes, der ihn blitzartig überfalle, nicht erklären. Er habe — „wie ein Löwe dagegen gekämpft". — Dennoch sei Hirschfeld, Sexualpathologie. III. 20 306 V. Kapitel: Exhibitionismus er diesem Drange oftmals unterlegen, wie er offen eingesteht. Er sei infolgedessen häufig das 0 p f e r v o n G elderpressungcn geworden. Der Drang zur Selbsteutblößung trete besonders dann auf, wenn der Angeklagte kleine Mädchen im Entwicklungsalter, und zwar besonders solche mit nackten Waden, beobachte. Begegne ihm ein .solches und blicke ihn an, so sei es mit besten Vorsätzen und aller Selbstbeherrschung zu Ende; das Blut steige ihm zu Kopf, es sause in den Ohren, er habe Herzklopfen und fühle sich einer Ohnmacht nahe; er werde dann völlig willenlos und folge seinem Triebe. So sei es auch in dem inkriminierten Falle gewesen. Sein Geschlechtstrieb sei von krankhafter Erregbarkeit und Stärke, so daß er fest täglich noch jetzt onanieren müsse, obwohl er auch seinen ehelichen Verkehr ausübe. Weitaus das stärkste geschlechtliche Erlebnis biete ihm aber der Anblick halbreifer Mäd- chen. Nur dieser löse den Drang zum Zurschaustellen seiner Geschlechtsteile aus. Die Untersuchung des Angeklagten ergab auf seelischem Gebiet keine gröberen Ab- weichungen der Geisteskräfte. Was sich jedoch über sein Gemütsiebon beobachten ließ, machte seine Angaben, wie sie oben wiedergegeben wurden, durchaus glaubhaft. Ganz besonders tat dies auch die körperliche Untersuchung, welche alle funktionellen Symptome erheblicher nervöser Überreizung und Schwäche bei ihm zutage förderte. Hiernach ist der Angeklagte eine psychopathische Persönlichkeit. Er ist erblich schwer belastet, er stammt aus einer Blutsverwandtenehe, in dritter Generation. Die Belastung von väterlicher Seite ist eine exquisit psycho- p a t h i s c h e und trifft besonders zu für den Hypererotismus, der in der Familie e r b 1 i c h i s t. Schwere psychopathische Züge ziehen sich durch das ganze Leben des Angeklagten von Kindheit an; die geschlechtliche Anomalie, der sogenannte Exhibitionismus, und ebenso das Ubermaß geschlechtlicher Reizbarkeit, der Hypererotismus, sind nur Einzelzüge einer im ganzen durch und durch krank- haften Anlage. Die übrigen Züge dieser krankhaften Anlage sind die des Nerven- schwächlings, und zwar in ungewöhnlich hohem Grade. Forensisch ist auch ein Psychopath dieses Typus im allgemeiner* zu- rechnungsfähig. Lediglich, wenn sein Delikt unmittelbarer Ausfluß der krankhaften Eigenart ist, können Zweifel an der Z u r e e h ii u n s f ü h i g k e i t entstehen. Dies ist nun im vorliegenden Fall tat- sächlich so. Hinzu kommt, daß dieses Delikt eine ausgesprochene Affekthandlung ist, und zwar eines krankhaften, drangartigen Affektes, der einer Sexualität von pathologischer Eigenart und Stärke entspringt. Hinzu kommt ferner, daß bei der krankhaften Persönlichkeit des Angeklagten die Widerstände der Nerven und des Willens sowohl allgemein, als auch ganz besonders gegen seine ge- schlechtliche Pieizbarkeit herabgesetzt sind, ja völlig fehlen. Diese Erwägungen reichen nach unserem sacher v er ständigen Ermessen aus, um bei dem Angeklagten begrün- dete Zweifel an seiner freien Willensbestimmung zur Zeit der Begehung seines Deliktes als vorliegend zu erachten. Wir geben mithin unser Gutachten dahin ab: Es bestehen begründete Zweifel dar- über, daß sich der Angeklagte zur Zeit der Begehung seines Deliktes in einem verant- wortlichen Geisteszustände befand. Es ist vielmehr vom ärztlichen Standpunkt aus w a hrscheinli c h , daß er zur Zeit der Begehung seiner Handlungen in einem Zu- stande von krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 RStGB. sich befunden haben dürfte. Nach dem alten Kechtsgrundsatz: „in dubio pro reo" reicht die Wahr sc h e i n i i e h k e i t mangelnder Z n r e e h t s f ä h i g k e i t aus, einen Angeklagten außer Verfolgung zu setzen. Ich schließe diesen typischen Beispielen von Exhibitionismus noch einen in mehrfacher Hinsicht atypischen Kasus an, welcher lehrt, mit wie verwickelten Seelenzuständen wir es bei Exhibitionisten V. Kapitel : Exhibitionismus 307 nicht selten zu tun haben. Der Untersuchte selbst stellt trotz immer wiederholter Mahnungen, im eigensten Interesse seiner Begutachtung .strenge bei der Wahrheit zu bleiben, jede exhibitionistische A b - s i c h t in Abrede, die wir aber gleichwohl nach seinem ganzen psyehopathologischen Typus anzunehmen Grund haben. Die see- lischen Seliutzmechanismen, Schams c h r a n k e 11 und A b - wehrreaktionen, mit denen der Kranke sich umgibt, machen den Fall zu einem für den Seelenforscher überaus inst r n k ti ven. Steigert sich die Unterdrückung und Verschleierung der psycho- pathischen Diathese und primären Insuffizienz bei diesem Degenere superieur doch nicht nur in ü b e r k o m p e n s a t o r i s c h e Gewissen- haftigkeit und Leistungsfähigkeit, sondern bis zur Flucht in hyste- rische Krüppelhaftigkeit (Schief hals). Wir weisen be sonders auf die Zurückführung etwa unbewußt bei Darstellung des Vorfalls vorgenommener Korrekturen auf krankhaft gestei- gerte Ab w e h r t e ndenze n hin. In dem von mir mit Dr. A. Kronfeld abgegegebenen Gutachten heißt es: „Auf Wunsch des Regierungsbaumeisters Herrn N. N. erstatten die Unterzeichneten ein fachärztliches Gutachten über seinen Gesundheitszustand mit besonderer Berück- sichtigung seines Nerven- und Geisteszustandes in den letzten Monaten. Den Anlaß dazu, dieses Gutachten von uns zu erheben, erblickt Herr N. in einem Vorfall, welcher sich am 18. Jliirz 1919 abspielte und ihn in den Verdacht einer strafbaren Handlung gemäß § 18:3 RStGB. gebracht haben soll. Den Unterzeichneten ist aktenmäßig nichts bekannt; ebensowenig darüber, ob die Annahme des Herrn N., er stehe im Verdacht, sich strafbar gemacht zu haben, tatsächlich zutrifft oder nur auf einer Mißdeutung beruht, welche sein überreizter nervöser Zustand einem an sich harmlosen Vorfall gegeben hat. Di»- Gutachter sind lediglich auf die subjektiven Darstellungen des in Rede stehenden Vorfalls, sowie seiner Folgen durch Herrn N. angewiesen. Ferner stützen sie sich auf eine fünfwöchentliche Beobachtung des Genannten. Was den in Bede stehenden Vorfall anbelangt, so trug er sich nach den Angaben des Herrn N. folgendermaßen zu: Herr N. ging am IS. Marz 1919 mit seinen beiden Kindern, einem 7jährigen Mädchen und einem 5jährigen Knaben, in den Tiergarten, um mit ihnen zu spielen. Gegen 4 Uhr bekam er angeblich den Drang zu urinieTen. Er schickte die beiden Kinder etwas abseits und trat hinter einen Baum. Als er sein Glied herausnahm, sei dasselbe, ohne daß irgendein ihm bewußt gewordener Anreiz vorangegangen sei, in halber Erektion gewesen, so daß er behindert gewesen sei, seine Notdurft zu verrichten. Die Ursachen für diesen eigenartigen Zustand lägen möglicher- weise in seinem nervösen Gesamtzustand. Als Herr N. nun aufblickte, sah er schräg auf sich zu ein Mädchen kommen, welches eiaen Kinderwagen schob. Herr N. behauptet mit Bestimmtheil die rein zufällige Koinzidenz dieser Tatsache mit der schon vorher eingeleiteten und aus völlig anderen Gründen hervor- gegangenen Situation, in welcher er dastand. Ob das Mädchen ihn gesehen habe, sei ihm völlig unbekannt. Das Verhalten des Mädchens, welches mit dem Kinde im Kinderwagen spielte, bringt ihn zu der Überzeugung, daß er selbst von ihr nicht be- obachtet worden sei. Als das Mädchen vorübergegangen sei, habe er sein Glied wieder fortgesteckt und seine Kleidung geordnet; mit Bestimmtheit gibt er an. daß ein Samen- verlust nicht eingetreten sei. Er ging wieder zu seinen Kindern und begann weiter mit ihnen zu spielen. Kurze Zeit nachher sei ein Kriminalbeamter auf ihn zugekommen und habe ihn festgestellt. Unter dem plötzlichen Eindruck, sich möglicherweise strafbar gemacht zu haben, sei er heftig erschrocken und habe sich dem Beamten gegenüber 20* 308 V. Kapitel : Exhibitionismus «anz zerknirscht und beschämt gezeigt. Nachher habe er oftmals die ganze An- gelegenheit durchdacht; er könne aber nur sagen, -daß er noch niemals den Gedanken gehabt habe, geschlechtlicher Erregung durch das Vorzeigen seines Gliedes gegenüber unbekannten Madchen Ausdruck zu geben; der Gedanke, daß in seinem Verhalten eine unzüchtige Hand- lung als von ihm beabsichtigt erblickt werden könnte, sei ihm erst durch das Auftreten des Kriminalbeamten wie etwas völlig Wesensfremdes aufgestiegen. Herr N. wurde am 3. April 1885 in Oldenburg geboren. Über erbliche Belastung in seiner Familie ist nichts bekannt. Er gibt an, seit seiner Geburt an Augenkrankheit gelitten zu haben. Infolge der heftigen Schmerzen durch dieselbe habe er den Kopf stets zur linken Seite geneigt getragen; und infolgedessen sei mit der Zeit eine Ver- kürzung der linken H a 1 s m u s k ul a t u r eingetreten. Wegen dieser schein baren Verkuppelung sei- er von früher Jugend an bis in sein Mannesalter viel ver- spottet und verhöhnt worden. Er habe darunter viel zu leiden gehabt. So sei es gekommen, daß er von jeher ein sehr verschlossener und einsamer Mensch o-eblieben sei Freundschaft kenne er nur dem Namen nach. Wem er kein Objekt des Spottes war, dem sei er ein solches der Ausnutzung nach jeder Richtung hin geworden. An besondere nervöse Anomalien aus der Kindheit vermochte Herr N. sich nicht zu erinnern. In der Schule habe er gut gelernt. Seit 1905 habe er auf der Hochschule Hochbau studiert und nach 8 Semestern sein Diplomexämen bestanden. Er sei dann bei der Heeresverwaltung als! Regierungsbauführer eingetreten. Nach erfolgreicher Be- teiligung an der Schinkel-Konkurrenz bestand er das Baumeisterexamen und trat dann wied°er zur Heeresverwaltung als Baumeister über. Hier ist er bis jetzt tätig gewesen. Herr N gibt nun an, daß ihm während des Krieges besonders umfangreiche Ar- beiten zugefallen seien. Allein die zu seinem Baukreis gehörenden Fabriken seien innerhalb zweier Jahre durch Neubauten für über 20 Millionen Mark vergrößert worden. Die ganze Verantwortung und Mehrarbeit habe auf seinen Schul- tern allein gelastet. Die Tätigkeit sei eine ungewöhnlich aufregende gewesen, zum Teil infolge besonderer Umstände, zum Teil wegen der damit verbundenen Verantwortung. Ein großer Teil der Nächte, nicht selten die ganzen Nächte hindurch mußten der Arbeit zwecks rechtzeitiger Erledigung der Befehle geopfert werden. Mehrfach habe sich Herr N dem Zusammenbruch nahe gefühlt. Es entspricht dem eigenartigen, beson- ders empfindsamen Naturell des Untersuchten, wenn er als Hauptmotiv hierfür immer wieder angibt, er habe sich in vielleicht allzu großem Pflichteifer vor niemandem eine Blöße geben wollen. Öfters sei er während der Arbeit infolge übergroßer Ermattung eingeschlafen, mußte sich aber aus dem Schlafe reißen und ohne Rücksicht auf seine Mattigkeit weiter arbeiten. Den Erfolg seiner Arbeit faßt Herr N. in folgenden Sätzen zusammen, an deren sachlicher Richtigkeit wir keinen Zweifel hegen, deren besondere Betonung durch Herrn N aber für das Wesen dieser eigenartigen Persönlichkeit ebenfalls bezeichnend ist: in- folge seines steten Eifers und seiner großen Pflichttreue habe er es verstanden, die Ach- tun" seiner vorgesetzten Behörde in jeder Weise zu erreichen. Von den Unternehmein sei er geachtet, von seinen Untergebenen infolge seiner Zuvorkommenheit und Gerechtig- keit in jeder Weise geliebt und verehrt worden. Tatsächlich erhielt Herr N. als äußeres Zeichen der Anerkennung seiner Tätigkeit im Jahre 1918 eine hohe militärische Aus- zeichnung. Seit Juni 1910 ist Herr N. verheiratet. Aus der Ehe entstammen zwei ge- sunde, Kinder. N. schildert seine Ehe als sehr glücklich; seine Vita sexual] s, in welcher nach seiner Darstellung keinerlei Anomalien beständen, finde inner- halb der Ehe völligen Ausgleich. Erst seit der Geburt des jüngsten Kindes sei hierin eine gewisse Wandlung auf- getreten. Auf Anraten des Arztes sollte die Gattin des Herrn N. vor weiterer Nach- kommenschaft bewahrt bleiben. Infolgedessen habe der Ehemann beim ehelichen Ver- kehr , Vorsicht" üben müssen (Coitus interruptus). Es ist nun abermals für die Eigen- art der seelischen Persönlichkeit des Herrn N. bezeichnend, daß ihm dieser Umstand zu 309 einer Quelle schwerer nervöser Sorgen wurde. Bei seinem Charakter läßt sich denken, daß er den ärztlichen Eat peinlich befolgte und sich selbst ständig auf das ängstlichste kontrollierte, um nicht dagegen zu verstoßen. Schon dies mußte auf die Dauer eine gewisse nervöse Gesamteinstelluug seiner Vita sexualis er- zeugen und den normalen Ablauf des psychisch-nervösen Mechanismus stören, welchen die Geschlechtsfunktion voraussetzt. Andererseits ist es derselbe Ausdruck der dem Patienten eigentümlichen Gewissenhaftigkeit, welche sich in ihrer Übertriebenheit aus seiner ge- samten seelischen Eigenart erklärt, wenn Herr N. — nach Überwindung starker innerer Hemmungen — erklärt: die an seine Sexualität gestellte Aufgabe sei dadurch so besonders schwierig für ihn geworden, weil er es zugleich als seine eheliche Pflicht betrachtet habe, seiner Ehefrau im Verkehr die notwendige Befriedigung zu verschaffen, was beim Coitus interruptus viel Mühe verursacht habe. Außerehelichen Verkehr habe er verabscheut. Alle diese Umstände hätten in den letzten Monaten zum Ausbruch einer sich stetig stei- gernden und zuletzt sehr hochgradigen nervösen Überreizung geführt. An sonstigen Krankheiten hat Herr N. nicht gelitten, ebenso bestreitet er stärkeren Alkohol- genuß. Es wurde bereits an der Hand einiger kleiner Züge auf die Besonderheit der seeli- schen Persönlichkeit hingewiesen, welche Herr N. darstellt. Diese Eigenart ließ sich bei direkter ärztlicher Beobachtung noch viel deutlicher erfassen. Und es sei sogleich vor- weggenommen, daß dieselbe, trotz aller individuellen Kompliziertheit, einem bestimmten psychopathoiogischen Typus entspricht; daß es sich nämlich um eine krank- hafte degenerative Eigenart, um eine Form des degenere superieur handelt. Herr N. weist völlig intakte geistige Funktionen auf; aber seine innere Disharmonie zieht sich durch sein gesamtes Gemüts- und Willensleben. Sein äußeres Auftreten ist verschlossen, abweisend, steif; auch dem Arzte gegenüber macht sich anscheinend ständig die Sorge geltend, sich etwas zu vergeben, und es liegt eine gewisse Abwehr dagegen vor, den ärztlichen Berater einen tieferen Einblick in sein Seelenleben gewinnen zu lassen. Diese Haltung, die Herrn N. sicherlich vollkommen unbewußt ist, verschwindet erst allmählich im Laufe der Behandlung. Ganz besonders groß .wird diese Vulnerabilität, sobald es sich um die Exploration des Ge- schlechtslebens des Herrn N. handelt. Die S c h a m s c h r a n k e n , die er hier, ebenfalls ohne bewußte Rechenschaft, um sich zieht, sind auch für einen so zartfühlenden Menschen, wie er es ist, ungewöhnlich starke. So kostete es ihm eine außerordentliche Selbstüberwindung, den Vorfall, wegen dessen etwaiger gerichtlicher Folgen er sich Sorge macht, selbst in der relativ harmlosen Form zu erzählen, in welcher er oben be- richtet wird. Herr N. gibt von sich selber an, er sei ein weicher, künstlerischen Ein- drücken sehr zugänglicher Mensch mit regem Phantasieleben. Sein ganzes Wesen aber, und- ebenso seine Lebensführung, steht zu dieser Seite seiner Persönlichkeit in schroffem, psychologischem Gegensatz. Er ist im Beruf und in der Ge- sellschaft von einer übertriebenen, geradezu pedantischen Korrektheit, von pein- lichster Genauigkeit und Sorgsamkeit, welche die größten seelischen Anforde- rungen an ihn stellen" und zweifellos über das hinausgeht, was auch ein pflichttreuer Beamter an diesen Eigenschaften von sich fordert. Dem Scelenkenner ist es klar, d&ß diese Gruppe von Eigenschaften, ebenso wie seine Verschlossenheit und Zurückhaltung, nur Schutzmaßnahmen sind, welche Lebensgang und seelische Eigenart ihm an- erzogen haben, um den vulnerablen und empfindsamen Kern der eigentlichen Persönlichkeit mit ihrer Weichheit und Phan- tastik zu verschleiern und zu schützen. Er selbst erklärt, er handle so aus Angst, sich eine Blöße zu geben; und er führt diese Furcht auf trübe Kindheitserfah- rungen zurück, bei welchen er verspottet und ausgenutzt wurde. Dabei leidet er offensichtlich unter dieser zweiten, aufgepfropften Natur; er über- arbeitet sich, bricht fast zusammen, reißt sich immer wieder empor, wird nur noch ängstlicher und auf seine Haltung bedachter und steht immer auf der Grenze des^ Ver- sagens. Äußere Erfolge werden von ihm ungewöhnlich hoch bewertet, überhaupt ist er ganz auf das Urteil der Umgebung eingestellt. Die hinter dieser ganzen Einstellung t 310 V. Kapitel: Exhibitionismus stehende primäre seelische Schwäche und Insuffizienz, eben das de- generativei Moment, sucht er bei sich instinktiv mit allen Schutzmitteln zu verbergen, ebenso, wie er durch seine Haltung andere zu blenden sucht. Wo es ihm bewußt wird, nimmt es die Formen der Krankheit, nämlich der neurasthenischen Leistungsschwäche an. Es ist charakteristisch, daß auch in seinem Eheleben und selbst in dessen größten Intimitäten die gleichen Wesenszüge vorwalten: der Zwang peinlicher Ge- wissenhaftigkeit zu einem sexuellen Leben, welches allen äußeren ehelichen Pflichten, so Avie sie sich ihm darstellen, in skrupulösester Weise genügt; daneben die ständige Furcht vor dem Versagen, welche das Sexualleben in seiner inneren Bedeu- tung für ihn geradezu verzerren müßte, wenn sie ihm bewußt' werden würde, was aber bei seinem System neuropathischer Schutz'mechanismen unmöglich ist; so kommt die innere Diskrepanz ihm auch auf diesem Gebiet nur in Form der neurasthenischen Leistungsschwäche zum Bewußtsein. Die hier vorliegende Sonderform des nervösen Charakters in ihrem seelischen Auf- bau und ihrer Kompliziertheit ist gerade von der neuesten Forschung mehrfach studiert worden. Zu ihrem Verständnis muß vorausgesetzt werden, daß die eigentlichen Wurzeln der neurotischen Degeneration auf psychischem Gebiet liegen; die hierdurch pro- duzierten Symptome freilich äußern sich sowohl auf seelischem, als auch auf körperlichem Gebiet, und gerade auf letzterem knüpfen sie mit Vorliebe an „minderwertige Organe" an. (Adler- Wien.) Bei Herrn N. findet sich gerade diese Anknüpfung in ausgeprägtester Weise. Wir sehen hier vor allen übrigen körperlichen Sym- ptomen der Neurasthenie ab, welche sich bei ihm in ziemlicher Stärke vorfinden. Wir greifen nur ein besonders hervorstechendes heraus: den linksseitigen S c h i e f h al s. Herr N. sieht durch ihn wie verkrüppelt aus und hat seelisch unter dieser Tatsache schwer gelitten. Um so überraschender wird für Laien die Feststellung sein, daß es sich hier nicht um ein körperlich bedingtes Leiden handelt, sondern um rein seelisch zustande ge- kommenes. Ganz unabhängig von unserer seelischen Analyse dieses Falles steht allgemein fest, daß der Torticollis hys.teri.cus auf die neuro- oder psychopathische Dia- these zurückgeht (Oppenheim), daß er „psychogen" ist (Brissaud); mehr! noch, daß eine ursprünglich zweckmäßige Abwehrbewegung oder Geste zum Torticollis wird (R a y m o n d - J a n e t). Wir hören, daß der Schiefhals bei Herrn N. sich im Anschluß an ein Augenleiden herausgebildet hat; die Tendenz zu! Abwehrreaktionen bei Herrn N. haben wir vorher be- reits im allgemeinen festgestellt. So paradox es klingt, so naheliegend ist für den Seelen- kenner die Folgerung, daß der Schiefhals des Herrn N. eine Abwehrreaktion von völlig- analoger Art ist, wie seine Neurasthenie eine solche darstellt, wie seine pedantische Ge- nauigkeit und seine Verschlossenheit und seine Zurückhaltung solche darstellt; er ist eine Abwehrreaktion gegen den Durchbruch der eigenen primären degenerativen Schwäche und Insuffizienz. Dieser Durchbrach wird durch zwei Gruppen von Mechanismen ver- hindert: erstens durch solche, welche die Vulnerabilität gleichsam nach außen hin ver- schleiern - — Pedanterie und Unzugänglichkeit; zweitens aber solche, welche für ein et- waiges Manifestwerden der Leistungsschwäche gleichsam einen äußeren Erklärungsgrund geben: neurasthenische Beschwerden und chronisch der Torticollis. Alle diese psy- chischen Mechanismen sind natürlich völlig u n b e w u ß t. Wir haben diese Ausführungen über den Schiefhals des Herrn N. etwas ausführ- licher gehalten, weil dieses Symptom in der Fachliteratur als ein seltener Index besonders starker degenerativ, psychopathischer Persönlichkeiten gilt. Darüber hinaus haben wir die obige Analyse des Aufbaues der seelischen Persönlichkeit des Herrn N. deshalb ge- geben, weil erstens dieser geistig und sittlich hochstehende Mann dem Laien nicht ohne weiteres als krankhaft beanlagt imponieren dürfte, und weil zweitens gerade diese Analyse zeigt, um wieviel mehr die seelischen Vorgänge und Handlungen des Herrn N. dem Bewußtsein und dem Willen entzogen und durch unbewußte Kräfte und Mechanismen determiniert sind, als dies beim Gesunden der Fall ist. 311 Forensisch ist Herr N., wie die psychopathischen Persönlichkeiten überhaupt, für den größten! Teil seiner Handlungen voll verantwortlich zu machen. Lediglich solche Hand- lungen und Züge, welche der unmittelbare Ausdruck seiner krankhaften Persönlichkeit sind, könnten unter gewissen Umständen eine gewisse Ausnahme bilden. Zur Beurteilung' des in Kede stehenden1 Vorfalls vom 18. März fragt es sich, wie weit diese Charakteristik auf ihn zutrifft. Diese Frage ist eine reine Tatbestandsfrage. Wenn sich der Vorfall so, abgespielt hat, wie er am Anfang dieses Gutachtens dargestellt worden ist, so rindet der Gutachter überhaupt keinen Anlaß, die Motive der Handlung zu analysieren und auf krank- haftes Geschehen zurückzuführen, denn in diesem Falle fehlten ja alle Motive, es handelte sich um eine rein zufällige Koinzidenz äußerer Umstände, deren Ausschaltung und Be- achtung nicht in der Macht des Herrn N. lag; wieweit der Vorwurf einer Fahrlässigkeit ihn treffen würde, ist nicht von gutachtlicher Entscheidung. Jedoch glauben die Gutachter, gestützt auf eine sehr große Erfahrung gerade in solchen Fällen, daß die Darstellung des Herrn N. bereits die Spuren unbewußter Korrektur tragen k ö ante, welche durch seine übergroßen S c h a m s c h r a n k e n bewirkt wurde. Es ist möglich, daß es sich bei jenem Vorfall um mehr handelt als ein zufälliges Zu- sammentreffen von Umständen, daß ein exhibitionistischer Akt eine Rolle in dem Ver- halten des Herrn N. spielen könne: sei es, daß er beim Anblick des Dienstmädchens exhibiti oni orte, sei es, daß er beim Versuch zu urinieren das Dienstmädchen zu- fällig erblickte und nun die aus anderen Gründen herbeigeführte Situation in exhi- biti 0 n ist i s c h e r Weise ausnützte. Wir wissen darüber nichts; wir rechnen nur deshalb mit dieser Möglichkeit, weil erfahrungsgemäß gerade derartige Vorfälle, und ganz besonders von Naturen wie Herr N., vielfach in beschönigender Weise entstellt zu werden pflegen, ohne daß es sich dabei um bewußte Unwahrheiten handelt, lediglich aus jenen unbewußten Abwehrtendenzen heraus, die tief in der krank- haften Eigenart der Persönlichkeit wurzeln. Würde sich de facto ein derartiger Vorfall erweisen lassen, so läge die Sache gut- achtlich natürlich ganz anders als der erste Fall. Der Exhibitionismus ist nach allen sachverständigen Erfahrungen ein exquisit degeneratives Symptom, ein Symptom psycho- pathischer Artung, und insofern würde sein Auftreten bei Herrn N. sich widerspruchs- frei mit dessen krankhafter Allgemeirfartung vereinigen lassen. Der Exhibitionismus ist ein Zwangstrieb; er steht in dieser Hinsicht in derselben Linie wie alle patholo- gischen Zwangssymptome. Diese sind dem freien W i 1 1 e n s e i n f 1 u ß alle in mehr oder weniger hohem Grade entzogen; ihr Zwangscharakter äußert sich gerade in diesem Konflikt zwischen ihrer T e n d e n z ic h durchzusetzen, und dem Willen, welcher vergeblich dagegen ankämpft. Ist der Wille noch stark genug, so kommt es nach heftigem, seelischem Kampfe zur Selbstüberwindung und der Zwangstrieb wird unterdrückt. Im anderen Falle siegt der Zwangs- impuls. In derartigen Fällen, wo bei einer psychopathischen Persönlichkeit Zwangsimpulse auftauchen und sich realisieren, welche ihrerseits ebenfalls direkter Ausfluß der krank- haften Anlage der Persönlichkeit, sind, wird die forensische Beurteilung immer mit der Wahrscheinlichkeit, oftmals mit der Sicherheit zu rechnen haben, daß die Voraussetzungen des § 51 RStrGB. zur Zeit der Begehung der hierauf zurückführenden Handlungen vor- gelegen haben. So würde der sachverständige Schluß auch im vorliegenden Fall sein müssen. Falls also die aktenmäßigen Feststellungen — was uns als durchaus im Bereich der psychopathologischen Möglichkeit zu liegen scheint — zu der Deutung führen würden, daß die Situation jenes Vorfalles vom 18. März von dem Untersuchten mit spezieller Be- ziehung auf den Anblick des betreffenden Mädchens herbeigeführt worden war, daß also ein exhibitionistischer Impuls seiner Handlung zugrunde liegt, so würde die forensische Prüfung nach dem Gesagten dahin führen, daß begründete Zweifel an seiner freien Willensbestimmung zur Zeit jener Handlung nicht ab- gewiesen werden könnten, und das Bestehen einer krankhaften Störung der Geistestätig- keit, welche die freie Willensbestimmung weitgehend verminderte, ja wahrschein- lich ganz ausschloß, als nachgewiesen erachtet werden müßte. 312 Das Verfahren gegen den Angeschuldigten wurde nach diesem Gutachten eingestellt. Auf G rund des hier gegebenen kasuistischen Materials wollen wir nun folgende Fragen im Zusammenhang kurz beantworten: Wie spielt sich der exhibitionistische Anfall ab? Was geht ihm voraus? Die Antwort lautet : Ein endogenes und e x o genes Molnent. Der endogene Faktor ist äußerlieh gekennzeichnet durch eine heftige ner- vöse Unruhe, Angstzustände, Beklemmungen, ein Gemisch von Er- regtheit und Niedergeschlagenheit. Das exogene Moment geht von einem ganz bestimmten Eindruck aus, der zum Exhibitio- nieren anregt. Diese auslösende Ursache ist stets feti- schistischer Natur. Ich kann mich keines Falles erinnern, in dem nicht ein Exhibitionist bei näherer Erforschung seines Zustandes angab, daß es dieser Reiz ist, auf den sich seine Unruhe zielstrebig richtet; es kommt nicht vor, daß jemand, der die Neigung hat, sich vor halbwüchsigen Mädchen zu entblößen, solches auch vor älteren Damen oder gar männlichen Personen unternimmt. Fast niemals sind Gesichter das äußerlich erregende Moment, vielmehr in der weitaus größeren Mehrzahl der Fälle die Beine. Unter 10 Exhibitionisten, die wir befragen, worauf sich ihre seltsame Nei- gung erstreckt, geben durchschnittlich 5 an : die Unterschenkel oder die Waden oder die Füße, durchschnittlich 2: die Schuhe, die Strümpfe oder die kurzen Röcke; 2 nennen andere Körperteile, dar- unter die Hälfte die Posteriora und Mammae, während sich der kleine Best auf sonstige Körperpartien und. Bekleidungsstücke bezieht, namentlich auf weiße Wäsche oder Schürzen. Diese absonderliche Reaktionsfähigkeit nimmt aber nicht ursächlich von dem exogenen Faktor ihren determinierenden Ausgang, dieser ist vielmehr nur auf Grund einer von innen gegebenen Beschaffenheit als Außenreiz wirk- sam. Es liegen hier jene verwickelten Gedankenverbindungen vor, wie wir sie in dem Kapitel über Fetischismus des näheren dargestellt haben, also eine Art Symbolismus, welche in oft schwer deutbarer Weise eine Teilerscheinung als Verkörperung, als eine Art Index einer Gesamtvorstellung empfindet. Da der Anblick der Beine, be- sonders auch der Waden auf den Exhibitionisten so seltsam wirkt, ist es verständlieh, daß meistens freie weibliche Personen jugendlichen Alters, Mädchen zwischen 10 und 15 Jahren als Objekte der Ent- blößungsakte in Betracht kommen. Nach den Schulmädchen stellen erfahrungsgemäß Dienstmädchen, und zwar gewöhn- lich solche im Alter von 14 Jahren bis Anfang der 20er, das Haupt- kontingent für exhibitiqnistische Attentate. dar. An welchen Orten findet gewöhnlich die Entblößung statt? In mindestens dreiviertel der Fälle im Freien, vor allem in Parkanlagen; in Berlin beispielsweise werden im Tiergarten, in London im Hyde- park fast täglich Exhibitionisten festgestellt. Auch in Wäldern 313 pflegen sieh manche dieser Leute aufzuhalten; so wurde vor einigen Jahren in einem Vororte Berlins gegen einen Exhibitionisten ver- handelt, der sich hei Regenwetter an einer Stelle des Grunewaldes zu entblößen pflegte, und zwar vor. vorbeifahrenden Zügen, aus denen Mädchen heraussahen. Auch das Umgekehrte ist wiederholt beob- achtet worden; Exhibitionisten, die sich am Fenster eines vorüber- fahrenden Eisenbahnzuges vor Mädchen entblößten, die im Freien spielen. Auch in Eisenbahn-Coupes selbst werden solche Akte vor- genommen. Ein hierhergehöriger, Fall erregte vor längerer Zeit in manchen Kreisen großes Aufsehen. Er betraf einen Kriminal-Kom- missar, zu dessen Aufgaben das Verhören festgenommener Exhibi- tionisten neben den anderer Sexualdelinquenten gehörte. Dieser Beamte war wegen der Strenge, mit der er gegen diese Personen vorging, sehr gefürchtet. Eines Tages nun ereignete es sich, daß in der Stadtbahn ein sehr elegant aussehender Herr vor einem ihm gegenüberliegendien Mädchen in einem sonst leeren Abteil plötzlich seinen Mantel zurückschlug und sein in erregtem Zustande frei herausstehendes Glied zeigte. Das Mädchen schrie ängstlich um Hilfe. Personen aus dem Nachbarabteil kamen hinzu, und der Herr wurde auf der nächsten Station gewaltsam, zwecks Feststellung seiner Personalien, zum Stationsvoi*steher gebracht, der ihn zur Polizeiwache führen ließ. Es rief nicht geringe Verwunderung hervor, als es sich hier herausstellte, daß der Exhibitionist der ge- fürchtete Kriminalbeamte X. in eigener Person war. Offenbar lag der Strenge ein überkompensiertes Schuldgefühl zu- grunde. • Von anderen Orten, an denen exhibitioniert wird, seien noch Tor- eingänge, Treppenflure, sowie Höfe von Häusern genannt. Nicht selten wird auch an Fenstern exhibitioniert. So hatte ich in Han- nover einen Fall zu begutachten, in dem sich ein Kaufmann stets am Sonntag vormittag am Fenster seiner Stube und zwar vor Dienst- mädchen entblößte, die in einer auf der anderen Seite der Straße be- findlichen Wohnung tätig waren. Er pflegte sich dabei auf einen Stuhl zu stellen. Einen recht merkwürdigen hierher gehörigen Fall sollte ich vor mehreren Jahren in einer kleinen Stadt Württembergs begutachten. Hier war ein älterer Kaufmann wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt, weil er im Bett liegend sich in erregtem Zustande entblößte. Die Anzeige war von einer lcdigen 40jährigen Lehrerin erstattet worden, die in dem gegenüberliegen- den Hause eine kleine Dachwohnung innehatte. Der Angeklagte gab die Entblößung zu, bestritt aber die Erregung öffentlichen Ärgernisses, weil die Lehrerin, um ihn von ihrem Zimmer aus sehen zu können, auf einen ziemlich hohen Schrank klettern mußte; er wohne ihr bereits seit elf Jahren gegenüber, und sie habe bisher noch niemals an seiner Handlung Anstoß genommen, so daß er der V. Kapitel: Exhibitionismus Meinung gewesen wäre, ihr damit gewissermaßen einen Gefallen zu erweisen. Ein Lokaltermin ergab in der Tat, daß ein Einblick von der Dachwohnung in die Wohnung des Angeklagten nur von der Decke des Schränke« möglich war, so daß der Angeklagte in diesem Falle bereits vor Abgabe des Sachverständigen-Gutachtens freigespro- chen wurde. Das Motiv, aus dem die Lehrerin nach vieljähriger Be- trachtung der Manipulationen ihres Gegenübers, wobei sie sich so- gar nicht selten eines Opernglases bediente, die Anzeige erstattet hatte, konnte nicht ermittelt werden. In einem anderen von mir be- gutachteten Falle war ein Angeklagter festgenommen worden, als er auf dem Vorderperron einer elektrischen Bahn durch Zurück- schlagen seines Mantels exhibitionierte. Sogar in Kirchen werden exhibitionistische Akte vorgenommen, so beschäftigte im Jahre 1907 ein Fall das Schöffengericht, welcher sich in Berlin in der Hedwigs- kirche zugetragen hatte. Hier kniete ein Mann, Schauspieler von Beruf, nieder und zeigte neben ihm knienden Mädchen das Glied, das er mit seinem Gebetbuch bedeckt hatte. Auch in der Nähe von Mädchenschulen, sowie auf den Schulwegen der Kinder treiben Exhibitionisten ihr Unwesen. Der individuellen Stereotypie dieser krankhaften Neigung ent- spricht es auch, daß sie fast stets bei gewisser Witterung und zu be- stimmten Tageszeiten vorgenommen wTird. Ich erwähnte vorhin einen Exhibitionisten, der seinem krankhaften Triebe bei Kegen nachgeht; es ist dies durchaus kein vereinzelter Fall. Die Erklärung dürfte vermutlich darin liegen, daß bei Regenwetter viele Frauen ihre Kleidung hochzuraffen pflegen, wobei Teile sichtbar werden, wie der Übergang vom Stiefel zum Unterschenkel, welche den Drang entfachen. Es gibt aber auch andere Exhibitionisten, welche sich nur bei lauem Wetter oder bei Sonnenschein entblößen. Unter den Tages- zeiten kommt in erster Linie die abendliche Dämmerstunde in Betracht, doch habe ich in der Gerichtspraxis auch Personen ge- funden, die ausschließlich in den frühen Morgenstunden exhibitio- nieren. Viele Exhibitionisten sind in einer Weise gekleidet, die ihnen ihr Vorgehen wesentlich erleichtert. Die im Berliner Kriminal- museum vorhandenen Bilder, welche Personen genau in der Weise darstellen, wie sie von Beamten festgenommen wurden, sind dafür bezeichnend. Wir sehen, daß hier unter dem Mantel die unteren Teile des Leibes und die oberen Teile der Schenkel nebst den Geni- talien nackt getragen werden. Neben dem Exhibitionisten- mantel spielt auch das Exhibitionistenhemde, welches in der Mitte geteilt ist, eine gewisse Rolle. Andere Exhibitionisten zeigen in der Kleidung keine Besonderheiten, lieben aber mit heraushängendem Membrum zu gehen, welches sie unter ihrem Rock oder Überzieher geschickt verborgen tragen. Alle diese- Vorbereitungen werden von V. Kapitel: Exhibitionismus 315 den Richtern gewöhnlich als schwer belastend für diese Personen aufgefaßt, weil sie daraus wohlüberlegte Handlungen folgern, die ihrer Meinung nach in schroffem Widerspruch stehen mit einem an- geblichen Ausschluß der freien Willensbestimmung. Diese und ähn- liche Anschauungen sind oft irrtümlich. So erinnere ich mich eines Falles, in dem drei hervorragende Sachverständige, darunter einer der bekanntesten Gerichtsärzte, einstimmig einen schwer belasteten Exhibitionisten exkulpierten, indem sie den § 51 RStrGB. als vor- liegend erachteten. Der Täter wurde aber gleichwohl zu einer Ge- fängnisstrafe verurteilt, und zwar mit folgender Begründung des Vorsitzenden: Die Entblößung hatte am Gitter eines Gartens statt- gefunden, in dem drei Mädchen von 12, 13 und 15 Jahren Krocket spielten. Der Täter hatte nicht gesehen, daß an einem Fenster des ersten Stocks der Villa hinter einer Gardine die Mutter von zweien der Kinder saß, welche den ganzen Vorgang beobachtet hatte. Die Frau gab an, daß sie wahrgenommen hätte, wie der Mann, bevor er 7/ur Entblößung schritt, nach allen Seiten sich umgesehen hatte, und nach, beiden Ecken des Hauses gegangen war, sowie nach der gegen- überliegenden Straße, um sich zu vergewissern, daß kein Mensch in der Nähe war. Erst nachdem er sich davon überzeugt habe, sei er zu der unzüchtigen Handlung übergegangen. Diese Angabe der Mutter, erklärte der Vorsitzende, sei für ihn der sichere Beweis, daß eine völlig bewußte und überlegte Handlung stattgefunden hätte, und er sehe sich infolgedessen außerstande, dem Gutachten der Sachverständigen Folge zu geben. Hiergegen ist zu bemerken, daß gerade bei allen sexuellen Delikten die vorbereitenden, auf das Ziel der Sexualbefriedigung gerichteten Hand- lungen schon einen Teil der Handlung selbst dar- stellen ; dem entsprechend werden diese Vorbereitungen ziel- strebig und folgerichtig getroffen, genau so,, wie in alkoho- lischen und epileptischen Dämmerzuständen erfahrungsgemäß eine ganze Reihe durchaus korrekter und den Stempel scheinbar abwä- gender Überlegung tragender Einzelhandlungen vorkommen, die er- wiesenermaßen Teilerscheinungen des sich in sich selbst logisch ab- rollenden Vorgangs sind. Ebensowenig ist auch der Schluß des Richters zutreffend, der meint, daß wenn ein Angeklagter vor Aus- übung einer Straftat längere Zeit mit sich gekämpft hat und schließlich unterlegen sei, so wäre daraus ohne weiteres die Möglich- keit der Unterdrückung zu folgern. In Wirklichkeit zeigt dieser Umstand gerade die Stärke des Triebes an, dem gegenüber sich die Widerstände machtlos erwiesen haben. Von wesentlicher Bedeutung sind die Begleithandlungen bei der Entblößung, welche den eigentlichen Charakter der Hand- lung nicht selten verdecken, so daß der Eindruck hervorgerufen wird, es handele sich um unzüchtige Handlungen im allgemeinen. 316 V. Kapitel: Exhibitionismus So pflegen viele Exhibitionisten den Akt mit unanständigen Worten, obszönen Ausdrücken für die Geschlechtsorgane zu be- gleiten oder mit Forderungen, wie etwa „Greif zu", „Faß einmal an" , die häufig gar nicht einmal ernst gemeint sind, sondern nur den Zweck haben, die Aufmerksamkeit auf das entblößte Organ zu lenken. Andere Exhibitionisten pflegen „Pst" zu machen, zu pfeifen oder zu husten, kurz sich in verschiedenster Weise bemerkbar zu machen; manche werfen Kindern auch Süßigkeiten oder Geldstücke hin. In den meisten Fällen werden mit dem entblößten Organ Be- wegungen ausgeführt, wie Schütteln oder Reiben mit der Band, oder Rumpfbewegungen, welche den Koitus nachahmen. Durch diese unterstützenden Manipulationen pflegt sich meistens Ejakulation einzustellen; doch kommt es auch nicht selten zu dieser ohne mecha- nische Beihilfe; in manchen Fällen bleibt der Samenerguß über- haupt aus. Es kommt auch vor, daß die Begleiterscheinungen so stark im Vordergrunde stehen, daß die eigentliche Exhibition dem- gegenüber völlig zurücktritt. So finden wir Kranke, die sich mit un- anständigen Zurufen begnügen, ohne daß sie das Organ selbst zeigen. Hier tritt d as schäm lose Wort an' Stelle der schamlosen Tat, wobei der pathologische Ausgangspunkt der gleiche ist. Die Befriedigung und Entspannung des Täters ist wesentlich von der Art und Weise abhängig, wie sein Opfer auf die Entblößung reagiert. Es kommen hier hauptsächlich drei Reaktionsf ormeu vor. Ein Teil der weiblichen Personen ist erschreckt und läuft fort, ein anderer schimpft empört oder schreit um Hilfe, ein dritter Teil lacht oder lächelt oder gibt zu erkennen^ das es den Vorgang nicht übel nimmt. Diese letztgenannte Reaktionsform löst bei dem Exhibitionisten die größte Befriedigung aus, während die anderen Arten ihm naturgemäß mehr oder weniger unangenehm sind. Nach befriedigter Exhibition pflegt sich der Täter rasch zu ent- fernen. Es tritt dann zunächst bei ihm ein Gefühl der Erleichte- rung ein, oft auch eine gewisse Abspannung, der aber kurz darauf, ein Gemisch von Ruhe und Reue Platz macht. Auch sind tiefe seelische Depressionen nicht selten, welche allerdings wesent- lich auf der Angst beruhen, es könnte schließlich doch einmal zum öffentlichen Skandal kommen. Vor einer Reihe von Jahren erschoß sich einmal einer der beliebtesten Schauspieler Berlins, kurz nach- dem er im Tiergarten als Exhibitionist festgestellt worden war. Ähnliche Fälle sind wiederholt vorgekommen. Nicht nur unbeabsichtigt, sondern auch absichtlich wird das Bild des Exhibitionismus vielfach verschleiert. Häufig wird vorgegeben, man habe urinieren wollen oder man hätte 1 das Bein- kleid, weil es zu eng gesessen habe, gelockert, und dabei sei zufällig das Membrana hervorgekommen, oder man hätte sich das Bruchband V. Kapitel: Exhibitionismus 317 in Ordnung gebracht, wobei zu bemerken ist, daß gelegentlich sogar Exhibitionisten zum Zwecke ihrer Ausrede ein Bruchband anlegen, ohne solches nötig zu haben. Oft wird auch der Vorwand gebraucht, man hätte sich wegen Hautjuckens kratzen wollen, oder infolge der Hitze hätte man die Organe gelüftet und gelockert. Vor einiger Zeit wurde ich als Gutachter zu dem Falle eines Gerichtsbeamten hinzugezogen, der bereits fünfmal wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in Untersuchung und stets freigesprochen worden war. Die ihm zur Last gelegte Handlung war stets die gleiche. Er hatte vor Mädchen, die im Sande spielten, ans ziemlich weiter Entfernung seine Geschlechtsorgane sehen lassen. Zweimal hatte er angegeben, er litte an einem Wolf (Intertrigo), der ihn sehr brenne, und des- wegen hätte er sich das Beinkleid geöffnet. Ein drittes Mal behauptete er, er litte an Blast nkatarrh. Beim vierten Mal bediente er sieh der Ausrede, die Hosenträger wären losgegangen. Das fünfte Mal wieder sagte er, er habe eine Flechte. Merkwürdigerweise hatte man seinen verschiedenen Vorwänden stets Glauben geschenkt. Erst bei der sechsten Anzeige waren Zweifel aufgetaucht, als der Beschuldigte wieder mit der Ausrede kam, er habe sich nur seine Kleider ordnen wollen. Das Gericht übersandte mir das ganze Aktenmaterial zur Erstattung eines Gutachtens, und es gelang erst mit großer Mühe, den schwer nervenkranken Mann dazu zu bewegen, daß er seine krankhaften Triebe einräumte. Er wurde dann auf Grund des § 51 RStG. freigesprochen. Einige Autoren sehen in den exhibitionistischen Handlungen einen „Demonstrations-Sadismus". So bezeichnet ihn Merzbach als symbolischen, Bloch als eine abgeschwächte Form des Sadismus; einen ähnlichen Standpunkt vertreten Wulf- fen in der „Psychologie des Verbrechens" und Freud in den drei Abhandlungen, wobei er auch hier auf die infantile Sexualität Bezug nimmt; das kleine Kind, dem das Gefühl der Scham fehle, zeige mit Vergnügen seine Nacktheit. Ich kann mich auf Grund meiner Erfahrung diesen theoretischen Konstruktionen nicht an- schließen. Wer eine größere Anzahl von Exhibitionisten zu sehen Gelegenheit gehabt hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich hier meist um scheue und weiche Charaktere handelt, die sadi- stischer Instinkte gänzlich zu ermangeln pflegen. Es ist diesen ver- schüchterten Menschen sicherlich nicht darum zu tun, einen Schrecken einzujagen, oder einen Gewaltakt vorzunehmen, der den Geboten der Sittlichkeit widerspricht, vielmehr wünschen sie ihren Opfern und dadurch sich selbst Lust zu verschaffen. Eher könnte man die Handlung als masochistisch auffassen, da die Ent- blößung immerhin Gefühle der Demütigung und Beschämung in dem Handelnden selbst auslöst. Nach meiner Überzeugung hat aber der Akt weder mit Sadismus noch mit Masochismus zu tun, sondern 318 V. Kapitel: Exhibitionismus bildet einen eigentümlichen sexuellen Zwangszustand für sich, andererseits scheint es mir auch abwegig zu sein, wenn namentlich französische Autoren den sexuellen Charakter der Ent- blößung als rein .zufällig ansehen, indem sie meinen, es handle sich um eine Zwangshandlung- wie jede andere, die iin Grunde ge- nommen keinen eigentlich sexuellen Charakter trägt. Diese An- nahme hat bei genauerer Erfassung des exhibitionistischen Vor- ganges viel mehr gegen als für sich, denn wie wir sahen, ist es primär ja stets ein äußerer fetischistischer Reiz, welcher durch sinn- liche Erregung zu der Entblößung Anlaß gibt. Manche Autoren haben den Begriff des Exhibitionismus erheb- lich zu erweitern gesucht; sie vertreten den Standpunkt, daß jeder Schaustellung der eigenen Person eine exhibitionistische Wurzel innewohne. Nicht nur jeder Schauspieler, auch jeder Redner und Künstler sei im letzten Grunde Exhibitionist. „Alle Kunst- und Schriftwerke", so verallgemeinert beispielsweise Wulffen, „seien ,psychische' Entblößungen mit sadistischem Charakter". „Man zwinge der Mitwelt sein Erleben auf." Es ist zutreffend, daß viele Schaustellungen gleichzeitig Bloßstellungen sind, doch ist von hier bis zu einem exhibitionistisehen Anfall ein sehr weiter Weg. Ebensowenig erscheint es gerechtfertigt, in der Schaustellung körperlicher Reize im allgemeinen einen exhibitionistischen Vor- gang- zu erblicken; etwa im Decollete der Damen oder im Barfuß- tanzen. Auch im Tierreich sind ähnliche erotische Schaustellungen zur Anlockung der Liebespartner weit verbreitet, beispielsweise beim Pfau, wenn er sein Rad schlägt. Aber alle diese Formen sexueller Eitelkeit haben mit dem eigentlichen Exhibitionismus nur eine gewisse Äußerlichkeit gemein. Das gilt auch von der weit verbreiteten Genitalentblößung in Bedürfnisanstalten, die mit be- absichtigtem Zeigen des Organs verbunden ist. Ich habe wiederholt Gutachten in derartigen Fällen abgeben müssen, in denen jemand aus diesem Grunde wegen Beleidigung verklagt war. Hier liegt entweder eine homosexuelle Anknüpfungsabsicht vor, oder eine Er- scheinung des Hypererotismus, wie sie auch in vielen groberotischen Inschriften und Zeichnungen in diesen Anstalten zum Ausdruck kommt. Alle diese Handlungen unterscheiden sich von dem* was wir unter Exhibitionismus verstehen dadurch, daß dabei die Scham- grenzen ohne den äußeren Anlaß einer fetischistischen Reizung überschritten werden, ferner, daß ihnen keinerlei Angst und Un- ruhe vorherzugehen pflegt, und ihnen überhaupt der Charakter eines eigentlichen Anfalls fehlt. Ebenso verhält es sich auch mit dem Sport ex hibitionis- m u s , von dem gelegentlich gesprochen wird. Es soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden, daß so mancher Wassersportler, Ruderer, Schwimmer bewußt oder unbewußt mit dem Gedanken spielt: „Seht 319 dock, wie schön gebräunt meine Haut, wie kräftig- nieine Muskeln und wie wohlproportioniert meine Gliedmaßen sind",, daß viele Ringkämpfer, Boxer, Läufer, Springer, Rennfahrer, Athleten, Nackt- und Halbnacktturner ähnliche Vorstellungen erwecken und erwecken wollen, es ist auch zutreffend, daß sowohl bei denen, welche die Reize zeigen, als bei denen, welche sie begierig auf- saugen, im Untergründe sexuelle Motive, Zeigetrieb und Schau- trieb, erotische Eitelkeit und Neugierde, mitwirksam sind, aber selbst, wenn, wie bei den meisten sexuellen Anomalien, physiolo- gische Wurzeln nachweisbar sind, so ist doch eine Verniengn n g normaler Allgemeinerscheinungen mit patholo- gischen Einzelvorkommnisseii viel eher geeignet, Ver- wirrung als Klärung herbeizuführen. Neuerdings hat Geh. Medizinalrat Dr. A. Leppmann in der Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten einen Vortrag: „Über einige ungewöhnliche Fälle von Exhibitionismus" gehalten, in dein er sich wie bereits 1890 in seiner Sachverständigen- tätigkeit bei Seelenstörungen gegen das Krafft-Ebingsche „Schema" wendet. Dieser hatte als wesentliche Grundlagen des Exhibitionismus folgende aufgestellt: 1. Dauernde g e i s t i g e Schwäche zustände erheblicher Arl, namentlich er- worbene wie beginnende Paralyse, Greisenirresein, fortgeschrittener Alkoholismus. 2. Vorübergehende geistige Hemmungen, die immer mit Bowußtseinsumnebelungen einhergingen, wie bei der Epilepsie und bei der Neurasthenie, bei der e p i 1 e p s i e ä h n 1 i c h e Zustande vorkämen. 3. Unwiderstehliche Drang zustände, auf dem Boden schwerer 1 ielastung bzw. Entartung, für welche das periodische Auftreten kennzeichnend sei. Demgegenüber vertritt Leppmann den Grundsatz, „es könne auch ohne patho- logische Grundlage bei schlecht behüteter Leidenschaft, namentlich bei längerem Sich- hingeben an Masturbation mit Phantasieunzucht, Exhibieren vorkommen", in dem in der " Zeitschrift für Sexualwissenschaft (August 1!>'20) über seinen Vortrag erstatteten Eigenbericht spricht sieh der mit Recht so geschätzte Psychiater dahin aus, daß, wenn er seine über 4 Jahrzehnte durchgeführten Beobachtungen von Exhibitionisten, von denen der grüßte Teil zu gerichtlicher Begutachtung gekommen ist, zusammenfaßt, die Personen mit leichteren Mängeln des Seelen- und Nervenlebens die etwas infantil Gebliebenen, die chronischen Neurastheniker, die Hauptmenge bilden, während die Personen des Krafft-Ebingschen Schema»s die Ausnahmen sind. Demgegenüber ist zuzugeben, daß, wie oben bereits erwähnt, Entblößungen zweifellos auch aus andern als den von Krafft-Ebing zusammengefaßten Motiven vorkommen, beispielsweise in hy p er e r o t i s chen Ex- zessen, oder als verkappter Masochismus oder Sadismus, je nachdem die Absicht vorliegt, durch die krasse Überschreitung der Schamschranke sich selbst oder einen andern zu erniedrigen; das sind dann aber Akte, die zwar rein äußerlich dem Exhibi- tionismus ähnlich sehen, ihrem innersten Wesen nach aber etwas anderes sind, als Krafft-Ebing und Lasögue unter dem Krankheitsbilde des Exhibitionismus verstanden wissen wollen. Man könnte hier höshstens, ähnlich wie man von Pseudohornoscxualitüt spricht, von Pseudoexhibitionismus reden. Das hauptsächlichste Exhibitionsorgan sind die äußeren Ge- schlechtsteile, namentlich beim Manne, wie überhaupt die eigent- liche pathologische Exhibition bei der Frau äußerst selten ist und als solche auch kaum jemals die Gerichte beschäftigt hat. Es scheint so, als ob beim Weibe das Herausstecken und Schütteln der Mammae der Akt ist, welcher der männlichen Genitalentblößnng 320 V, Kapitel : Exhibitionismus entspricht, doch ist noch nicht sichergestellt, ob und inwieweit in Einzelfällen, abgesehen von einer gewissen Imbezillität, hier krank- hafte Momente beteiligt sind. Verschiedentlich sind Fälle be- schrieben worden, in denen sowohl von Männern als von Frauen mit dem Gesäß Entblößungen vorgenommen wurden, 'die äußerlich e^nen völlig exhibitionistischen Charakter trugen; in Rousseaus Selbstbiographie findet sich ein solcher Fall erwähnt, ein anderer ereignete sich vor wenigen Jahren in einem Vororte Berlins. Dort wurden verschiedentlich Mädchen durch den plötzlich aus einem Gebüsch auftauchenden Anblick eines männlichen Gesäßes über- rascht. Schließlich wurde ein Professor verhaftet, den mehrere Mädchen als Täter- wiedererkennen wollten. Es handelte sieb um einen pathologischen Sonderling, der mit Energie bestritt, die in Frage kommenden Handlungen begangen zu haben. Es erfolgte Freisprechung. Der Mann endete später durch Selbstmord. Der eigentliche Exhibitionismus stellt eine in sich ab- gegrenzte Anomalie dar, deren Kern eine krankhafte Re- aktion auf fetischistisch wirksame Reize ist. Diese krankhafte Reaktion setzt eine psychopathische Konstitution voraus, die ge- wöhnlich von infantilem Charakter ist. Die sexuelle Handlung selbst, um die es sich hier handelt, hat etwas kindisch-läppisches an sich. Damit stimmt auch überein, daß wir sie außer bei ge- schlechtlich Zurückgebliebenen, bei senil Dementen wiederfinden, in der zweiten Kindheit; dort allerdings weniger in ausgesprochenen Anfällen, ais mehr gelegentlich oder periodisch. Die psycho- pathische Konstitution der Exhibitionisten zeigt viele Abstufungen in ihrer Schwere; vor allem finden sich nicht selten Anklänge und Übergänge zu epileptischen Zuständen. Wenn auch ausgesprochene Epilepsie bei diesen Patienten sehr selten zu sein scheint, so ist doch das Bewußtsein und die Erinnerung meist eingeengt, jedoch fast niemals aufgehoben. Der Anfall selbst, macht in seiner Zwangs- mäßigkeit, Widersinnigkeit, sowie in seinen Begleitumständen vor, während und nach der Tat sehr häufig den Eindruck eines epi- leptoiden Äquivalentes. Die scharfe Trennung, wie sie noch jetzt fast regelmäßig gemacht wirdt in exhibitionistische Hand- lungen auf epileptischer, dementer und allgemein psychopathischer Grundlage, hat mehr eine theoretische als praktische Bedeutung. In der großen Mehrzahl der Fälle mischen sich mit psychopathi- schen i m bezille und epileptoide Züge. Am schwierig- sten im Einzelfall ist auch* hier wieder die Beurteilung der Wider- stände. Zum großen Teile hängen diese mit dem Grade der all- gemeinen Neuropathie zusammen, der teils von angeborenen Fak- toren abhängig ist, zum großen Teile aber auch von anderen Um- ständen, wie Abschwächuiig der Willenskraft durch Alkohol, Über- ;mst reugung oder lange Abstinenz. V. Kapitel : Exhibitionismus 321 Die gerichtlichen Urteile gegen Exhibitionisten gehen sehr weit auseinander. Bei ganz denselben Tatbeständen wird bald auf Einstellung des Verfahrens, bald auf Frei- sprechung, ebenso oft auf Geldbuße oder eine erhebliche Gefängnisstrafe erkannt, so daß der kursierenden Geschichte, ein Rechtsanwalt habe an einen Staatsanwalt, der auf der vor ihm liegenden Anklageschrift eine 10, mit dem Buchstaben „M" notiert hätte, die Frage gerichtet: ,>Mark oder Monat?" in bezug auf diese Art von Vergehen eine gewisse Berech- tigung nicht abgesprochen werden kann. Ich habe mich des Eindrucks nicht erwehren können, als ob es bei der Beurteilung exhibitionistischer Handlungen wie bei der Mehr- zahl sexueller Delikte überhaupt weniger auf die Tat und den Täter, als auf die zufällige Zusammensetzung des Gerichts und die sachverständige Art der Verteidigung ankommt. Es ist deshalb ein bitteres Unrecht, daß ein Angeklagter, sei es weil ihm die Geldmittel fehlen, oder was ebenso häufig ist, weil ihm die Rechtsmittel unbekannt sind, nur zu oft als ein im doppelten Wortsinn „Beschränkter" den Richtern gegenübertritt, während ein anderer wegen der gleichen Straftat Angeschuldigter sich mit allen Waffen vorgeschritten! r Wissenschaft versehen kann. Das ist eine Unbill, die wenigstens dadurch gemindert wer- den sollte, daß grundsätzlich gerjchtlicherseits jedem Sexual delinquenten ein ärztlicher Sachverständiger beigegeben wird. Eine besonders seltsame Ur- teilsbegründung, die vor vielen Jahren ein Gerichtsvorsitzender abgab, ist" mir in Erinne- rung geblieben, nicht nur, weil es der erste Fall von Exhibitionismus war, zu dem ich als Gutachter zugezogen war. Der Angeklagte, welcher sich fünfmal vor demselben Dienst- mädchen entblößt hatte, so führte der alte Richter damals aus, sei für diese fortgesetzte Handlung zu 50 Mark Geldstrafe verurteilt worden; wenn die Entblößung tätsächlich die dem Angeklagten entsprechende Art krankhafter Geschlechtsbefriedigung sei, so erscheine bei Anrechnung mildernder Umstände 10 Mark Buße für jede Handlung angemessen, denn „soviel müßten doch andere Männer, die unverheiratet seien, sich ihre Geschlechts- betätigung auch kosten lassen". Ich will hier zwei Urteile gegen Exhibitionisten im Wortlaut wiedergeben, das erste gegen einen Studenten, der ohne Verteidiger und Gutachter, das zweite gegen einen Kaufmann, der mit beiden ausgerüstet vor Gericht erschien. „In der Strafsache gegen den Studenten W. in G., geboren am 25. Sept. 1887 in St.. katholisch, wegen Vergehens gegen § 183 Strafgesetzbuches hat die 2. Strafkammer des Königlichen Landgerichts für Recht erkannt: Der Angeklagte wird unter Freisprechung im übrigen wegen Vergehens gegen § 183 StrGB. in ü Fällen zu einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten und in die Kosten des Verfahrens verurteilt. Gründe: Die Haupt- verhandlung hat folgendes ergeben: Im Februar und März 19 . . ging der Angeklagte nach- mittags gegen 2 Uhr in G. auf dem Walle zwischen I . . und K . . und auf dem L.-Friedhofe häufig spazieren. Er entblößte dort in mindestens 0 verschiedenen Fällen seinen Ge- schlechtsteil und onanierte bis zum Samenerguß, während an ihm 12— 14jährige Schul- mädchen auf dem Wege zur Schule vorbeigingen. Diese Schamlosigkeiten beging er des- halb gerade in Gegenwart der kleinen Mädchen, weil er sich dadurch einen° besonderen Nervenreiz verschaffen wollte. Die Mädchen liefen teilweise empört weg, teilweise blieben sie stehen und freuten sich über sein Tun. Dieser Tatbestand ist durch das glaubwürdige Geständnis des Angeklagten festgestellt. Durch diese unzüchtigen Handlungen hat der Angeklagte öffentlich ein Ärgernis ge- geben. Denn sie sind an öffentlichen Orten, wo sie von einer unbegrenzten Zahl von Per- sonen wahrgenommen werden konnten und tatsächlich von den Schulmädchen auch wahr- genommen sind, vorgenommen worden. Auch haben sie bei den Mädchen Ärgernis erregt. Es ist als festgestellt zu erachten, daß dies in jedem einzelnen Falle geschehen und daß der Angeklagte sich dieses Sachverhalts nach jeder Richtung bewußt gewesen ist. Daß der Angeklagte noch in weiteren als den von ihm zugegebenen 6 Fällen atn . . . tor sich in der oben beschriebenen Weise vergangen hat, kann nicht festgestellt werden. Dem Angeklagten wird ferner vorgeworfen, am 2. Februar 1914 an der Zeugin M„ die mit den Kindern des Bankiers A. in der Nähe der Tennisplätze am berge spa- zieren ging, mit entblößtem Geschlechtsteil mehrmals vorbeigegangen zu sein. Der An- geklagte bestreitet entschieden, in diesem Falle der Täter zu sein. Hirschfeld, Sexualpathologie. III. oi g99 V. Kapitel: Exhibitionismus Obwohl die Zeugin M. an der Figur und den etwas breiten, Mund in dem Ange- klagten den Täter wiedererkennen will, hat das Gericht sich doch nicht von der Schuld des Beklagten überzeugen können, denn die Zeugin gibt selbst die Moghchkei eines Irrtums zu. Auch soll der Täter nach ihren Bekundungen einen graugrünen Hut -efragen haben, während der Angeklagte nach seinen glaubwürdigen Angaben zu der Zeit einen graugrünen oder ähnlichen Hut nicht gehabt hat. Endlich erscheint auch nach der Zeit in der die Tat geschehen ist, die Täterschaft des Angeklagten ziemlich ausgeschlossen. Nach den Bekundungen der Zeugin M. ist sie kurz nach 2 Uhr nachmittags belästigt wor- den Die Zeugin B. aber bekundet, daß sie an dem fraglichen Tage kurz nach 2 Uhr den Angeklagten in seiner Wohnung besucht und ihn im Hausjackett und ohne Kragen dort angetroffen habe. Da nun die Tennisplätze in den Hochbergsanlagen wie gerichts- bekannt ist, von der Wohnung des Angeklagten mindestens Stunde entfernt liegen, so erscheint' es unmöglich, daß der Angeklagte zu fast gleicher Zeit zuerst in den Anlagen und dann in seiner Wohnung sich aufgehalten hat. Die entfernte Möglichkeit genügt aber zur Überführung des Angeklagten nicht, zumal da noch mehr Zweifel an seiner Taterscha t bestehen Er war daher in diesem Falle freizusprechen. Es ist daher nur tatsächlich fest- gestellt daß der Angeklagte in G. im Februar und März 1914 durch 6 selbständige Hand- lungen öffentlich durch unzüchtige Handlungen ein Ärgernis gegeben hat, indem er m den Ankeren und auf deta Walle am . . . tor jungen Mädchen gegenüber sein Geschlechtsteil entblößte und onanierte (Vergehen gegen §§ 183, 74 StrGB.). Den Angeklagten mußte die volle Schwere des Gesetzes treffen, da er durch seine Schamlosigkeiten das Sittlichkeits- gefühl der Schulmädchen aufs höchste verletzt hat, und diese ohne Zweifel moralischen Schaden durch ihn erlitten haben. Ihm kann strafmildernd angerechnet werden, daß er, wie er behauptet, in einem eigentümlichen Zustande der Nervenüberreizung gehandelt hat. Er gibt aber selbst zu, daß er jedesmal, nachdem die Tat geschehen war, zur Besinnung gekommen ist und sich geschämt hat. Trotzdem hat er nicht die Charakterstärke besessen, von seinem verwerflichen Tun abzulassen. Auch zeigen bei ihm vorgefundene unzuchtige Zeichnungen und Bilder, daß die Handlungen nicht so sehr auf Überarbeitung wie au stark entwickelte geschlechtliche Neigungen zurückzuführen sind. Für jede einzelne lat erschienen daher 2 Monate Gefängnis angemessen. Aus den Einzelstrafen ist eine Ge- samtstrafe von 6 Monaten Gefängnis gebildet worden. Dem Angeklagten auch die bürger- lichen Ehrenrechte abzusprechen, erseheint nicht angezeigt, da er noch nicht bestraft ist. Zu einem entgegengesetzten Urteil gelangte das Gericht in dem folgenden Fall: „In der Strafsache gegen den Dekorateur Hermann K. in Berlin, geb. am 25. April 1880 in L., wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses hat das Schöffengericht in Berlm-Schon- berg in der Sitzung vom 11. Januar 1920 für Recht erkannt: Der Angeklagte wird auf Kosten der Staatskasse freigesprochen. Gründe: Am 14. Juli 1919 mittags kam der Angeklagte auf den Hof des Grundstücks . . str. 14, wo sich die erste Klasse des dort, befindlichen Seminars, 17 junge Damen, darunter die Zeugin R., gerade photogra- phieren ließen. Er stellte sich in etwa 5 m Entfernung vor den Mädchen auf, ließ die Hose herunter, so daß Unterleib und Oberschenkel völlig entblößt waren, und zeigte seinen Geschlechtsteil, indem er die Mädchen scharf ansah. Als diese daraufhin flüchteten und sich nach 10 Minuten an anderer Stelle des Hofes aufstellten, kam der Angeklagte nochmals dazu und entblößte wiederum vor den Mädchen seinen Geschlechtsteil. Die Zeugin R. hat an seinem Treiben Anstoß genommen. Dieser Sachverhalt ist durch die eidliche Aussage der Zeugin R, erwiesen. Der Angeklagte gibt den Hergang auch zu, be- hauptet aber, krankhaft veranlagt zu sein, und in nicht zurech- nungsfähigem Zustande unter Zwang gehandelt zu haben. Er ist wegen Beleidigung zweimal und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses dreimal, zuletzt 1914 mit drei Monaten Gefängnis vorbestraft. In allen Fällen lagenähnlicheHandlungenvor. Nach dem übereinstimmenden Gutachten der beiden Sachverständigen ist der Angeld^ te ein konstitutioneller Neuropath, seine Nei- V. Kapitel : Exhibitionismus 323 gung zu exhibitionistischen Handlungen beruht auf Zwangsimpulsen. Namentlich nach Alkoholgenuß ist die krankhafte sexuelle Triebstärke derart, daß alle Willens- widerstände erlahmen und der Angeklagte trotz wiederholter Bestrafung in seinen alten Fehler verfällt. Während Dr. Kronfeld die Anwendbarkeit des § 51 RStrGB. bejaht, weil zur Zeit der Straftat eine krankhafte, die freie Willensbestimmung ausschließende Störung der üeistestätigkeit bestanden habe, äußert Geheimrat Dr. Straßmann nur begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten im Augenblick der strafbaren Handlung. Aber auch diese Zweifel, denen sich nach Lage der Sache das Gericht anschließen muß, führen zur Freisprechun g." In der letzten Zeit wurden dem Institut für Sexualwissenschaft wiederholt Exhibitionisten von behördlicher und privater Seite überwiesen, denen aufgegeben war, sie sollten innerhalb einer be- stimmten Zeit eine Bescheinigung beibringen, daß sie sich in ärzt- liche Behandlung begeben hätten; unter dieser Bedingung würde von weiterer Strafverfolgung abgesehen werden. Stellt die exhibitionistische Entblößung auch zweifellos einen krankhaft bedingten Zustand dar, so ist doch nicht zu übersehen, daß die exhibitionistische Tat zu jenen sexuellen Handlungen ge- hört, die nicht, wie etwa die nach § 175 strafbaren, auf einer freien Übereinkunft zweier erwachsener Personen beruht, sondern einen gewaltsamen Eingriff in die Rechte eines zweiten darstellt. Wenn auch der objektive Schaden im allgemeinen für diese andere Person nicht gerade bedeutend ist, abgesehen von den früher erwähnten Ausnahmefällen, in denen der exhibitionistische Schreck wie einsexuelles. Trauma wirkt, so liegt dennoch in der Ver- letzung der Scham gleichzeitig auch eine Verletzung, zum mindesten aber eine Beleidigung derjenigen Person, gegen welche die Schamlosigkeit verübt wird. Daher muß auf Mittel gesonnen wer- den, welche geeignet sind, die Öffentlichkeit vor gewalttätigen Ein- griffen seelischer Geschlechtskranker .zu schützen, so wie man be- müht ist, die wissentliche oder fahrlässige Verbreitung körperlicher Geschlechtsleiden einzudämmen, indem man sie als Körper- verletzung bestraft. Bei psycho-sexuellen Störungen ist diese Ein- schränkung im allgemeinen schwieriger als bei körperlichen Leiden. Dafür sind sie allerdings, unvoreingenommen und richtig bewertet, weniger gemeingefährlich als körperliche. Zu dieser objektiveren Bewertung gehört vor allem zweierlei: erstens, daß die unrichtigen Ansichten über die Möglichkeit psycho-sexueller Verführung und Ansteckung berichtigt werden, und zweitens, daß die Bedeutung sexueller Handlungen nicht überschätzt wird, denn so wichtig die Sexualität des einzelnen für seine eigene Persönlichkeit ist, so leicht ist man geneigt, die Wichtigkeit der Sexualität einer einzelnen Person für die Gesamtheit zu überschätzen. Das Wort des hollän- dischen Dichters Multatuli, daß Ehre und Anstand eines Menschen, und wie wir hinzufügen wollen, seine sittlichen Werte und Cha- raktereigenschaften nicht unter, sondern über dem 21* 324 V. Kapitel: Exhibitionismus Nabel liegen, ist für den unbefangenen und unvorein- genommenen Beobachter und Erforscher des menschlichen Sexual- lebens eine Tatsache, die nur derjenige bestreiten kann, der sich nicht von traditionellen Suggestionen freimachen kann, oder nicht die Möglichkeit besessen hat, in die Tiefe dieser Erschei- nung mit wissenschaftlichen Mitteln einzudringen. Fragen wir uns unter diesem Gesichtspunkte, in welcher Weise Exhibitionisten un- schädlich gemacht werden können, so wird zunächst die Anschauung an Verbreitung ge- winnen müssen, daß die Personen, die einem exhibitionistischen Attentat ausgesetzt sind, nicht die Opfer bösartiger Gewaltmenschen, sondern unglück- licher Kranker sind. Der krankhafte Drang ist als solcher in seinen teils psycho- logisch, teils innersekretorisch gärenden Triebkräften zwar ungernein schwer zu beein- flussen, doch kann seine Betätigung nahezu ausgeschaltet < werden. Der erste Rat, den ich Exhibitionisten zu geben pflege, und der sich nach meiner Erfahrung auch recht gut bewährt hat, ist der, daß sie nicht allein ausgehen; viele von ihnen sind ver- heiratet, und ich habe gefunden, daß die Frauen Einsicht genug besitzen, um nicht nur den Wert dieses Rates zu erkennen, sondern ihn auch durchzuführen. Auch jüngere Ex- hibitionisten haben meist Angehörige, vor allem Mütter, welche diesem Erfordernis Rech- nung tragen. Weiter kommt es darauf an, die Widerstände tunlichst zu stärken. Hier ist insbesondere eine Lebensweise von Belang, die alles ausschließt, was die natürlichen Widerstände herabsetzt; alle betäubenden Rauschstoffe, voran alle Alkoholika sind zu meiden, und ein richtiges Verhältnis zwischen Arbeit und Ruhe ist wohl zu beachten: denn Müdigkeit und Müssiggang können auf sexualpathologische Naturen in gleicher Weise verhängnisvoll wirken. Sind im Einzelfalle behördliche Schritte- wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses erforderlich, so muß auch hier der Gesichtspunkt führend sein, Mittel und Wege zu finden, welche die Gegenvorstellungen gegen den „inneren Dämon" zu vermehren geeiguet sind. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Furcht, mit gesetzlichen Vorschriften in Konflikt zu kommen, in gerichtliche Verfahren verwickelt oder gar be- straft zu werden, auf manche eine ähnliche Wirkung haben kann, wie die innere Scham, daß sie mithin ein a n t i r p f 1 e k t o r i s c h e s Moment darstellt. Deshalb wird man dort, wo wie bei dem Exhibitionismus Handlungen vorliegen, die eine hochgradige Be- lästigung derjenigen Person darstellen können, auf die sie sich richten, sich nicht einfach auf den Standpunkt stellen dürfen, den Neigungen solcher Personen freien Lauf zu lassen. Mir würden folgende Maßregeln zweckentsprechend erscheinen: Ein Exhibitionist, gegen den zum ersten Male eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einläuft, er- hält eine Warnung und Aufforderung, sich an ärztlich sachverständiger Stelle beraten zu lassen; er kommt damit zugleich auf die Exhibitionisten-Liste. Daraus erwachsen ihm keinerlei gerichtliche Schwierigkeiten oder gar Mitteilung an seine Vorgesetzten. Beim zweiten der Behörde zur Kenntnis kommenden Vorfall würde sich die zwangsweise Unterbringung in einer Heilanstalt, und zwar auf die Dauer eines Monats, empfehlen. Bei der dritten Anzeige zwei Monate und von der vierten Anzeige ab eine Behandlungsdauer von vier, fünf oder mehr Monaten, je nachdem der Beschuldigte das vierte, fünfte Mal usw. sistiert ist. Die Sittlichkeitsgesetzgebung muß sich auch hier, wie in allen Lebensfragen, auf naturwissenschaftliche Er- gebnisse stützen, und nicht auf eine abwegige, weil von ausschließlich juristischen oder theologischen Gesichtspunkten ausgehende Moral. Es hat Zeiten gegeben, in denen Exhibitionisten wie andere Sittlichkeitsverbrecher von Gesetzes wegen zur Kastration ver- urteilt wurden. Für das im Begriff der Rache wurzelnde Recht galt der Satz: womit du gesündigt hast, sollst du bestraft werden. Wahrscheinlich kam überhaupt die Fortnahme der Testikel zuerst V. Kapitel: Exhibitionismus | 325 als Buße auf, uud erst durch die Ausfallserscheinungen, die man dann an den kastrierten Übeltätern so mannigfach wahrnahm, ge- staltete sich ihr Anwendungsgebiet allmählich so umfangreich. Es gehört zu den seltsamsten Wiederholungen in der Menschheits- geschichte, daß die älteste Operation, welche Menschen an Menschen und Tieren vornahmen, in unseren Tagen eine Art wissenschaft- licher Auferstehung durch die Forschungen über innere Sekretion begebt. Nachdem es keinem Zweifel mehr unterliegen kann, daß die letzte Ursache sexualpathologischer Entglei- sung enhich^t im Gehirn, sondern in den Geschlechts- drüsen zu suchen ist, erscheint es in der Tat nicht mehr unlogisch, daß man in Verfolg einer kausalen Therapie und Prophylaxe daran denkt, die für die Triebstärke wie Triebrichtung gleichermaßen verantwortlichen Geschlechtsdrüsen bei Sexualverbrecberu zu eli- minieren, unwirksam zu machen oder gar durch bessere zu ersetzen. Hat ein pathologischer Kinderschänder die Wahl zwischen Zucht- haus oder Durchschneiden der Samenstränge, steht ein gewalttätiger Hypererotiker oder Exhibitionist vor der Entscheidung Selbstmord, Gefängnis oder Entmannung, so dürfte ihm der Entschluß nicht schwer fallen. Hoffentlich gelingt es der ärztlichen Kunst mit der Zeit immer mehr, die Hormonbildung im Körper durch willkür- liche Beherrschung inkretorischer Elemente zu regulieren. Die Umsetzung dieser Möglichkeit in die Wirklichkeit wäre eine Geistestat, die den glänzendsten Entdeckungen und Errungenschaften wissenschaftlicher Forschung an die Seite zu stellen wäre. Der erste Schritt auf diesem Wege ist aussichtsvoll getan. Nachwort Am Ende dieses Lehrbuchs angelangt, sei es mir verstattet, dem Vorwort, mit dem ich 1916 den ersten Teil einleitete, ein kurzes Nachwort folgen zu lassen. leb fühle mich hierzu um so mehr veranlaßt, als die Sexual- pathologie für mich den Abschluß einer 24jährigen Lebensarbeit bedeutet. Sie begann 1896 mit der Schrift „Sappho und Socrates", in der ich die Auffassung der intersexuellen Varianten als ver- schieden gradig er Entwicklungsformen der bi- sexuellen Anlage des Menschen vertrat, setzte sich in der Herausgabe von 21 Bänden der Jahrbücher für sexuelle Zwischen- stufen und der ersten Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908) fort, umgriff zahleiche kleinere Arbeiten, unter denen neben solchen über Geschlechtsdrüsenausfall und Geschlechtsübergänge die über Verkleidungstrieb, Fetischismus, Infantilismus und Meta- tropismus hervorgehoben seien, fand weiter ihren Ausdruck in einigen allgemeineren Büchern über das menschliche Geschlechts- und Liebesleben, vor allem in den „Na turgesetzen der Liebe" 0912), woselbst ich im Verfolg der Lehre vom Sexualchemismus auf Grund klinischer Beobachtungen zu der theoretischen Auf- stellung der Inkrete: An drin und Gynäcin, gelangte und ging dann zu den beiden großen Monographien, den „Trans- vestiten" und der „Homosexualität des Mannes und des Weibes", über. In diesem umfangreichen Lehrgebäude bildet die nun be- endete Sexualpathologie einen Schluß- und Eckstein. Im Vorwort dieses Werkes hatte ich ausgeführt, daß mir in der Sexualpathologie nichts Geringeres vorschwebte, als einen dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft entsprechenden. Ersatz zu schaffen für die bei und nach ihrer Entstehung sehr verdienstlichen, jetzt aber nicht mehr zeitgemäßen Kompendien Kaans und Krafft-Ebings, die beide den Titel „Psychopathia sexualis" führen. Meine Leser werden, soweit sie diese meine Vorgänger kennen, finden, daß ich mich nichts weniger als eng an sie angelehnt habe. Das liegt daran, daß die Sexualwissenschaft sich seit ihrem Auftreten ganz ungemein vertieft und erweitert hat. Diese Fortschritte in der Erforschung ermöglichten es, an die Stelle lose zusammengefügter Erscheinungsbilder ein organi- sches Ganzes zu setzen, indem sich mit Folgerichtigkeit, fast kann man sagen mit Naturnotwendigkeit, eine Störung aus der andern und dementsprechend ein Kapitel aus dem andern ergibt. Infolgedessen konnten auch die von Krafft-Ebing bevorzugten Be- 327 Zeichnungen, die sich rein äußerlich von Personen herleiten, welche zu bestimmten sexuellen Anomalien in irgendwelchen Be- ziehungen standen (Sadismus, M a s o c h i s mus, Onanie) in Wegfall kommen und durch Namen ersetzt werden, welche da* innere Wesen der Vorgänge widerspiegeln (Metatropis- mus, Hypererotismus, Ipsation usw.). AlsinneresWesen, Kern- und Ausgangspunkt jeder sexual- pathologischen Erscheinung trat uns aber immer wieder der psychoinkretorische Parallelismus entgegen, die gle ichmaß ige \bkängigkeit der geschlechtlichen Trieb- und Eigenart von oben und unten, vom Seelischen und Stofflichen, vom Nerven- und Blutstrom, den Hir nh al bku gel n und dem Geschlechts- drüsenpaar. Diese Wechselwirkung erkannten wir in den ge- schlechtlichen Entwicklungsstörungen des ersten Teils nicht minder wie in den sexuellen Zwischenstufen des zweiten und den Störungen des Sexualstoffwechsels im dritten Bande. Durch diese organische Verbindung einerseits und die kausale Betrachtungsweise andererseits erhebt sich unser Wis- sen auf sexuellem Gebiet zu einer Wissenschaft, und zwar in höherem Grade, als es für manche andere Wissenschaft zutrifft, die sich das Ansehen einer solchen gibt und mit akademischem Hochmut auf die Sexualwissenschaft herabsieht, die bisher von keiner Universität für würdig befunden wurde, in den Kreis ihrer Lehrfächer aufgenommen zu werden. Darum betrachten wir es als besonderen Glücksumstand, daß es uns im Jahre 1919 vergönnt war, in dem Institut für Sexualwissenschaft dem Lehr- buch für Sexualpathologie eine Lehrstätte für Ärzte und Medi- zinstudierende an die Seite stellen zu können. Die Zeit, in der diese drei Bände entstanden, war ihrer Her- stellung nicht förderlich. Es ist nicht leicht, Bücher zu schreiben, wenn Mars die Stunde regiert und man den Schreibtisch vom Fenster abrücken muß, um vor den verirrten Kugeln des Bürger- krieges gesicherter zu sein. Eins aber zeigten diese Jahre mit ein- dringlicher Deutlichkeit: Als der Weltorganismus wie nie zuvor sich in Fieberschauern bäumte und wand und das Leben sich selber zu verneinen schien, blieb unerschütterlich und unentwegt lebens- bejahend die Liebe, als wollte sie zur Menschheit sagen: „Ver- nichtet und zerfleischt euch nur in eurem blinden Wahn; so lange ich bin, ewig in Zeit und Kaum, stirbt Glück und Lust nicht aus, auch nicht einmal bei denen ganz, die an der Liebe kranken." Wer aber das Glück der Liebe mehrt, indem er ihre Lei- den mindert, erhöht das Plus des Lebens und er- füllt so die vornehmste Aufgabe eines Arzfres, For- schers und Menschenfreundes. Namen register Abderhalden 100. Adler, Otto, 152. 167. 176. 177. 180. 310. Ancel 210. Anderson 146. Aschner 147. Balint 150. Barbusse, Henri 81. 118. Barett 280. Bäsch 152. Beard 261. Bechterew 154. Benedikt 150. ßergonie 209. Bernhard 150. Bernhardi 285. Bessunger 210. 284. Binet 3. 13. 14. 15. 17. 47. 107. 288. Binswanger 210. 284. Bloch 12. 49. 71. 78. 114. 164. 258. 317. Bölsehe 108. Bouin 210. Brächet 131. 132. Breisky 199. Breuer 262. Brissaud 310. Brown-Sequard 126. Bumke 150. Burchard 238. Cartesius 10. Casanova 82. 110. Cayrade 131. 132. Ceni 154. Chamfort 29. Charcot 57. 231. Cherbuliez 24. Chevalier 56. Colla 40. Cooke, James, 24. Cramer 301. Dahl 154. Damm 282. Dante 29. Dessoir, Max, 19. Donner 138. Dumas, Alexandre, 47. Dupoy 165. Eberth 204. Eckhard 147. 148. Ellinger 153. Elliot, George, 84. Eppinger 146. Erb 264. 267. 277. Erlennieyer 165. d'Espegne 2U9. Esquirol 87. Eulenburg 3. 185. 227. 259. 261. Exner 203. Fellner 152. Fere 87. Finger 208. Fließ 27. Flourens 153. Forel 77. 164. 279. Frank, Francois, 182. Frankenhäuser 154. Franque 202. Freud 13. 232. 258. 261 ff. 267. 278. 317. Freudberg 132. v. Frey 27. Frieben 209. Friedländer, Kurt, 143. Friedrich 134. Fritzsch 228. Fröhlich 146. Fürbringer 84. 204. 208. 210. 212. 282. Gall 153. Garnier, Paul, 72. 74. 87. Gattel 180. 278. Gennerich 216. Gerard 198. Goethe 49. 85. 87. 106. Golouschew 218. Namenregister 329 Goltz 131. 132. 154. Goncourt 1G5. Gottlieb 146. Götz 134. Groß 75. 7«. Hähnle 182. Hammer 284. Hammond 115. 176. Havelock Ellis 24. Heineke 209. Herodot 91. Heß 146. Hippocrates 271. 275. Hirschfeld, M., 3. 4. 16. 111. 123. 131. 171. 219. 292. 326. 327. Hirth 49. 164. Hoi'bauer 146. Hoff mann 152. Hoffmann, E. T. A., 33. Jung 149. Kaan 326. Kant 82. Karplus 147. Kehrer 208. Kilian 154. Klotz 95. Körber 78. Krafft-Ebing 2. 12. 14. 15. 17. 35. 36.- 43. 44. 45. 49. 70. 73. 74. 84. 90. 101. 107. 129. 130. 154. 164. 185. 254. 267. 282. 284. 301. 304. 319. 326. Kraus 76. Kräpelin 248. Krebs 167. Kreidl 147. Kronfeld 10. 102. 307. 323. Kurella 281. Kurschmann 284. Langley 146. Lasegue 294. 301. 319. Landois 148. Lechner 261. Leppmann 301. 319. Lerrede 216. Leschke 147. Lewandowski 216. 231. 259. Leyden 267. Lichtenstern 147. Lipa-Bey 122. Lipschütz 17. Lombroso 106. 107. 108. 125. Löwenfeld 85. 261. 2C4. Löwi 146. Luciani 153. Lydstone 12. Magnan 57. 237. Mantegazza 76. Marcuse 267. 282. Martin, A., 229. Mendel, Kurt, 4. 84. Menzel, A. von, 82. 266. Merzbach 76. 114. 317. Meyer 146. Mirbeau 40. Möbius 16. 153. Moraglia 18. Müller, L. R., 132. 147. 149. 150. 154. 203. Müller, Robert, 107. Multatuli 323. Naecke 279. Nasse 134. Neißer 279. Nelaton 194. Neugebauer 200. 201. Nietzsche 266. Oppenheim 282. 310. Pawlow 17. 151. Peukert 150. P.eyer 230. Pfister 51. Plato 280. Pussep 154. Raymond- Janet 310. Retau 285. Ricke, Ehrhardt, 182. Rieger 153. Rockwell 261. Rohleder 75. 282. Rubow 166. Rütgers 276. Sacher-Masoch 73. Schiff 27. Schlesinger 154. Scholtz 208. Schönberg, Albers, 209. Schröder 215. Schrenck -Notzing 107. Segala 134. Seidin 209. Serres 154. 330 Namenregister Shakespeare 106. Simons 208. Sims 229. Soranus 91. Souple 208. Spiegelberg 154. Steinach 203. 210. Stekel 244. 284. Stettner 210. Straßmann 223. Tanzi 40. Tarnowsky 267. Tibull 20. Tribondeau 209. Thoinot 76. 219. Vallentin 154. Vatsyayana 19. Veit 229. Villemin 210. Walker, G., 230. Wedekind 25. Wertheim, Friedr., 207. Weininger 49. Westphal 237. Wilde, Oskar, 126. 131. Wildgans 273. 292. Winkelmann, Johann Joachim 123. Wulffen 37. 41. 75. 107,, 124. 125. 317. 318. Wyrubow 218. Ziehen 13. Sachregister Abenteuersucht 251. Abreagieren ein. eingeklemmten Affektes 262. Abstinenz, sexuelle 259. 267. 269. — ■ temporäre 266. — totale 198. 219. 259. Abstinenz, Folgen der sexuellen 217. 268. 271. 278. Abstinenzproblern, weibl. 274. Abstinenz und Homosexualität 278. — und Impotenz 173. Abstinenzstörungen, Therapie und Prophy- laxe 279. Abulie 222. Abwehr 263. Adhärenzfetischismus 54. Addisonsche Krankheit 166. 264. Adoptionsgutachten 155. Adoptionsalter 156. Adrenalin 146. 218. Äquivalente, sexuelle ,258. — hysterische 249. Affekt, eingeklemmter 262. Affekttaumel 124. Ageusie 232. Aggressionsinversion 106. Agoraphobie 232. Aichmophobie 232. Akromegalie 136. Aktivismus 101. Albuminurie 225. Alkohol und Geschlechtstrieb 132. Alkoholismus 157. 164. 165. 208. 250. Alpdrücken 253. 305. Alterslibido 83. Altruismus, sexueller 6. Amaurose 232. Amour, azoophilique 56. Analfetischismus 50. Analschnüffler 50. Analverkehr 98. Analzone 98. Anandrinismus 158. 159. Andrin 17. 84. 100. 107. 271. 326. Andrinämie 276. Andromanie 87. Anerotismus 162. Angina vasomotoria 224. Angstneurose 262. 278. Angstträume 222. 253. 277. Angstzustände 139. 233. 250. Anorchismus 204. Anorchist 163. Anorgasmus 262. Anthrax 77. Anthropophobie 278. Antierotik 258. Antifetisch-Fetischismus 27. Antifetischismus 4. 27. 30. 57. 169. Antitropismus, sexueller 232. Antropophagie, sexuelle 111. Anurie 227. Aphrodisiaca 132. Appetitsverirrungen 232. Arsen 216. Arsenik 165. Asexualität 162. Askese 266. Aspermatismus 158. 159. — mechanischer 213. Aspermie 204. Asthenospermie 210. Asthma, nervöses 226. — . sexuale 223. 230. 281. Atresia vaginalis 201. Atropin 146. Attraktion, sexuelle 8. 14. — partielle 2. 3. 29. Attraktionsgrad 83. Ausdrucksfähigkeit, sexuelle 85. Ausnahmemenschen 266. Autismus, sexueller 6. Automonosexualismus 6. 168. Aversion, sexuelle 3. 8. — partielle 4. Azoospermie 115. 157. 204. 205. 206. 20fe. 210. 215. 252. 332 Sachregister Barchentfetischismus 59. Basedowsche Krankheit 166. 264. Bauchhoden 205. Bazillophobie 232. Befruchtung, künstliehe 208. Berührungsfurcht 5. 31. Berührungssucht 31. Betäubungssucht 250. — und Transvestismus 251. Beziehungswahn 243. Bißkuß 111. Blasenkatarrh 317. Blasenkontraktionen bei Reizung des Hypo- thalamus 147. Blastophthorie 165. Bleivergiftung, Wirkung auf die Potenz 165. Blumenfetischismus 77. Blutrausch 258. Böttchersche Kristalle 203. Brandstiftungstrieb 252. 256. Brillenfetischismus 55. Brom 165. 279. Choc fortuit 13. 288. Cholin 146. Cholospermie 213. Chorda penis 195. Christusneurose 244. Claustrophobie 232. Clitoris, Innervation der 145. Coccygodynie 225. 231. Coelibat 266. Coitus, Einteilung des 94. — a posteriori 94. 168. — condomatus 189. 211. Halluzinationen 91. - in statione 94. 95. - intermammalis 48. — interruptus 94. 180. 262.. 265. 281. 282. 283. 290. 291. 308. prolongatus 94. 265. 282. 283. — reservatus 282. Colliculitis 141. 230. 284. 287. Colliculus seminalis 230. 284. 287. Congressus interruptus 282. Cornea cutanea der Glans penis 197. Cowpersche Drüse 203. Cri cephalique 226. Crista. urethralis 230. Cunnilinctio 28. 50. 97. Defäktions-Spermatorrhoe 139. Defloration 173. Deflorationshypochonder 237. Degenere superieur 307. Dementia senilis 248. Demonstrationsexhibitionismus 317. Dendrophilie 78. Diabetes 78. Diarrhoe 225. Digitationen 97. Diphallus spurius 191. Dipsomanie 249. Doppelselbstmord 102. Drang- und Dämmerzustände 251. Dromotaanie 251. Druckfetischismus 12. Druckpunkte, hysterogene 231. Ductus ejaculatorius 230. — Krankheiten und Mißbildungen des 187. 213. Dyshormonie 249. Dysmenorrhoe 271. Dyspepsie, nervöse 224. 277. Echinococcus 77. Ehe, Ursachen der kinderlosen 157. Ehelosigkeit, Ursachen der 239. Eichelentzündung , diabetische Form der 135. - diphtherische Form der 195. Eierstock, Verkümmerung des 215. Eifersuchtsskrupcl 239. Eifersuchtswahn 239. Eileiterentzündung 157. Eingeweidebruch und, Spermabildung 207. Eisenbahnlähmung 185. Ejaculat, Gewinnung des 211. Ejaculatio 181. 183. 187. 229. 286. 287.. - Ejaculatio ante portas 230. — deficiens 187. 204. — i praecox 141. 177. 178. 180. 187. 235. 265. 284. 287. 291. — Behandlung der 230. — Definition 229. Einteilung 230. - und kutane Reflexpunkte 231. — und Onanie 229. - und weibliches Lustempfinden 177. - sejuncta 162. 175. 187. 204. Ejakulation, Anteil des vegetativen Ner- vensystems 146. — Phasen der 150. — ■ Vorgang der 203. — analoge Vorgänge bei den Frauen 151. Ejakulationsausfall 162. — spastischer 213. Ejakulationsimpotenz 186. Ejakulationsorgasmus 282. Ejakulationszentrum 203. Safihrpgister 333 Ejakulationszentrum , Reflexanomalien im 187. Ekstase, narzißtische 259. Ekstasensucht 231. Elektivismus 15. — und Geschlechtstrieb 15. Enteralgien 231. Enteroptose 225. Entspannungsform, monosexuelle 284. ■ — sexuelle 94. Entwicklungsstörungen, geschlechtliche 327. Epididymis 287. — duplex 208. ' Epilepsie 108. 1G7. 249. — und Impotenz 167. — und Lustmord 126. Epispadie 191. 192. Erectio 181. 183. 187. 188. 283. — sejuncta 162. Erektion, Anteil des vegetativen Nerven- systems an der 146. - Entstehung der 149. 150. 182. nach Reizung der Pons und Crura ce- rebri 147. und Ejakulation 203. • und Ejakulation und zentrale Erregung 203. und Ejakulation bei Erhängten 134. bei Tabikern 149. 150. Erektionsausfall 162. Erektionsimpotenz 184. Erektionsmechanismus der Clitoris 150. Erektionsstörungen 186. 187. Erektionszentrum 287. Ergotin 218. Erinnerungsdichtungen 262. Erotisierung der Hirnzellen 23. Erotomanir 87. Erotograpliomanie 114. Errötungsfurcht 226. 233. Ersatzorgane, sexuelle 96. Erysipel 77. Erythrophobie 226. Eunuchoid 163. Evolutionsvorgänge der Geschlechtsdrüsen 278. Exzesse, hypererotische 319. — sexuelle 91. 284. - — u. organisch.- Gesundheitszustand 89. Exhibitionismus 53. 294—325. - nach Alkoholgenuß 323. Begleithandlungen des 315. 316. — Begriff des 317. 318. -~ forensische Beurteilung des 304. 311. 321. Exhibitionismus, objektive Bewertung des 323. — Definition des 294. — Einteilung des 301. — und sexuelle Eitelkeit 318. — und Fetischismus 312. — Grundlagen des 319. — und Homosexualität 318. — und Hypererotismus 318. — und Masochismus 317. — , exogenes und endogenes Moment des 312. — und Neuropathie 321. ■ — Reaktion des 316. — und Sadismus 317. — Therapie des 324. — beim Weibe 319. Exhibitionistenhemd 314. Exhibitronistenmantel 314. Fanatiker, weiche 128. Feiglinge, sexuelle 236. Feminismus 98. Fetischhaß 4. 42. 49. 58. 73. — gegen Bärte 5. — gegen Brüste 5. — und konträre Sexualempfindung 50. Fetischismus . 1—79. 169. 326. — für Adelsprädikate 45. — für Anomalien und Defekte 13. — für Augen 43. — für Ausdünstungen 26. — und Berufswahl 33. und Ehescheidung 65. — forensische Beurteilung des 1 1 . — und Bisexuälität 62. — für Druckgefühl 12. — Einstellung nach Körperregionen 36. — 1 Entstehung des 36. Erklärung des 13. 16. 36. und Exhibitionismus 53. — für Finger 53. - Grenzzeichen zwischen gesundem und krankem 9. 19. 36. 40. 64. — großer 3. 39. — für Haartracht als Gradmesser für die Geschlechtsakzentuierung des Zeitalters 43. — für Hermaphroditen 12 — für Kälte 31. Für Klima 3. — für Krankheiten 13. für Eiserne Kreuze 16. — für Krücken 10. — metatropischer 20. 334 Fetischismus, pathologischer 2. 9. 10. 28. 39. 40. 77. — physiologischer 39. - und innere Sekretion 17. — und endokrine Sexualkonstition 21. — subjektive Täuschungen beim 43. — - verkappter 4. — und Voyeure 72. Fetischreize distale 22. — proximale 22. — Entstehung der 20. Fetischvoyeur 117. Fetischzauber, individueller 2. Fettleibigkeit 16G. Flechsigs Körper-Fühlsphäre 145. Fibrolysinbehandlung 216. Figurae veneris 96. Fourniersche Krankheit 197. Frauen, kalte 177. Frigidität des Weibes 176. 179. Frotteur 139. F.-Zelle 278. Gallenkrankheiten 166. Gebärmutterkatarrh 157. 271. Gelbsucht 225. Genitalatrophie bei Verletzung des Zwi- schenhirnbodens 197. Genitalhypochonder 292. Genitalfetischismus 50. Genitalien, Innervation der 146. ■Genitalneurose 186. Genitalverkehr, oraler 88. Geschlechtsentwicklung, dreiphasige 284. Geschlechtsdrüsenausfall 162. 362. Geschlechtsfreudigkeit 292. Geschlechtskrankheit 265. Geschlechtsleben Geisteskranker 167. Geschlechtslustausfall 162. Geschlechtstrieb, Erwachen des 86. Geschlechtstriebausfall 161. Geschlechtstrieb, quantitative Abweichung des 83. Geschlechtsübergänge 326. Gesichtsfeld, Einengungen des 224. Globus 226. Glykosurie 225. Gonorrhoe 157. 284. Grübelsucht 223. 232. Gynäcin 17. 100. 104. 326. Gynaecinaemie 267. ( Ivnaecinausfall 168. Haarfetischismus 47. I lacinospermie 213. Harnblase, Innervation der 144. Harnröhre 144. — Fremdkörper in der 195. Harnstottern 226. Haubenfetischismus 57. Hebephrenie 248. Hedonismus 292. Hemianopsie 232. Hemmungsimpotenz 170. Hemmungslosigkeit, sexuelle 90. Hemmungssphäre 167. Hemmungsvorstellungen 169. Herpes progenitalis 195. Herzasthma 224. Herzneurose 224^ 278. — der Kokainisten 250. Hoden, Exstirpation der 141. 243. Hodenkanälchen 209. Hodenpunktion 206. 208. Hodensack, Innervation des 144. Hodensekret 204. 211. 212. Hodenneuralgie 230. Hörigkeit, geschlechtliche 101. 102. 105. Homosexualität 14. 77. 157. 168. 176. 177. 247. 248. 278. 326. Hottentottenschürze 200. Husten, nervöser 224. Hydrosalpinx 214. 215. Hyperandrinismus 248. Hyperästhesie 224. — i im Munde 14. - sexuelle 114. Hypererotismus 80—141. 280. 284. 327. — ■ und solitäre Ausschweifungen 115. — Behandlung des 141. — und Exhibitionismus 90. — Formen des 88. 7— Grenzen zwischen körperlichem und seelischem 131. — Grenzen zwischen körperlichem und physiologischem 98. : — und Kastration 141. — und Kino 129. — und Körperkräfte 131. — und berufliche Leistungsfähigkeit 89. — beim Manne 106. — monogame Form des 98. - polygame Form des 98. : — und Prostitution 90. und Rauschmittel 111. und Revolution 112. — und Sadismus 108. - und innere Sekretion 107 — ■ und Surrogatverkehr 129. — im Tierreich 108. und Wachträume 113. 335 Hypererotismus und Willensbeugung 110. Hypnose 218. 262. Hypochondrie 221. 232. 248. Hysterie 221. 248. 259. 262. 263. Hysteroneurasthenie 201. 231. 254. 264. 287. 290. Idiosynkrasie, antifetischistische 4. Idolismus 3. Impotentia coeundi 158. 159. 202. — erigendi spinalis 186. - generandi 158. 159. 202. Impotenz 142—219. — Einteilungen der 158. 162. — absolute 160. — alkoholische 165. — autosuggestive 170. — extrasekretorische 205. — genitale 162. 189—198. — genitale beim Weibe 198—202. — germinale 202 — 214. - germinale beim Weibe 214 — 216. innersekretorische 205. — matrimoniale 160. — nervöse 185. — organische 160. paralytische 186. - peripher-sensorische 185. — relative 160. relativ-chronische Form der 177. seelische 4. 158. spinale 162. 181—189. Einteilung der spinalen 185. - zerebrale 162. 163—181. - und Abstinenz 173. und Antifetischismus 169. - durch Arsenik, Blei, Kaffee, Nikotin 165. und Fetischismus 169. durch akute und chronische Krankheiten 166. 167. - und Morphinismus 165. und Rückenmarkserkrankungen 184. 185. und Selbstmord 236. - Therapie der 216—219. infolge Triebanomalien 168, 169. Impuls, exhibitionistischer 311. Infantile Erlebnisse 21. Infantilismus 254. Inkubation 95. Innervation der Potenz 144. Innervation der Genitalien 144. Intertrigo 317. Ipsatio interrupta 284. — prolongata 284. Johannistrieb 132. Juwelenfetischismus 33. Kältefetischismus 12. 31. Kampfrausch 258. Kastration 207. 209. — von Exhibitionisten 324. — psychische 267. — und Pollution 207. Kastrationswunsch 204. Kardialgie 231. Kauf sucht 252. Kavernitis 195. Keimzellen, Mangel der 214. Kinnfetischismus 46. Kinderlosigkeit, Ursache der 208. Klavus der Hysterischen 231. Kleidungsfetischismus 10. 35. Kleptomanie 252. 256. Klimakterium, sexuelle Erregungszustande nach dem 83. Kniekehlenfetischismus 53. Kohabitationsakt, Dauer des 203. Kohabitationshypochonder 235. Kohärenzfetischismus 54. Kokain 165. Kokainismus 252. . Kolik 225. Kolpitis adhaesiva 235. ulcerosa 201. Konstitution, epileptoide und Triebhand lungen 256. — infersexuelle 95. — sexuelle 107. 262. Konversion 262. Kopffetischismus 36. Kopfschmerz 224. Korsettfetischismus 62. Korsetthaß 62. Kragenknopffetischismus 58. Krampfaderbruch 157. — und Spermabildung 207. Krampfhusten 226. Kraurosis vulvae 199. Krausesche Genitalkörper 145. 181. Kravattenfetischismus 58. Krebs 166. Kriegsamennorrhoe 272. Kriegsrausch 258. Kriminalität und sexuelle Intoxikation 108. Kristallfetischismus 78. 79. Krückenfetischismus 10. 11. Krüppelhaftigkeit, hysterische 307. Kryptorchismus 205. — und Infantilismus 205. 336 Sachregister Kryptorchismus und Sterilität 205. Kuppelei und Kuppclsucht 119. Kuß, olfaktorischer 10.0. — taktiler 100. Labien, Innervation der großen 144. Lambitionsakt 51. Lambitus 88. Lebensliige, sexuelle 257. Leichenschändung 130. Leistenhoden 205. Leitungsschwäche, neurasthenische 310. Lendenmarksneurose 186. Libido 144. 183. 186. 189. 190. 205. 263. 278. — • deficiens 161. — Grad der 107. — Übermaß der 111. — -Stauung 252. Steigerung 83. Liebe, Diagnose der 100. — extraterritoriale 40. — physiologische 2. — unglückliche 265. 280. . Lingamkultus 49. Lippenkuß 26. Littresche Drüse 203. Lockpelze und -Stiefel 6. Lues 208. 264. Lüge, pathologische 257. Lustgefühl 6. Lustlosigkeit 162. 174. Lustmord 111. 121. 124. 125. — und Psychopathie 126. Machtgelüste, psychophysiologische 106. Magenerweiterung 225. Maladie de doute 232. Malaria 166. Manie 248. — nuptiale 289. Mannstollheit 87. Masochismus 4, 327. — homosexueller 28. — verkappter 319- Mastodynie 226. ' Masturbatio interrupta et incompleta 283. 289. Masturbation 262. 277. 283. 284. 285. 319. Masturbationshypochonder 235. Melancholie 248. Menstruationsstörungen 254. Menstruation, vikariierende 226. Menstruation u. triebhafte Vor^än^e 252. 253. 255. Metabolismus 3. Metatropismus 106. 326. 327. Mikrorchismus 204. Miktions-Spermatorrhoe 139. . Misandrie 233. Misnnthropie 232. Misogynie 232. Mitosen 209. Mogigraphie 225. Moment, antireflektorisches 324. Monorchismus 205. Morphinismus 157. 164. 165. 250. Morphinismus, Entwöhnung vom 251. Motilitätsstörungen 221. Mouches volantes 224. Mundfetischismus) 45. Mutismus 224. Myelasthenie 125. • M-Zelle 278. Nachtwandeln 305. Narkotika und Neurasthenie 249. Nasenfetischismus 44-. Nasenkuß 26. Narzißmus 6. Nebenhoden, Entwicklungsstörungen des 205. Nebenhodenentzündung 145. 207. 208. Negativismus, sexueller 266. Nekrophilie 130. Nekrospermie 204. 208. 210. 212. Nekrostupratio 130. Nervensystem, parasympathisches, Eintei- lung des 146. - sympathisches, Einteilung des 146. - Eigenschaften in pharmakologischer und funktioneller Hinsicht 146. Neurasthenie 186. 259. 261. 262. 278. Neurasthenie, Begriff der 261. — sexuelle 186. 261. 284. 299. — Ursachen der 261. 282. 285. Neuropath, konstitutioneller 304. Neuropsychose 261. Neurose 263. 267. — Ätiologie der 264. — onanistische 284. Neurosenwahl 262. Nierenkrankheiten 166. Nießkrämpfe 226. Nux vomica 218. Nymphomanie 87. Objektivierungsdrang 5. 31. 63. Obsessions 237. 303. Ödeme, hysterische 226. . Sachregister 337 ösophaguskrämpfe 226. Ghreiifetischismus 45. Oligospermie 204. 210. Oligurie 227. Onanie 173. 175. 176. 235. 243. 244. 251. 284. 285. 327. Oniomanie 252. Organneurosen des Genitalapparates 216. Orgasmus 174. 175. 179. 188. 189. 190. 203. 204. 213. 253. 281. 283. ■ — deticiens 162. — interruptus 211. — ohne Ejakulation 287. Ovarialgie 231. Ovarie 231. Ovarien, Atrophie der 271. Oxalurie 225. Oxyuriasis 90. Ozaena 26. 45. Paedicatio 28. 98. Pantophobie 232. Paradoxie, sexuelle 84. Parallelismus, psychoinkretorischer 327. Paralyse 249. 264. Paralysophobie 232. Parametritis 202. Paranoia 248. 262. — und Klimakterium 243. Paraphimose 193. ' Paroxysmus, sexueller 177. Partialattraktion, krankhafte 2. Partialismus 3. 19. Partialreize 7. 8. 35. 36. Partialtrieb 263. Passivismus 101. Pathophobie 232. Pelzfetischismus 79. Penis, Abschnürungen des 194. — Amputation des 243. — Fraktur und Luxation des 191. — Gangränbildung 195. abnorme Gestaltung des 190. ldl. 192. — Induration, chron. plast. des 195. 196. — Innervation des 145. — Kondylome 197. - Mangel des 189. — Schrinden des 194. — Ulcus durum und molle 197. Periode, autistisch-onanistische 284. . — differenzierte 284. — ■ indifferenzierte, bisexuelle 284. Perivaginitis, phlegmonosa dissecans 201. Phallusvoyeur 49. Phantasien, hysterische 262. Hirschfeld, Sexualpathologie. III. Phantasieunzucht 319. Phobie 186. 232. 248. — sexuelle 221. 223. 233. Phimose 192. 293. Phosphaturie 225. Physostigmin 146. Pilokarpin 146. Pollutionen 136—140. 187; 230. Pollutionismus 131. 136. Pollutionshypochonder 235. Polydipsie, hyst. 232. Polyerotismus 88. Polyspermie 131. 136. Polyurie 227. Pornographomanie 114. Potenzmechanismus, sexueller 143. und seine Innervation 144. Potenzstörungen, Behandlung der spinalen 215. — und Tabes 186. Prägravidität 137. Präventivmittel 290. Präventivverkehr 282. Priapismus 133—135. 139. 184. Prostatahypertrophie 132. Prostatainvolution 84. Prostatakörner und Sperma 202. Prostatasekret 203. 211. 212. — und Sexualzentrum 84. Prostatin 214. Prostatitis, chronica 287. — i — glandularis 212. Prostitution 6. 176. 271. 282. Pseudoexhibitionismus 319. Pseudohermaphrodit 50. Pseudohermaphroditismus fernin. 199. Pseudohomosexualität 319. Pseudologia phantastica 257. Pseudophthise 226. Psychasthenie 164. 4 Psychoanalyse 244. 262. Psychoanalyse bei Impotenz 218. Psychoneurose 262. 263. 264. Psychotherapie bei Impotenz 217. Pubertätsdrüse 219. 278. Pygmalionismus 79. 128. Pyohämospermie 213. Pyosalpinx 214. 215. Pyospermie 213. Pyromanie 2o2. 256. Radiumbestrahlung der Keimdrüsen 208. Railway spine 185. Raubmord und Homosexualität 123. Rauchsucht 251. 22 338 Rauschsucht 250. 251. 252. Rauschzustände, sexuelle 73. Reflexe, endokrin bedingte 15. 17. Reflexkette 22. Reisesucht 251. Reisetrieb 277. Reitstiefelfetischismus 68. Reizquelle 22. Reizstachel, hornartiger 197. Reiztracht 72. Reizwäsche 58. Reizwirkung, fetischistische 13. Reizziel 15. Röntgenstrahlen und Keimdrüsengewebe 208—210. Rückenmarkserschütterung 185. Ruhetremor 225. Rumpffetischismus 47. 50. Sadisme imaginaire 111. Sadismus 14. 108. 327. ■ — und Atavismus 109. — verkappter 319. — Ursachen des 107. Sakrodynie 231. Samenblasensekret 204. 210. Samenbläschen, Bedeutung der 203. Samenfädchen 204. — mißbildete 213. Samenflüssigkeit, Zusammensetzung d. 203. Samenhügel, Uberreizungszustand des 278.' Samenkoller 137. Samenlosigkeit, vorübergehende 208. Samenplethora 137. Samenstauung 137. Samenstrang, Innervation des 144. Samenverluste 286. Samenzellen 209. Sammelsucht 257. Sammeltrieb 1(J, 117. Satyriasis 87. 184. Schamgefühl 6. Schamschranken 307. 309. Schamtrieb 319. Scheide, Atresie 203. — ■ Doppelbildung 202. — Entzündungen 201. - Geschwulst 202. — Innervation 144. * Katarrh 271. - Prolaps 202. - Stenose 200. 201. - Zysten 202. Scheinzwitter 198. Scheuer wut 251. Schiefhals 307. 310. Schlaf fetischist 130. Schlafneigung der Sexualneurotiker 223. Schluckbeschwerden, n,ervöse 224. Schmerzwunsch 27. Schreckpollutionist 139. Schreikrampf 226. 277. Schreibkrampf 225. Schreibstottern 233. Schreibwut 115. Schreinersche Basis 203. Schuhfetischismus 7. Schülerselbstmord 285. Sekretionsstörungen 221. — hyst. 227. Selbstquälereien, sexuelle 241. Selbstverdrängung 292. Sensibilitätsstörungen 221. Sexualabstinenz 265. Sexualangst 223. Sexualchemismus 249. 276. 326. Sexualendkörperchen 27. Sexualhormone, inkretorische 83. - und Nervensystem 107. 157. Sexualhypochonder 234. — Selbstquälereien der 237. Sexualhypochondrie 221. 223. Sexualhysterie 223. 227. Sexualität, inadäquate 264. — verdrängte 277. Sexualkonstitution 21. 264. Sexualneurasthenie 160. 221. 223. 284. 287.. Sexualneurosen 220 — 287. — und Homosexualität 292. — und Klimakterium 241. — und Sinnesorgane 232. — Therapie der 293. — Ursachen der 261. 265. 284. 290. 291. Sexualneurotiker 292. 293. Sexualpartialismus 7. Sexualpartialspezialismus 7. Sexualreflex 176. Sexualreiz 23. Sexualrhythmus 86. Sexualstöffwechsel 263. 276. 327. Sexualtrauma, infantiles 263. Sexualtrieb 267. 279. 280. — Ablenkung des 259. Sexualverkehr, nicht adäquater 265. Sexualverstopfung 280. Sexualzentren 1 54. Sexualziel 49. Sieger, sexueller 111. Singultus 226. Sinnestäuschungen 243. 278. Sachregister 339 Sklerose, multiple 216. Skrotum, Innervation des 144. Skrupel, sexuelle 244. — und Dementia praecox 245. - während der Verlobungszeit 238. Skrupelsucht 232. 240. — nervöse 221. Sodbrennen 225. Sodomie 76. 77. Spasmen der Blase 226. — des Constrictor cunni 226. — des Sphincter ani 226. Speichelabsonderung, vermehrte 224. Spermagewinnung 211. Spermatiden 209. Spermatoblasten 209. Spermatocyten 209. Spcrmatogonien 209. Spermatorrhoe 131. 139. 140. Spermatozoen 209. Spermaturie 214. Spermin 203. Spielsucht 251. 252. Sportexhibitionismus 318. Sprachstörungen 224. Statuenliebe 79. 128. Stehltrieb 252. 255. 256. Steißbeinneuralgie 225. Stereotypie, sexuelle 127. Sterilität des Weibes 214. Stimmungswechsel 223. Stottern 225. Strumpi'bandfetischismus 66. Strychnin 216. Sublimierung 258. 264. 266. 267. Submissionismus 97. Substitution 3. Succubation 94. 95. Succubus 281. Superfixation 88. 99. Surrogatakte 279. Symbolisierung 17. 29. Symbolismus, sexueller 3. Syphilidophobie 233. Syphilis 76. 249. Tabes 216. 264. — und Libido 150. beim Weibe -153. — und Orgasmus 150. Tabophobie 232. Taillenfetischismus 65. Tanzekstattker 259. Tanzfetischist 54. Tanzneurose 258. Tanzsuchf 251. Tanzwut 258. Teilabstoßung 4. Teilanziehung 2. 3. 15. 17. 22. 33. — pathologische 23. 28. — physiologische 23. Tenesmus penis 131. Testikelneuralgie 225. Tetanus 77. Tierl'etischismus 74. Titelfetischismus 25. Todesfälle im sexuellen Affekt 122. Tod im Beischlaf 122. Topalgie 231. Topophobie 232. Torticollis hystericus 310. Transvestiten 326. Transvestismus 281. Traurn, erotischer 137. Trauma, seelisches 13. 262. — sexuelles 265. 287—291. 323. Treppenreflex 22. 48. Triebanomalie 108. Trieblosigkeit 162. 163. Triebrichtung 82. Triolist 117. Triebsphäre 167. Triebstärke, Ursachen der 83. Triebstörungen, sexuelle 266. Tripper 265, 287. Tripperhypochonder 234. Tripperneurasthenie 284. Trippersterilität 208. Tubenentzündungen -202. — ' gonorrhoische 215. Tuberkulose 166. 280. — und Potenz 162. Überreizung, sexuelle 141. Uniformfetischist 73. ünlustgefühl 223. Unlustmord 124. TJnlustsensationen 224. Unlustvorstellung, sexuelle 128. Unmäßigkeit, geschlechtliche 265. Unterkleidungsfetischismus 81 . Unterwürfigkeitsdrang, metatropischer 97. Urethra 283. — Divertikelbildung in der 191. — Stiiktur der i 13. Urethraldrüsen 284. Urethralschleimhaut 254. Urethritis gonorrhoica chronica post. pro- statica 287. — non gonorrhoica 140. 22* '340 Sachregister Urethrorhoea ex libidine 212. Urinstauung 192. Urogenitalsphäre bei Sexualneurosen 225. Uterus, foetalis 215. — hypoplastischer 215. — ■ infantilis 215. — pubescens 215. — Atrophie des 215. 271. — Doppelbildungen, des 215. — einhörniger 215. — Innervation des Fundus 144. r- Prolaps 202. — Verkümmerung des 215. Utrikulus prostatikus 230. Vaginalsekret 210. Vaginalfetischismus 49. Vaginismus 157. 227. — Ursachen des 228. — Vorkommen des 229. Varikozele 157. Varizen der Vena dorsalis penis 197. Vaterschaft, Nachweis der 206. Vatersehe Körperchen 181. Verdrängertypus, sexueller 258. Verdrängung 2G3. Verfolgertypus 258. Verfolgungsträume 222. Verfolgungswahn 241, 243. Verge condee 192. Vergewaltigung 109. Verjüngungsversuche, Steinachsche 278. Verkleidungstrieb 326. Visionismus 117. Vorhaut, Innervation der 194*. Vorhautbändchen, Verkürzung des 193. Vorhautfetischismus 50. Vorhautsack, Reizzustände 193. Vorhautsteine 192. Vorlust 22. Vorstellungssadismus 111. 113. Voyeur 1 1 7. Vulva, Atresie der 191. — Erkrankungen der 199. Vulvafetischismus 49. Vulvaschrumpfung 199. Vulvaverletzungen 199. Wandertrieb 252. 256. Wangenfetischismus 46. Wäschefetischismus 46. Waschsucht 251. Wasserbruch und Spermabildung 207. Wettsucht 251. Wollustkörperchen 174. 176. Wollustkurve 175. Wortaversion 4. Wortrausch, sexueller 113. Wortzauber 4. 25. Yohimbin 218. Zeichen wut, sexuelle 115. Zeigetrieb 116. 319. Zeigezwangstrieb 294. Zeitsterilisation 209. Zerstörungstrieb 128. Zeugungsfähigkeit des Mannes 202. 203. Zisvestitismus 6. Zittern 225. Zone, erogene 29. 30. 144. Zonenvoyeure 27. 29. Zoophilie 68. 74. 79. Zoosadismus 76. Zopfabschneider 37. 39. 41. Zungenkuß 26. Zwangsideen hypochondrische 236. Zwangsimpuls 303. Zwangsneurose 262. Zwangstrieb 255. 281. 311. • Zwangsvorstellungen 112. — antifetischistische 4. — sexuelle 22. 232. 248. 262. 264. 277. Zweifelsucht 232. Zwischengewebe der Geschlechtsdrüsen 208. Zwischenstufen, sexuelle 327. Zytolyse 209. A. Marens & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Sexualpathologie Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende von Dr. Magnus HirSChfeld, Sanitätsrat in Berlin Erster Teil: Geschlechtliche Entwicklungsstörungen mit besonderer Berücksichtigung der Onanie Mit 14 Tafeln, 1 Textbild und 1 Kurve Preis einschl. Teuerungszuschlag geh. M. 14.80, geb. M. 17.00 Inhalt: Der Geschlechtsdrüsenausfall. — Der Infantilismus. — Die Frühreife. — Sexualkrisen. — Die Onanie und Der Automonosexualismus Zweiter Teil: Sexuelle Zwischenstufen Das männliche Weib und der weibliche Mann Mit 20 Photographien auf 7 Tafeln Preis einschl. Teuerungszuschlag geh. M. 24.G5, geb. M. 28.15 Inhalt: Hermaphroditismus, Androgynie, Transvestismus. — Homosexualität und Metatropismus Auszüge aus Besprechungen: Wer sich also auf dem in Bede stehenden Gebiete Rat erholen will, kann sicher sein, in dem Buche befriedigende Auskunft zu erhalten. Man lese z. B. das Kapitel über „Sexualkrisen", deren Darstellung nach der Meinung des Beterenten kaum über- treffen werden kann. Dermatologisehcs Centraiblatt. Wie die einzelnen Kapitelüberschriften andeuten, sind mancherlei Beziehungen zur Kinderheilkunde vorhanden. Es mag betont sein, daß der Verfasser — wo das Kindes- alter in Frage kommt — im allgemeinen kritisch und vorsichtig verfahrt und sich von Übertreibungen fernhält, die manchen anderen der Sexualpathologen den Kredit bei den Kinderklinikern verdorben haben. Monatsschrift lur Kinderheilkunde. Weitere Besprechungen auf der 3. Umschlag^eite. A. Mareus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Weitere Besprechungen über Hirsch! elds Sexualpathologie : Das "Werk bringt eine notwendige Ergänzung unserer modernen Wissenschaft, nicht allein der medizinischen, sondern auch juristischen und pädagogischen. Es kann sein Studium nur empfohlen werden. Keichs-Medizinalanzelger. Das Gebiet der inneren Sekretion wird zum Leitmotiv, das in jedem Kapitel wiederklingt. Im übrigen bedeutet der Käme Hirschfeld ein Programm. «Jahrbücher l'iir Psychiatrie und Nenrolgie. Ich erachte das vorliegende Werk als eins der besten unserer gesamten Sexual- wissenschaft, das jedem ärztlichen Leser nicht bloß viel Belehrung, sondern auch geistigen Genuß bietet. Der Frauenarzt. . . . Kaum ein Arzt darf at! diesem für die Erforschung des Körpe'S und der Seele gleich wichtigen Werk vorübergehen, ohne sich selb-t und seiner Frkenntnis von gesunden und kranken Menschen zu schaden. Aber auch Jurist. Pädagoge und Sozial- politiker finden manches Wissenswerte in dem Buche. Deimatologische Wochenschrift. ... So ist das B"ch in erster Linie ein Lehrbuch für den Arzt. Aber über die ärztliche Bedeutung hinaus geht es auch alle diejenigen an, welche der Beruf in die beobachtende Nähe dieser intersexuellen Individuen bringt: Juri st en und Pädagogen. Archiv für Frauenklinik' und Eugenik. . . . Die vom Gesichtspunkt der inneren Sekretion ausgehende Forschung des Verfassers verdient nicht nur die Aufmerksamkeit des Arztes, sondern auch des Juristen, Erziehers und gebildeten Laien, welche dadurch Abirrungen vom Normalen gerecht und menschlich zu beurteilen veranlaßt werden. Blätter 1". Säuglings- u. Kleinkinderpliege. . . . Dem Pädagogen werden in dem Werk außerdem noch verschiedene kleine Bemerkungen Anlaß zum Nachdenken geben: z.B. das. was über das Hänseln jugend- licher Hermaphroditen in der Schule wegen ihrer tiefen Stimme gesagt ist, was von der Vorliebe jugendlicher Transvestiten zu weiblichen Handarbeiten und Spielen gesagt wird, was von jugendlichen Homosexuellen und ihrem Seelenleben handelt. — Gerade derartige Punkte ?ind es, die einem klar werden lassen, wie wichtig es ist. daß auch Nicht- Aerzte sich mit den Fragen beschäftigen, die Hirschfeld in so meisterhafter Weise darzustellen versteht. Kinderforschung. Es kann jedoch nicht lebhaft genug betont werden, daß die vorurteilslose und klare Darlegungsweise des Verfassers auch für den Juristen und Kriminologen eine Fülle von Anregungen bietet, die im Interesse einer den Anforderungen der Wissenschaft, entsprechenden Strafrechtspflege nicht unberücksichtigt bleiben sollten. Geh. Justizrat Dr. Horch 'Mainz) Archiv für Kriminologie Band 72, Heft 2 . . . Eine systematische Bearbeitung der sexuellen Störungen unter Berücksich- tigung dieser neugetundenen Tatsachen hat bis jetzt gefehlt, und diese Lücke wird durch Hirschfelds Buch ausgefüllt . . . Dal'ei schöpft der Verfasser aus dem reichen Born seiner langjährigen praktischen Beschäftigung auf diesem Sondergebiete der Me- dizin, so daß er seine Ausführungen fast durchweg mit lehrreichen Fällen seiner eigenen Erfahrung belegen kann. Frankfurter Ärztc-Correspondenz 1916,17, Kr. 20, S. 116. . . . Der bekannte Verfasser hat sich befleißigt, alles zu vermeiden, was als Mangel an kühler Sachlichkeit angesehen werden könnte Trotzdem kann man sich bei der Lektüre des Werkes des Kindrucks nicht erwehren, daß die Menschen, von denen hier die Rede ist. doppelt leiden, nicht nur an der Triebrichtung an und für sich, sondern noch mehr unter ihrer Verkennung. Schon um hier eine Besserung herbeizuführen, ist dem Hirschteldschen Buche, dem eine ganze Anzahl instruktiver Bildtafeln beige- geben ist, weiteste Verbreitung zu wünschen Bayr. Ärztl. Korrespondenzblatt 1917, Nr. 2, S. 14. . . . Das Buch ist all denen, die sich für dieses Spezialgebiet interessieren, wohl zu empfehlen, besonders da H. mit zahlreichen Krankengeschichten die systematische Darstellung illustriert. Württ. med. Correspondenzblatt. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Die sexuelle Untreue der Frau Eine sozial-medizinische Studie von Universitätsprofessor Dr. E. Heinrich Kisch < k. k. Regierungsrat Erster Teil: Die Ehebrecherin Dritte vermehrte Auflage 7.— 12. Tausend Preis geh. M. 10.60, geb. M. 13.40 Aus dem Inhalt: Die geschlechtliche Untreue der Frau. — Die Kausalität der Geschlechts- untreue der Frau. — Phänomene des weiblichen Ehebruchs. — Der Mutter- typus und die kinderlose Frau. — Die degenerierte Frau und der Ehe- bruch - Die Wahlverwandtschaft als Motiv geschlechtlicher Untreue. - Die emanzipierte Frau und ihre Untreue. — Schlußwort und Rückblick. Zweiter Teil: Das feile Weib Preis geh. M. 9.50, geb. M. 12.35 Aus dem Inhalt: Die Prostitution des feilen Weibes. - Die Prostitution als soziales Übel. - Die Kausalität der Prostitution. - Das „Verhältnis" der jungen Leute. - Mätresse und Konkubine. - Die öffentliche und Straßendirne. - Rückblick und Schlußwort. A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Abn) in Bonn Auszüge aus Besprechungen über Die sexuelle Untreue der Frau: . . . Und bietet reiche Belehrung für jeden, der im öffentlichen Leben mit solchen Dingen zu tun hat, vor allem aber dem Kriminalisten, dem Richter, dem Moraltheologen, dem Beichtvater, Prediger und dem geistlichen Gewissensberater in den Großstädten. Sein Wert für die moderne Frauen- frage liegt auf der Hand. Augsburger Postzeitung. . . . Allen ernsten Menschen sei dieses Werk empfohlen .... Jüd. Yolksstimme 1920. . . . Auf Grundlage r ei eher L eb enserf ahrung, auf der Basis physiologischer und psychologischer Forschungen gibt uns der .Verfasser ein klares Bild der ehe- brecherischen Frau. Büchel markt 1919. Das Buch dürfte für jeden Arzt, vor allem dem Haus- und Frauenarzt, dem Psychiologen un'd Psychiater von hoher Bedeutung sein. Med. teihn. Slitt. 1919. . . . Kisch enthüllt uns die Motive und den Werdegang der weiblichen Geschlechts- untreue in ihrer merkwürdigen Verschlingung, vom gedanklichen Liebessehnen an bis zur fleischlichen Tat des Ehebruchs, deckt uns aber auch die überwältigend häufige Schuld des Mannes an dem Fehltritt der eigenen Frau auf. Wiener med. Wochenschrift. Mögen die Batschläge des Verfassers ebenso wirkungsvoll befolgt werden; wie das Buch — das ist sicher — eifrig gelesen werden wird. Ps y chiat risch-neu rologische Wochensckri lt. . . . Alles in allem: Ein gutes Buch mit reiner Tendenz. Nene Generation 1917. . . . Mit Recht kann man hier wirklich von einem Buche reden, wie es auf diesem Gebiete in der Weltliteratur bisher nicht seinesgleichen hat. Deutsche Mütterzeitung 1917. Mag man mit dem Verfasser auch über manchen Gedankengang und Leitsatz rechten können, das Buch als Ganzes bietet eine Fülle von Wissensbereicherung, und diese ist den Ärzten ganz besonders zu wünschen, die, durch ihren Beruf mehr als andere Menschen gezwungen, psychische Eigenarten zu verstehen, leider noch immer den gewichtigsten Faktor im Erdendasein, die Sexualität, allzuwenig kennen. Hier kann und soll K i s c h s Buch belehrend wirken. ; Medizinische Klinik 1917. Nachdem der bekannte Marienbader Badearzt im ersten Teil dieser sozialmedizi- nischen Studien mit dem weiblichen Ehebruch bekannt gemacht, schildert er in dem nun vorliegenden zweiten Teile die Geschlechtsuntreue des Weibes, wie sie besonders in der Prostitution zu suchen ist. Der Verfasser führt uns nicht nur die Umrisse dieses weiblichen Lasters vor Augen, sondern sucht auch ihr Wesen zu analysieren, die Ursache zu erforschen und Vorschläge zur Bekämpfung des Übels zu machen. Die einzelnen Typen sind scharf gezeichnet vom „Verhältnis" der Jugendlichen, dem Mätressentum und Konkubinat bis zur öffentlichen Straßendirne. Hinsichtlich der Bordellfrage wird das Für und Wider erörtert, der Standpunkt der Abblitionisten abgelehnt. Aus dem Ganzen spricht der sittliche Ernst des Forschers und Arztes und überall verrät sich die große Vertrautheit des Verfassers mit Literatur und Geschichte. Schmidts Jahrbücher für die gesamte Medizin.